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Ungekürzte Neuausgabe. Neu übersetzt aus dem Amerikanischen von Mac Conin. Als die Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert beschließen, einen Waisenjungen zur Unterstützung ihrer Farm Green Gables aufzunehmen, ahnen sie nicht, dass stattdessen das lebhafte, rothaarige Mädchen Anne Shirley bei ihnen ankommt. Mit ihrer unbändigen Fantasie, ihrem scharfen Verstand und ihrem großen Herzen stellt Anne das beschauliche Leben in Avonlea auf den Kopf. Sie kämpft gegen Vorurteile, entdeckt wahre Freundschaft und folgt ihrem Traum, eine gebildete und unabhängige Frau zu werden. Doch kann sie sich wirklich eine Heimat auf Green Gables aufbauen? Ein zeitloser Klassiker über Mut, Träume und die Kraft der eigenen Vorstellung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch
Als die Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert beschließen, einen Waisenjungen zur Unterstützung ihrer Farm Green Gables aufzunehmen, ahnen sie nicht, dass stattdessen das lebhafte, rothaarige Mädchen Anne Shirley bei ihnen ankommt.
Mit ihrer unbändigen Fantasie, ihrem scharfen Verstand und ihrem großen Herzen stellt Anne das beschauliche Leben in Avonlea auf den Kopf. Sie kämpft gegen Vorurteile, entdeckt wahre Freundschaft und folgt ihrem Traum, eine gebildete und unabhängige Frau zu werden. Doch kann sie sich wirklich eine Heimat auf Green Gables aufbauen?
Ein zeitloser Klassiker über Mut, Träume und die Kraft der eigenen Vorstellung.
Impressum:
Erschienen im kontrabande Verlag, Köln.
Landsbergstraße 24 . 50678 Köln
Ungekürzte Ausgabe © 2025 kontrabande Verlag
Erstmals 1908 erschienen im Verlag L. C. Page, Boston, Massachusetts,
unter dem Titel „Anne of Green Gables“
Umschlagbild & Umschlaggestaltung: kontrabande Verlag, Köln. Titelgeneration teilweise midjourney.
Übersetzung: Mac Conin, kontrabande Verlag, Köln.
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ISBN E-Book 978-3-911831-15-4
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-911831-16-1
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.kontrabande.de
Viel Spaß beim Lesen.
Cover
Über dieses Buch
Copyright
Über die Autorin
copyright 1
Mrs. Rachel Lynde ist überrascht
Matthew Cuthbert ist überrascht
Marilla Cuthbert ist überrascht
Morgen in Green Gables
Annes Geschichte
Marilla fasst einen Entschluss
Anne spricht ihr Gebet
Annes Erziehung beginnt
Mrs. Rachel Lynde ist angemessen entsetzt
Annes Entschuldigung
Annes Eindruck von der Sonntagsschule
Ein feierliches Gelübde und ein Versprechen
Die Freuden der Vorfreude
Annes Geständnis
Ein Sturm in der Schulteetasse
Diana kommt zum Tee – mit tragischen Folgen
Ein neues Interesse am Leben
Anne eilt zur Rettung
Ein Konzert, eine Katastrophe und ein Geständnis
Eine blühende Fantasie führt in die Irre
Eine neue Geschmacksrichtung
Anne wird zum Tee eingeladen
Anne gerät in eine Ehrenangelegenheit
Miss Stacy und ihre Schüler organisieren ein Konzert
Matthew besteht auf Puffärmel
Der Geschichtenzirkel wird gegründet
Eitelkeit und Kummer des Geistes
Die unglückliche Lilienmaid
Eine neue Ära in Annes Leben
Die Queen’s-Klasse wird gegründet
Wo sich Bach und Fluss treffen
Die Ergebnisliste ist da
Das Hotelkonzert
Ein Mädchen von Queen’s
Der Winter an der Queen’s
Der Ruhm und der Traum
Der Schnitter, dessen Name Tod ist
Die Biegung des Weges
impressum 2
Hilf uns
Himmelsstürmer
Der Job
Stadt der Spiegel
Das Wrack der Grosvenor
Zwei Jahre vorm Mast
Über die Autorin
Lucy Maud Montgomery (1874–1942) war eine kanadische Schriftstellerin, die mit ‚Anne auf Green Gables‘ einen der bekanntesten Jugendromane der Welt schuf. Aufgewachsen in der ländlichen Idylle von Prince Edward Island, ließ sie ihre Kindheitserfahrungen in ihre Werke einfließen. Ihre Geschichten zeichnen sich durch lebendige Charaktere, Naturbeschreibungen und eine starke weibliche Perspektive aus.
Sie verlor früh ihre Mutter und wurde von ihren Großeltern auf Prince Edward Island erzogen. Schon als Kind entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben und veröffentlichte ihre ersten Geschichten in lokalen Zeitungen. Nach einer Ausbildung zur Lehrerin arbeitete sie einige Jahre als Lehrerin und später als Redakteurin, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete.
1908 veröffentlichte sie ‚Anne auf Green Gables‘, das sofort ein großer Erfolg wurde. Sie schrieb insgesamt acht Bände über Anne Shirley und viele weitere Romane, darunter Emily of New Moon und The Blue Castle. Ihr Werk machte sie zu einer der bekanntesten kanadischen Autorinnen.
