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Wilfried Wolters gibt nicht auf. Nachdem er die Tatsache verdaut hat, dass sein Traum-Mann Jan eine Lebenspartnerschaft mit seinem verhassten blonden Konkurrenten eingegangen ist, sieht er nur noch einen Ausweg: Nick muss endgültig verschwinden! Bevor er sich jedoch mit diesem Plan näher beschäftigen kann, stehen dringendere Aktionen an, die im Vorfeld erledigt werden müssen. Zum Beispiel die Beseitigung von Arnie, dem lästigen Hund von Grewes, der ihm den Zugang zu Jans Garten und vor allem zum Schlafzimmerfenster verwehrt! Oder Kerstin, die ihn mit ihrem zunehmendem Bauchumfang stets daran erinnert, dass er eine Riesen-Dummheit gemacht hat. Ein weiterer Punkt auf seiner privaten 'To-do'-Liste, die er akribisch einzuhalten und abzuarbeiten versucht, sieht den Erwerb des Motorradführerscheins vor. Obwohl er keinerlei Neigung dazu verspürt, meldet er sich bei der Fahrschule im Nachbarort an. Auf diese Weise hofft er, sich Jan nähern zu können, der seit geraumer Zeit als Biker unterwegs ist. Es funktioniert! Wilfried kann es kaum fassen: plötzlich ist er Teil von Jans großem Freundeskreis. Man lädt ihn zu Feiern ein, er ist Gast im Hause Grewe und als Folge dieser Bekanntschaft bittet man ihn, das Haus einzuhüten und sich um Arnie zu kümmern, als die Familie wegen eines Krankheitsfalls für einige Tage verreisen muss. Endlich erhält er Gelegenheit, Jans Zuhause ausführlich zu inspizieren und er entdeckt dabei einige pikante Geheimnisse, die ihm - so glaubt er - eine günstigere Position verschaffen, um Jan auf sich aufmerksam zu machen. Was er nicht ahnt: die Zufallsbekanntschaft mit einem Mann in einer Sauna wird sein Leben nachhaltig verändern und die Harmonie des Hauses Grewe-Zeidler ebenfalls auf eine harte Bewährungsprobe stellen ...
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Über den Autor:
Nick Zachries wohnt im Alten Land vor den Toren Hamburgs mit Partner und drei Kindern. Mehr von ihm gibt es hier: www.nick-zachries.de
Himmelstürmer Verlag, 20099 Hamburg, Kirchenweg 12
www.himmelstuermer.de
E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Oktober 2011
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfoto: © C.Schmidt / www.CSArtPhoto.de
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus.
ISNB Print 978-3-86361-112-5
ISBN ePub 978-3-86361-113-2
ISBN PDF 978-3-86361-114-9
Nick Zachries
Endspurt
Trenne dich nie von deinen Illusionen! Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.
Mark Twain
Der erste echte Frühlingstag im wichtigsten Jahr meines Lebens! Das wird mein Jahr, ich weiß es! In diesem Jahr werden sich alle meine Sehnsüchte erfüllen! Die Vögel scheinen es zu ahnen, sie singen wie besessen, bereits seit dem Morgengrauen zwitschern und tirilieren sie, was die Stimmbänder hergeben. Angesteckt von ihrer Lebenslust bin ich mit einem Gefühl der Vorfreude in aller Frühe aufgestanden. Mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch. Ich laufe meine 10 km in einer für mich fantastischen Zeit von 50 Minuten, dusche fröhlich pfeifend und setze mich danach an meinen Schreibtisch, um zu arbeiten. Das am Vorabend begonnene Kapitel findet in dieser euphorischen Stimmung wie von selbst seinen gelungenen Abschluss. Mittags erledige ich gut gelaunt Einkäufe. Als ich auf dem Rückweg bin, drehe ich sogar das Radio an. Auf einem Sender spielen sie „Dicke“ von Marius Müller-Westernhagen. Zum ersten Mal im Leben kann ich es mir anhören, ohne entsetzt und betroffen zu sein. Ja, es gelingt mir sogar, ein wenig darüber zu lachen. Früher zappte ich stets mit Herzklopfen weg, weil ich mich elendig ertappt fühlte und mich schämen musste. Für mich und für all die anderen Dicken, für alle Betroffenen.
…mit Dicken macht man gerne Späße / Dicke haben Atemnot / Für Dicke gibt’s nichts anzuziehen / Dicke sind zu dick zum Fliehen / Dicke haben schrecklich dicke Beine / Dicke ham ein Doppelkinn / Dicke schwitzen wie die Schweine, stopfen, fressen in sich rin / Und darum bin ich froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ne Quälerei / Ja, ich bin froh, dass ich son dürrer Hering bin, denn dünn bedeutet frei zu sein / Dicke haben Blähungen / Dicke ham nen dicken Po / Und von den ganzen Abführmitteln rennen Dicke oft aufs Klo / Dicke müssen ständig fasten, damit sie nicht noch dicker werden / Und haben sie endlich zehn Pfund abgenommen, ja, dann kann man es noch nicht mal sehn / Dicke hams auch schwer mit Frauen, denn Dicke sind nicht angesagt / Drum müssen Dicke auch Karriere machen / mit Kohle ist man auch als Dicker gefragt / Und darum bin ich froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ne Quälerei / Ja, ich bin froh, dass ich son dürrer Hering bin, denn dünn bedeutet frei zu sein …!
Wie recht er doch hat, der gute Marius! Dünn bedeutet frei zu sein. Frei von ballastartigem Gewicht, welches zementschwer an mir klebte. Es drückten nicht nur die immer enger werdenden Klamotten. Das Zuviel an Gewicht legte sich auch auf meine Seele. Als wucherten im Geiste Fettgeschwüre, die die Sicht auf freies und unbelastetes Denken nahmen. Ich war nicht nur im physischen Sinn phlegmatisch und schwerfällig.
Als sich dieser Zustand in meinen Träumen zu manifestieren begann, wusste ich, dass etwas passieren musste. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war es mir bis dato gelungen, mir wenigstens die Schlankheit zu erträumen. Als diese Vorstellung nicht mehr gelang, hatte ich den absoluten Nullpunkt meiner inneren Depression erreicht.
Es ist vorbei. Endgültig vorbei. Nie wieder werde ich dick sein. Während des Liedes schaue ich auf meine Schenkel. Meine schlanken Beine. Meinen flachen Bauch. Meine gutgeformten Hände, keine wulstigen dicken Finger mehr, die das Lenkrad halten.
Heute ist ein besonderer Tag. Ich werde das erste Mal zur Fahrschule gehen. Den Entschluss fasste ich unumstößlich am 1. April, als ich Zeuge wurde, wie Jan mit seinem frisch angetrauten Lebenspartner Nick auf seinem Motorrad in die Flitterwochen fuhr. Es brauchte einige Zeit, um über diesen Schock hinwegzukommen, aber dann sagte ich mir, dass ich schon ganz andere Herausforderungen angenommen hatte. Ich habe meine Kindheit und Jugend trotz diverser Demütigungen durch meine dominante mich erziehende Großmutter überstanden, die Erwachsenenjahre allein mit meiner bettlägerigen und zänkischen Mutter verbracht, die ich bis zu ihrem Tode vor einem Jahr pflegte. Zartere Gemüter hätten das vermutlich nicht geschafft. Und nicht zu vergessen, ich bekam mein bis dahin existenzielles Lebensproblem Nummer eins nachhaltig in den Griff: Ich wurde mein Übergewicht los.
