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Wilfried hat sein oberstes Ziel erreicht: er ist endlich schlank! Der Mann, der ihm nun aus dem Spiegel entgegenblickt, ist überraschend attraktiv. Er genießt sein neues Leben. Zwar interessieren ihn seine Sex-Partner nicht sonderlich, die er im Internet auftut, er betrachtet sie lediglich als 'Übungs-Partner' für den Beziehungsernstfall, den er mit Jan plant. Leider erfahren seine Annäherungsversuche an seinen Traum-Mann permanent Störungen durch unvorhergesehene Ereignisse. Da ist zum Beispiel Kerstin, die eines Abends beim ihm aufkreuzt und Unvorstellbares von ihm verlangt oder Tobias, der ihn belagert und nicht begreifen will, dass Wilfried keine ernsten Absichten hegt. Erneut sieht er sich in der unangenehmen Lage, dass in gewissen Situationen offenbar nur ein Ausweg existiert, um sich nachhaltig und endgültig zu befreien: Mord!
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2011
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Über den Autor:
Nick Zachries wohnt im Alten Land vor den Toren Hamburgs mit Partner und drei Kindern. Mehr von ihm gibt es hier:
www.nick-zachries.de
Himmelstürmer Verlag, 20099 Hamburg, Kirchenweg 12
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Oktober 2011
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfoto: © C.Schmidt / www.CSArtPhoto.de
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus.
ISNB Print 978-3-86361-072-2
ISBN ePub 978-3-86361-073-9
ISBN PDF 978-3-86361-074-6
Nick Zachries
Annäherung
Wenn man auf dem Dorf wohnt, hat man – entgegengesetzt der Meinung vieler Städter – allerlei Vorteile. Mal abgesehen vom größten Problem, welches der Städter tagtäglich und allabendlich zu bewältigen hat: die permanente Suche nach einem Parkplatz in der Nähe des Arbeitsplatzes oder Wohnblocks, in dem er haust, entgehen dem Stadtbewohner darüber hinaus noch einige andere Bequemlichkeiten, die unsereins zur Verfügung stehen.
Wir Landbewohner aalen uns im Sommer im eigenen Garten – keine zehn Schritte vom Kühlschrank entfernt, aus dem man sich in regelmäßigen Abständen ein kaltes Getränk holen kann. Der Städter dagegen muss voluminöse Picknick-Taschen mit Kühl-Aggregaten bepacken und sich mit anderen Freilufthungrigen ein schattiges Plätzchen im überlaufenen und zudem von Hundekot kontaminierten Stadtpark teilen. Die Sonnenanbeter liegen dicht gedrängt wie die Ölsardinen an einem Urlauberstrand auf der Liegewiese.
Intimität ist nahezu nicht möglich, es sei denn, man möchte sich eine Anzeige wegen Exhibitionismus gönnen.
Und da ich selbst nicht scharf darauf bin, rüge ich den jungen Mann an meiner Seite auch sofort.
„Tobias, lass das. Hier ist der falsche Ort, um an Dummheiten zu denken!“ Behutsam schiebe ich seine Hand, die sich vorwitzig in meine Shorts stehlen wollte, beiseite.
Ein unwilliges Knurren ist zu hören, doch er unterlässt weitere Annäherungen.
Ich fühle mich im Grunde geschmeichelt. Tobias kenne ich seit dem gestrigen Abend und entgegen meiner üblichen Gewohnheit habe ich bei ihm übernachtet. So spontan bin ich normalerweise nicht, aber unser Zusammensein war ungemein befriedigend und keiner von uns wollte den Abschied.
Ich hatte schon lange keine reale Liebesbegegnung mehr gehabt, von daher war ich bereitwillig auf die Fragen meines Chatpartners „Top77“ angesprungen, die da hießen: „Sex? Heute noch?“ Wir tauschten kurz Fotos aus und stellten fest, dass das Gegenüber tageslichttauglich war und anderthalb Stunden später wälzten wir uns bereits lustvoll in seiner Studentenbude auf seiner nächtlichen Ruhestätte. Die Fußbodendielen in seiner kleinen Dachwohnung knarren genauso wie der Lattenrost seines von Tante Hildegard geerbten französischen Bettes, aber unter ihm wohnt eine alte Dame mit einer Katze, die schon ziemlich taub ist. Wohlgemerkt die Dame, nicht die Katze. Er füttert die Katze, die – angeblich – auf den Namen Scarlett o’Hara hört, wenn die Dame bei ihren Kindern zu Besuch ist. Frau Huber war Ende der dreißiger Jahre zum ersten Mal im Kino und hatte sich „Vom Winde verweht“ angeschaut. Offenbar hielt die Faszination für diesen Film lebenslang, denn seitdem war es ihr eine liebe Gewohnheit geworden, ihre Katzen stets mit Namen aus diesem Bürgerkriegsepos zu versehen. Rhett Butler, der Gefährte der Katze, war leider einer mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Kurierfahrerin aus Stade unter die Reifen geraten.
Eigentlich sind das alles Dinge, die ich gar nicht wissen will von einem Liebhaber. Diese Dinge sind es, die aus einem Liebhaber womöglich einen Freund machen und genau den suche ich nicht.
Meine Prioritäten diesbezüglich sind klar, ich weiß, was ich will und vor allem, wen.
Ich tauche ab in meine private Gedankenwelt, schwelge in Zukunftsvisionen und lasse das Geschrei und Gequengel der Kinder auf der Liegewiese um uns herum einfach abprallen.
Jan Grewe heißt mein Auserwählter, er wohnt in meiner unmittelbaren Nachbarschaft und ist schon seit einigen Jahren das – wie es in einem Filmtitel so wunderbar treffend heißt – obskure Objekt der Begierde. Er ist schätzungsweise Anfang vierzig und lebt seit über einem Jahr von seiner Frau getrennt. Sie fuhr nicht mit in den letztjährigen Sommerurlaub, sondern nutzte die Wochen der Abwesenheit der Familie, um auszuziehen. „Unerhört!“ erregte sich Frau Melzer seinerzeit, als sie mir davon berichtete. Sie ist eine ältere Nachbarin, die in unserer kleinen Straße wohnt. Durch sie habe ich die ganze Geschichte erfahren, später konnte ich mir selbst alles zusammenreimen. Jan Grewe fuhr also allein mit den drei Kindern davon und brachte einen jungen Mann mit (einen Kunststudenten!), der schon kurze Zeit später bei der Familie einzog. Die Gerüchte kochten hoch im Dorf. Anfangs glaubte die naive Frau Melzer, es müsse sich um eine Art Au-pair-Jungen handeln, der nach dem Rechten sieht und sich während der Abwesenheit des Vaters um die Kinder, insbesondere die Kleinste, kümmert. Sehr schnell kam jedoch heraus, dass der angeblich männliche Babysitter als Partnerersatz für die ausgezogene Frau Grewe diente. Der beliebte Familienvater hatte die Seiten gewechselt und lebte nun mit einem Mann zusammen![1]
Seitdem hat er sich ziemlich verändert. Ich mochte ihn zwar schon immer, aber früher sah er nicht halb so gut aus wie heute. Bis vor zwei Jahren hatte er etwas Durchschnittliches an sich, sowohl Kleidung und Frisur waren gänzlich unauffällig, ja nahezu belanglos. Seitdem er den blondierten Jüngling an seiner Seite hat, ist eine langsame und stetige Wandlung an ihm zu verzeichnen.