Einfluss von ‚Anne auf Green Gables‘ auf ihr Leben
Der Erfolg des Romans veränderte Montgomerys Leben nachhaltig. Sie wurde international berühmt und konnte vom Schreiben leben – eine Seltenheit für Frauen ihrer Zeit. Dennoch kämpfte sie mit persönlichen Herausforderungen, darunter Depressionen, familiäre Probleme und der Druck, immer neue Anne-Romane schreiben zu müssen, obwohl sie sich auch anderen Themen widmen wollte.
Trotz aller Schwierigkeiten blieb Montgomery eine der bedeutendsten Stimmen der kanadischen Literatur, und ‚Anne auf Green Gables‘ beeinflusst bis heute Leser weltweit. Ihr Werk inspirierte zahlreiche Verfilmungen, Theaterstücke und Adaptionen und machte Prince Edward Island zu einem literarischen Pilgerort.
Obwohl ‚Anne auf Green Gables‘ nicht explizit als feministischer Roman gedacht war, enthält er viele fortschrittliche Elemente. Anne Shirley, die Hauptfigur, ist eine willensstarke und kluge Waise, die sich in einer von Konventionen geprägten Gesellschaft behauptet. Sie strebt nach Bildung, hat ihren eigenen Kopf und hinterfragt Geschlechterrollen, was sie zu einer untypischen Heldin ihrer Zeit macht. Ihre Entwicklung zeigt, dass Frauen mehr sein können als nur Ehefrauen und Mütter – sie können selbstbestimmt ihre Zukunft gestalten.
Trotz der klassischen Erzählweise bleibt die Geschichte auch heute noch aktuell. Annes Beharrlichkeit, ihre Vorstellungskraft und ihr Wunsch nach Unabhängigkeit machen sie zu einer Figur, die über Generationen hinweg inspiriert. Zwar sind einige gesellschaftliche Vorstellungen des Romans aus heutiger Sicht überholt, doch die zentrale Botschaft – dass Träume, Bildung und Selbstvertrauen entscheidend sind – bleibt universell.
Anne auf Green Gables, geschrieben von Lucy Maud Montgomery.
In einer Übersetzung von Mac Conin.
Erschienen im kontrabande Verlag, Köln, im Jahr 2025.
Mrs. Rachel Lynde ist überrascht
Mrs. Rachel Lynde wohnte genau dort, wo die Hauptstraße von Avonlea in eine kleine Senke hinabführte. Von Erlen und Herzblumen gesäumt, durch die sich ein Bach schlängelte, dessen Quelle tief in den Wäldern des alten Cuthbert-Anwesens lag.
Man sagte, dieser Bach sei in seinem wilden, ursprünglichen Lauf durch den Wald voller dunkler Geheimnisse, von Wasserfällen und tiefen Wasserlöchern. Doch sobald er Lyndes Senke erreichte, war er ein kleiner, ruhiger, wohlerzogener Fluss – denn nicht einmal ein Bach konnte an Mrs. Rachel Lyndes Tür vorbeifließen, ohne Anstand und Ordnung zu wahren.
Wahrscheinlich war er sich sehr wohl bewusst, dass Mrs. Rachel am Fenster saß, und mit scharfem Blick alles beobachtete, was sich bewegte – seien es Bäche, Kinder oder sonst wer. Und wenn ihr etwas Ungewöhnliches oder Unpassendes auffiel, würde sie keine Ruhe geben, bis sie die Ursache und den Hintergrund davon herausgefunden hätte.
Es gibt viele Leute, in Avonlea und anderswo, die sich so sehr um die Angelegenheiten ihrer Nachbarn kümmern, dass sie darüber ihre eigenen vernachlässigen. Doch Mrs. Rachel Lynde war eine jener tüchtigen Frauen, die nicht nur ihr eigenes Leben perfekt im Griff hatte, sondern auch noch das ihrer Mitmenschen mitverwaltete.
Sie war eine herausragende Hausfrau, ihre Arbeit war stets erledigt – und das immer gründlich. Sie leitete den Nähkreis, half bei der Sonntagsschule und war die stärkste Stütze der Frauenhilfsvereinigung sowie des Missionskreises.
Und dennoch fand sie ausreichend Zeit, stundenlang an ihrem Küchenfenster zu sitzen, während sie an ihrer Baumwoll-Steppdecke arbeitete. Sechzehn hatte sie davon bereits gefertigt, wie die Hausfrauen von Avonlea ehrfürchtig berichteten. Und dabei hielt sie ständig die Hauptstraße im Blick, die sich durch die Senke schlängelte und den steilen roten Hügel hinaufführte.
Avonlea lag auf einer kleinen, dreieckigen Halbinsel, die in den Golf von St. Lawrence ragte und auf zwei Seiten von Wasser umgeben war. Darum musste jeder, der den Ort verließ oder betrat, diese Straße passieren – und sich damit dem unsichtbaren Blick von Mrs. Rachel Lynde aussetzen.