Ein wenig mulmig ist mir, als ich am Abend den kleinen Raum der Fahrschule betrete, der sich im Nachbardorf befindet. Ungute Erinnerungen tauchen auf. Vor vierzehn Jahren habe ich hier bereits schon einmal gesessen. Pummelig, einsam und auch hier wieder – natürlich! – als Außenseiter. Damals gehörte ich zu den Jugendlichen, die auch heute den Großteil der Anwesenden ausmachen. Heute sind außer mir nur noch zwei Frauen im Erwachsenenalter. Sie scheinen sich zu kennen und reden miteinander. Beide sehen mich freundlich interessiert an, als ich nickend an ihnen vorbeigehe.
Lautes Geplapper erfüllt den Raum. Die Jungs und Mädchen reden wild durcheinander. Im Hintergrund sitzt – genau wie früher übrigens! – die stark geschminkte korpulente Gattin des Fahrschulinhabers an einem PC und trägt die Daten der Neuankömmlinge in ihre Online-Formulare ein. Lediglich dies hat sich geändert. Damals tippte sie ewig auf einer Schreibmaschine herum, heute sucht sie die Buchstaben auf der PC-Tastatur. Fortschritte scheint sie nicht gemacht zu haben, sie ist noch immer entsetzlich langsam. Mit ihren kurzen dicken Fingern, die wie einst mit etlichen Ringen eingeschnürt sind. Womöglich nicht mehr zu entfernen. Im Gewebe eingewachsen! Eigentlich müssten die Finger irgendwann abfallen, weil die Blutzufuhr erheblich gestört sein wird in diesen Extremitäten.
Ich male mir aus, wie sie sich eines Morgens – das zerknautschte und jetzt gänzlich farblose, weil ungeschminkte Gesicht vor Entsetzen verzerrt – mit einem gurgelnden Röcheln in ihrem Bett aufsetzt und feststellt, dass sie nur noch acht anstelle von zehn Fingern besitzt und daraufhin hektisch ihre nächtliche Behausung durchwühlt und mit einem schrillen Schrei ihre beringten Wurststummel in der „Besucherritze“ findet. Der Schock währt nur kurz. Den Verlust ihrer Finger nimmt sie gelassen hin. Sie ist sichtlich erleichtert, dass ihr Schmuck nicht abhanden gekommen ist. Ich stelle mich hinten an und warte. Als ich an die Reihe komme, frage ich mich, ob sie sich an mich erinnert, aber dies ist nicht der Fall. Weder beim Namen – und der ist einprägsam, kurz und prägnant: Wilfried Wolters – noch beim flüchtigen Blick in mein Gesicht scheint sich bei ihr etwas zu regen. Mir ist das sehr recht. Ich lege keinen Wert darauf, auf mein früheres unförmiges Selbst angesprochen zu werden. Nach dieser Formalie nehme ich Platz in der letzten Reihe auf einem der ebenfalls vertrauten Stühle. Schwarzer Plastiksitz auf Metallfüßen.
Ich weiß noch, wie die Jugendlichen damals geguckt haben, wenn ich mich setzte. Jeder dieser Stühle machte Geräusche, wenn ich mich mit meinem Gewicht darauf niederließ. Es knarzte oder quietschte, irgendwas war immer, was die Anderen zum verstohlenen oder öffentlichen Grinsen brachte. Wie ich diese Momente hasste! Ich war unendlich froh, wenn der Fahrlehrer erschien, mich von ihrer Häme erlöste und den Unterricht abhielt. Ein langer Dünner war es mit einem zauseligen Bart und schlechten Zähnen. Scheußlichen Mundgeruch hatte er, das weiß ich noch genau.
Die Zeiten haben sich geändert.
Der Typ, der heute erscheint, ist mir auf Anhieb sympathisch. Er hat Übergewicht! Und nicht zu knapp. Das also ist der Fahrlehrer. Er stellt sich „für die Neuen!“ als Hans-Georg vor und geht zu einem kleinen Tischchen in der Ecke, auf welchem eine Schale mit Bonbons steht. Dem in der ersten Reihe sitzenden Jungen drückt er sie in die Hand und dieser lässt sie weitergehen. Ein offenbar bekanntes Ritual. Hans-Georg beginnt mit seinem Unterricht. Er ist ein Typ, der gerne Späßchen macht und demzufolge wird diese erste Unterrichtsstunde sehr unterhaltsam. Er würzt sie mit Anekdoten aus seinem Fahralltag und erinnert seine jüngeren Teilnehmer an kleine Peinlichkeiten, die er mit ihnen erlebt hat. Bosheit geht ihm dabei gänzlich ab, er führt seine Schüler erfreulicherweise nicht vor. Dieser Mann ist ein Menschenfreund! Mein Unbehagen ist vollkommen verschwunden. Appetitliche Zähne hat er außerdem.
Der Unterricht ist für mich nichts Neues. Die Theorie ist mir hinlänglich vertraut, ich bin hierhergekommen, um den Motorradführerschein zu machen. Nach dieser ersten Theorie-Stunde gehe ich auf Hans-Georg zu und stelle mich ihm vor. Er hat sein Büchlein zu Hause vergessen, in dem er seine Termine aufschreibt. Zur nächsten Stunde will er es mitbringen, damit wir eine Zeit ausgucken können, in der ich meine allererste Fahrstunde bekommen soll. Oder ob er mich gleich anrufen soll, wenn er zu Hause ist? Er ist sehr freundlich. Ich verneine und wir beschließen, die Terminabsprache bei der nächsten Theoriestunde zu regeln.
Als ich meinen Wagen in die Garage gefahren habe und auf dem Weg zur Eingangstür bin, höre ich Musik aus meinem geöffneten Küchenfenster. Bastian hat also nicht vergessen, dass er zu kochen versprochen hat. Ich lausche den Klängen von Liszts Ungarischer Rhapsodie, die er zur Untermalung seiner Kochkünste gewählt hat. Genauso gut könnte man Bach bei McDonalds spielen oder aber man stelle sich vor, dass ein Mann wie Bocuse in seiner Küche eine Vorliebe für AC/DC hegte. Unfassbar diskrepant. Dabei sollte ich dankbar sein – er tut es nur mir zuliebe! Er selbst hört lieber musikalische Verfehlungen. Aktuelle Gruppen, die ich nicht kenne. Mainstream, der im Radio gespielt wird. Sicher, auch ich schalte bisweilen die gängigen Sender ein, vorwiegend wenn ich im Auto unterwegs bin (ansonsten hätte ich Marius „Dicken-Lied“ nicht hören können!), aber nur, um mir in regelmäßigen Abständen klarzumachen, dass dies nicht meinen Musikgeschmack trifft.
Seufzend schließe ich auf und ergebe mich in mein Ernährungs-Schicksal, was wohl heißt: Schniposa, wenn ich Glück habe. Schnitzel, Pommes und Salat. Das macht er nämlich meistens, wenn er sagt, er kocht. Die Schnitzel sind – selbstredend! – vorgebraten und aus der Tiefkühltruhe, ebenso die Pommes Frites und der Salat besteht bei ihm aus einer Tüte fertig gekauften und bereits zerrupften Mischsalat aus dem Kühlregal der Gemüseabteilung, den er (ungewaschen) mit einer Soße übergießt, die er – „ruck-zuck, tada!“ – mit einem kleinen Beutelchen Salatfix herstellt. Jeder Ernährungswissenschaftler würde seufzend den Kopf schütteln. Immerhin ist sein Mahl innerhalb kürzester Zeit fertig, die Küche sieht dennoch hinterher so aus, als hätte er ein Fünf-Gänge-Menü gezaubert. Wer kocht, braucht die Küche nicht zu machen, dementsprechend liegt für mich die goldene Arschkarte als Nachtisch bereit. Koche ich, dann gehe ich sehr systematisch vor. Schon während des Anbratens und Vorbereitens pflege ich meine kleinen Schüsselchen und Brettchen zu säubern oder aber den Geschirrspüler zu füllen, sodass mein Wohnungspartner nicht nur ein qualitativ besseres Essen, sondern auch eine gut aufgeräumte Küche vorfindet! Ich betrete den Hausflur, rieche das angebrannte Fett, in welchem die Schnitzel schmurgeln und denke heiter: es ist ja nur vorrübergehend! Nichts ist für die Ewigkeit! Bastians Tage in meinem Haus sind gezählt. Er ahnt zwar nichts davon in seiner überschäumenden Naivität, doch ich habe mir eine Frist gesetzt. Sobald ich die persönliche Bekanntschaft mit Jan gemacht habe, fliegt er.