Er trägt jetzt seine Haare kürzer und frecher und seine Klamotten wirken nicht mehr bieder.
Wir weisen da durchaus Parallelen in der Entwicklung auf.
Früher war ich selbst ein Modemuffel – allerdings mehr aus Hilflosigkeit denn aus Unvermögen. Ich hatte starkes Übergewicht.
Diese Zeiten liegen hinter mir. Endgültig. Bei meiner Größe von 1,75m wiege ich heute 72 kg. Vor zwei Jahren waren es noch 125 kg. Ich habe seit dem Abspecken mein Gewicht gut im Griff, meine Ernährung umgestellt und bin zum fanatischen Jogger geworden. Wenn meine Narben endgültig verheilt sind, werde ich regelmäßig Krafttraining machen.
Vor zwei Monaten war ich in einer kleinen Privatklinik in der Nähe von Berlin, um mich „straffen“ zu lassen. Nach meinem raschen Gewichtsverlust hatte ich ein wenig Hautüberschuss!
Der Schönheitschirurg hat fabelhafte Arbeit geleistet. Ganz besonders im Brust- und Bauchbereich kann ich mich jetzt sehen lassen. Nachdem meine Körperbehaarung wieder nachgewachsen ist, sieht man kaum noch etwas!
„Kennen Sie den Film Das Schweigen der Lämmer?“, hatte er mich gefragt, als er mit Hilfe eines grünen Eddings „Maß“ nahm am Morgen der Operation. „Also aus ihrer überschüssigen Haut könnte sich dieser Perverse noch ein hübsches Kleidchen schneidern!“ Einen bizarren Humor hatte er. Mir war das egal, was er für Sprüche machte. Er verstand sein Handwerk – das war auschlaggebend.
Kein Mensch würde vermuten, dass der schlanke und braungebrannte Mann, der ich heute bin, einmal eine Art Mauerblümchen war.
Mein Leben hat erst mit 31 Jahren begonnen. Als Mutter starb.
„Wollen wir nicht wieder zu mir gehen?“, raunt mir Tobias dicht ins Ohr. „Ich hätte großen Bock ...“
Ich registriere die interessante Ausbuchtung in seinen Badeshorts und bekomme ebenfalls Lust. Warum nicht?
Entspannt und gut gelaunt fahre ich am späten Nachmittag liebesgesättigt nach Hause. Aufs Land. Keine Parkplatzsorgen werden mich plagen. Ich besitze ein eigenes Haus und natürlich eine Garage.
Obwohl es bereits Anfang Oktober ist, herrschen noch spätsommerliche Temperaturen. Der Wetterumschwung ist jedoch bereits angekündigt. Nächstes Wochenende soll es kühler werden. Und wenn es dann draußen so richtig ungemütlich ist und die Menschen sich in ihre behaglichen Wohnzimmer zurückziehen, ist der ideale Zeitpunkt gekommen, um ein kleines Vorhaben zu erledigen. Die sterblichen Überreste der vergrabenen Alice Schwarz sollen – um es in Behördendeutsch auszudrücken – einer thermischen Behandlung unterworfen werden. Sonst dreht uns der gute Karl noch durch und muss wieder auf die Geschlossene. Das wollen Kerstin und ich unbedingt verhindern und haben aus diesem Grund einen gemeinsamen Plan geschmiedet, welcher vorsieht, dass der Kaminofen im Schwarzschen Hause eine außergewöhnliche Aufgabe erhält.
In einem Dorf ist eben so etwas machbar.
Ich sollte ein wenig ausholen, was es mit Alice Schwarz auf sich hat.
Sie war Kundin meines Lebensmittelhändlers, für welchen ich regelmäßig Waren ausliefere. War – bis zu jenem Abend, an dem ich sie mit einem Liebhaber beobachtete und kurz darauf relativ spontan beschloss, mich von ihrer unsäglichen Aufdringlichkeit für immer zu befreien. Ich war – obschon bereits dreißig Jahre alt – noch gänzlich unerfahren in Liebesdingen und hatte mich von Alice in eine erotische Verstrickung ziehen lassen, aus der ich keinen Weg mehr herausfand. Ihr zu sagen, dass ich keine Lust mehr hätte, wäre mit unendlicher Peinlichkeit für mich verbunden gewesen. Womöglich hätte sie überall herumerzählt, dass ich ein Schlappschwanz sei, der keinen mehr hochkriegen würde, bloß weil ich bei unserer letzten Begegnung versagt hatte! Dabei erfreue ich mich einer sehr gesunden und vitalen Potenz. Mein Gespiele hat noch nie seinen Dienst versagt, wenn ich wirklich erregt war. Alice jedoch war eine verhängnisvolle Affäre und vor allem: eine Frau. Sicher, es war mein Fehler gewesen, auf ihre Signale einzugehen und ihrer Verführung zu erliegen, aber man bedenke bitte auch meine damalige Not, in der ich mich befand! Ich war gänzlich unerfahren, hatte noch nie realen Sex gehabt und schämte mich obendrein meines unförmigen und übergewichtigen Körpers. Alice Schwarz musste keine große Anstrengung leisten, um mich in ihr übergroßes Bett zu zerren – wie ein liebestoller Rüde die läufige Hündin wittert, war ich nur allzu bereit gewesen, mich fleischeslustig auf sie zu stürzen.[2]
Einmal die Woche trafen wir uns und unsere Vereinigung lief nach einem bestimmten Muster ab, welches sie vorgab. Es ödete mich schon nach kurzer Zeit an und ich empfand immer stärkeren Widerwillen, sie zu sehen, geschweige denn anzufassen und mehr noch: in sie einzudringen.
Der letzte Versuch war folglich ein Fiasko. Sie machte sich lustig über mich – stattdessen hätte sie sich besser fragen sollen, ob es nicht an ihr gelegen hätte. Von Selbstzweifel jedoch keine Spur. Typisch Frau eben.
Frauen haben niemals Schuld, das habe ich zur Genüge von Oma und Mutter gelernt. Für alles gibt es eine Ausrede, einen Anderen – einen Mann! – der für die Misere ihres Lebens verantwortlich ist, niemals haben sie einen eigenen Anteil daran. Läuft der Typ weg, war er ein Taugenichts, ein schlechter Kerl, ein Macho, der sie nur ausgenutzt hat. Für sämtliche Widrigkeiten lässt sich ein Grund finden, sie selbst bleiben die armen, ausgebeuteten Geschöpfe, die sie von jeher waren. Vom Anfang bis in alle Ewigkeit. Amen.
