Ausnahmezustand - Nick Zachries - E-Book

Ausnahmezustand E-Book

Nick Zachries

0,0

Beschreibung

Mit fast dreißig Jahren ist Wilfried Wolters noch Jungfrau – lebt obendrein auf dem Land und ist ans Haus gefesselt sein, weil die eigene Mutter ein Pflegefall ist – Norman Bates lässt grüßen! In unmittelbarer Nähe lebt Jan Grewe, ein Familienvater mit drei Kindern, sportlich, gutaussehend und geil – der Traum seiner erotischen Phantasien. Er erwacht aus seinen Träumen, als er von der größten Klatschtante des Dorfes erfährt, dass sein Favorit sich offenbar von der Ehefrau getrennt hat und nun mit einem jungen Mann zusammen ist. Voller Eifersucht nimmt Wilfried sich vor, sein Leben grundlegend zu verändern mit dem Ziel, eines Tages der Partner von Jan zu sein. Der verhasste Nebenbuhler muss weg. Notfalls mit Gewalt. Wilfried stellt fest: er besitzt mörderisches Potential …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2011

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nick Zachries

Ausnahmezustand

 

Himmelstürmer Verlag

 

eBookMedia.biz

   

978-3-86361-017-3 PDF

978-3-86361-018-0 PRC

978-3-86361-016-6 ePub

   

Copyright © by Himmelstürmer Verlag

Coverfoto: (c) C.Schmidt / www.CSArtPhoto.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus.

Hergestellt mit IGP:FLIP von Infogrid Pacific Pte. Ltd.

Über den Autor

Der Autor Nick Zachries lebt mit Partner und drei Kindern vor den Toren Hamburgs im Alten Land. Etwaige Ähnlichkeiten seiner Lebensumstände mit Vorkommnissen aus seiner ersten Trilogie  „Zweite Halbzeit", „Olympiareife Nummern" und „Das Finale-Mitten ins Herz" (alle drei erschienen im Himmelstürmer Verlag) sind sowohl beabsichtigt wie auch größtenteils erfunden. Wahrheit und Fiktion gehen - wie bei vielen literarischen Beispielen - Hand in Hand.

Auch in der neuen Trilogie, die mit dem ersten Ban „Ausnahmezustand" beginnt, kann der Leser davon ausgehen, dass eigene Erfahrungen eine große Rolle spielen. Ähnlichkeiten mit gewissen Personen sind gewollt und bewusst gestaltet. Beklemmende Erinnerungen haben hier ihren Platz gefunden ...

   

   

   

   

   

All jenen gewidmet, die mit ihrem Gewicht zu kämpfen haben.

Ausnahmezustand 

Manchmal denke ich, wenn mich Oma damals nicht beim Wichsen erwischt hätte, wäre alles anders und bestimmt auch besser gelaufen.

In jenem fatalen Augenblick nämlich zerbrachen ihre Illusionen, die sie sich über mich gemacht hatte und unser bis dato inniges Verhältnis war ab diesem Zeitpunkt vollkommen gestört. Es hat sich nie wieder einrenken lassen. Alle meine Versuche, die alte Vertrauensbasis erneut herzustellen, scheiterten. In ihren Augen war ich genauso wie ihre Tochter, die sie verachtete: Auf niedrige Instinkte reduziert. Dabei hatte sie so große Stücke auf mich gehalten und geglaubt, ich sei etwas Besseres.

Ach, Oma, warum hast du nicht auch weiterhin an mich geglaubt?

Allerdings frage ich mich in letzter Zeit mehr und mehr, ob ich selbst noch an mich glauben kann. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, dann frage ich mich: Was für eine Chance habe ich? Gibt es für mich überhaupt eine Möglichkeit, etwas zu verändern?

Kennen Sie das auch? Dieses lähmende Gefühl, auf der Stelle zu treten ? Nur Sie allein, während alles um Sie herum summt und brummt vor reger Betriebsamkeit?

   

Heute ist es besonders schlimm. Die Luft riecht nach Frühling, obwohl es Anfang September ist. Wie komm ich darauf? Und wie riecht eigentlich Frühling? Können Jahreszeiten Gerüche verbreiten? Wohl kaum. Es sind Erinnerungsfetzen an warme Sommerabende mit Düften, wie sie nur an lauen Sommerabenden zustande kommen, die uns das Gefühl geben, den Sommer riechen zu können. Nachbarn, die grillen oder das Aroma frischer Erdbeeren, in der Mittagssonne noch warm gepflückt und gleich gegessen mit erdigem Beigeschmack. Frisch gemähtes Gras.

Wie aber riecht der Frühling? In meiner Erinnerung riecht er nach Essig oder Ajax oder Sidolin streifenfrei. Oma hat immer wie wild geputzt im Frühling. Jeder Schrank wurde vorgezogen und der gefundene Dreck mit konzentriertem Ernst und halblaut gemurmelten Kommentaren oder auch Flüchen energisch beseitigt.

Ich flüchtete dann gern in den Garten und verzog mich auf meinen Lieblingsplatz im alten Fliederbaum. Ein Ast war dem Erdboden sehr nahe und darauf konnte ich sitzen. Abwarten, bis sie fertig war. Vorher durfte ich doch nicht ins Haus. Ich hätte wieder einmal alles schmutzig gemacht.

   

Ich höre das Schreien der unterschiedlichsten Vögel. Möwen, Wildgänse oder Krähen und wie dieses Getier noch so heißen mag. Das Amselgezeter kann selbst ich wissensloser Ignorant deutlich heraushören.

Alle sind in Aufbruchstimmung, nur für mich geht alles weiter wie bisher. Oder?

   

Was ist denn heute mit mir los? Warum diese Gedanken auf einmal, die mir das Herz klopfen lassen als hätte ich besorgniserregende Rhythmusstörungen? Oder gar Vorhofflimmern? Ob ein Herzinfarktkandidat merkt, wenn es ihn ereilt? Ob er sich denkt: ach herrjeh, das ist es jetzt gewesen! Hätt ich nur die Zeit besser genutzt und was aus meinem Leben gemacht! Und laufen dann vor seinem geistigen Auge noch einmal all die Lebensstationen ab, die er nicht vergessen hat? All die kleinen Peinlichkeiten womöglich oder auch die versiebten Gelegenheiten? Dann zuckt er noch einmal und denkt: hätte ich dem hübschen KFZ-Mechaniker doch nur gesagt, dass ich nur seinetwegen in die Werkstatt komme, dass ich an ihn denke, wenn ich abends ins Bett gehe und morgens die Augen aufschlage! Dann noch ein letzter Seufzer und es ist aus. Und der Autospezialist hat nie was erfahren und ist schockiert, wenn er vom Tod seines Lieblingskunden hört. Spinne ich? Was geht mir bloß im Kopf herum? Irgendwas liegt in der Luft, ich spüre es ganz deutlich.

Die Realität reißt mich aus meiner seltsamen Stimmung. Sie ruft. Mutter. Mit ihrer zittrigen Stimme ruft sie nach mir. Normalerweise ist diese Stimme sehr durchdringend und fest, aber sobald sie nach mir ruft, wird sie brüchig und verursacht mir Gewissenspein. Ich habe das Haus verlassen, wähnte sie im Tiefschlaf. Sie schläft immer um diese Zeit, aber sobald ich etwas tue, was außerhalb der Norm liegt, scheint sie es mit sicherem Instinkt zu bemerken. Ob sie es riechen kann? Rieche ich anders, wenn ich vorhabe, das Haus zu verlassen? Wittert sie es im Tiefschlaf oder ahnt sie es bereits vorher? Verrate ich mich durch fahrige Bewegungen, wenn ich ihr den Tee hinstelle? Sieht sie es in meinem Gesichtsausdruck? Ist mein Blick unstet oder lasse ich allzu oft die Lider über die Augen schnellen? Bin ich anders, wenn ich daran denke, das Haus zu verlassen? Eine schaurige Vorstellung, wenn ich mir überlege, dass sie über solche Antennen und Sensoren verfügen könnte.