Eigentlich hatte er sowieso vorgehabt, nur ein paar Tage bei mir unterzukommen, als er kurz vor dem ersten April mit Sack und Pack bei mir einzog. Doch schon nach drei Tagen Aufenthalt war mir klar, dass er sich mit dem Suchen einer anderen Bleibe Zeit lassen würde. Die ersten Tage mit ihm waren grauenhaft. Er ließ überall seine Klamotten herumliegen und ich ertappte mich dabei, alles aufzuräumen, weil ich Unordnung unerträglich finde. Am ersten April eskalierte es am Abend.
Meine Stimmung war an jenem schicksalsträchtigen Datum sowieso am Gefrierpunkt angelangt. Am Vormittag hatte Jan das Flittchen geehelicht und war mit ihm auf dem Motorrad davongebraust. Nach Italien habe ich im Nachhinein erfahren. Von wem wohl? Von Frau Melzer natürlich. Die war äußerst angetan von dieser romantischen Aktion. Vielleicht einfach nur typisch weiblich. Der unausweichliche letzte Akt eines Paares, welches sich ineinander verliebt hatte. So endeten alle Liebesromane. Zum Schluss „kriegen sie sich“ und heiraten. In diesem Fall zwei Männer. In Frau Melzers Augen zwar ungewöhnlich, aber tolerierbar. Im Nachhinein hatte sie schon von vornherein gewusst, dass es mit Herrn Grewe und seiner Frau nicht auf Dauer gutgehen konnte. Sie wäre stets so hochnäsig gewesen. Der Herr Zeidler sei dagegen ein offener und freundlicher Mensch …! Meine Erinnerungen an Jans Frau sind nur vage. Als hochnäsig habe ich sie jedoch nie erlebt. Zurückhaltend war sie, sie stand nie mit anderen Frauen im Laden zusammen und tratschte. Vermutlich ging das Frau Melzer gegen den Strich, da es ihr Lebensinhalt war und ist, Bescheid zu wissen, was im Dorf vor sich geht! Eine Frau, die sich dem entzog, musste einem Charakter von der Art Frau Melzers nur suspekt vorkommen.
Bastian war am ersten April damit beschäftigt, den Schicksalsschlag zu verkraften, dass sein Ex ebenfalls heiratete. Andreas Kruse, eine vergangene Beziehung. Sie waren nur kurz zusammen gewesen und Andreas hatte die Liaison beendet. Bastian hatte es seinerzeit schwer getroffen. Ich war damals nur ein zwischenzeitlicher Zeitvertreib für ihn gewesen. „So ganz ohne Sex ist furchtbar öde.“ Und da kam ich grade recht. Nein, er hätte sich nicht in mich verliebt, gestand er mir am Nachmittag dieses ersten Aprils, als er aufgestanden war. Offenbar musste er seine Seele erleichtern und mich mit seinen tragischen Erlebnissen langweilen und mir im Nachhinein noch Liebesqualen bereiten.
Ich saß bereits seit unserem Nachhausekommen an meinem PC und versuchte zu arbeiten. Hatte endlich einen Einstieg gefunden, als er verpennt in meinem Arbeitszimmer erschien und meinte, mich unterhalten zu müssen. Belästigen traf es eher. Er lehnte sich, nur mit einer Boxershorts bekleidet ans Fensterbrett, verschränkte die Arme und starrte zwischen seinen melancholisch vorgetragenen Sätzen düster vor sich hin. Schwafelte von „echtem Gefühl“, „wahrer Liebe“ und „nie wieder würde es mit einem Mann so schön sein.“ Ob ich das kennen würde, dass man sich nach einem Typen verzehrt? Dass man nichts anderes im Kopf hat als nur diese eine Person? Ich starrte ihn wortlos an und in mir begann es zu gären. Mal abgesehen davon, dass es ihn nichts anging, wie ich mich fühlte und wen ich heimlich begehrte – damals in der Zeit mit ihm war ich heftig in ihn verliebt gewesen! Er hatte das gewusst, ich habe ihm diverse Liebesbriefe geschrieben, die er permanent ignoriert hatte.
Was also erwartete er von mir? Etwa Bedauern? Ich hatte im Sommer vor einem Jahr auch niemanden gehabt, dem ich mein Leid hätte klagen können! Ich blieb äußerlich ganz kühl, obwohl es in mir brodelte. Er solle sich nicht so anstellen, sagte ich stattdessen. Liebe kommt, Liebe geht. Nichts ist für die Ewigkeit. Außerdem hätte ich keine Zeit. Ob er nicht sehen würde, dass ich gerade arbeitete? Er grinste überheblich. Wäre doch alles nur Show von mir. Insgeheim würde ich ganz anders fühlen …so emotionslos wie ich mich gab, wäre ich doch überhaupt nicht! Ihm schien daraufhin etwas einzufallen, denn er schoss plötzlich wie von der Tarantel gestochen an mir vorbei, rannte die Treppe runter und ich hörte ihn in sein Zimmer laufen. Kurze Zeit später rief er mich. Ignorieren hätte keinen Zweck gehabt, er würde keine Ruhe geben. Also stand ich extrem genervt auf und ging nach unten. In seinem Zimmer hatte er seinen Laptop gestartet und sein Postfach geöffnet. Im Ordner „Willi“ sah ich meine mails untereinander aufgelistet. Mails, die mir mit ihrem verliebt-naiven Inhalt heute die Schamesröte in die Wangen trieben.
„Geliebter Bastian!!! Ich bin so unsagbar froh, dich getroffen zu haben! Noch nie war ich so glücklich wie heute Abend mit dir …“ las er mir höhnisch vor und ich fühlte mich vor Peinlichkeit förmlich gelähmt. Was hatte ich mir damals nur gedacht, ihm derartige Geständnisse zu machen? Es obendrein schriftlich festzuhalten und ihm die Gelegenheit zu geben, es mir hier und heute brühwarm zu servieren. Mich daran zu erinnern, wie ausgeliefert ich mich gefühlt habe in meinem hormongesteuerten Gefühlszustand.
„Oder hier: …sehne ich mich nach dir und deinem erregenden Körper! Das hast du geschrieben! Du angeblich cooler Typ! Das hört sich doch überhaupt nicht nach Coolness an – im Gegenteil, oder?“ Wieder hatte er dieses widerwärtig spöttische Grinsen in seiner Visage. Er schien die Situation zu genießen, ja, er kostete sie aus. Ich bebte inzwischen innerlich und war dennoch in der Lage, ganz ruhig zu sprechen.
„Das ist Schnee von gestern, Bastian. Das ist vorbei. Das kannst du alles löschen oder in den Ordner Erledigt schieben. Das mache ich nämlich mit solchen Affären, die es nicht Wert sind, dass man ihnen hinterher weint! Genauso hat es vermutlich auch Andreas Kruse gemacht mit dem Ordner Bastian. Ein schneller klick und die leidige Geschichte war beendet! Gott sei Dank!“ Das hatte gesessen. Ich sah nur noch sein wütendes Gesicht und bekam gar nicht mehr mit, dass er mir seine Faust ins Gesicht rammte. Ich stürzte rückwärts, sah zum ersten Mal in meinem Leben die oft zitierten „Sternchen“ und war tatsächlich für einen Augenblick „weg“.