Was also außer Mord hätte ich tun sollen? Es ergab sich halt. Es war eine günstige Gelegenheit, die passte. Ihr Liebhaber war vor wenigen Minuten davongefahren und schon umsurrte sie mich bereits wieder in ihrer Unersättlichkeit wie die Biene den Honig.
Auch in dieser Hinsicht – oder sollte ich besser sagen – gerade in dieser Hinsicht? – sind Frauen wahrhaft grandiose Lügner vorm Herrn! Hätte sie tatsächlich ein befriedigendes Liebeserlebnis gehabt, dann wären doch nach so kurzer Zeit nicht schon wieder Gelüste entstanden oder täusche ich mich da? Sind Frauen da gänzlich anders als Männer? Ein Mann braucht seine Regenerationszeit. Sicherlich gibt es allerlei schlüpfrige Lektüre und anschauliches Bild- und Filmmaterial, welches einem suggeriert, dass dem nicht so ist, aber das entspricht nicht annähernd der Realität! Hand aufs Herz: welcher Mann kann ständig und immerzu? Stundenlang anhaltende Erektionen, ein Orgasmus jagt den nächsten und nicht zu vergessen: eimerweise meterweit herausspritzendes Sperma, dass einem Normalmann angst und bang wird beim Vergleich.
Bei Frauen weiß man nie, ob der zurückliegende Akt ebenso erfreulich war wie bei einem selbst. Spitze Schreie und lautes Aufstöhnen können von ihrem Talent zur Schauspielerei ein beredtes Zeugnis ablegen, was daran echt ist, weiß man(n) nicht. Ein letzter Zweifel bleibt.
Wie einfach ist der Umgang dagegen mit einem Mann! Offensichtlich ist er erregt oder nicht. Dann kann man entsprechend agieren. Mit der Lust oder Unlust ist es auch konkreter. Ein Mann will selten bis überhaupt nicht „nur kuscheln“. Das hatte ich Gott sei Dank nur ein einziges Mal mit Alice. Ob sie da ihre kritischen Tage hatte? Haben Frauen mit Mitte fünfzig noch ihre Menstruation?
Dieses „nur kuscheln“ hatte etwas unerhört Intimes und für meine Bedürfnisse unerträglich Grenzüberschreitendes. Der sexuelle Akt als solches war dagegen etwas, auf das ich mich seelisch eingestellt hatte. Danach war definitiv Schluss mit der Anfasserei, doch jenes ominöse Kuscheln hatte keinen richtigen Anfang und erst recht kein vorhersehbares Ende. Ich mochte es nicht, gestreichelt und liebkost zu werden oder gar diese Spielchen mit dem Zerzausen der Haare und das Kitzeln und Zwicken in meine speckigen Hautfalten. Sie selbst war auch übergewichtig – aber ihr schienen diese Art von Berührungen sehr gut zu gefallen. Oder spielte sie mir das am Ende auch nur vor? Sie gurrte und schnurrte und verlangte nach Nackenmassage und Rückenkratzen. Bei ihrem Wunsch nach Fußmassage allerdings habe ich mich taub gestellt, das hätte ich nicht über mich gebracht. Füße haben mich noch nie interessiert! Es täte ihr unheimlich gut, seufzte sie, stundenlang könne sie das genießen, was mich bedauern ließ, dass ich – leider! – nicht so viel Zeit hätte. Meine Mutter, sie wüsste ja über meine Lebenssituation Bescheid.
Mutter lebte damals noch. Und wurde mit jedem Tag übellauniger und galliger. Eine boshafte Alte war sie. Aus der hübschen Frau, die ich als kleiner Junge bewundert hatte, war eine an allem herummäkelnde Giftzwergin geworden.
Ein Psychiater mag den realen Mord an Alice gewiss als gewünschten Mord an meiner Mutter interpretieren – mir ist es gleich. Ich werde ganz sicher nicht einen Seelenklempner aufsuchen, um mir von ihm in meiner Psyche herumstochern zu lassen.
Letztendlich können einem derartig geschulte Leute auch nicht helfen bei wirklichen Problemen. Ist doch alles nur Schönrederei und Schubladen einordnen.
Typischer Fall von pathologischem Mutterhass, würde der Psychoexperte vermutlich mit erhobenem Zeigefinger diagnostizieren. Meine zwanghafte Wut auf Frauen hätte mich zum Mord an einer Unschuldigen getrieben.
Bloß: Wie würde er die Sache mit Diether König erklären?
Womöglich stellvertretend als Rache an einem Vater, den ich nie gehabt habe?
Mein Vater hatte gewiss keine Ähnlichkeit mit Diether. Mutter war stets sehr auf Äußerlichkeiten bedacht, dass ihr ein mickriger Geselle wie Diether niemals untergekommen wäre! Selbst im heftigsten Suff nicht. Mutters Liebhaber waren allesamt stramme, prächtige Burschen und dafür bin ich ihr heute dankbar.
Ich weiß, dass ich mich zu einem sehr gutaussehenden Mann entwickelt habe. Die Blicke der Frauen zeigen mir das. Als ich noch mein Übergewicht mit mir herumschleppte, sahen einige förmlich durch mich hindurch. Als sei ich unsichtbar oder mit ansteckender Krankheit behaftet. Andere wiederum verhielten sich betont auffällig und übertrieben freundlich wie zu einem Kleinkind oder einem Behinderten. Letzteres Verhalten traf mich härter als das Ignoriert-Werden. Es ließ mich den Zustand der Erniedrigung erst recht spüren und mein Gefühlserleben pendelte in solchen Situationen zwischen mordlustiger Aggression und suizidaler Depression.
Männer taxieren anders. Zumindest heterosexuelle. In Gegenwart von einigermaßen ansehnlichen Frauen benehmen sie sich wie Hunde, deren Fressnapf man zu nahe kommt; ist man mit ihnen allein, wollen sie einem zeigen, was für Supertypen sie sind. Sie geben an und schneiden auf und schauen einen im Anschluss erwartungsvoll an. Meine Art, damit umzugehen, ist amüsiertes Lächeln und – konsequentes Schweigen. Nichts zu sagen ist die sicherste Methode, sich nicht in die Karten schauen zu lassen und wirklich nichts von sich preiszugeben.
Schwule Männer erkenne ich an der Länge des Blickkontaktes. An gewissen Örtlichkeiten – wie in Hamburg Sankt Georg z.B. ist die Wahrscheinlichkeit natürlich höher, auf Gleichgesinnte zu treffen als in der Stader oder Buxtehuder Innenstadt!