   

Seit jenem traumatischen Erlebnis mit Oma habe ich mich nie wieder getraut, am Tage auch nur daran zu denken. Also gönne ich es mir jede Nacht. Jede Nacht um drei Uhr wache ich auf, als hätte mein innerer Wecker geklingelt. Dann setze ich mich auf und stopfe mir das Kissen in den Rücken, schlage die Decke zurück, entledige mich meiner Unterhose und ... denke anschließend in Ruhe nach. Über das Leben, wie es sein wird, wenn sie mich nicht mehr ruft. Wenn sie keine Forderungen mehr stellt und ich den Tag zur freien Verfügung habe. Wenn es soweit ist, dann ... eigentlich weiß ich gar nicht, was dann sein wird. Die Ungeheuerlichkeit, mir vorzustellen, dass sie nicht mehr da sein wird, ist Befriedigung genug. Allein zu sein, keine Antworten geben zu müssen auf all ihre Fragen, ins Leere starren zu dürfen ohne dafür mit sarkastischen Worten gestraft zu werden - es muss sich wie wahrer Frieden anfühlen.

   

Ihre Vorlage ist nass. Sie hätte schon seit fünf Minuten nach mir geschrieen, sagt sie mit schwacher Stimme, doch ihr durchdringender Blick ist von beispielloser Härte. Seit fünf Minuten. Da müsste ich mich nicht wundern, wenn sie es nicht mehr schaffe.

Ich halte unauffällig die Luft an, als ich die vollgepinkelte Vorlage zusammenfalte und in den dafür vorgesehenen Eimer lege. Der Geruch ist durchdringend, geradezu ätzend. Wenn ich den Eimer zur Tonne bringe, schießen mir manchmal die Tränen in die Augen. Die noch warmen durchnässten Windeln erzeugen bei mir Brechreiz. Ich mache das jetzt jeden Abend, seitdem sie die letzte Pflegerin aus dem Haus getrieben hat mit ihrer Unverfrorenheit, sie des Diebstahls zu bezichtigen. Als ob diese kleine schüchterne Person zu Derartigem fähig gewesen wäre!

Nach diesem allabendlichen Ekel-Ritual habe ich keinen Appetit mehr und muss nichts mehr in mich hineinstopfen nach Mutters und meinem gemeinsamen Abendbrot, welches wir vor der eben genannten Prozedur einnehmen. Seitdem ich so verfahre, habe ich schon 10 Kilo abgenommen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Hoffnung, dass ich doch nicht an Adipositas1 verrecken werde. Mit einem Hühnerbein in der Kehle oder einem riesigen Schinken-Mayonnaise-Sandwich, nicht wahr? Stellen Sie sich nicht immer vor, dass Dicke genauso zu Grunde gehen? Am letzten Bissen erstickt, im Bett sitzend in einem hässlichen schmuddeligen Schlafanzug aus angerauter karierter Baumwolle, der bereits seit mindestens zehn Jahren aus der Mode ist? Den Mund schlaff geöffnet mit herausquellenden Krümeln und Speiseresten, die Hände fettig von der allerletzten Schnitte, die auf der Bettdecke liegt, natürlich viel zu dick mit Butter bestrichen, das Zimmer voller leerer Chipstüten und Stanniol-Papier-Resten von unzähligen Schokoladetafeln der unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, weil es Dicken angeblich sowieso egal ist, was sie in sich hineinstopfen ... ? Ist nicht auch die übergewichtige Sängerin von den „Mamas und Papas“ auf diese Weise krepiert? Ich meine, ich habe das mal irgendwo gelesen.

Ich bin 1,75 m groß und habe vor drei Monaten noch 125 Kilo gewogen. Die meisten handelsüblichen Waagen zeigen das Gewicht bis 130 Kilogramm an. Als mir das bewusst wurde, stellte ich mich regelmäßiger darauf, obwohl es mich große Überwindung kostete, nur um nicht diese letzte Schallgrenze zu überschreiten. Das hatte ich mir ganz fest vorgenommen und erstaunlicherweise auch geschafft.

   

Das Essen war ihr Köder.

Immer drehte sich alles ums Essen. Hier waren sich Oma und Mutter ausnahmsweise einmal einig.

Seit ich denken kann, hat sich alles zwischen uns ums Essen gedreht. Fiel ich hin bei zu wildem Spiel - ich spielte selten wild, da ich nie die Gelegenheit hatte, mich von ihnen fortzubewegen, dann gab es Trost durch Essen. Schokolade, Kekse, Kuchen. Sie hatten immer etwas von allem da. Oma stand den ganzen Tag in der Küche und buk und briet irgendetwas. Und ich musste es essen.    Abends türmte sie den Tisch voll mit all den Sachen, die sie tagsüber fabriziert hatte und ich durfte nicht eher aufstehen, bevor ich von allem probiert hatte. Das Abendessen war eine Qual, weil ich keine Chance hatte, ihren gemeinsamen kontrollierenden Augen zu entkommen.

Nachmittags war Oma hin und wieder abgelenkt, weil sie manchmal Besuch hatte von Frauen aus der Nachbarschaft, die sich über ihre Männer beklagten. Dabei konnte ich dann unbemerkt etwas in den Schoß in die Serviette gleiten lassen, wenn ich partout nichts mehr essen konnte. Als Kind hatte ich offenbar noch einen inneren Instinkt, der mir sagte, wann es genug war - später dann war ich völlig im Teufelskreislauf des Essens gefangen, dass ich es nicht mehr bemerkte, wann ich satt war. Das Essen wurde irgendwann zum Zwang. Essen war alles, was ich hatte. Essen war Ablenkung, Befriedigung und Trost.

Wenn Oma Besuch hatte, saß sie mit den Frauen ihrer Bekanntschaft am Tisch in der kleinen Stube und trank Kaffee und ich hörte sie reden - manchmal jammerten und klagten sie, aber es gab auch Ausbrüche der Heiterkeit über das seltsame Benehmen ihrer Männer. Ich denke, sie haben mich damals noch nicht wahrgenommen, sie glaubten vermutlich, ich würde mich für ihre Gespräche nicht interessieren, aber da irrten sie. Ich war sehr wohl imstande, genau zuzuhören. Wenn Mutter da war - weil sie einen freien Tag hatte - stand sie auch dabei, die eine Hand in der Taille, die unvermeidliche Zigarette in der anderen und sie dozierte über Männer. Ehemänner im Besonderen. Sie katalogisierte und kategorisierte und die Frauen konnten ihrer Intelligenz und Wortgewalt nichts entgegensetzen. Sie saßen entweder stumm da und lauschten ihrem Monolog mit großen Augen oder aber sie blätterten in den Magazinen, die Mutter aus den Arztpraxen unverfroren mit nach Hause zu nehmen pflegte.

Und wenn sie gingen, sahen sie in die Töpfe von Oma und sprachen bewundernde Worte. Wer soll das alles essen?, fragten sie. Unser Junge, sagten beide und als hätten sie es vorher abgesprochen, strichen sie mir abwechselnd über den Kopf.

Er ist doch alles, was wir noch haben, sagte dann Mutter und Oma nickte anerkennend dazu. Er ist unser Leben. Unser Augapfel.

   

* * *

    

In der Schule lachten sie über mich. Wie hätte es auch anders sein können? Das überrascht nun wirklich niemanden.