An diesem frühen Juninachmittag saß sie wieder an ihrem Fenster. Die Sonne schien warm und hell herein, der Obstgarten am Hang unterhalb des Hauses stand in voller, rosa-weißer Blütenpracht, und unzählige Bienen summten geschäftig umher.
Thomas Lynde, ein sanftmütiger kleiner Mann, den die Leute in Avonlea nur als ‚Rachels Ehemann‘ bezeichneten, säte auf dem Feld hinter der Scheune seine Steckrüben. Und Matthew Cuthbert hätte eigentlich dasselbe auf seinem großen, roten Acker am Bach nahe Green Gables machen sollen.
Mrs. Lynde wusste das, weil sie ihn am Vorabend in Blairs Laden in Carmody zu Peter Morrison hatte sagen hören, dass er seine Steckrüben am nächsten Nachmittag säen wollte. Peter hatte ihn danach gefragt – denn Matthew Cuthbert war nicht dafür bekannt, dass er etwas von sich aus preisgab.
Und doch sah sie ihn nun, um halb vier an einem geschäftigen Tag, seelenruhig über die Senke den Hügel hinauffahren. Zudem trug er einen weißen Kragen und seinen besten Anzug. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er Avonlea verließ. Und da er die Kutsche und die Fuchsstute genommen hatte, wollte er wohl eine beträchtliche Strecke zurücklegen.
Aber wohin war Matthew Cuthbert unterwegs – und warum? Wäre es irgendein anderer Mann aus Avonlea gewesen, hätte Mrs. Rachel durch geschicktes Kombinieren von Hinweisen eine recht gute Vermutung anstellen können. Doch Matthew verließ sein Heim so selten, dass es etwas wirklich Dringendes und Außergewöhnliches sein musste, das ihn forttrieb.
Er war der schüchternste Mensch, den man sich vorstellen konnte, und hasste es, unter Fremde zu gehen oder an einen anderen Ort zu müssen, wo er sich unterhalten sollte.
Matthew, herausgeputzt mit weißem Kragen und in einer Kutsche fahrend – das war ein Anblick, der so gut wie nie vorkam. Mrs. Rachel grübelte lange, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Das verdarb ihr den ganzen Nachmittag.
„Ich werde nach dem Tee einfach mal bei Green Gables vorbeischauen und von Marilla erfahren, wo er hingefahren ist und warum“, beschloss sie schließlich. „Er fährt um diese Jahreszeit eigentlich nie in die Stadt, und Besuche macht er schon gar nicht. Wenn ihm die Steckrübensamen ausgegangen wären, hätte er sich bestimmt nicht fein gemacht und die Kutsche genommen, um neue zu besorgen. Und er ist auch nicht schnell genug gefahren, als dass er einen Arzt holen müsste. Aber etwas muss seit gestern Abend passiert sein, das ihn veranlasst hat, aufzubrechen. Ich bin vollkommen ratlos – und ich werde keine Ruhe finden, bis ich weiß, was Matthew Cuthbert heute aus Avonlea hinausgetrieben hat.“
Daher machte sich Mrs. Rachel nach dem Tee auf den Weg nach Green Gables.
Sie hatte es nicht weit. Das große, weitläufige, von Obstbäumen umrahmte Haus der Cuthberts lag keine Viertelmeile die Straße hinauf von Lyndes Senke.
Allerdings machte die lange Auffahrt den Weg beträchtlich weiter. Matthew Cuthberts Vater, ebenso schüchtern und wortkarg wie sein Sohn nach ihm, hatte sich bei der Gründung seines Hofes so weit wie möglich von seinen Mitmenschen entfernt, ohne sich tatsächlich in den Wald zurückzuziehen. Green Gables wurde am äußersten Rand des gerodeten Landes erbaut. Und dort stand es noch heute, von der Hauptstraße aus kaum sichtbar, während sich alle anderen Häuser von Avonlea gesellig an der Straße versammelten.
Für Mrs. Rachel Lynde war das kein richtiges Leben. „Das ist doch bloß ein Dasein, mehr nicht“, murmelte sie vor sich hin, während sie die tief ausgefahrene, grasbewachsene Auffahrt entlangging, gesäumt von wilden Rosensträuchern. „Kein Wunder, dass Matthew und Marilla ein bisschen sonderbar sind, wenn sie hier draußen so abgeschieden leben. Bäume taugen nicht viel als Gesellschaft – aber wenn sie es täten, hätten sie hier wahrlich genug davon. Ich jedenfalls schaue mir lieber Menschen an. Nun ja, sie scheinen zufrieden zu sein. Aber ich nehme an, sie sind es einfach gewohnt. Der Mensch gewöhnt sich schließlich an alles, selbst an den Galgen, wie die Iren sagen.“
Mit diesen Gedanken trat Mrs. Rachel aus der Auffahrt in den Hinterhof von Green Gables. Dieser war auffallend grün, akkurat gepflegt und von großer Ordnungsliebe geprägt – auf einer Seite gesäumt von altehrwürdigen Weiden, auf der anderen von strengen, hoch aufragenden Pappeln.
Kein umher liegendes Stöckchen oder Steinchen war zu sehen, und wenn es eines gegeben hätte, hätte Mrs. Rachel es vermutlich entdeckt. Insgeheim war sie überzeugt, dass Marilla Cuthbert ihren Hof ebenso oft kehrte wie ihr Haus. Man hätte vom Boden essen können, ohne auch nur das kleinste Bisschen an Schmutz aufzunehmen.