Ach, was sage ich! Gleichgesinnte gibt es leider Gottes viel zu selten, Spinner existieren auch hier!
Ich stehe beispielsweise überhaupt nicht auf Typen, denen man schon aus fünfzig Meter Entfernung ansieht, dass sie schwul sind. Ein bestimmtes stereotypes Outfit – die Frisur (wenn man überhaupt noch von Frisur sprechen kann. Einige bevorzugen einen nahezu kahl rasierten Schädel, andere wiederum tragen ihre Haare dermaßen kurz und gegelt, dass es schwierig ist, etwas Individuelles zu entdecken), ihre Kleidung, die Art und Weise, sich zu bewegen und sich zu geben – stößt mich ab.
Mir gefallen die, denen man es ganz und gar nicht ansieht.
Typen wie Jan eben.
Bei ihm würde man niemals auf die Idee kommen, dass er schwul sein könnte. Nun, bis vor einem Jahr war er es wohl auch nicht. Zumindest nicht offensichtlich. Was ihm in all den Jahren zuvor durch den Kopf gegangen ist, welche Sehnsüchte, Träume und Hoffnungen er hatte, werde ich hoffentlich eines Tages einmal von ihm erfahren. Wenn ich sein Partner bin.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man, wenn man sehr beharrlich ist, zu seinem Ziel kommt.
Ich kenne mich aus mit dem Erreichen von Zielen.
Es funktioniert. Das hätte ich nie vermutet. Laurent ist der Star meiner letzten Filme. Seitdem ich ihn einsetze, hat sich mein Einkommen verdoppelt. Ich beteilige ihn zu einem Viertel – er hat noch nicht richtig durchschaut, wie viel ich für unsere privaten „Inszenierungen“ bekomme. Für ihn ist das ganze ein Spiel. Er muss nur den Hengst geben und gut aussehen – das beherrscht er aus dem Effeff. Mir kommt es vor, als hätte er all die Jahre zuvor nur darauf gewartet, endlich seine Qualitäten ausspielen zu können. Er ist eine perfekte Liebesmaschine. Vor der Kamera. Als Mensch ist er charakterlich mies, ein widerlicher Ausnutzer, ein verachtenswerter Zeitgenosse. Ausgerechnet ich muss das sagen. Was bin ich denn? Der Typ, der die Schwächen anderer ausnutzt und sich dumm und dämlich daran verdient. Dem Himmel sei Dank, dass die Menschheit roh und verkommen ist! Wäre ich doch auch so gestrickt wie Laurent, dann würde es mir besser gehen. Wenn ich doch einfach nur all das genießen könnte, was mir momentan widerfährt. Mein Konto war noch nie so prall gefüllt. Seltsamerweise macht es mich nicht wirklich glücklich. Eigentlich ist es mir total egal. Aber aufhören geht auch nicht mehr.
Als das mit Alex passierte, war ich noch ein Anderer. Damals hat sich alles geändert. Es war ein Unfall, eine schlimme Sache, ich war danach total fertig. Ich hatte einen Menschen getötet. Einen Menschen, der mir sympathischwar. Es war Notwehr, ganz klar, ich musste mich selbst schützen, aber die Sache mitKatrin wäre nicht nötig gewesen. Andererseits habe ich sie
Jan war mit seiner Familie im vergangenen Urlaub in Kroatien. Das heißt nur mit seinen Töchtern – und natürlich mit dem blonden Studenten Nick – der Sohn war auf irgendeiner Ferienfreizeit, einer Art Fußballcamp. Noch erfahre ich alles aus zweiter Hand von meiner Nachbarin Frau Melzer, aber ich denke, es ist bald an der Zeit, selbst Kontakt zu Jan aufzunehmen.
Ich will nichts überstürzen, alles soll sich ganz natürlich entwickeln.
Den ersten Schritt habe ich bereits gemacht, indem ich begonnen habe, in seinem Baumarkt, in welchem er als Marktleiter tätig ist, regelmäßig einzukaufen.
Nach Mutters Tod war es dringend notwendig, das Haus auszumisten und mich von alten Scheußlichkeiten und den damit verbundenen Erinnerungen zu trennen. Nahezu das gesamte Mobiliar habe ich entweder verkauft oder als Sperrmüll entsorgt. Wochenlang hauste ich in einem fast leeren Haus und schlief auf einer Matratze. Inzwischen sind die Zimmer im Erdgeschoss frisch tapeziert oder gestrichen und mit einem neuen Fußboden versehen. Natürlich habe ich es sehr geschickt angestellt im Baumarkt und mich von ihm beraten lassen, welcher Bodenbelag am geeignetsten ist. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an das Gespräch, es war sozusagen die erste Annäherung. Ob er sich später auch daran erinnern wird und wir dann gemeinsam darüber lachen, dass es bei unserem ersten Zusammentreffen darum ging, ob ich nun besser Laminat oder doch Landhausdielen für mein Haus kaufen soll?
Ich habe mich dann für die Landhausdielen entschieden. Geld spielt keine Rolle, Omas Erbe half mir dabei. Wie bereits bei der Schönheits-OP.
Es ist angenehm, sich versorgt zu wissen und seinen Neigungen nachgehen zu können. Den Fahrerjob bei Kaufmann Dahle habe ich eigentlich nicht mehr nötig, aber ich wollte dieses Jahr noch nicht kündigen. Es würde keinen guten Eindruck machen bei den Leuten im Dorf. Allzu sehr sähe es nach glücklichem Erbe aus – erst im nächsten Jahr, wenn meine zwei Bücher erscheinen, werde ich Herrn Dahle mit Bedauern mitteilen, dass ich mich nur noch auf meine Schriftstellerei konzentrieren möchte.
Die Leute wissen, dass von mir ein Buch erscheinen wird, welches meine persönliche Gewichtsgeschichte behandelt und sind sehr neugierig. Von dem zweiten Roman, der im Schwulen-Milieu spielt und in einem anderen Verlag produziert wird, ahnen sie selbstverständlich nichts. Auch hier muss ich sehr vorsichtig agieren und alles langsam angehen lassen – schon wegen Kerstin und Karl, die keinen blassen Schimmer haben, welche Neigungen ich habe!
Dass ich mich sexuell zu Männern hingezogen fühle, ahnen sie nicht im Traum!
Kerstin ist die Nichte von Alice Schwarz. Sie und ihr kräftiger Freund Karl wohnen seit fast einem Jahr in dem Häuschen der Tante. Zwei Tage nach ihrem Ableben kurz vor Weihnachten rückten sie an, entdeckten die Tote und glaubten, sie hätte sich während der Selbstbefriedigung stranguliert. Das, so versuchten sie mir später weiszumachen, sei ihnen derartig peinlich gewesen, dass sie es vorzogen, die Tante in ihrem eigenen Garten zu verscharren anstatt es der Polizei zu melden! Im Nachhinein erfuhr ich, dass Kerstin gute Gründe gehabt hatte, die Begegnung mit der Polizei zu meiden. Sie war krankhaft kleptomanisch und wurde wegen diverser Vergehen gesucht.