Als ich meine Augen wieder öffnete – es waren keine dreißig Sekunden vergangen, sagte er mir hinterher – sah ich ihn neben mir knien und mich besorgt ansehen. Einen Waschlappen hatte er in der Hand, mit dem er mir das Gesicht wusch. Meine Nase tat unangenehm weh und blutete.
„Oh mein Gott, Willi, das tut mir so leid …“, stammelte er und war sehr besorgt. Er wuselte um mich herum, hatte sich ein Kissen von seinem Bett geschnappt und es unter meinen Kopf gelegt, betupfte meine Stirn, nestelte nervös ein Tempo aus der Packung, um damit die Blutung der Nase zu stoppen und wirkte insgesamt sehr fahrig und durcheinander. Mir wurde in dem Moment klar, dass er nie wieder so etwas tun würde. Es entsprach ihm nicht.
Es war mit ihm durchgegangen, weil ich ihn übelst provoziert hatte. Dafür konnte ich insgeheim sogar Verständnis aufbringen. Das sagte ich ihm natürlich nicht. Ich sagte ihm gar nichts. Ich sah ihn nur an mit einem Ausdruck stummen Entsetzens. Mehr noch, ich hob abwehrend meine Hände, als er mir hochhelfen wollte, was ihn dazu brachte, noch schuldbewusster zu wirken. Das Tempo an die Nase gepresst, verließ ich sein Zimmer. Sein Zimmer …? Er bewohnte es übergangsweise. Am liebsten hätte ich ihn sofort hinausgeworfen, aber das schien mir aufgesetzt und zu dramatisch.
An jenem Abend fuhr ich nach Hamburg, als er sich auf den Weg zur Arbeit ins Krankenhaus gemacht hatte. Ich musste mich ablenken. Die kleine Bar, die ich so gern gemocht hatte, durfte ich nicht aufsuchen, zu groß war meine Angst, dass mich der Barkeeper wiedererkennen und mich womöglich nach dem Verbleib des blonden Christian befragen würde, dessen fatale Ähnlichkeit mit Jans Flittchen seinerzeit zu einem netten kleinen Lustmord geführt hatte.[1] Oder dessen Kumpane trieben sich dort herum und mein Anblick könnte sie zu für mich unangenehmen Schlussfolgerungen treiben.
Ich schlenderte zunächst durch die Gegend, dann betrat ich ein Porno-Kino und suchte mir eine Kabine. Die plumpen Aktivitäten auf der Leinwand stießen mich zwar ab, wahre Entspannung sah anders aus, dennoch gelang es mir, den größten Druck zu beseitigen. Draußen traf ich einen Jungen, der mich hungrig ansah. Einen Stricher. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn mitzunehmen. Ins Auto setzen und los. Irgendwohin fahren, wo es leer und einsam wäre. Auf der Motorhaube könnte ich ihn vögeln. Vielleicht würde es mir in dieser Nacht helfen. Der Junge sah mich mit großen Augen fragend an. Mich packte das Grausen, als ich seine Jugend in diesem Blick erkannte und wimmelte ihn ab, schenkte ihm aber zehn Euro.
Keine Ahnung, was in dieser Nacht mit mir los war. Der ganze Tag war daneben. Immer wieder sah ich Jan und seinen glückselig strahlenden und vor allem frisch angetrauten Lebenspartner vor mir. Mörderischer Hass auf ihn und das Gefühl von nicht zu stillender Begierde zu Jan wechselten sich ab. Ich war schon auf dem Weg zu meinem Wagen, da tauchte sie auf. Eine Nutte, die in einem Hauseingang gelauert hatte. Schon etwas älter beim näheren Hingucken, aber ich hatte nicht vor, länger hinzugucken, geschweige denn mich auf sie einzulassen.
Und doch … als ich sie sah, stiegen sofort Gelüste in mir hoch. Das Gefühl, heute noch eine wirkliche Befriedigung zu erfahren. Eine Befriedigung, die mit keinem noch so guten Orgasmus zu vergleichen ist. Das Gefühl, einen winzigen Augenblick vollkommen allmächtig zu sein, Herr über Leben und Tod. Zu wissen, dass dieser von mir auserwählte Mensch noch heute sein Leben beenden wird. Diese Gewissheit verschaffte mir unbeschreibliche Vorfreude und eine enorme Erektion. Die sie mit wissendem Grunzen sofort ertastete. Wahrscheinlich überlegte sie bereits, was sie mit den Einnahmen durch mich anstellte.
Ich hatte mich von ihr in den Hauseingang ziehen lassen und dort standen wir nah beieinander. Eine Mixtur verschiedener Aromen nahm ich an ihr wahr. Haarspray, Pfefferminzkaugummi und Seifengeruch. Sie schien stark parfümiertes Waschpulver für ihre Klamotten zu benutzen. Überlagert wurden diese Grundgerüche von einem sehr süßen Eau de Toilette, was mich einerseits heftig abstieß und absurderweise gleichzeitig meine Lust steigerte.
Sie roch ekelerregend geil! Ich hatte mich vorher umgeschaut und festgestellt, dass sich keine Menschenseele auf der Straße befand. Nach kurzem Plaudern betraten wir die triste Mietskaserne. Sie ging vor mir die schmuddelige Treppe hoch und meinte, mich mit gekonntem Hüftschwung zu erregen. Sie tat mir ein bisschen leid, am meisten jedoch amüsierte mich ihr Verhalten. Angewidert sah ich mich um. Das müsste Frau Melzer sehen. Dreck und Abfälle in allen Ecken. Der schmale düstere Flur, in dem wir zu ihrer Wohnung gingen, war nur spärlich beleuchtet. Hier stank es außerdem nach Katzenpisse.
Die Wohnung war billig möbliert, aber zumindest auf den ersten Blick sauber. Wir durchquerten ein Wohnzimmer, das mich an den Rand eines Déjà-vu Erlebnisses brachte. Der Einrichtungsstil erinnerte fatal an Diether Königs Behausung. Gott hab ihn selig! Überall scheußlicher Nippes und nutzloser Zierrat. Auf Spitzendeckchen und Brokat-Läufern. Bei der Wanddekoration allerdings unterschieden sich ihre Geschmäcker. Diethers Raufasertapete zierten einigermaßen geschmackvolle Kunstdrucke und Fotografien von appetitlich aussehenden nackten jungen Männern, wohingegen sie – ich musste mich zwingen, ein Schaudern zu unterdrücken – Landschaftspuzzles hängen hatte. Wahrscheinlich von ihr selbst in Pausen zwischen einzelnen Freierbesuchen in mühevoller Kleinarbeit zusammengesetzte und anschließend zusammengeklebte Scheußlichkeiten der kitschigsten Sonnenauf und -abgänge an diversen Stränden, Gebirgslandschaften mit schneebedeckten Gipfeln und waldreichen Höhen. Über dem Sofa ein Bild mit drei treuherzig guckenden Hundewelpen im goldenen Licht der untergehenden Sonne.