Mrs. Rachel klopfte energisch an die Küchentür und trat ein, sobald man sie dazu aufforderte. Die Küche von Green Gables war ein einladender Raum – oder wäre es gewesen, wenn sie nicht so makellos sauber gewesen wäre, dass sie fast den Eindruck eines unbenutzten Salons machte. Die Fenster gingen nach Osten und Westen; durch das westliche fiel warmes Junilicht in den Raum und fiel auf den Hinterhof. Das östliche Fenster hingegen, von dem aus man einen Blick auf die schneeweißen Kirschblüten im linken Obstgarten und die schlanken, wiegenden Birken unten in der Senke beim Bach hatte, war von einem Wirrwarr aus Weinranken überwuchert.
Hier saß Marilla Cuthbert, wenn sie überhaupt saß – stets ein wenig misstrauisch gegenüber Sonnenlicht, das ihr zu flatterhaft und unzuverlässig schien für eine Welt, die man mit Ernsthaftigkeit zu nehmen hatte.
Und hier saß sie auch jetzt, strickend, während hinter ihr der Tisch bereits für das Abendessen gedeckt war. Mrs. Rachel hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, da hatte sie sich bereits ein geistiges Bild von allem gemacht, was sich auf dem Tisch befand. Drei Teller waren aufgedeckt – also erwartete Marilla jemanden mit Matthew zum Tee. Doch es war nur das Alltagsgeschirr gedeckt, und es gab lediglich Holzapfelgelee und eine einzige Sorte Kuchen – also konnte der Besuch niemand Besonderes sein. Aber was war dann mit Matthews weißem Kragen und der Fuchsstute?
Mrs. Rachel wurde schwindlig von all den seltsamen Rätseln, die sich gerade um das sonst so ruhige, unaufgeregte Green Gables rankten.
„Guten Abend, Rachel“, sagte Marilla zügig. „Ein wirklich schöner Abend, nicht wahr? Setz dich doch. Wie geht es deiner Familie?“
Zwischen Marilla Cuthbert und Mrs. Rachel bestand etwas, das mangels einer besseren Bezeichnung wohl als Freundschaft durchgehen konnte – und das, obwohl oder vielleicht gerade, weil sie so unterschiedlich waren. Marilla war eine große, hagere Frau, kantig und ohne weiche Rundungen. Ihr dunkles Haar zeigte bereits einige graue Strähnen und war stets zu einem strengen, kleinen Knoten im Nacken geschlungen, durch den zwei Drahtnadeln steckten, als wollten sie jedes Auflockern verhindern.
Sie wirkte wie eine Frau mit begrenzter Lebenserfahrung und eiserner Pflichterfüllung – was sie auch war. Doch um ihren Mund lag ein Hauch von etwas, das, wenn es sich je ein wenig mehr entfaltet hätte, als Andeutung von Humor hätte gelten können.
„Uns geht’s ganz gut“, sagte Mrs. Rachel. „Ich hatte schon befürchtet, dass es bei euch etwas nicht in Ordnung wäre, als ich Matthew heute losfahren sah. Ich dachte, er wäre vielleicht zum Arzt unterwegs.“
Marillas Lippen zuckten wissend. Sie hatte mit Mrs. Rachels Besuch gerechnet. Sie wusste, dass der Anblick von Matthew, der auf so unerklärliche Weise ausrückte, zu viel für die Neugier ihrer Nachbarin war.
„Oh nein, mir geht es gut, auch wenn ich gestern schlimme Kopfschmerzen hatte“, sagte sie. „Matthew ist nach Bright River gefahren. Wir holen heute Abend einen kleinen Jungen aus einem Waisenhaus in Nova Scotia ab – er kommt mit dem Zug.“
Wenn Marilla gesagt hätte, Matthew sei nach Bright River gefahren, um ein Känguru aus Australien abzuholen, hätte Mrs. Rachel nicht überraschter sein können. Tatsächlich verschlug es ihr für fünf Sekunden die Sprache. Es war undenkbar, dass Marilla sich einen Scherz mit ihr erlaubte, aber Mrs. Rachel sah sich beinahe gezwungen, es anzunehmen.
Als sie ihre Stimme wiederfand, fragte sie: „Meinst du das ernst, Marilla?“
„Ja, natürlich“, erwiderte Marilla, als wäre es das Normalste auf der Welt, Jungen aus Waisenhäusern in Nova Scotia zu holen – eine übliche Frühjahrsarbeit auf jeder gut geführten Farm in Avonlea, anstatt eine beispiellose Neuerung.
Mrs. Rachel fühlte sich, als hätte sie einen gewaltigen Schock erlitten. In ihrem Kopf reihten sich Gedanken wie Ausrufezeichen aneinander. Ein Junge!
Marilla und Matthew Cuthbert, ausgerechnet sie wollten ein Kind adoptieren! Und dann noch aus einem Waisenhaus! Die Welt stand wahrhaftig Kopf! Nach diesem Tag würde sie sich über gar nichts mehr wundern! Über nichts!