Sie stahl einfach alles, wenn sich die Gelegenheit ergab. Man durfte sie nirgends unbeaufsichtigt allein lassen. Von Karl hatte sie Einkaufsverbot. Er kümmerte sich darum, die Lebensmittel zu besorgen. Ab und an allerdings hatte sie „frei“ und dann zog sie los, meistens nach Hamburg. Karl hatte sie darum gebeten, sich möglichst weit entfernt vom Wohnort zur Diebestour zu begeben. Negative Erfahrungen in der Vergangenheit werden ihn zu Vorsichtsmaßnahmen dieser Art angehalten haben, vermute ich.
Ich lernte beide kennen, als ich die Weihnachtspäckchen von Kaufmann Dahle auslieferte.
Mir fuhr gehörig der Schrecken in die Glieder, als ich an jenem Morgen klingelte in der sicheren Annahme, dass niemand öffnen würde – ich wusste ja genau, dass Frau Schwarz es nicht konnte! – und Kerstin die Tür aufriss! Kurzzeitig verlor ich tatsächlich die Besinnung. Das war mir noch nie passiert! Ich hatte geglaubt, das gäbe es nur in schlechten Filmen.
Geklingelt hatte ich nur deshalb, weil ich alles korrekt machen wollte. Einfach vorbeizufahren und dann womöglich von jemandem gesehen zu werden, der sich später daran erinnern würde, dass ich offensichtlich gewusst hatte, dass Frau Schwarz zu dem Zeitpunkt schon tot war, erschien mir zu riskant. Kerstin und Karl erzählten mir damals, ihre Tante sei nach Mallorca geflogen und sie hüteten das Haus. Mir erschien es wie ein echtes Weihnachtswunder! Die Leiche wurde entsorgt, ich musste mir keinerlei Sorgen machen!
Als ich im Frühjahr im Rahmen meiner Gewichtsreduktion einen Fastenkurs an der Volkshochschule machte, traf ich die beiden wieder. Karl, der selbst sehr übergewichtig war – und leider Gottes noch ist – hatte sich von Kerstin überreden lassen, mitzumachen. Eine schlimme Tortur für ihn, wie er mir übrigens im Nachhinein gestand. Nie wieder wollte er sich das antun!
Auf diese Weise kamen wir uns näher.
Irgendwann im Sommer beichtete mir Karl die Sache mit der toten Tante, die unter einem mittlerweile prächtig blühenden Rosenbusch vergraben lag. Karl ist ein sehr angenehmer Mensch. Er redet nicht allzu viel im Gegensatz zu seiner geschwätzigen Freundin. Diese Geschichte mit Tante Alice jedoch war ihm sehr auf den Magen geschlagen, sein Geständnis erleichterte ihn offenbar sehr. Mich rührte es, dass er so großes Vertrauen zu mir gefasst hatte und ich enttäuschte ihn nicht. Zwar verhielt ich mich angemessen schockiert, aber ich brachte ihn nicht in Gewissensnöte, indem ich ihm damit lästig fiel, ihn aufzufordern, doch zur Polizei zu gehen.
Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hatte, diese Briefe zu verfassen. Vielleicht war es Neugier darauf, wie sich Kerstin und Karl verhalten würden. Menschliches Verhalten lässt sich nur schwer im Voraus erahnen, diese Erfahrung musste ich gezwungenermaßen schon oft machen; allerdings hatte es auch Situationen gegeben, in denen ich mich auf meine Berechnungen verlassen konnte, andernfalls hätte es damals mit Omas Unfall nicht so perfekt geklappt.
Diese Briefe an die beiden waren hübsch gebastelte Erpresserschreiben. Wie man sie sich halt vorstellt. Ausgeschnittene Buchstaben aus den unterschiedlichsten Zeitschriften. Diffuse Andeutungen, aus denen hervorging, dass der Erpresser wusste, was sich abgespielt hatte.
Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben.
Ein überaus günstiger Zufall wollte es, dass genau in diesem Zeitraum Alices Liebhaber offenbar Sehnsucht nach seiner üppigen Lust-Gespielin bekam und in schöner Regelmäßigkeit ihr Haus zu umschleichen begann, in der Hoffnung, sie anzutreffen.
Karl war zwar schwerfällig, aber nicht allzu dumm. Er rechnete zwei und zwei zusammen und traf die Feststellung: der Ums-Haus-Schleicher war der Erpresser! Und Kerstin ging in ihrer Annahme noch weiter und verursachte mir sträubende Nackenhaare ob ihrer Klarsicht: Wenn der Erpresser von Alices Ableben wusste, dann nur, weil er bei ihrem Tod zugegen war. Ergo war der Erpresser womöglich sogar ein Mörder. Die Annahme der Selbststrangulation verflüchtigte sich.
Zu dritt schmiedeten wir einen Plan, wie man sich vor ihm schützen oder besser noch: befreien konnte. Mir war das sehr lieb, denn dieser Typ hätte mir womöglich irgendwann gefährlich werden können. Wer weiß, was Alice ihm alles in ihren Schäferstündchen erzählt hatte! Mir kochte noch bei der Erinnerung dieser Vorstellung das Blut, sie habe ihn womöglich mit meinem Versagen erheitert!
Kennen gelernt hatte sie ihren dominanten Meister – sie teilten die Vorliebe für kleine Sado-Maso-Spielchen – in einem Chatraum. Da sie mich an unseren gemeinsamen Donnerstagen in die Benutzung des Internets einwies, wusste ich, wo sie sich herumtrieb und bekam sehr schnell heraus, in welcher speziellen Chatgemeinde sie zu verkehren pflegte. Ich muss sagen, es hat mir großen Spaß gemacht, mich nach ihrem Dahinscheiden für sie, explizit unter dem Nicknamen Wonnekloß auszugeben und ihren hungrigen Lover an der Nase herumzuführen!
Es war ein Leichtes, sich mit ihm zu verabreden. Er sehnte sich nach Alice, die seiner Meinung nach ein halbes Jahr auf Mallorca verbracht hatte und sagte begierig zum vereinbarten Treffen zu.
Jene Nacht hatte es in sich.
Ich war mit Karl und Kerstin in Alice Schwarzens Haus verabredet, den Erpresser oder Wonderboy, wie er sich im Chat neckischerweise zu nennen pflegte, hatte ich – ohne ihr Wissen natürlich – gegen halb elf bestellt, um ein, wie er glaubte, lustvolles Wiedersehen mit Alice zu feiern. Der Überraschungseffekt würde dafür sorgen, so nahm ich an, dass wir schnell und entschlossen zu dritt handeln könnten.
Es kam natürlich anders.