Sie riefen keine besonders originellen Namen. Das Übliche halt. Schweinchen Dick oder Fettsack oder aber auch nur die Koseform: Dickie oder Fettie. Im Sportunterricht stand ich immer bis zuletzt da, weil mich keiner der Anführer in seiner Gruppe haben wollte. Der Lehrer sah mich dann seufzend mit einem Ausdruck an, der eine Mischung aus Mitleid, Ärger und auch ein wenig Ekel darstellte.

Da war noch ein Mädchen in der Klasse, die genau wie ich ein Außenseiter war. Sie nannten sie Fetties Braut. Sie hieß Gesine. Sie war so dünn, dass ihre Wangenknochen aussahen, als würden sie bald durch die Gesichtshaut stechen. Ihre Haare waren stets fettig und hingen in dicken Strähnen vor ihr Gesicht, als wolle sie sich mit diesem unappetitlichen Vorhang verstecken vor der Grausamkeit der Realität.

Ich war damals 15. In jenem Sommer musste ich ins Zeltlager fahren. Mutter hatte einen neuen Liebhaber, mit dem sie Urlaub machte. Zuhause durfte ich allein nicht bleiben, weil Oma wegen einer Gallenoperation im Krankenhaus lag.

Als der Lehrer nach den Sommerferien in die Klasse kam, sah er uns sehr nachdenklich an und sagte, dass Gesine gestorben sei. Man hätte sie nicht mehr retten können, sie habe sich zu Tode gehungert. Magersucht. Es sei eine Krankheit, sagte er noch und dann begann er mit seinem Unterricht. Ich bemerkte, dass mich einige ansahen und ich hörte sie kichern und flüstern, dass mir das wohl nicht passieren würde. Ich liefe wohl eher Gefahr, mich zu Tode zu fressen.

Meine Fettsucht ersparte mir die Bundeswehr. Ich wurde ausgemustert. Die Untersuchungstortur blieb mir nicht erspart. Die hämischen Blicke der anderen, die neben mir standen, erzeugen noch heute eine heiße Welle der Scham, wenn ich mich daran erinnere.

   

Warum bin ich nach der Schule nicht einfach weggegangen? Alle anderen zogen fort, studierten, verließen dieses kleine Kaff. Nur ich blieb zu Hause. Hatte ich überhaupt jemals Regungen gezeigt, den Fangarmen meiner Mutter und Oma zu entkommen? Ich hatte einen Abi-Durchschnitt von 3,5. Keine wirklich gute Grundlage, um einen interessanten Studienplatz zu ergattern, andererseits gab es genügend Fächer, die keinen Numerus Clausus erforderten. Ich hätte also irgendetwas machen können. Eine richtige Ausbildung, nicht nur diesen Gelegenheitsjob als Fahrer des kleinen Tante-Emma-Ladens im Nachbardorf. Bloß was? Mutter arbeitete und gemeinsam mit Omas Rente hatten wir unser Auskommen. Und beide sorgten dafür, dass ich sie nicht verließ. Wir brauchen dich doch!, sagten sie in regelmäßigen Abständen. Und Oma erinnerte mich oft daran, dass sie es gewesen war, die mir den Führerschein und den Golf finanziert hatte. Meine Mutter hatte nie einen Wagen besessen, geschweige denn den Führerschein.

Sie war damals noch eine ungeheuer attraktive Frau bis zu dem Moment, als sie den Schlaganfall hatte, der ihre linke Körperhälfte lähmte und sie fortan ans Haus fesselte.

Sie hatte in ihrer Jugend als Schneiderin gearbeitet. Beileibe kein Beruf, der heute noch Geld einbringen würde. Jedoch schien sie bei allen Dingen, die sie anpackte, Glück gehabt zu haben. In einem großen Modehaus, wo sie arbeitete, lernte sie ihre privaten Kundinnen kennen, denen sie Kleider entwarf. Sie hatte angeblich großes Talent und das sprach sich herum. Zumindest erzählte sie mir ihre Geschichte so, wenn sie in rührseliger Erinnerungslaune war. Mein Verdacht war eher der, dass ihre wechselnden Liebhaber all die Jahre das Geld ins Haus brachten. Sie verstand es sehr geschickt, mit Geld umzugehen. Sie verschwendete nichts. Bei allem war sie sparsam, nur Lebensmittel waren stets verschwenderisch vorhanden, die Oma zu opulenten Mahlen verkochte. Essen für mich. Mutter selbst achtete streng auf ihre schlanke Linie und war stolz, immer Kleidergröße 36 zu tragen bei einer Körpergröße von 1,72 m.

Ich vermute, dass ihr letzter Liebhaber ihr eine größere Summe Geld vermacht hatte, mit der sie unser kleines Haus kaufte.

„Das Häuschen des Schriftstellers.“ Sowohl Oma als auch Mutter träumten beide von einer Schriftstellerkarriere für mich, bloß weil ich mit 13 Jahren einmal eine Geschichte an die Tageszeitung geschickt hatte und diese auch prompt gedruckt wurde. Es war mir unendlich peinlich, dass sie es ausschnitten und allen möglichen Leuten zeigten. Mutter schenkte mir fortan regelmäßig Schreibpapier, diverse Stifte und forderte mich auf, weiter zu machen. Ich empfand den Druck als sehr belastend. Abend für Abend fragten sie mich in jener Zeit, ob ich etwas geschrieben hätte, ob es voranging und wie viele Seiten mein Werk schon umfasste? Meistens winkte ich dann ab und gab ihnen zu verstehen, dass ich nicht darüber reden wollte, was beide veranlasste, sich mit wissendem Blick anzusehen. Diese ansonsten ungewohnte Solidarität der beiden Frauen verunsicherte mich zutiefst. Ich fühlte, dass sie sich die Wunschvorstellung von mir als Schriftsteller nicht ausreden lassen würden. Diese Vision vereinte diese zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Mir war bewusst, dass sie glaubten, ich würde mich mit philosophischen Dingen beschäftigen. Abwegig war das nicht, schließlich hatte meine kleine in der Vergangenheit veröffentlichte Geschichte ein humorvolles Streitgespräch über Sokrates und seinen Schüler Platon zum Inhalt gehabt. Da sich meine Gedankenwelt inzwischen jedoch ganz anderen - nämlich sehr profanen - Themen zugewandt hatte, litt ich unter meinem schlechten Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, sie zu belügen.

Natürlich schrieb ich!

Die Schuldgefühle waren immens, die mich quälten. Nur hätte ich diese Geschichten niemals an die Öffentlichkeit dringen lassen, geschweige denn sie Mutter und - vor allem: Oma! - zu lesen gegeben! Das tat ich nur für mich. Das war meine eigene kleine private Welt, die ich mir schaffen konnte. Was außer Lesen und Schreiben stand mir denn zur Verfügung?

Ich hatte doch keine andere Wahl! Ausgehen durfte ich nicht - außerdem - mit wem hätte ich mich schon treffen sollen? Niemand wollte sich mit mir verabreden. Ich war die Randfigur der Klasse, der Dicke, die lächerliche Gestalt. Das Schreiben war für mich die einzige Möglichkeit, meinem stumpfsinnigen Alltag zu entfliehen. In meinen Geschichten erträumte ich mir eine andere Realität, in der ich ungeheuer sportlich, mutig und vor allem - schlank! - war. Eben ein richtiger Held! Meine Mutter und Oma spielten in diesen Geschichten auch eine Rolle, aber sie kamen nicht gut dabei weg. Es war meine Rache auf dem Papier, dass ich sie oft in finsteren Verliesen schmoren ließ für ihre Verbrechen an meinem Körper. Das waren noch die harmlosen Fassungen. Später dann, als ich mir Bücher aus der Bücherei holte, in denen ich mich über Foltermethoden des Mittelalters informierte, kam es durchaus auch schon einmal vor, dass ich sie Bekanntschaft mit Streckbänken oder der Eisernen Jungfrau machen ließ.