„Wie um Himmels willen seid ihr nur auf diese verrückte Idee gekommen?“, fragte sie missbilligend. Dass man sie nicht um Rat gefragt hatte, war Grund genug, die ganze Angelegenheit abzulehnen.
„Nun ja, wir denken schon seit einer Weile darüber nach – eigentlich den ganzen Winter über“, erklärte Marilla. „Mrs. Alexander Spencer war kurz vor Weihnachten hier und erzählte, dass sie im Frühling ein kleines Mädchen aus dem Waisenhaus in Hopeton holen wollte. Ihre Cousine lebt dort, und Mrs. Spencer hat sie besucht und kennt sich aus.
Matthew und ich haben dann immer wieder darüber gesprochen und beschlossen, dass wir lieber einen Jungen nehmen. Matthew wird langsam älter. Er ist sechzig und nicht mehr so rüstig wie früher. Sein Herz macht ihm oft zu schaffen. Und du weißt ja, wie schwer es inzwischen ist, gutes Personal zu bekommen.
Es gibt einfach niemanden außer diesen dummen, halbwüchsigen französischen Jungen, und sobald man ihnen endlich etwas beigebracht hat, hauen sie ab – entweder zu den Hummerfabriken oder in die Staaten.
Zuerst schlug Matthew vor, einen Jungen aus England zu holen. Aber das habe ich strikt abgelehnt. „Die mögen ja in Ordnung sein – ich sage nichts dagegen – aber keine Londoner Straßenjungen für mich“, habe ich gesagt. „Ich will zumindest einen, der hier geboren ist.“ Ein Risiko gibt es ohnehin, egal, wen wir nehmen. Aber ich werde ruhiger schlafen, wenn es ein gebürtiger Kanadier ist.
Also haben wir Mrs. Spencer gebeten, uns einen Jungen auszusuchen, wenn sie ohnehin nach Hopeton fährt. Letzte Woche haben wir gehört, dass sie bald aufbricht. Also haben wir ihr über Richard Spencers Familie in Carmody ausrichten lassen, dass sie uns einen klugen, vielversprechenden Jungen im Alter von zehn oder elf Jahren mitbringen soll. Das erschien uns als bestes Alter. Alt genug, um gleich bei der Arbeit mitzuhelfen, aber noch jung genug, um ordentlich erzogen zu werden. Wir wollen ihm ein gutes Zuhause und eine ordentliche Schulbildung geben.
Und heute haben wir ein Telegramm von Mrs. Alexander Spencer bekommen. Der Postbote hat es vom Bahnhof mitgebracht. Sie schrieb, dass sie heute Abend mit dem Fünf-Uhr-Dreißig-Zug kommen. Also ist Matthew nach Bright River gefahren, um ihn abzuholen. Mrs. Spencer wird ihn dort aussteigen lassen, bevor sie weiter nach White Sands fährt.“
Mrs. Rachel war stolz darauf, immer ihre Meinung zu sagen – und genau das tat sie nun, nachdem sie ihren Schock verdaut hatte.
„Also Marilla, ich sage dir ganz offen, dass ich das für eine ziemlich törichte Entscheidung halte – ja, geradezu riskant! Du hast keine Ahnung, wen du dir da ins Haus holst. Du weißt nichts über das Kind, nichts über seinen Charakter, nichts über seine Eltern oder wie er sich entwickeln wird.
Erst letzte Woche habe ich in der Zeitung gelesen, dass ein Ehepaar im Westen der Insel einen Jungen aus einem Waisenhaus aufgenommen hat – und der hat ihnen nachts das Haus angezündet. Mit Absicht, Marilla! Fast wären sie in ihren Betten verbrannt! Und ich kenne einen anderen Fall, da hat ein Adoptivjunge ständig Eier ausgesaugt – und man konnte es ihm einfach nicht abgewöhnen. Hättest du mich vorher um Rat gefragt – was du nicht getan hast, Marilla –, dann hätte ich dir dringend davon abgeraten. Aber so etwas von!“
Diese wenig aufmunternden Worte schienen Marilla weder zu beleidigen noch zu beunruhigen. Sie strickte unbeirrt weiter.