Im Schlafzimmer gab es Gott sei Dank keine derartigen Bildchen. Womöglich hätte ich mein Vorhaben dann nicht bewerkstelligen können! Ein Lustmord unter einem Puzzle-Bild, womöglich mit dem Konterfei von Lassie oder Kommissar Rex? Schier unmöglich. Ich sah mich in ihrem Allerheiligsten um und meinte, überall Spuren von Ejakulationen auszumachen von Hunderten von Männern, die im Laufe ihrer Jahre hier nach Befriedigung gesucht hatten. Auch glaubte ich es riechen zu können, obwohl das süßlich schwere Aroma ihres Parfums in der Luft hing. Überheizt und stickig war es hier. Nach Regelung der pekuniären Formalien zog sie sich sofort aus und stand in roten Strapsen und schwarzen Strümpfen vor mir. Ich fragte mich unwillkürlich, ob das die einheitliche Arbeitstracht einer Nutte ist. Wird die vom Arbeitgeber gestellt? Wahlweise in rot oder schwarz? Das ebenfalls rote Oberteil sah aus wie eine Art Brillengestell ohne Gläser, durch welches ihre Brüste fielen. Einen erstaunlich gut proportionierten und festen Körper hatte sie. Lediglich ihr Gesicht wirkte schlaff und müde. Offenbar war sie wohl doch noch nicht so alt.
Sie ließ sich rückwärts auf ihr – im Übrigen sorgfältig gemachtes – Bett sinken, mit weit gespreizten Beinen und präsentierte mir ihr rasiertes Geschlecht. Es war nicht nötig, dass ich mich entkleidete. Das erwartete sie nicht. Also ließ ich lediglich die Hosen ein wenig herab. Während sie mit einem Gleitgel herumhantierte, zog ich das Kondom über, welches sie mir zuvor gereicht hatte. Sie stöhnte routiniert auf, als ich mit einem schnellen Stoß in sie eindrang und ich fragte mich, an was sie wohl denken mochte in solchen Augenblicken. Was mich angeht - ich bin ja inzwischen optisch sehr ansehnlich. Mehr als tageslichttauglich sozusagen. Aber was, wenn jemand wie Herr Dahle zum Beispiel zwischen ihren Beinen schnaufte oder wie Herr Melzer seinerzeit, der ebenfalls dickleibig und rotgesichtig war? Was für eine Laune des Schicksals, wenn womöglich genau diese soeben erwähnten Herren die Dienste dieser Dame in Anspruch genommen hatten! Dachte sie dann an jemanden wie Brad Pitt oder George Clooney oder einfach nur daran, was sie morgen einkaufen oder erledigen musste? Vielleicht nahm sie sich auch vor, dem Vermieter zu sagen, dass es im Flur schon wieder nach Katzenpisse roch! Sie hatte die Augen geschlossen.
Ich spürte meine Erregung stärker werden, spürte die Vorfreude auf das, was ich gleich tun würde. Noch lebte sie, atmete sie, stöhnte sie. Wie laut sie stöhnte! Ob es ihr am Ende Spaß machte? Auch gut. Ich gönnte ihr diesen letzten genussvollen Akt. Sollte sie ruhig ihre Freude kurz vorm Tod haben. Ihr Stöhnen wurde lauter. Ihre Augen waren immer noch geschlossen. Das erleichterte mir den unauffälligen Griff zu meinem Gürtel. Ein sehr schmaler Ledergürtel. Ein kurzer verwirrter Blick von ihr, als sie das lederne Halsband spürte, dann begriff sie und begann zu toben. Es gelang mir, sie rasch umzudrehen, damit sie mich nicht verletzen konnte in ihrer Todesangst. Die Opfer setzen in solchen Momenten beeindruckende Energien frei. Christian war ein zarter Typ, doch als er begriff, was mit ihm geschah, schien er urplötzlich Bärenkräfte zu haben.
Ein kurzer Schrei entfuhr ihr. Ich kniete inzwischen auf ihrem Gesäß und zog mit aller Kraft an der Lederschlinge. Ich bin durch meine regelmäßigen Trainingseinheiten sehr kräftig geworden. Dennoch war es nicht einfach, aber gerade diese Herausforderung gefiel mir, machte mich verrückt, beinahe wahnsinnig. Jetzt war ich derjenige, der erregt stöhnte. Sie gurgelte und röchelte, fuchtelte und ruderte wild mit den Armen, zuletzt ging ein Zucken durch ihren und meinen Körper. Sie, weil sie die letzte Schwelle überschritten hatte, ich in orgiastischer Lust. Sowohl sie als auch mein Penis erschlafften synchron. Es war vorbei. Der schreckliche Tag hatte in dieser engagierten Tat ein für mich befriedigendes Ende gefunden. Erschöpft und entspannt ließ ich mich neben sie fallen und gab mich dem Genuss der absoluten Ruhe hin. Keine störenden Gedanken, kein Gefühl der Eifersucht, einfach nur Ruhe im Hirn.
Ich betrachtete mein Werk. Döste sogar etwas. Nach einer halben Stunde machte ich mich daran, alle Spuren meiner Anwesenheit zu tilgen, als da hieß: Ledergürtel entfernen, Fingerabdrücke beseitigen, Kondom einpacken, ihre Schamgegend nach eventuellen Haaren von mir absuchen. Dass sie rasiert war, erleichterte meine akribische Suche. Mein Geld nahm ich selbstverständlich wieder an mich. Ich wollte ihre Börse schon wieder auf das rosa Spitzendeckchen des kleinen Tischchens legen, wo sie sie platziert hatte, als ich innehielt. Moment mal, ich war ein Halunke, ein Dieb, kein Mörder. Wer weiß, warum sie mein Opfer wurde? Vielleicht hatte sie mich provoziert und mir waren die Sicherungen durchgebrannt. Oder ich war ein Junkie, der unbedingt Geld für seinen nächsten Schuss brauchte. Andererseits, hätte sie sich auf so einen eingelassen? Einerlei. Was auch immer den Mörder getrieben hatte, er würde nicht nur sein Geld aus ihrem Portemonnaie nehmen. Also entfernte ich konsequent die restlichen Scheine. Um 250 Euro reicher verließ ich angenehm überrascht und von niemandem gesehen ihre Wohnung.
Letztendlich hatte ich es Bastian zu verdanken, dass es mir jetzt so gut ging. Sie hatte oben in ihrem Schlafzimmer meinen Bluterguss auf der Nase gesehen und mich gefragt, was passiert sei. Nichts weiter, hatte ich geantwortet und verlegen getan.
„Du bist geschlagen worden, stimmt’s?“, hatte sie mich daraufhin gefragt. Ich hatte genickt. Sie hatte meine Hände genommen und sie sich angesehen.
„Du bist kein Schläger“, hatte sie gesagt und mich dabei liebevoll angeschaut. Irgendwie mütterlich. „Das sieht man an deinen Händen. Bist ein lieber Junge. Ein bisschen schüchtern, hm?“ Ich dachte daran, wie ich auf den alten, zerschlissenen Teppich geguckt und mir Oma und Mutter in den Sinn gekommen waren. Omas entsetztes Gesicht, wenn sie noch lebte und erführe, was ich hier gleich tun würde! Mutters kehliges Lachen und ihren geringschätzigen Gesichtsausdruck.
„Alle Männer sind verdorben. Ich kenne sie zu gut. Es gibt keine Ausnahme. Keine einzige.“ Nun, wenn sich eine damit auskannte, dann sie.
Wieder zu Hause, legte ich mich nach einer ausgiebigen Dusche in mein Bett und schloss wohlweislich die Zimmertür ab. Ich hatte kein Verlangen danach, mich am Morgen von Bastian, wenn er von der Nachtschicht zurückkehren würde, bedrängen zu lassen. Tatsächlich hörte ich ihn leise klopfen und meinen Namen rufen, als es kurz vor sieben Uhr war. Doch er beließ es bei diesem zaghaften Versuch und entfernte sich gleich darauf. Ich drehte mich noch einmal um und schlief weiter, stand zwei Stunden später auf, ging laufen, holte Brötchen und ein Hamburger Abendblatt und frühstückte dann. In der Zeitung stand noch nichts von dem gewaltsamen Dahinscheiden einer Prostituierten im Bahnhofsviertel.