Man kann sich sicher vorstellen, welche Höllenängste ich ausstand, wenn ich morgens zur Schule ging. Ständig lebte ich in Panik, dass sie meine Geschichten finden und sie während meiner Abwesenheit lesen könnten.

Aus dem Grund hielt ich mein Zimmer peinlich aufgeräumt. Mutter musste bloß saugen, und da sie es mit dem Saubermachen nicht so genau nahm - im Gegensatz zu Oma, die aber zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gut die Treppe hinaufgehen konnte, kam es höchst selten vor. Meistens machte ich das selbst am Wochenende.

   

Überhaupt - die Wochenenden! Mutters beste Zeiten waren auch meine! Oma war zu jenem Zeitpunkt schon tot - bei einem ihrer abendlichen Spaziergänge war sie überfahren worden. Der Unfallverursacher hatte Fahrerflucht begangen. Eine tragische Geschichte. Allerdings blühte Mutter anschließend noch einmal richtig auf. Zu Omas Lebzeiten hatte sie ihren Neigungen nicht so unverblümt nachgehen können. Vor mir brauchte sie sich nicht zu verstecken, im Gegenteil - ich gewann mehr als einmal den Eindruck, dass ein speziell auf mich ausgerichteter Exhibitionismus ein ausgeprägter Wesenszug von ihr zu sein schien.

Jeden Samstag frühstückten wir exakt um zehn Uhr, in der Woche standen wir um halb acht auf. Ich holte Brötchen, während sie    Kaffee kochte und den Tisch deckte. Nach dem Frühstück verschwand sie im Badezimmer, wo sie ausgiebig badete und verschiedene Rituale ablaufen ließ, wie die Enthaarung sämtlicher Körperregionen wie die der Beine, Achseln und ihrer Schamgegend. Während dieser Aktionen rief sie permanent nach mir, um sich etwas bringen zu lassen, daher weiß ich, was sie tat. Es störte sie nicht im Geringsten, vor meinen Augen solche intimen Dinge zu tun - vielmehr schien sie es sogar förmlich zu genießen, mich in Verlegenheit zu bringen. Mit zunehmendem Alter wurden mir diese Dienste mehr und mehr unangenehm. Was denn los wäre?, fragte sie mich dann großäugig. Sie sei doch bloß meine Mutter und ich bräuchte mich in keinster Weise zu genieren! Es machte mich hilflos, wenn sie das sagte. Ich genierte mich aber tatsächlich ungeheuerlich und es ekelte mich geradezu, sie nackt auf dem Klo sitzen zu sehen bei ihrer Genitalrasur, wenn ich das Badezimmer betrat.

Manch einer hätte wohl eher Gelüste bekommen, sie unbekleidet zu sehen, nicht so ich.

Aus der Schule kannte ich noch die Situationen, in denen in den Pausen „Heftchen“ herumgingen. Meine Mutter hätte gut da hineingepasst. Sie hatte genau solche großen Brüste wie die Damen in jenen Magazinen, die sich dort breitbeinig und mit Schmolllippen auf den Betten räkelten und den Männern bei diversen Lustspielchen willig zu Diensten waren. Die Herren sah man leider meistens nur von hinten, obwohl der Anblick dieser wohlgestalteten muskulösen Hinterfronten mir ein deutliches Pulsieren in meiner Unterhose verschaffte.

Damals verunsicherte es mich noch und machte mir große Angst.

Wenn Mutter nach ihrer stundenlangen Verschönerungs-Prozedur im Bad am Samstagnachmittag fertig war, verließ sie zehn Meter gegen den Wind nach Chanel N° 5 stinkend aufgedonnert das Haus. Meistens kam sie dann erst in den frühen Sonntagmorgenstunden zurück. Manchmal mit dem Taxi. Oft aber auch musste ich sie abholen. Sie wartete meistens in gediegenen Wohnvierteln, außer einem einzigen Mal musste ich sie nie aus irgendwelchen verruchten Spelunken aus zwielichtigen Vergnügungsvierteln mit nach Hause nehmen, die sie zweifellos vorher aufgesucht hatte, um ihre „Freier“ abzuschleppen.

Diese Zeit allein zu Haus war das, worauf ich die ganze Woche hinlebte. Frei zu sein, das zu tun, wonach mir war! Ich schaute mir sehr viele Videos an. Ich hatte eine kleine diskrete Videothek in unserer nächstgelegenen Kleinstadt ausgemacht, die Kassetten nach meinem Geschmack führte und die mir den Samstag zu einem einzigen Höhepunkt werden ließen. Genaugenommen waren es etliche Höhepunkte.

Hinterher sah ich genauestens darauf, dass sie keine Spuren meiner Anwesenheit im Wohnzimmer entdecken würde.

Zum Glück bin ich ein sehr reinlicher Mensch, der keine Unordnung mag. Die Videokassetten vergaß ich nie aus dem Apparat herauszunehmen, des Weiteren sorgte ich dafür, dass ich nichts besudelte mit den Ergüssen meiner Lust. Die Handtücher wurden seit jeher immer am Samstag Vormittag gewechselt - das war im Übrigen eine Aufgabe, für die ich mich schon zuständig bereit erklärt hatte, als Oma noch lebte und den Haushalt managte - also entnahm ich die ohnehin noch zu waschenden gebrauchten Tücher der vergangenen Woche dem Wäschekorb und breitete sie sorgfältig in meiner nächsten Umgebung aus, um mich dem aktiven Zuschauen dieser überaus anregenden Filme zu widmen. Im Abschluss daran pflegte ich die Waschmaschine anzustellen.

Das waren noch Zeiten, in denen ich frei war ... ! Seitdem Mutter ein Pflegefall ist, kann ich mir diese kleinen Fluchten, die mir viel Genuss und Entspannung verschafften, nicht mehr erlauben bis auf meine allnächtliche Routinehandlung. Der Fernseher und der Videorecorder stehen in ihrem Zimmer, Zweitgeräte unauffällig anzuschaffen würde mir nicht gelingen, denn noch immer kontrolliert sie die Ausgaben akribisch. Ihr Körper ist in desolatem Zustand, ihr Verstand hingegen beängstigend klar.

   

Mein alter PC hat keinen Internetanschluss, den ich rechtfertigen könnte. Sie kaufte ihn vor Jahren, als ihr Entschluss feststand, dass ich schreiben würde und sie in einer Dokumentarsendung, die einen Schriftsteller vorstellte, gesehen hatte, dass der Betreffende sich ein Arbeiten ohne Bildschirm nicht mehr denken konnte. Schreibmaschinen waren out.

Ihr kurzzeitiger Stolz über meine etwaige Schriftstellerkarriere legte sich jedoch rasch, nachdem ich ihr keinen Debüt-Roman präsentieren konnte nach Ablauf meiner Schulzeit. In jener Zeit schlich sich zum ersten Mal ein deutliches Zeichen von Verachtung in ihre Blicke, wenn sie mit mir sprach. Ich hatte sie bitter enttäuscht. Sie hatte doch alles für mich getan. Alles nur für mich.