„Ich will nicht leugnen, dass an dem, was du sagst, etwas dran ist, Rachel. Ich hatte selbst meine Bedenken. Aber Matthew war fest entschlossen. Und das konnte ich ihm nicht abschlagen. Matthew besteht so selten auf etwas, dass ich es für meine Pflicht halte, nachzugeben, wenn er es doch einmal tut. Und was das Risiko angeht – Risiken gibt es doch in fast allem, was man im Leben tut. Selbst wenn Leute eigene Kinder bekommen, ist das nicht ohne Risiko – die geraten auch nicht immer so, wie sie sollen. Außerdem ist Nova Scotia gleich hier nebenan. Es ist ja nicht so, als würden wir ihn aus England oder den Staaten holen. Er wird nicht viel anders sein als wir.“
„Na, ich hoffe, das geht gut aus“, sagte Mrs. Rachel in einem Tonfall, der ihre erheblichen Zweifel nur allzu deutlich machte. „Aber beschwer dich nicht, wenn er Green Gables abfackelt oder Gift in den Brunnen kippt. Ich habe von einem Fall in New Brunswick gehört, da hat ein Kind aus einem Waisenhaus das getan, und die ganze Familie ist unter furchtbaren Qualen gestorben. Allerdings war es in dem Fall ein Mädchen.“
„Nun, wir bekommen ja einen Jungen“, entgegnete Marilla, als sei das Vergiften von Brunnen eine rein weibliche Untugend, vor der man sich bei einem Jungen nicht zu fürchten brauchte. „Ich käme nie auf die Idee, ein Mädchen großzuziehen. Ich wundere mich über Mrs. Spencer, dass sie das tut. Aber gut, sie hätte wahrscheinlich keine Bedenken, gleich ein ganzes Waisenhaus zu adoptieren, wenn sie sich das erst einmal in den Kopf gesetzt hätte.“
Mrs. Rachel hätte gern gewartet, bis Matthew mit dem Waisenkind nach Hause kam. Doch da es noch mindestens zwei Stunden dauern würde, beschloss sie, den Weg hinauf zu Robert Bell zu nehmen, um die Neuigkeit zu verbreiten. Das würde gewiss für Aufsehen sorgen wie kaum etwas anderes – und Mrs. Rachel liebte es, für Aufsehen zu sorgen.
Also zog sie von dannen, sehr zu Marillas Erleichterung, denn unter dem Einfluss von Mrs. Rachels Pessimismus begannen ihre Zweifel und Ängste wieder aufzukeimen.
„Also, das ist doch das Verrückteste, was ich je gehört habe oder jemals hören werde!“, rief Mrs. Rachel aus, als sie sicher auf dem Weg war. „Es kommt mir wirklich vor, als müsste ich träumen. Na, mir tut das arme Kind leid, und zwar ohne Frage. Matthew und Marilla haben nicht die geringste Ahnung von Kindern und werden von dem Kind erwarten, dass es vernünftiger und besonnener ist als der eigene Großvater – falls es denn überhaupt einen Großvater hatte, was ich stark bezweifle. Es ist ein merkwürdiger Gedanke, ein Kind in Green Gables zu haben; dort gab es noch nie eines. Matthew und Marilla waren schon erwachsen, als das neue Haus gebaut wurde – falls sie überhaupt jemals Kinder waren, was man sich kaum vorstellen kann, wenn man sie so anschaut. Nein, in der Haut dieses Waisen möchte ich nicht stecken! Mein Gott, ich habe wirklich Mitleid mit ihm.“
Aus der Fülle ihres Herzens sprach Mrs. Rachel zu den wilden Rosenbüschen am Wegrand. Doch hätte sie das Kind sehen können, das in genau diesem Moment geduldig am Bahnhof von Bright River wartete, wäre ihr Mitleid noch größer und tiefer gewesen.
Matthew Cuthbert ist überrascht
Matthew Cuthbert und die fuchsrote Stute zuckelten gemächlich die acht Meilen bis nach Bright River. Es war eine schöne Strecke, gesäumt von gepflegten Bauernhöfen, gelegentlich durchzogen von einem Stück duftendem Tannenwald oder einer Senke, in der wilde Pflaumenbäume ihren zarten Blütenschleier entfalteten.
Die Luft war erfüllt vom süßen Duft unzähliger Apfelgärten, und die Wiesen dehnten sich, bis sie in einem schimmernden Dunst aus Perlmutt und Violett am Horizont verschwammen. Er summte vor sich hin:
‚Die kleinen Vögel singen, als wäre dies
der einzige Sommertag im ganzen Jahr.’
Matthew genoss die Fahrt auf seine eigene Weise – abgesehen von den Momenten, in denen er Frauen begegnete und ihnen zunicken musste. Denn auf Prince Edward Island galt es als unhöflich, nicht jeden zu grüßen, den man auf der Straße traf, ob man ihn nun kannte oder nicht.
Matthew jedoch fürchtete alle Frauen außer Marilla und Mrs. Rachel; er hatte stets das unangenehme Gefühl, dass diese rätselhaften Geschöpfe insgeheim über ihn lachten. Und womöglich hatte er damit gar nicht so unrecht, denn er war eine recht eigenwillige Erscheinung. Von hagerer Statur, mit langen, eisengrauen Haaren, die auf seine gebeugten Schultern fielen, und einem vollen, weichen braunen Bart, den er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr trug.
Tatsächlich hatte er mit zwanzig schon fast genauso ausgesehen wie jetzt mit sechzig, nur nicht ganz so grau.
Als er in Bright River ankam, war weit und breit kein Zug zu sehen. Er dachte, er sei zu früh, also band er sein Pferd im Hof des kleinen Hotels von Bright River an und ging hinüber zum Bahnhofsgebäude. Der lange Bahnsteig lag fast verlassen da. Das einzige lebendige Wesen, das zu sehen war, war ein Mädchen, das ganz am äußersten Ende auf einem Stapel Schindeln saß.
Matthew, der kaum bemerkte, dass es ein Mädchen war, schob sich so schnell wie möglich an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Hätte er sie angesehen, wäre ihm kaum entgangen, wie gespannt und erwartungsvoll sie wirkte. Sie saß dort und wartete auf etwas oder jemanden – und da Warten in diesem Moment das Einzige war, was sie tun konnte, tat sie es mit ganzer Kraft und Hingabe.