Während ich noch aß, schlich Bastian in die Küche. „Es tut mir leid“, murmelte er sehr kleinlaut. Ich übersah ihn und tat so, als würden mich die Sportnachrichten brennend interessieren, was überhaupt nicht der Fall war.
„Das wird nie wieder passieren, das schwör ich dir! Ich habe noch nie jemanden geschlagen – ich bin total geschockt, dass ich so was gemacht hab … Willi!“
Ich sah ihn an. Er hatte bestimmt niemals reumütiger ausgesehen. „Du solltest dich besser wieder hinlegen“, sagte ich mit meiner gleichgültigsten Stimmlage. „Und dir bei nächster Gelegenheit eine eigene Wohnung suchen.“
Nun wurde er ganz blass. „Das ist ein echtes Problem, Willi“, murmelte er sehr leise. „Ich würde es sofort machen, wenn ich die nötige Kohle hätte, aber momentan geht alles verdammt schief bei mir …“
Es stellte sich heraus, dass er ein „bisschen gezockt“ hatte, wie er es nannte. Seine Ex-Mitbewohnerin wartete schon seit sechs Monaten auf die fällige Miete, sie drohte ständig mit einer Anklage. Das war wahrscheinlich auch der wahre Grund, warum sie ihn schließlich vor die Tür gesetzt hatte. Sein ohnehin mageres Gehalt ging gänzlich dafür drauf, dass er den „kleinen Kredit“ abbezahlte, den er bei einer Bank aufgenommen hatte, um die Schulden zurückzuzahlen, die er in einem Spielcasino in einem „Anfall von totalem Wahnsinn“ wie er sich ausdrückte, gemacht hatte.
„Wenn ich das meinem Alten beichte, kann ich mir mein Medizinstudium abschminken. Ich bin echt am Arsch.“ Er hatte einen Blick wie der jugendliche Stricher von gestern Nacht. Ich faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und begann mein Frühstücksgeschirr abzuräumen. „Willi …“ Sehr eindringlich, sehr bittend.
„Bastian, ich werde darüber nachdenken.“ Ich hatte in dem Augenblick keine Lust, mich mit seinem Elend abzugeben, in welches er sich selbst geritten hatte. Und auf keinen Fall würde ich den Fehler machen und ihm womöglich Geld leihen! Vielleicht hatte er sich diesbezüglich Hoffnungen gemacht. Frei nach dem Motto: „Bist ein feiner Kerl, Willi, kriegst du auch bald wieder!“ Die Blicke der beiden Umzugshelfer kamen mir in den Sinn. „Demnächst gebe ich euch einen aus.“ Eins wurde mir in dieser Situation klar: Einer wie Bastian lebte gern auf Kosten anderer Leute. Mag sein, dass er unsere Verbindung für eine gute Idee hielt, ein einträchtiges Zusammenleben wie der Einsiedlerkrebs und die Seeanemone damals in meinem Bio-Buch! Wie hieß das doch gleich? Symbiose. Ich dagegen empfand sein Verhalten eher parasitär und sah in ihm den Schmarotzer, so wie er mich als idealen Wirt betrachtete, den er nach Belieben aussaugen konnte! Ein wirklich überaus treffender Vergleich. Nur hatte er buchstäblich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Meine Freiheit ist mir nämlich heilig. Und unter Einsamkeit litt ich wahrlich nicht.
Ich stellte – noch immer wortlos im Übrigen – meinen Teller, die Tasse und Müslischüssel in den Geschirrspüler, er hatte sich hastig einen Lappen genommen und wischte nun den Tisch sauber. Das war das erste Mal, dass ich ihn so etwas tun sah. Entsprechend ungeschickt stellte er sich an und die Krümel meines Brötchens segelten auf die Erde. Ich drückte ihm einen Besen in die Hand und schickte mich an, die Küche zu verlassen.
„Solange du hier haust, wirst du dich an allen Hausarbeiten beteiligen“, sagte ich. „Und ich will nie wieder Kackstreifen von dir im Klo sehen.“ Er nickte eifrig und auch sehr erleichtert, wie mir schien.
Es hat seitdem tatsächlich keinen einzigen Kackstreifen mehr gegeben. Er hängt mit einer wahren Euphorie unsere Wäsche auf, saugt und putzt, dass Frau Melzer ihre Freude an ihm hätte. Und er kocht. Leider mit mäßigem Erfolg. Seine üppigen Gerichte kann ich bestenfalls mit der Note ausreichend bewerten. Mutters ätzender Spruch fällt mir hierzu ein, den sie mir in regelmäßigen Abständen mit Genuss servierte: „Schmecken braucht es nicht – nur viel muss es sein!“ Auch heute sitzen wir wieder vor einer viel zu großen Portion Schnitzel, deren Panade an einigen Stellen schwarz geworden ist. Angebranntes schmeckt mir einfach nicht. Der Vorteil: ich brauche mir keine Sorgen um mein Gewicht machen. Offenbar habe ich meinen Set-point mit 70 Kilo erreicht. Noch immer kann ich jauchzen, wenn ich auf die Waage steige! Mein Body-Mass-Index befindet sich genau im Mittelwert einer normalgewichtigen männlichen Person meiner Altersklasse. 23! Vor zwei Jahren saß ich hier und war ein Fettwanst mit einem Index von 41. Alles über 40 wird als massive Adipositas bezeichnet. Ich habe es geschafft. Und so, wie ich es geschafft habe, abzunehmen, werde ich es auch schaffen, Jan davon zu überzeugen, dass ich der einzig Richtige für ihn bin.
Bastian hilft mir nach seiner Kochorgie, die Küche zu reinigen. Überhaupt ist er seit seinem Ausraster und dem Geständnis seiner Misere ein völlig verwandelter Mensch. Man könnte beinahe annehmen, er sei in mich verliebt! Er ist ganz genauso, wie ich ihn mir am Anfang gewünscht hätte. Aufmerksam, liebevoll, meine Grenzen berücksichtigend. Wahrscheinlich würde er sich sogar beim Sex zurücknehmen und nicht nur auf seine Bedürfnisse und deren Befriedigung achten. Die Gelegenheit, es zu zeigen, erhält er nicht, denn ich habe keineswegs vor, ihn nochmals in mein Bett zu lassen. Ich habe mir fest vorgenommen, mir keine Schwäche mehr zu erlauben. Das verwirrt ihn, das merke ich ihm deutlich an.
„Und? Wann geht’s los?“, fragt er mich, während er die Pfanne abtrocknet, die ich gerade mit intensivem muskulären Körpereinsatz von ihren angebrannten Verkrustungen gesäubert habe.