Das Wetter machte mir einen Strich durch die geplante Rechnung. Meine verhassten Möbel, die ich als Sperrmüll an die Straße gestellt hatte, mutierten durch den heftigen Gewittersturm zu Geschossen und demolierten das Kellerfenster eines Nachbarehepaares von Frau Melzer, die mich telefonisch davon unterrichtete. Mir schien es zu dem Zeitpunkt, als würden alle gut durchdachten Pläne von mir durchkreuzt. Alles hatte sich gegen mich verschworen! Das Wetter, die Umstände – alles ging schief! Karl, der Gutmensch, begleitete mich, um mir zu helfen, Kerstin blieb zurück und als wir mit der Aufräumerei und Abdichterei des Kellerfensters von Lindstedts fertig waren und das Schwarzsche Anwesen wieder erreichten, war sie mitsamt Auto der Tante verschwunden. Ein Handyanruf von ihr war kurz und mysteriös. Sie hätte ihn erledigt, sagte sie uns.
Ich wusste sofort, wen sie meinte.
Da wir im Vorfeld bei einigen Observierungen ausgekundschaftet hatten, wo Wonderboy wohnte, fuhren wir ihr nach und entdeckten die völlig aufgelöste Kerstin mit einem riesigen Küchenmesser in der Hand auf der obersten Treppenstufe der Kellertreppe sitzend. Alles im strömenden Gewitterregen. Zum Glück. Sonst hätte man uns womöglich gesehen.
Für Wonderboy dagegen hatte sich das Wetter als sehr ungünstig erwiesen. Die regennasse Kellertreppe brach ihm das Genick bei der hastigen Flucht vor der ihn verfolgenden Kerstin, die wie eine vollkommen durchgeknallte Halloweenmörderin mit dem Schlachtermesser auf ihn gewirkt haben muss.[4]
Wir waren alle drei ziemlich mitgenommen nach diesem Erlebnis und verabschiedeten uns voneinander. Ich fuhr nach Hause und legte mich in die Badewanne, wo ich mich genüsslich mit Rotwein betrank.
Am nächsten Vormittag schrillte mich das Telefon grausam früh aus dem Schlaf. Ich bin kein regelmäßiger Trinker, von daher hatte mir der gesamte Inhalt des kräftigen Bordeaux ziemlich zugesetzt und ich litt noch unter den Nachwirkungen.
Mit schmerzend pochendem Kopf und einem Geschmack im Mund, der sich anfühlte, als befände sich anstelle der Zunge eine tote Maus, tappte ich desorientiert und so hastig es mir eben möglich war nach unten und meldete mich in der Annahme, es könne sich nur um Karl oder Kerstin handeln, die von der Polizei belästigt wurden, als ich Juttas Stimme hörte, die mir unter Schluchzen mitteilte, dass ihr Mann einen tödlichen Unfall gehabt hatte.
Er sei die Kellertreppe hinuntergestürzt! Die Nachbarn hatten ihn am frühen Morgen nach dem Gewitter gefunden, weil sie entnervt vom kläffenden Dackel in der Garage um den Schlaf gebracht nach seinem Herrchen oder Frauchen gesucht hatten. Jutta selbst war zu Besuch bei einer Freundin und wurde nach dem grausigen Fund sogleich benachrichtigt.
Wenn ich nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, dass es Horst war ...!
Juttas Horsti. Ihr angeblich treuer Ehegatte.
Ich war felsenfest davon ausgegangen, dass der umtriebige Geselle der gern mal fremdgehende Freund ihrer Tochter gewesen sein müsse – ich hatte Horst nie von vorn gesehen und von daher auch keine Ahnung, wie er aussah, geschweige denn, wie alt er war. Meine Beobachtungen von ihm beschränkten sich auf Anblicke eines bemerkenswert muskulösen Hinterns und eines Neid erweckenden gewaltigen Gliedes.
Dass es Jutta Göttlichs eigener Gatte war, der sich in Chaträumen als gewiefter Verführer herumtrieb und nichts anbrennen ließ, konnte ich doch nicht wissen!
Es war ein ziemlicher Schock für die gute Jutta. Sie tat mir richtiggehend leid. Ich hatte sie liebgewonnen. Keine andere Pflegerin meiner Mutter war derart beherzt und resolut gewesen wie sie! Ich hatte stets geglaubt, Jutta könne man nichts vormachen – sie würde sich nichts gefallen, geschweige denn sich hintergehen lassen.
Natürlich leistete ich ihr Beistand auf der Beerdigung. Und lieh ihr hinterher mein Ohr für ihre sie bedrückenden Feststellungen, die sie beim Aufräumen im Keller gemacht hatte. Horstis Werkstatt sollte zugunsten eines Spielzimmers für ihren Enkel weichen. Und in ebendieser Werkstatt fand sich ein Schrank, der abgeschlossen war und ihre weibliche Neugier erheblich erregte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich der Schlüssel dafür fand – man stelle sich vor, Horsti hatte ihn in seiner Brieftasche deponiert!
Die Sache mit den Lederriemen und Ketten zum Beispiel. Oder der Gesichtsmaske mit den zwei Augenschlitzen und dem anzüglichen Lederslip, der vorn eine Öffnung hatte. Ganz zu schweigen von den seltsam anmutenden Gerätschaften, die sie noch entdeckt hatte. Eigenartige Klemmen mit den unterschiedlichsten Gewichten und ringartige Gebilde in diversen Größen und Materialien. Genoppt, gerillt, fleischfarben, durchsichtig. Was machte man damit? Was hatte er damit gemacht? Sie war sehr verwirrt und höchst irritiert. Der Zweck für die Verwendung der Dildos und Vibratoren in den verschiedensten Längen und Ausführungen dagegen war ihr offensichtlich bekannt und verursachte lediglich eine leichte Kränkung, den Fund der lebensgroßen Liebespuppe Modell „Uschi“ – mit drei engen Lustöffnungen laut Packungsaufschrift! – konnte sie fast schon wieder mit einem schulterzuckenden Seufzen abtun.
Horsti hatte ganz offenbar eine Seite gehabt, von der sie nichts geahnt hatte! Und – er musste sie ausgelebt haben, dieser Lüstling, denn sie hatte auch zahlreiche angebrochene Kondompackungen gefunden! Die Entdeckung dieser Utensilien traf sie am härtesten und erboste sie geradezu.
„Hätte er das alles nur so ... für sich benutzt, ich meine, jeder Mann hat ja ein paar Eigenheiten und intime Geheimnisse, von denen die Partnerin nichts wissen mag ... dann bräuchte er doch keine Kondome, oder? Warum sollte ein Mann sich ein Kondom überstreifen, wenn er Spaß mit sich selbst oder Uschi hat? Willi! Sag mir das! Tust du so etwas?“
Sie fragte mich allen Ernstes. Ich sah sie entgeistert an und verbat mir augenblicklich, mich gedanklich mit Uschi beschäftigen zu müssen, da es mir entsetzlich abstoßend und pervers vorkam, in sexueller Ekstase auf einer aufblasbaren und zudem auch noch weiblichen Gummipuppe herumzuwippen, da begriff sie, in welchen Fettnapf sie gesprungen war.