Meinst du, das hätte mir Spaß gemacht, Woche für Woche die Beine breit zu machen?, fragte sie mich in alkoholisch benebeltem Zustand nach Omas Tod, wenn sie - anfangs noch selten genug, später dann aber immer häufiger vorkommend - zur Gin-, Wodka- oder Whisky-Flasche griff. Irgendwoher musste ja das Geld kommen! Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Du hast mir doch erzählt, dass du das Geld für die Modellkleider bekommen hast, die du früher genäht hast! Besser nicht an etwas rühren, was in ihrem Kopf noch eine sichere Rückzugsmöglichkeit für ihre Zukunft im Alter des Erinnerns darstellen würde. Wenn sie Glück hatte, würde ihr Geist die zahlreichen Episoden, die wirklich zu unserem Einkommen beigetragen hatten, verdrängen! Und wenn es nicht ihr eigener war, dann aber gewiss der Weingeist.

   

* * *

   

Ich schaue auf meine Armbanduhr und bleibe noch einen Moment draußen. Beschließe eine Zigarette zu rauchen. Frau Melzer kommt sowieso gleich. Mutter hat eine saubere Vorlage bekommen, ich werde ihr nachher lediglich für die Nacht noch einmal eine neue geben müssen.

Bevor ich das Abendessen mache, rauche ich. Lang genug hat es gedauert, das durchzusetzen. Eigentlich erstaunlich - schließlich rauchte sie selbst Kette ihr Leben lang und tut es noch heute! Aber sie hat auch andere Dinge getan, die sie mir niemals zubilligen würde.

Unsere Mülltonnen stehen in einer Nische im Garten. Der Vorbesitzer hat extra einen kleinen Verschlag aus Holzbrettern anfertigen lassen, in denen sie untergebracht sind. Hier stehe ich meistens, wenn ich rauche. Ich kann durch die Latten den ganzen Weg überblicken und die Leute beobachten, die an unserem Grundstück vorbeigehen, bleibe selbst jedoch verborgen. Unser Haus würde wie eine riesige Zigarettenhalde stinken, rauchte ich auch noch drinnen! Auf diese Weise bleibt der Geruch nur auf Mutters Zimmer beschränkt. Außerdem sind meine Rauchpausen kostbare Momente der Ruhe für mich, die ich mir nicht entgehen lasse.

Ich höre näherkommende Schritte und Stimmen. Männliche Stimmen. Spaziergänger gibt es hier selten, eher Leute, die ihren Hund ausführen. Meine Zigarette ist aufgeraucht, ich drücke sie aus und werfe den Stummel leise in die Tonne. Neugierig harre ich in meiner Ecke aus.

„Meinst du, dass sie was merken werden?“, fragt eine mir gänzlich unbekannte Stimme.

„Wenn ich das wüsste...“, antwortet ein Zweiter und diese Stimme kenne ich nur zu gut und sie bewirkt eine Erhöhung meiner Pulsfrequenz.

DER ist es! Er wohnt am Ende der Straße mit seiner Familie. Ich luge vorsichtig auf den Weg. Den blonden Jungen an seiner Seite habe ich noch nie gesehen. Ohne mich zu bemerken, gehen sie an unserem Garten vorbei. Ich blicke ihnen hinterher und bekomme nicht mehr mit, um was es in diesem Gespräch geht, denn sie haben jetzt eindeutig die Stimmen gesenkt. Der Junge lacht plötzlich auf und gibt ihm einen Stoß in die Seite, worauf er ihn wiederum schubst. Der Blonde sprintet plötzlich los, worauf er die Verfolgung aufnimmt und ich sehe ihnen neidisch hinterher. Würde ich auch gern können. Schnell laufen können. Sportlich sein. Schlank sein!

Jan Grewe heißt der, den ich - zumindest vom Sehen her - schon seit langer Zeit kenne und bewundere. Er und seine Frau Renate haben drei Kinder.

Frau Melzer wohnt ihnen gegenüber. Die kennt jeden im Dorf und versorgt meine Mutter mit dem gesamten Nachbarschaftstratsch. Ich kriege das natürlich auch mit. Ob ich will oder nicht.

   

Sie ist da und ich habe eine Freistunde. Frau Melzers Dackel Rudi begrüßt mich freudig. In ihm sehe ich einen Seelenverwandten. Ein gemästetes Lebewesen. Eine fette Hundewurst auf vier kurzen krummen Beinen. Ob Rudi Ähnliches denkt, wenn er mich betrachtet?

   

Was war das für ein Typ? Die Gedanken an den fremden Jungen an seiner Seite lassen mich nicht los. Ich habe den hier noch nie gesehen! Herr Grewe sah fabelhaft aus, offenbar ist er im Urlaub gewesen, denn er war ungeheuer braun und das lässt ihn noch attraktiver aussehen.

   

20:15 Uhr. Die Tagesschau ist vorbei. Frau Melzer ging pünktlich um kurz vor acht. Ich frage Mutter, welchen Sender ich für sie einschalten soll. Sie starrt an die Decke, als hätte sie mich nicht gehört. Sie hat mich genau gehört. Ich weiß es. Sie macht das in letzter Zeit oft. So tun, als wäre ich nicht da. Keine Reaktionen zeigen. Erst wenn ich das Zimmer verlassen will und schon an der Tür bin, kommen die Befehle. Knapp, kurz, abgehackt und vor allem unfreundlich.

„Erstes“. „Pro 7.“ „Arte.“  Es ist reine Schikane, denn sie starrt beinahe den ganzen Tag in die Flimmerkiste und schafft es selbst, wenn ich nicht da bin. Wofür gibt es Fernbedienungen? Abends jedoch braucht sie offenbar noch einmal das Gefühl, mich herumkommandieren zu können.

   

In meinem Zimmer setze ich mich an den PC.

Ich habe mich in letzter Zeit an andere Geschichten gewagt. Wenn das Leben an mir vorbeigeht, kann ich es wenigstens in schriftlicher Form herbeiholen! Noch während er hochfährt, höre ich sie schon wieder rufen.

„Willi!“ 

Sie kann doch nicht schon wieder nass sein?

Ich betrete ihr Schlafzimmer.

Sie starrt mich seltsam an, als würde sie eine Veränderung an mir bemerken. Sofort spüre ich schlechtes Gewissen. Meine Geschichten auf dem PC, jetzt ist er hochgefahren, sichtbar das Menü. Eigene Dateien. Ein Klick und schon tun sich Abgründe auf ... sie kann unmöglich wissen, was dort steht - ich muss dieses verdammte schlechte Gewissen endlich überwinden! Sie ist bettlägerig, sie kann ohne Hilfe nicht mehr aufstehen! Sie weiß nichts!

„Willi, ich muss mit dir reden. Setz dich hin.“ 

Mein Herz klopft stark, ich spüre, wie ich zu schwitzen beginne und fühle eine Panikattacke herannahen.

„Dem Grewe am Ende der Straße ist die Frau weggelaufen. Wegen einem Liebhaber.“ 

Ich zucke innerlich zusammen beim Nennen dieses Namens und unsauberen Gebrauchs ihrer Sprache.

„Aber anscheinend hat er schon Trost gefunden. Die Melzersche hat gesehen, dass er nicht allein aus dem Urlaub zurückkam.“

Sie kneift die Augen zusammen, während sie mich intensiv mustert und ich weiß, gleich kommt sie zur Kernaussage. Ich spüre meinen Herzschlag im Hals. Bestimmt kann sie sehen, wie es in meinen Adern an der Schläfe pocht.

„Der soll einen Jungen mitgebracht haben ... der ihn jetzt besucht, während die Kinder nicht da sind! Du gehst denen aus dem Weg, hörst du?“

Ich hasse mich dafür, aber ich weiß, dass ich rot geworden bin. Entsetzlich, wenn ich es fühle, wie die Hitze in mir aufsteigt und ich vollkommen machtlos dagegen bin. Den Hals hinauf, dann in die Wangen und hoch bis in die Kopfhaut. Ein Schweißtropfen aus der Achsel läuft an der Unterseite meines Oberarms hinunter. Kalt ist er. Ich bekomme eine Gänsehaut.