„Der Fahrlehrer hatte sein Terminbüchlein nicht dabei. Nach der nächsten Theoriestunde machen wir was aus.“ Bastian kann einen gewissen Neid nicht unterdrücken. „Ist bestimmt geil, Motorrad zu fahren“, sagt er. „Hätte ich auch riesig Bock drauf.“
Kostet aber Geld, Freundchen! Und das hast du nicht! Ich ziehe mich wie jeden Abend in mein Arbeitszimmer zurück. Momentan sitze ich an einer Geschichte, die im Mittelalter spielt. Der Held ist ein einfacher und aufrechter Bauer (Jan), der von einem Günstling der Königin entführt und zu perversen Spielchen missbraucht wird, die dem Guten zuwider sind. Bei dieser Gestalt schwebt mir natürlich Nick vor. Der König, der von allem nichts ahnt, bin ich. Selbstverständlich komme ich eines Tages hinter die Machenschaften des dekadenten Luders und gebe Jan die Freiheit wieder. Das ist der Moment, in dem ich mich in ihn verliebe. Der Königin an meiner Seite, die von meiner geheimen Leidenschaft nichts wissen darf, spiele ich Informationen über ihren untreuen Favoriten zu, sodass sie gehörig in Rage gerät und ihn in ihrem Kerker langsam zu Tode quälen lässt. Während sie mit ihrer Rache beschäftigt ist, habe ich Jan an den Hof geholt, damit er sich um meine Jagdfalken kümmert. Schöne Szenen sind mir gelungen, wie ich finde. Unser erstes Mal beispielsweise findet nachts bei Vollmond im Wald statt. Es ist eine warme Sommernacht. Ich bin angeblich zur Jagd aufgebrochen, aber ich will nur ihn. Er ist anfangs verstört, doch dann kann er sich meinen Verführungskünsten nicht entziehen und er gesteht mir hinterher, dass er noch nie eine befriedigendere Liebesbegegnung gehabt hat.
Ich beginne ein neues Kapitel und schreibe selbstvergessen, bis mir die Fingerkuppen pochen. Lese meine heutige Schöpfung im Anschluss durch und speichere sie äußerst zufrieden ab. Danach gehe ich ins Internet und schaue in mein mail-Fach. Oh, ich habe schon wieder Zuschriften von Lesern meiner Diät-Fibel bekommen! Eine sehr nette Begleiterscheinung, die einem als Autor widerfährt.
„Lieber Herr Wolters, ich lese Ihr Buch schon zum dritten Mal und amüsiere mich immer wieder über ihre lustigen Ausdrücke und Redewendungen! Neulich habe ich es in meine Diät-Gruppe mitgenommen und einige Passagen vorgelesen. Nun wollen sich alle meine Mitstreiterinnen Ihr Buch kaufen, damit sie – und ich natürlich auch – schon im nächsten Sommer rank und schlank die Badesaison genießen können! Mit herzlichen Grüßen – Ihre treue Leserin Dagmar Heinze.“ Schau an, die pummelige Dagmar hat mir jetzt schon zum dritten Mal geschrieben. Ich hatte an und für sich nicht vor, mails zu beantworten, aber ich bin so gut gelaunt, dass ich eine hübsche kleine Antwortmail verfasse, die ihr zeigen wird, dass ich tatsächlich der sehr humorige Mensch bin, von dem sie schwärmt.
Fröhlich schicke ich sie ab und überfliege die weiteren Namen des Eingangs. Das Übliche an Sex-Pillen-Angeboten, Lottogewinnversprechen und Werbung. Ein nicht unerheblicher Teil meiner guten Laune geht mir flöten, als ich feststellen muss, dass mir auch Kerstin wieder geschrieben hat. Seitdem Karl einen festen Job hat, ist sie nahezu ununterbrochen online, da sie sich einen Rechner zugelegt haben. Sie bombardiert mich mit mails, deren Inhalt mir permanent vor Augen führen, dass ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe. Wie konnte ich nur so sagenhaft dumm sein, mit ihr zu schlafen? Das wäre vielleicht noch zu verzeihen gewesen, aber ich hatte mir in meiner grenzenlosen Naivität kein Kondom übergestülpt, was verhindert hätte, dass sie von mir schwanger wurde. Ich Vollidiot hatte geglaubt, sie nähme die Pille. Sie hatte es ganz klar darauf angelegt, schwanger zu werden. Mit ihrem Karl hatte sie schon seit diversen Jahren keinen Erfolg. Bei mir klappte es auf Anhieb.
Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als sie es mir letztes Jahr voller Freude berichtete. Sie war gerade frisch vom Frauenarzt gekommen. Da hätte ich gleich handeln sollen! Sie beherzt packen und ihr das Genick brechen und anschließend vor die Treppe legen. In aller Ruhe hätte ich mir noch was ausdenken können, was die Sache glaubhafter gemacht hätte. Ich hatte damals im oberen Stockwerk noch eine Baustelle. Karl und ich waren gerade dabei, Badezimmer und Sauna fertig zu stellen. Da stand immer was im Weg. Vielleicht einen Eimer mit Wischwasser auskippen, mir selbst die Schulter bös anhauen, damit der herbeigerufene Notdienst keine Zweifel an der Geschichte hat. Aber warum auch? Kein Mensch hätte Fragen gestellt! Karl wäre natürlich untröstlich gewesen, aber wenigstens wäre ihm verborgen geblieben, von wem das Kind wirklich ist.
Mittlerweile wird es immer schwieriger für mich, mir einen unproblematischen Tathergang auszudenken, der nur auf Unfall schließen lässt. Die dunkle Jahreszeit ist vorbei. Ich kann sie nicht mehr mal eben so ungesehen überfahren, wie es ursprünglich mein Plan war. Hierher locken und sie die Treppe hinunterstürzen geht auch nicht mehr, seitdem Bastian sich bei mir eingenistet hat. Ich kann nur noch darauf hoffen, dass Karl bald mit seinem Vorhaben beginnt, die großen Tannen auf dem Grundstück zu kappen. Dafür hatte ich schon meine Hilfe angeboten mit dem Hintergedanken, dass sich hier endlich die ersehnte Gelegenheit ergeben wird, Kerstin ein für alle Mal das vorlaute Maul zu stopfen.
Sie weiß einfach zu viel. Ich bin mir bei ihr nie ganz sicher, wie viel sie wirklich weiß. Es gab schon Momente, da fühlte ich mich fast durchsichtig. Wenn sie manchmal diese Bemerkungen macht mit dem ihr eigenen verschlagenen Gesichtsausdruck, dann gefriert mir buchstäblich das Blut in den Adern. Ich frage mich dann: ist das Absicht? Will sie damit meine Reaktionen testen? Oder ist sie wirklich nur gedankenlos und plappert alles ungefiltert aus, was ihr durch den Kopf geht? Dumm ist sie nicht. Mit überragender Intelligenz ist sie allerdings auch nicht geschlagen, doch eine gewisse Bauernschläue ist ihr nicht abzusprechen. Von Berechnung ganz zu schweigen. Dieser Wesenszug ist geradezu typisch für sie. Alles, was sie plant und tut, steckt voller Berechnung.
Mich als Samenspender zu benutzen zum Beispiel ist ihr hervorragend gelungen. Und das, obwohl ich schwul bin. Es gibt für diesen Fehltritt eine Entschuldigung: die Aktion, die wir zuvor gestartet hatten, war Grund genug, sich vollkommen anders zu benehmen als man es gemeinhin tat.
An jenem bewussten Abend hatten Kerstin und ich ihre Tante Alice aus dem Gartengrab geholt und sie im Kaminofen verbrannt.[1] Karl befand sich im Krankenhaus – der Blinddarm musste ihm entfernt werden – und Kerstin wollte ihm eine Freude machen!
Alice Schwarz hauchte ihr Leben am 21. Dezember 2002 aus, Kerstin und Karl glaubten, sie hätte sich bei der Selbstbefriedigung stranguliert. Dem war nicht so. Ich hatte sie ins Jenseits befördert, weil … ja, warum eigentlich? Genau genommen hätte ich mir diese Tat sparen können. Es hätte viele andere unangenehme Dinge, die hinterher passiert sind, vermutlich verhindert. Aber wer weiß das schon vorher? Damals erschien es mir nur logisch, sie zu erdrosseln, damit sie mich nicht weiterhin verlachen konnte. Ja, ich gebe zu, ich war für wenige Wochen ihr Liebhaber! Das hatte ich nie beabsichtigt! Als sich jedoch die Möglichkeit ergab, meine Unschuld zu verlieren – man bedenke, ich war bereits dreißig und zu jenem Zeitpunkt noch stark übergewichtig und durfte mein Haus nur zu erlaubten Tätigkeiten verlassen, da ich völlig unter der Aufsicht meiner bettlägerigen Mutter stand – da griff, besser: stieß ich zu.