„Ach, entschuldige bitte, ich bin schrecklich indiskret ... aber nach all den Jahren zu erfahren ...“ Sie schluchzte auf.
Ich legte väterlich meinen Arm um sie und sie heulte sich an meiner rechten Brustseite aus. Es bestand keine Gefahr für sie, unangenehmen Achselgeruch von mir einatmen zu müssen. Ich war froh, dass ich nicht mehr wie früher das Problem hatte, ständig schwitzen zu müssen. Schlank sein bedeutet auch in dieser Hinsicht, einen appetitlicheren Gesamteindruck zu vermitteln.
„Ich weiß ja, dass ich immer so wenig Zeit hatte ... und abends dann viel zu müde war, um noch ...“
Mein Gott, es war wirklich anstrengend. Warum um Himmels Willen haben Frauen dieses permanente Bedürfnis, sich alles von der Seele reden zu müssen? Und mit alles meine ich wirklich alles. Ihre Geständnisse machten mich verlegen, ich wollte all die speziellen Einzelheiten ihrer Ehe mit Horsti gar nicht erfahren!
Sie redete und redete. Wie es am Anfang war, als sie frisch verliebt und alles noch „im Lot“ war. Obwohl sie auch da schon gemerkt hatte, dass sie „darauf“ nicht so stand. Und natürlich seien Männer „gerade hier“ „eben anders“. Sie hätten halt andere „Bedürfnisse“ und wollten „ständig“. Sie hätte auch immer ein Auge zugedrückt, wenn sie „Heftchen“ bei ihm gefunden hatte. Später waren es dann Videokassetten. Das sei nun gar nicht ihr Geschmack gewesen, sich „so was“ anzugucken. Aber solange es ihn davon abhielt, anderen Frauen hinterher zu laufen ...? Als die Tochter geboren war, ging es mit ihrem ohnehin nie sehr ausgeprägten Sexleben rapide bergab. Annika war ein zartes Kind und oft krank. Da hätte sie bei der Kleinen schlafen müssen, weil die doch immer hoch fieberte. Das Kind ging vor. Das hatte er auch eingesehen. Ich begriff plötzlich, dass sie es erzählte, weil sie nach einer Rechtfertigung suchte, nach einer Entschuldigung! Aus was für Gründen auch immer hatte sie das Gefühl, eine Mitschuld an Horstis plötzlichem Tod zu haben! Offenbar hatte es überhaupt keine sexuellen Kontakte mehr zwischen ihnen gegeben, weil sie sich dem völlig entzogen hatte! Schon seit Jahren! Horsti dagegen war aus dem von Jutta verordneten Zölibat geflohen und hatte im Chat eine Gruppe unbefriedigter und abenteuerlustiger Damen ausgemacht, die seine Dienste und körperlichen Vorzüge zu würdigen wussten! Denn nicht alle Frauen waren so gelagert wie Jutta in dieser Hinsicht. Einige liebten erotische Spielchen. Und eine davon war Alice Schwarz.
Davon ahnte Jutta nichts und ich hütete mich, sie von meinem Wissen in Kenntnis zu setzen. Ich wusste, was sie von mir erwartete: ich sollte ihr Seelentröster und vor allem der Freisprecher ihrer Sünde sein; der Sünde nämlich, sich der ehelichen Pflichten entzogen zu haben! Ich sollte ihr Absolution erteilen – als Vertreter der männlichen Gattung. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Ich stellte mir vor, wie wir in einer katholischen Kirche saßen, in einer von diesen kleinen Kammern, in denen sich der Priester einschließen konnte und die reuigen Sünder flüsterten nur durch eine kleine Schiebeluke von den Vergehen der letzten Woche. Das war für die schwarzen Schafe der Priesterschaft bestimmt eine wahre Wonne! Mit gezielten Fragen konnte der strenge Gottesmann das arme bußfertige Opfer dazu bringen, sich etwas detaillierter auszudrücken, um sich auf diese Weise in anregende Stimmung zu versetzen und ungesehen im dunklen Kabuff ein wenig unter der Soutane wichsen.
In mir entstand sofort der Grundriss für eine im Mittelalter handelnde Story, in der ein homosexuell veranlagter Priester einen hübschen Jungen in der Gemeinde verfolgt und grausam quält, weil er ihm die Schuld an seinem sündigen Begehren gibt. Ich nahm mir vor, mich an den PC zu setzen, um diese Gedanken aufzuzeichnen, sobald Jutta sich beruhigt und mich verlassen hatte.
Das wäre sicherlich zumindest eine Kurzgeschichte wert. Mein Verleger gibt nicht nur Romane heraus.
Nachdem sich die Identität unseres Beschattungs-Opfers geklärt hatte, ging mir auch ein Licht auf, warum Jutta zur Beerdigung meiner Mutter mit dem Opel Astra erschienen war. Ihr eigener Wagen, der kleine Opel Corsa, befand sich zu jener Zeit in der Werkstatt und der Kindersitz im Astra war natürlich beizeiten angeschafft worden, um das Enkelkind zu transportieren! Ich hätte eigentlich selbst draufkommen müssen. Die Bemerkungen über den viel zu dicken Dackel von Frau Melzer und wie ein Hund dieser Rasse wirklich aussehen solle zum Beispiel hätten mich stutzig machen müssen.
Natürlich hätte ich es ganz einfach und sofort durch die Adresse erfahren können, aber ich habe Jutta nie gefragt, wo sie wohnt! Warum auch?
An jenem erkenntnisreichen Vormittag wartete ich noch auf den Wagen der Sperrmüllabfuhr, um anschließend den Fußweg und die Straße zu fegen. Ich habe es gern sauber und könnte es nicht ertragen, wenn die Leute über mich redeten und sagen müssten, ich sei unordentlich. Nach getaner Arbeit fuhr ich zu Karl und Kerstin.
Sie saßen gerade beim Frühstück und mitten auf dem Tisch entdeckte ich meine am gestrigen Abend mitgebrachten Sektflaschen.
„Wunderbar! Du kommst gerade recht!“, begrüßte mich Kerstin gutgelaunt und ich stellte mit leichtem Unbehagen fest, dass sie eine Alkoholfahne hatte. Karl war gerade im Begriff, meine zweite Flasche zu entkorken, als ich ins Wohnzimmer trat, wo sie am Esstisch saßen. Ich wehrte ab, als er mir einschenken wollte.