Matthew traf auf den Stationsvorsteher, der gerade den Fahrkartenschalter abschloss, um nach Hause zum Abendessen zu gehen, und fragte ihn, ob der Fünf-Uhr-Dreißig-Zug bald eintreffen würde.
„Der Fünf-Uhr-Dreißig-Zug ist schon vor einer halben Stunde angekommen und wieder abgefahren“, erwiderte der geschäftige Beamte. „Aber es ist ein Passagier für Sie abgesetzt worden – ein kleines Mädchen. Sie sitzt dort draußen auf den Schindeln. Ich habe sie gebeten, ins Damenwartezimmer zu gehen, aber sie hat mir mit ernstem Gesicht gesagt, sie bleibe lieber draußen. ‚Hier gibt es mehr Raum für die Fantasie‘, meinte sie. Ein echter Fall für sich, wenn Sie mich fragen.“
„Ich erwarte kein Mädchen“, sagte Matthew fassungslos. „Ich bin wegen eines Jungen hier. Er müsste eigentlich da sein. Mrs. Spencer sollte ihn aus Nova Scotia für mich mitbringen.“
Der Stationsvorsteher pfiff durch die Zähne. „Dann muss da wohl ein Fehler passiert sein“, sagte er. „Mrs. Spencer ist mit dem Mädchen aus dem Zug gestiegen und hat sie mir übergeben. Sie meinte, Sie und Ihre Schwester hätten sie aus einem Waisenhaus adoptiert und würden gleich kommen, um sie abzuholen. Mehr weiß ich auch nicht – und ich habe hier auch keine weiteren Waisenkinder versteckt.“
„Ich verstehe das nicht“, sagte Matthew hilflos und wünschte sich sehnlichst, Marilla wäre bei ihm, um die Situation zu klären.
„Nun, dann sollten Sie das Mädchen fragen“, meinte der Stationsvorsteher unbekümmert. „Ich wette, sie kann es Ihnen erklären – eine spitze Zunge hat sie jedenfalls. Vielleicht waren die Jungen, die Sie wollten, einfach ausverkauft.“
Er schlenderte davon und ließ den unglücklichen Matthew zurück, der sich nun einer Aufgabe stellen musste, die ihm schwerer fiel, als einen Löwen in seiner Höhle herauszufordern: Er musste zu einem Mädchen gehen – einem fremden Mädchen, einem Waisenmädchen – und es fragen, warum es kein Junge war.
Matthew stöhnte innerlich, drehte sich um und schlurfte langsam den Bahnsteig entlang auf sie zu. Sie hatte ihn beobachtet, seit er an ihr vorbeigegangen war, und nun ruhte ihr Blick noch immer auf ihm. Matthew sah sie nicht direkt an – und hatte selbst noch nicht wirklich wahrgenommen, wie sie aussah.
Ein gewöhnlicher Beobachter hätte Folgendes gesehen: ein Kind von etwa elf Jahren, gekleidet in ein sehr kurzes, sehr enges, ausgesprochen unschönes Kleid aus gelblich-grauen Grobleinen. Auf dem Kopf trug sie einen verblichenen braunen Matrosenhut, unter dem zwei dicke, leuchtend rote Zöpfe bis auf ihren Rücken hinab fielen. Ihr Gesicht war klein, blass und schmal, übersät mit Sommersprossen; ihr Mund war groß, ebenso ihre Augen, die je nach Licht und Stimmung mal grün, mal grau wirkten. Das würde der gewöhnliche Beobachter sehen.
Ein aufmerksamerer Betrachter aber hätte bemerkt, dass ihr Kinn spitz und markant war, dass ihre großen Augen voller Leben und Temperament leuchteten, dass ihr Mund wohlgeformt und ausdrucksstark war, dass ihre Stirn breit und hoch wirkte. Kurz gesagt: Ein besonders scharfsichtiger Beobachter hätte schlussfolgern können, dass in diesem schlaksigen, seltsamen Mädchen eine Seele wohnte, die alles andere als gewöhnlich war. Ein Mädchen, vor dem sich der schüchterne Matthew Cuthbert auf fast lächerliche Weise fürchtete.
Matthew blieb jedoch die Peinlichkeit erspart, das Gespräch eröffnen zu müssen, denn kaum war ihr klar, dass er auf sie zukam, stand sie auf. Mit einer schmalen, sonnengebräunten Hand griff sie nach dem Griff einer abgewetzten, altmodischen Stofftasche; die andere streckte sie ihm entgegen.