Einmal die Woche musste ich bei ihr zum Liebesdienst antreten. Sie bestellte Ware bei Kaufmann Dahle, für den ich die Auslieferungen erledige, auf diese Weise hatten wir uns auch kennen gelernt. Ich glaube, sie war sexsüchtig. Mir hatte sie anfangs zwar Einsamkeit vorgespielt, ich bekam jedoch schnell heraus, dass sie etliche Männer kannte, die sie in verschiedenen Internet-Chats ausfindig gemacht hatte. Einen davon hatte sie kurz bevor ich am einundzwanzigsten Dezember erschien, noch bei sich zu Gast und im Bett gehabt. Mir wurde erst zu dem Zeitpunkt klar, welche Spielchen sie mit mir getrieben hatte und das machte mich ziemlich wütend. Verständlich, wie ich finde. Eigentlich hätte jeder vernünftig denkende Mensch genauso gehandelt.
Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Zwei Tage später reisten Karl und Kerstin an, um die Tante zu besuchen. Und sie entdeckten die nackte Tote im Schlafzimmer. Kerstin, eine notorische Kleptomanin, deren Bedürfnis nach Polizeikonsultation mehr als reichlich gedeckt war durch Erlebnisse in der jüngsten Vergangenheit, schlug darum kurzerhand ihrem Liebsten vor, Tante Alice im Garten zu verscharren. Dort ruhte sie fast ein Dreivierteljahr, bis die unselige Kerstin auf die verrückte Idee verfiel, man müsse sie noch nachhaltiger beseitigen, weil ihr Karl in zunehmendem Maße darunter litt, eine heimliche Grabstelle unterm Rosenbeet zu wissen. Wir hatten uns miteinander angefreundet und ich wurde von ihr als Totengräber auserkoren, just als ihr Karl mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus war. Man muss sich mal vorstellen, wie furchtbar das ist, eine übelst vergammelte Leiche auszugraben! Das rechtfertigt jede Übersprungshandlung und den ansonsten nie vollzogenen Geschlechtsverkehr nach vollbrachter Tat zur Genüge. Blau waren wir obendrein.
Gut, die Wiederholung am nächsten Morgen ist mir bis heute unerklärlich, aber zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass sie, als ich aufwachte, bereits meine Morgenlatte im Mund hatte. Das hat mich von etwaigen Skrupeln abgehalten, die ich im Normalfall gehabt hätte. Außerdem kam ich auf diese Weise in den Genuss, Kerstin einmal nicht unaufhörlich schnatternd zu erleben. Im Lusttaumel änderten wir die Position und es endete wie in der Nacht zuvor. In Missionarsstellung. Vermutlich absichtlich, damit mein kostbares Nass nicht verschwendet wurde und somit optimal an die strategisch wichtigen Stellen ihrer inneren Organe gelangen konnte.
Ich weiß nicht, wie oft ich mir seitdem gesagt habe, dass es eine Riesendummheit gewesen war, aber alle Reue nutzt nichts. Diese ungeheuerliche Tat kann ich nur ungeschehen machen, indem ich Kerstin ins Jenseits befördere. Und ihr ungeborenes Balg gleich mit.
Zu meinem großen Schrecken und noch größerem Ekel hat sie mir heute Fotos an die mail gehängt. „Schau mal, ich war beim Frauenarzt – so groß ist unser Kleines nun!“ Unser Kleines. Mir sträuben sich nicht nur die Nackenhaare. Mit Unbehagen öffne ich die von ihr eingescannten Ultraschallbilder und sehe nur Unförmiges. Ich mache die Umrisse eines viel zu dicken Kopfes aus und erkenne kleine Finger. Ob ich einmal genauso ausgesehen habe? Und wie hat sich Mutter dabei gefühlt? Sie, die immer auf ihre schlanke Linie achtete, wünschte sich wahrscheinlich voller Inbrunst, dass dieser für sie unvorteilhafte Zustand so schnell wie möglich sein Ende fand. Es wundert mich überhaupt, dass sie mich nicht abgetrieben hat! Ich habe mein Leben wohl dem Umstand zu verdanken, dass Anfang der siebziger Jahre noch strengere Regelungen herrschten, was diese heikle Thematik anging. Zum Abtreiben hätte sie wahrscheinlich nach Holland reisen müssen und weil sie permanent unter Geldknappheit litt, scheiterte diese Idee. Deshalb erhielt ich eine Chance.
Der Rest der Mail beinhaltet eine Einladung zu einem „gemütlichen Abend“. „Bring doch ruhig deinen Mitbewohner mit.“ Den Gefallen tue ich ihr sicherlich nicht. Neugierig ist sie, und wie! Sie weiß von meiner speziellen Neigung – Karl dagegen ist noch immer ahnungslos und wird es hoffentlich auch weiterhin bleiben. Ich möchte mir seine Sympathie nicht verscherzen. Ich mag ihn einfach. Er mich auch, ich weiß es, aber sobald er erfährt, dass ich schwul bin, wird er sich vermutlich anders verhalten. Er wird mich ablehnen und den Kontakt mit mir meiden. Unsere Männersolidarität wird sich buchstäblich in Luft auflösen und er wird sich die schwitzende Stirn tupfen bei der Erinnerung an Situationen, in denen er mich zum Abschied oder bei großer Freude spontan in den Arm nahm. Ich habe mir nie etwas dabei gedacht! Karl ist überhaupt nicht mein Typ! Ich habe ihn als Freund gern ohne jeglichen sexuellen Hintergrund. Die Frage ist: wird er das auch so sehen?
Die Einladung ist für kommendes Wochenende geplant. Bastian hat frei, das ist ärgerlich. Er wird mich fragen, wohin ich fahre, womöglich bettelt er sogar darum, mitgenommen zu werden. Momentan fällt ihm arg die Decke auf den Kopf, da er nicht ausgehen kann zwecks Ebbe in der Börse. Offenbar hat er sich bei allen Bekannten durchgeschnorrt, denn er murmelte neulich etwas von „Geizhälsen im Freundeskreis“ und dass er keine Lust mehr hätte, sich mit Leuten zu treffen. Was ihn allerdings nicht abhalten würde, sich an mein Bein zu hängen wie eine lästige Klette.
Seufzend mache ich mich an die Antwort, bedanke mich für die Einladung und stelle einen Nachtisch in Aussicht, den ich mitbringen werde. Ein Klick und die Mail ist abgeschickt.
Ich will gerade Schluss machen für heute, da bekomme ich noch eine Mail. Dagmar Heinze hat bereits wieder geantwortet. Diesmal mit sehr viel mehr Text.
„Lieber Herr Wolters, es freut mich sehr, dass Sie mir geantwortet haben – damit hätte ich niemals gerechnet! Vielen Dank! Sie haben geschrieben, es sei nur eine kleine banale Geschichte von Ihrem Werdegang und es würde Sie freuen, anderen Menschen damit Mut zu machen … für mich ist Ihr Buch jedoch viel mehr. Zwar haben Sie alles mit Humor geschildert, aber ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute gewesen sein muss. Ich weiß, wie es sich anfühlt, dick zu sein und Ihre kurze Beschreibung Ihrer Kindheit – ich war immer ein dickes und gehänseltes Kind
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