„Danke, für mich bitte nicht, ich habe noch Promille von gestern Abend. Ich war so erledigt, dass ich in der Badewanne eine ganze Flasche Rotwein trank“, erzählte ich. „Das gestrige Erlebnis hat mich ziemlich mitgenommen.“
„Na, denkst du, mich nicht?“, fragte mich Kerstin aufgebracht. „Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe, als ihr beide weg ward und ich hier allein saß und dann sehe ich plötzlich diesen Wagen hier vorfahren! Diesen verdammten Opel! Mir ist heiß und kalt geworden. Ich wusste nicht, ob ich mich verstecken soll oder ob ich mich gleich mit dem Messer hinter die Tür verziehe ...! Ich hatte echt Schiss und glaubte, dass der uns vorher beobachtet hatte! Und als ihr dann weggefahren seid, hat er sich gedacht, dass ich nun allein im Haus bin ...!“ Sie sah uns mit ihren großen Augen an und ergriff ihr Sektglas. Mit beherztem Schwung kippte sie sich die Hälfte des Kelchs hinein, wobei sie ihre Lippen spitzte.
Karl tätschelte ihren Arm. „Ist ja nichts passiert“, brummte er beruhigend. „Ist ja alles noch mal gutgegangen.“
„Was passierte dann eigentlich?“, fragte ich neugierig. Denn ich war schließlich hier, um zu erfahren, was sich gestern Abend während Karls und meiner Abwesenheit abgespielt hatte.
„Ich habe zuerst das Licht ausgemacht, als ich merkte, dass er es ist. Dann hab ich mich hier hingesetzt und abgewartet. Nach einer Weile hat er geklingelt! Er besaß die Dreistigkeit zu klingeln, könnt ihr euch das vorstellen?“
Selbstverständlich konnte ich das. Schließlich hatte er eine Verabredung!
„Ich nahm das Fleischermesser und stellte mich hinter die Haustür.“
Es machte direkt Spaß, mir die Schilderung dieser Szene bildlich vorzustellen. Wonderboy Horst Göttlich draußen vor der Tür im Regen, voller Lust und wahrscheinlich einem Riesenständer in der Hose, in der Hand eine Tüte mit unentbehrlichen Gegenständen für die Sado-Maso-Spielchen; Kerstin keine zwanzig Zentimeter entfernt hinter der Tür, mit klopfendem Herzen und einem Messer mit dreißig Zentimeter langer Klinge in der zitternden Hand.
„Und dann kam das Schärfste. Wisst ihr, was er dann gesagt hat? Er rief: Nun mach schon endlich auf!“
„Nein, echt?“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf und mimte den Fassungslosen.
„Ja! Da platzte mir der Kragen und ich schrie von drinnen: Hauen Sie ab oder wir holen die Polizei! Wir lassen uns nicht einschüchtern!“
Der Ärmste! Ihm muss gehörig der Schrecken in die diversen Körperglieder gefahren sein.
Seine anschließende Reaktion lässt das vermuten.
„Ich hörte ihn nur noch wegrennen und ins Auto springen“, erzählte Kerstin begeistert weiter und trank ihr Glas leer. Wortlos reichte sie es Karl, der sofort nachschenkte.
„Dann dachte ich, das kann’s nicht gewesen sein. Der wird immer wieder kommen, also schnappte ich mir Tantchens Autoschlüssel und bin hinterhergefahren.“
Mit dem Messer, dachte ich und laut fragte ich „Hat er dich bemerkt?“, und trank einen Schluck Kaffee, den Karl mir freundlicherweise angeboten hatte.
„Ich glaub ja. Schnell fahren konnte man nicht und außerdem waren keine anderen Leute unterwegs. Ich denke schon, dass der mich gesehen hat. Auf jeden Fall ist er zu Hause gehetzt aus dem Auto gestiegen – nicht mal die kleine Töle hat er mitgenommen – und ist wie ein Blöder zur Kellertreppe gelaufen. Naja, ich war inzwischen auch schon da und wartete mit dem kleinen Messerchen. Ehrlich, ihr könnt’s mir glauben, ich hab ihm nix getan! Ich bin bloß auf ihn zu und sagte ihm, er solle endlich aufhören, uns zu belästigen, da rutschte er auch schon aus und ich sah ihn fallen. Er muss sofort hin gewesen sein, denn er hat nicht mehr gestöhnt oder gewimmert oder so. Sofort danach war Ruhe. Noch einen“, sagte sie und hielt Karl erneut das geleerte Sektglas hin.
Ich musste innerlich aufatmen. Dass die Operation Wonderboy so reibungslos über die Bühne gehen würde, hätte ich mir zwar gewünscht, aber nie für möglich gehalten! Entgegen meiner Grundsätze hielt ich nun Karl doch meinen Sektkelch hin. „Dann stoßen wir gemeinsam an. Auf die Freiheit!“
Mein Haus erstrahlt in neuem Glanz. Die altbackenen Linoleum-Böden aus Flur und Küche sind entfernt, Terracotta-Fliesen liegen in Küche und unterem Bad, alle anderen Räumlichkeiten sind mit jenen schon an anderer Stelle beschriebenen Landhausdielen ausgelegt.
Es war eine Menge Arbeit, aber sie hat auch Spaß gemacht. Ich war noch nie ungeschickt in handwerklicher Tätigkeit; ich habe mir alles selbst beigebracht, denn von den zwei Frauen, mit denen ich zusammen lebte, konnte ich in dieser Hinsicht natürlich nichts lernen.
Doch, ich habe einiges gelernt. Zum Beispiel, mich zu verstellen und immer unter Wert zu verkaufen. In der Schule war ich von daher mittleres bis unteres Mittelmaß. Einzig im Fach Mathematik traf dies zu. In allen anderen Fächern tat ich lediglich so, als käme ich gerade eben mit. Nur nicht auffallen, war meine schulische Devise. Hätte ich mir mehr Mühe gegeben oder mehr Ehrgeiz besessen, ich wäre womöglich ein guter oder sogar sehr guter Schüler geworden, aber das hätte mich noch mehr ins Abseits gestellt. Der dicke Willi hatte kein Recht auf Bewunderung. Ohnehin werden die guten Schüler äußerst selten von ihren Mitschülern gemocht, ich hätte mich nur noch unbeliebter gemacht. Möglichst unsichtbar zu sein – was ein Hohn zu sein schien bei meiner auffallend üppig ausfallenden körperlichen Präsenz – schien mir der bessere Weg und indem ich ihn einmal eingeschlagen hatte, war ich bis ans Ende meiner Schulzeit darauf festgelegt.
Die Kunst, mich zu verstellen, habe ich zu Hause perfektioniert. Meine wahren Gefühle und Gedanken konnte ich nicht äußern – schon sehr früh habe ich erkannt, dass sowohl Oma als auch Mutter zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ihre verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung beanspruchte zu viel Platz in ihrem Leben. Klein-Willis Probleme wurden nicht gesehen.