„Hast du mich verstanden?“ Ihre Miene ist verzerrt durch die gelähmte Gesichtshälfte und könnte genauso gut eine Maske sein - wäre da nicht der Speicheltropfen im linken Mundwinkel.

Ich starre auf die kleine weiße schaumige Blase und erstaunlicherweise beruhigt mich diese Unzulänglichkeit. Sie so hilflos und ans Bett gefesselt zu sehen, bringt mir das bisschen Selbstvertrauen zurück, was ich noch besitze.

„War's das?“, frage ich. Meine Stimme klingt höflich und distanziert, wie ich finde.

Sie sinkt ermattet ins Kissen zurück. „Mach mir noch einen Tee“, sagt sie. „Kamille.“

In der Küche sehe ich mir dabei zu, wie ich mechanisch und ruhig alles erledige, um den Tee für sie zuzubereiten, innerlich jedoch kocht es wie im Wasserkessel. Er pfeift, ich nehme ihn rasch vom Herd und gieße das Wasser in die Kanne. Sehe auf die Uhr. Fünf Minuten. Mir ist noch immer heiß und auch ein wenig übel. Ich starre aus dem Fenster und versuche mich zu beruhigen, damit sie nicht bemerkt, wie sehr mich ihr Gerede aufgewühlt hat. Ruhe, Ruhe ... tief durchatmen. Lehne meine erhitzte Stirn an die kalte Scheibe. Reiße ein Papier-Haushaltstuch ab und tupfe die Flecken auf dem Fensterglas und hernach meine schweißnasse Stirn trocken. Ich muss gleich so tun, als hätte ich gar nicht kapiert, was sie mir da gerade erzählt hat. Ich werde das Teetablett auf ihren Nachtschrank stellen und ihr sagen, dass ich müde bin und mich heute früh hinlegen werde.

   

Es hat offenbar geklappt, denn sie hat nichts mehr gesagt.

Jetzt sitze ich in meinem Zimmer und starre den Bildschirmschoner an, der mir den Anblick eines Tiefseeszenarios suggeriert. Gerade fährt die Haiflosse von links nach rechts. Gleich kommt der Rochen von rechts oben.

Ich kann mich nicht rühren, sitze bloß da und starre.

Sie muss eine Ahnung haben.

Habe ich jemals eine Videokassette liegen lassen? Oder - noch schlimmer - hat sie meinen PC während meiner Abwesenheit früher einmal gestartet? Kannte sie sich vielleicht doch damit aus und sie tat nur immer so, als wären es Böhmische Dörfer für sie?

Die Vorstellung, sie könnte wissen, was ich hier schreibe, macht mich nervös. Was denkt sie, wenn sie mich sieht? Ahnt sie von meinen Gedanken und Gelüsten?

Wenn nicht, warum dann diese Anspielung? Stimmt das überhaupt? Hat Jan Grewe jetzt einen Mann als Liebhaber? Liegt er vielleicht genau in diesem Moment mit seinem Freund im Bett? Ungeheuerlich, die Vorstellung! Und doch - Frau Melzer hat meistens recht mit ihren Beobachtungen. Ist seine Frau tatsächlich weg und hat er nun etwa ein Verhältnis mit diesem jungen Typen, mit dem er vorhin gelaufen ist? Aber er ist doch Familienvater! Sollte er etwa schwul sein ... ?

Oder hat die Alte bloß was durcheinandergekriegt?

Es macht mich völlig kribbelig. Die Vorstellung, hier in unserem Dorf, ganz in der Nähe, sollen sich Dinge abspielen, die ich nur heimlich in meinen Videos betrachtete, macht mich nervös ...

Ein allzu bekanntes Prickeln entsteht in mir.

Aber ich darf noch nicht. Ich muss bis 3 Uhr morgens warten. Versuche, an etwas Anderes zu denken, aber es gelingt nicht. Meine Gedanken wandern immer wieder zurück. Male mir aus, was am Ende der Straße gerade passiert.

Ich beschließe, noch einen Spaziergang zu machen.

Wenn Mutter schläft.

   

* * *

   

Zwei Stunden später schleiche ich wie ein Dieb aus dem Haus, nachdem ich den PC ausgeschaltet und mich vergewissert habe, dass sie schnarcht. Ein sicheres Zeichen, dass sie wirklich schläft. Mit meinem schwarzen Pullover über der dunkelbraunen Cordhose bin ich - trotz meines Umfangs - in der Dunkelheit nicht gleich zu sehen. Der Weg hinter den Gärten unserer Häuserreihe ist glücklicherweise nur ein Feldweg und von daher unbeleuchtet.

Er wohnt im vorletzten Haus. Oft schon habe ich ihn beobachtet, wenn er mit seinen Kindern im Garten war. Er gefällt mir außerordentlich gut. Ich habe ihn ständig vor Augen, wenn ich des Nachts mit mir beschäftigt bin. Und was ich mir dabei noch so vorstelle, das schreibe ich in letzter Zeit auf.

Das Haus ist dunkel. Kein Geräusch ist zu hören. Das Schlafzimmer ist unten links. Ich habe seine Frau dort schon ein paar Mal abends mit einem Buch im Bett liegen sehen.

Den Garten zu betreten, traue ich mich nicht, obwohl es ein Leichtes wäre, über die niedrige Gartenpforte zu steigen. Also harre ich hinter dem Busch aus, der dort wächst und warte mit wie verrückt klopfendem Herzen darauf, dass etwas geschieht! Um Gottes Willen, ich bin ein Spanner! Ich stehe hinter einem Strauch und beobachte ein dunkles Fenster in der Hoffnung, dass ich etwas davon mitbekomme, was dort drinnen passiert! Bin ich denn wahnsinnig? Als mir aufgeht, was ich hier tue und mich schon zurückziehen will, geht plötzlich ein Licht im Haus an. Fast wäre ich gestolpert, denn ich mache entsetzt einen Schritt rückwärts. Mein Herz rast jetzt. Licht im Wohnzimmer. Aber, das ist ja ... das ist er! Oh mein Gott! Und er ist vollkommen nackt! Nackt! Ich starre gebannt auf seinen Hintern, den er mir jetzt präsentiert, als er offenbar etwas in einem Küchenschrank sucht. Sein Hintern ist weiß im Gegensatz zu seinem übrigen braungebrannten Körper. Ein perfekt geformter weißer runder schöner Arsch. Sein Arsch! Ich sauge diesen wunderbaren Anblick förmlich in mir auf. Komme mir plötzlich sehr verwegen vor, es getan zu haben. Hierher gegangen zu sein und ihn jetzt heimlich zu betrachten. Es ist unglaublich erregend und besser als jedes Video, was ich kenne. Jetzt hat er etwas in der Hand. Ich kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, was es ist. Ein Glas Nutella? Mitten in der Nacht? Er verlässt mit dem süßen Brotaufstrich die Küche, welche den hinteren Teil des Wohnraums einnimmt und knipst das Licht aus.

Kurz darauf geht im Schlafzimmer eine kleine Lampe an und da sehe ich durch den Spalt des Vorhangs den blonden jungen Typ im Bett sitzen, mit dem er vorhin spazieren gegangen ist. Genauso nackt wie er! Es stimmt also, was die Melzer sagt. Wahnsinn! Meine Neugier ist nun doch stärker als die Angst, ertappt zu werden. Leise bin ich über die kleine Pforte gestiegen und habe mich auf die Terrasse geschlichen, wo ich nun direkt neben dem Schlafzimmerfenster stehe und aus nächster Nähe alles mitbekomme.

Ich bin fassungslos. Atemlos. Regungslos. Stehe wie in Hypnose da und kann nur gebannt auf den kleinen Spalt glotzen. Ich bin der Zuschauer eines Stücks, das nur für mich gespielt wird und mich vollkommen fesselt. Da, keine drei Meter von mir entfernt, bestreicht der fremde Junge ihn jetzt mit Nutella ...! Mit den Fingern langt er ins Glas und schmiert ihn ein! Er beginnt im Gesicht. Bestreicht seine Lippen, betupft sein Kinn, malt ein Muster auf die Brust. Wieder greift er ins Glas und umkreist jetzt seinen Bauchnabel. Ein paar Striche vom Bauchnabel abwärts - er malt sie als Pfeile! und lacht dabei, ich kann es sogar hören - deuten jetzt auf sein erigiertes Glied. Erneutes Ins-Glas-tauchen und es wird mit Schokolade bestrichen, ich starre auf die kleine Säule mit Streifen! Seinen Steifen mit Streifen ...! Nutella überall! Er legt sich bequem zurück und verschränkt seine Arme unter den Kopf. Ich sehe ihn grinsen und dann die Augen schließen, als sein Liebhaber sich über ihn beugt und anschickt, ihn lustvoll abzulecken ... beginnend am Mund, sich langsam in die unteren Gefilde vorarbeitend ... das Zentrum seiner Lust erreichend ...

Mit einem Aufstöhnen komme ich gleichzeitig mit ihm - es ist das Beste, was ich je zu Gesicht bekommen habe, der absolute Wahnsinn! - und ertappt höre ich im selben Moment das Klappen einer Autotür in der Nachbarschaft. Ich tauche schlagartig wieder in die Realität ein und bin mir schamhaft bewusst, was geschähe, würde man mich hier entdecken. Erstaunlicherweise mache ich kein Geräusch, als ich mit Herzklopfen und gänzlich aufgewühlt zum Gartentor zurückeile. Mit dem unangenehmen Gefühl der klebrigen Nässe in meiner Unterhose haste ich so leise wie möglich den dunklen Feldweg zurück.

   

Zuhause ist alles still. Ich nähere mich dem Zimmer meiner Mutter auf Zehenspitzen. Die Schuhe habe ich bereits an der Haustür ausgezogen. Sie schnarcht. Es ist alles in Ordnung.

Ich bin von der ausgestandenen Aufregung klatschnass geschwitzt und gehe ins Bad, um mich zu waschen.

   

Heute bin ich zum ersten Mal in der Nacht nicht aufgewacht. Als der Wecker um 6:30 Uhr klingelt, bin ich irritiert. Meine nächtliche Episode ist mir ein Bedürfnis schon seit vielen Jahren - seit mich Oma tagsüber erwischte - und noch nie habe ich sie ausfallen lassen ...! Vermutlich liegt es an dem gestrigen Erlebnis und den intensiven Träumen, die ich heute Nacht hatte. Ich halte die Augen geschlossen, um mir die letzten Traum-Sequenzen nicht entgehen zu lassen. Ich habe mir angewöhnt, mich an meine Träume zu erinnern. Träume sind sehr interessant und ich habe mal irgendwo gelesen, dass sie sehr viel Unterbewusstes preisgeben. Nun, ich halte mich nicht für so undurchschaubar, dass es vieles gäbe, was mir mein Unterbewusstsein quasi durch die Blume mitzuteilen hätte, nichtsdestotrotz nimmt die Beschäftigung mit Trauminhalten einen nicht unerheblichen Teil meiner täglichen Denkprozesse ein. Um einen Traum nicht entwischen zu lassen, ist es unbedingt nötig, gleich nach dem Aufwachvorgang die Augen geschlossen zu halten.

Ich habe in einem Haus gesessen, welches seins war. Zwar sah alles anders aus, aber ich weiß, dass es ihm gehörte. Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa und ich machte etwas mit ihm, ja, jetzt fällt es mir wieder ein, ich streichelte ihn. Er trug einen Bademantel und darunter war er nackt. Er sah genauso aus wie gestern Nacht, mit geschlossenen Augen und diesem genießenden Gesichtsausdruck. Mein linker Arm lag auf der Sofalehne und er hatte seinen Kopf daraufgelegt. Mit der rechten Hand streichelte ich seine nackten behaarten Schenkel. Es war unglaublich schön, dieses Gefühl im Traum, was ich dabei hatte. Ich wollte mir Zeit lassen und es ihm richtig gut machen. Langsam tasteten sich meine Finger an der Innenseite seiner Schenkel hoch und ich fühlte in mir kribbelnde Vorfreude, seinen harten Schwanz zu berühren, da ging die Tür auf und der blonde Typ kam rein. Er klappte sofort seinen Bademantel zu und sah mich an: „Du musst gehen“, sagte er mit einem bedauernden Gesichtsausdruck. Ich schämte und ärgerte mich gleichzeitig - es war alles so real! - und dann stand ich auf und ging zur Tür. Der Blonde sah mich spöttisch an, dann lachte er. „Hey, du hast ja noch nie gefickt! Dein Schwanz ist ja noch nicht draußen!“ Ich sah an mir herab, denn sein Blick war eindeutig auf meine Körpermitte gerichtet. Meine Hose war vorn durchsichtig und gab den Blick auf mein Glied frei, das heißt da, wo es hätte sein müssen, war so eine Art Beule unter der Haut. Wie ein übergroßes Furunkel im Genitalbereich! Mir erschien es völlig logisch im Traum. Ja, so sahen Männer aus, die noch nie Geschlechtsverkehr hatten! Er hatte recht.

Mein Penis war noch nicht aus seiner natürlichen Hauthülle hervorgekommen. Jeder konnte sehen, was mit mir los war! Beschämt verließ ich das Haus unter dem anhaltenden Gelächter des Blonden.

Verärgert öffne ich die Augen. Was für ein Schwachsinn! Diesmal hätte es sich gelohnt, den Traum entwischen zu lassen! 

Bereits kurz vor sieben. Ich muss mich beeilen, Mutter ist bestimmt schon wach. Morgens ist sie in letzter Zeit besonders unleidlich, wenn es nicht nach ihrem Willen geht. Vermutlich setzt jetzt die Altersdemenz bei ihr ein, die sie nach jedem erneuten Aufwachen vergessen lässt, wie es um sie steht und mit dem Einsetzen der Erkenntnis reagiert sie gallig.

Bevor ich jedoch ins Bad gehe, mache ich noch meine Übungen. Liegestütze und Sit-ups. Je zwanzig. Morgens und abends. Mehr schaffe ich leider noch nicht, aber ich bin stolz darauf, mich dazu durchgerungen zu haben, seitdem ich an Gewicht verliere. Angefangen habe ich mit zehn Einheiten pro Übung. Mehr schaffte ich zu Beginn nicht. Es war frustrierend und beschämend, festzustellen, wie wenig ich körperlich zu leisten vermochte.

112 Kilo zeigt die Waage heute an! Ich nehme mir vor, es in meiner Tabelle zu notieren. Nach meiner Berechnung müsste ich zu Weihnachten in einem Jahr mein Übergewicht verloren haben. Weihnachten in einem Jahr will ich 70 Kilo wiegen. Oder sagen wir zwischen 70 und 75 Kilo. Das ist bei meiner Größe von 1,75 m ideal. Mehr als das! Dann bin ich gertenschlank! 

Bis dahin ist es noch ein steiniger und vor allem entbehrungsreicher Weg. Immerhin: zehn Kilo habe ich innerhalb von dreieinhalb Monaten verloren ohne das Gefühl, mich besonders eingeschränkt zu haben. Zehn Kilo in ungefähr hundert Tagen. Das macht ein Kilo in zehn Tagen. Drei Kilo in einem Monat, 36 Kilo in einem Jahr! Laut Ernährungswissenschaftlern ist es realistisch, in diesem Tempo abzuspecken. Das müsste zu schaffen sein. Wie ich dann wohl aussehe? Vielleicht sehe ich dann ja richtig gut aus und vielleicht ist Mutter bis dahin ... und ich komme doch noch mal weg von hier.

Vielleicht. Könnte. Würde. Konjunktiv.

   

Es ist verdammt heiß, obwohl der Sommer seinen Zenit schon längst  überschritten hat. Alle Lebewesen haben sich schattige Plätze gesucht. Selbst die Vögel sind zu schlapp zum Singen. Der Ort wirkt wie ausgestorben. Es gibt keine Klimaanlage in diesem kleinen billigen Hotel. Nicht mal einen Kühlschrank im Zimmer. Der an der Decke hängende vorsintflutliche Ventilator dreht sich viel zu langsam, um einen wirkungsvollen Lufthauch zu erzeugen. Wahrscheinlich ist ihm auch zu heiß und er hat keine Lust, sich schneller zu drehen. Ich liege in Shorts auf dem Bett, meine Haut ist mit einem Schweißfilm überzogen. Den Fernseher brauche ich nicht, die Unterhaltung bekomme ich kostenlos aus dem angrenzenden Nebenzimmer. Sie kamen vor zwanzig Minuten und sofort legten sie los. Sie mit unangenehm hoher Stimmlage, einem geradezu hysterischen Organ, er mit tiefem resignierten Brummen. Dass sie sich was ganz anderes vorgestellt hätte, ihr das Zimmer gehörig missfällt und dass man in diesem Ort begraben wäre und dass alles nur seine Schuld wäre. Sie hätte ohnehin nicht hierher gewollt und warum sie nachgegeben hätte - ob er ihr das bitte mal erklären könne? Er ist kein Typ vieler Worte. Ich stelle mir vor, wie er sie von der Reise müde anschaut und dabei seufzt. Weil er ihre ewigen Nörgeleien satt hat und einfach nur seine Ruhe will. Wie ich, der hier nebenan liegt und versucht, eine kleine gepflegte Siesta zu halten. Ich seh sie im Geiste vor mir: zwei Pauschalurlauber aus einer Gegend in Deutschland, in der wenigstens angenehmerweise kein Dialekt gesprochen wird. Obwohl ... so ein urbayrischer oder hessischer Streit? Bei sächsischen Klängen hätt ich mir sofort die Ohren zugehalten. Das hält ja kein Mensch aus! Wie sie wohl aussehen? Wie ER wohl aussieht? Blond? Groß? Oder dunkelhaarig und klein? Glattrasiert? Dreitagebart? Seine Stimme klingt ... dunkelhaarig. Sie klingt ... oh, sie klingt gut. Ich spüre, wie ich geil werde beim Klang seiner dunklen Stimme. Besser, ich hole mir mal eben ganz unbefangen einen runter, bevor ich ihn real sehe ...! NOCH ist er in meiner Vorstellung ein Typ zum Verlieben, ein echter Kerl, ein Hetero, den ICH bekehre! Meine Lieblingsfantasie, noch immer. Ich sitze in einem kleinen Lokal. Er mit seiner Freundin am Nebentisch und dann begegnen sich unsere Blicke. Immer wieder schaut er zu mir rüber, wenn sie es nicht merkt. Es gibt mir diesen irren Kick, wenn ich mir vorstelle, er ist mit ner Frau liiert und wird durch mich auf ganz andere Gedanken gebracht. Er sieht mich an, ich nippe an meinem Weinglas und er an seinem Bier. Wir trinken uns heimlich zu, unbemerkt von ihr. Sie hat einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche geholt und korrigiert ihr Make-up. Und dann halte ich es irgendwann vor Erregung nicht mehr aus und gehe zum Klo. Gehe dicht an ihrem Tisch vorbei und sehe ihn nur ganz kurz, aber sehr eindringlich an. Ich muss nicht lange warten, schon kommt er rein. Er ist mir nachgegangen. Wir sprechen kein Wort, sondern starren uns nur an. Und dann kommt er näher und bleibt dicht vor mir stehen. „Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir los ist“, flüstert er und seine Stimme klingt heiser. „Was hast du mit mir gemacht?“ Wir fangen an, uns wie die Wahnsinnigen zu küssen, als würde unser Leben von diesen intensiven Küssen abhängen und dann hören wir Schritte vor der Tür. Ich ziehe ihn hastig in die einzige kleine Kabine und drücke die Tür zu. Keinen Augenblick zu spät. Wir hören jemanden hereinkommen und sind ganz still. Wir hören einen Reißverschluss und kurz darauf ein Plätschern. Dann einen Furz. Wir grinsen uns an. Er küsst mich erneut. In dieser engen Kabine. Ich setze mich auf den Klodeckel und sehe zu ihm hoch. Packe mit beiden Händen seinen muskulösen Hintern. Er schließt die Augen und drängt sich dicht an mich. Ich ziehe ihn zu mir heran, sehe die Beule in seiner Hose und öffne die Knöpfe seiner Jeans. Er stöhnt leise, als ich seinen erigierten Schwanz aus der Enge des Stoffes befreie. Der Mann im Bad hat die Spülung gedrückt und wäscht sich nun die Hände. Dann klappt die Tür. Wir sind allein. „Komm schon“, flüstert er ungeduldig, „machs mir.“ Ich sehe zu ihm hoch und öffne den Mund, mir dabei lasziv über die Lippen leckend.

Ich bin ein genügsamer Mensch in meinen Träumen. Meistens reicht mir diese Vorstellung mit ein paar geringfügigen Zusätzen schon und ich komme gleichzeitig mit ihm. So auch heute. Ich keuche noch ein bisschen, dann genieße ich die wohlige Entspannung nach dem Orgasmus. Die Streitereien habe ich vollkommen ausblenden können. Sie sind noch immer am Zetern. Falsch: sie zetert, er brummt. Ein Blick zur Uhr. Es ist fünf Uhr nachmittags. Ich beschließe, an den Strand zu gehen. Noch eine Runde schwimmen und Sonne tanken, dann werde ich essen gehen. Mal schauen, wie mein Zimmernachbar real aussieht. Bestimmt bekomme ich sie heute noch zu Gesicht.

   

* * *

   

Das Wetter wird langsam herbstlicher. Es reicht nicht mehr, sich nur einen Pullover überzustreifen. Bald muss ich wieder eine Jacke anziehen. Diese scheußliche grüne Lodenjacke, die mir Mutter vorletztes Jahr im Versandhaus bestellt hat und die ich überhaupt nicht mag. Viel lieber hätte ich eine Jeansjacke, aber ich weiß nicht, ob es die in meiner Konfektionsgröße gibt. Und käme ich mit einer an, würde sie mich wahrscheinlich nur wieder auslachen und zum Ausdruck bringen, dass ich keinen Geschmack hätte! Was mich jedoch am meisten abhält, wäre die Frage nach dem Geld. Wovon hätte ich sie mir kaufen können? Ich besitze kein eigenes Einkommen; das bisschen Geld, was ich in meinem Zimmer aufbewahre (in einer kleinen roten Geldkassette aus Metall, die mir Oma zum 13. Geburtstag schenkte!) ist das Trinkgeld von den Leuten, die ich mit Einkäufen beliefere. Der kleine Kaufmann im Nachbarort hält sich über Wasser durch eine treue Stammkundschaft und einen ausgesuchten Service. Ich fahre zwei- bis dreimal die Woche für ihn die Waren aus. Das Geld, was ich hierfür regelmäßig erhalte, kommt auf Mutters Konto - oder wie sie so schön sagt: unser Konto