„Ich nehme an, Sie sind Mr. Matthew Cuthbert von Green Gables?“, sagte sie mit einer überraschend klaren, wohlklingenden Stimme. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir. Ich hatte schon Angst, Sie würden gar nicht mehr kommen. Ich habe mir schon alle möglichen Dinge ausgemalt, die Sie daran hätten hindern können, mich abzuholen. Ich hatte mir schon überlegt, dass ich, falls Sie mich heute nicht mehr abholen, einfach die Bahngleise entlang bis zu dem großen Wildkirschbaum an der Biegung gehen und dort hinaufklettern würde, um die Nacht dort oben zu verbringen. Ich hätte mich kein bisschen gefürchtet, und es wäre doch bestimmt wundervoll, in einem blühenden Wildkirschbaum im Mondschein zu schlafen, finden Sie nicht? Man könnte sich vorstellen, man würde in einem Palast aus Marmor wohnen, nicht wahr? Aber ich war mir ganz sicher, dass Sie morgen früh kommen würden, falls Sie es heute nicht mehr schaffen.“
Matthew hatte die schmale, knochige Hand ungeschickt ergriffen – und in diesem Moment traf er eine Entscheidung. Er konnte diesem Kind mit den leuchtenden Augen nicht sagen, dass ein Irrtum vorlag. Also würde er sie mitnehmen und Marilla die Sache überlassen. Sie konnte ohnehin nicht in Bright River bleiben, egal, was geschehen war, und so konnte man alle Erklärungen und Fragen genauso gut vertagen, bis sie sicher in Green Gables angekommen waren.
„Es tut mir leid, dass ich zu spät bin“, sagte er schüchtern. „Komm mit. Das Pferd steht drüben im Hof. Gib mir deine Tasche.“
„Oh, die kann ich selbst tragen“, antwortete das Kind fröhlich. „Sie ist nicht schwer. Ich habe all meine weltlichen Güter darin, aber schwer ist sie nicht. Und wenn man sie nicht auf eine ganz bestimmte Weise trägt, reißt der Griff ab – also behalte ich sie lieber, weil ich genau weiß, wie man sie richtig trägt. Es ist eine uralte Stofftasche. Oh, und ich bin so froh, dass du gekommen bist – auch wenn es bestimmt schön gewesen wäre, in einem blühenden Wildkirschbaum zu schlafen. Wir haben eine ziemlich lange Fahrt vor uns, oder? Mrs. Spencer sagte, es wären acht Meilen. Das ist gut, denn ich liebe Kutschfahrten. Es ist einfach wunderbar, dass ich bei euch leben und zu euch gehören werde. Ich habe noch nie zu jemandem gehört – nicht wirklich. Das Schlimmste war das Waisenhaus. Ich war ja nur vier Monate dort, aber das hat gereicht. Ich nehme an, du warst nie ein Waisenkind in einem Heim, also kannst du dir gar nicht vorstellen, wie das ist. Es ist schlimmer, als man es sich ausmalen kann. Mrs. Spencer sagte, es sei böse von mir, so zu reden, aber ich wollte gar nicht böse sein. Es ist so leicht, etwas Böses zu tun, ohne es zu merken, findest du nicht? Die Leute im Waisenhaus waren ja nett, aber es gab so wenig Raum für die Fantasie – nur bei den anderen Waisenkindern. Es war ziemlich spannend, sich Geschichten über sie auszudenken – zum Beispiel, dass das Mädchen neben mir in Wahrheit die Tochter eines Grafen sei, die als Baby von einer bösen Amme entführt wurde. Die Amme starb dann, ohne ihr Geheimnis zu verraten. Nachts lag ich oft wach und stellte mir solche Dinge vor, weil ich tagsüber keine Zeit dazu hatte. Wahrscheinlich bin ich deshalb so dünn. Ich bin doch furchtbar dünn, oder? An mir ist ja nichts dran – sagen jedenfalls alle. Ich stelle mir gern vor, dass ich rund und proper bin, mit kleinen Grübchen an den Ellenbogen.“
Damit verstummte Matthews kleine Begleiterin – teils weil ihr die Luft ausgegangen war, teils weil sie nun die Kutsche erreicht hatten. Sie sagte kein weiteres Wort, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und von der steilen Anhöhe hinabfuhren. Der Weg war hier tief in die weiche Erde geschnitten, sodass der Wegesrand zu beiden Seiten einige Fuß über ihnen aufragte. Sie waren gesäumt von schlanken weißen Birken und blühenden Wildkirschbäumen, deren duftende Zweige über den Weg hingen. Das Mädchen streckte die Hand aus und brach einen Zweig wilder Pflaumenblüten ab, der die Kutsche gestreift hatte.
„Ist das nicht wunderschön? Woran erinnert dich dieser Baum, der da ganz weiß und spitzig über den Weg wächst?“, fragte sie.
„Tja, also … ich weiß nicht“, sagte Matthew.
„Aber das ist doch ganz klar – an eine Braut natürlich!“, rief sie. „Eine Braut in schimmerndem Weiß mit einem wunderschönen, zarten Schleier. Ich habe noch nie eine Braut gesehen, aber ich kann mir genau vorstellen, wie sie aussieht. Ich werde wohl selbst nie eine Braut sein – ich bin viel zu hässlich. Niemand wird mich jemals heiraten. Es sei denn, vielleicht ein ausländischer Missionar. Die sind vermutlich nicht so wählerisch. Aber ich hoffe so sehr, dass ich eines Tages ein weißes Kleid haben werde. Das ist mein höchstes Ideal von irdischem Glück. Ich liebe schöne Kleider! Und ich habe, soweit ich mich erinnern kann, noch nie ein schönes Kleid besessen – aber das ist umso besser, weil ich dann etwas habe, worauf ich mich freuen kann, nicht wahr?“ Sie schaute ihn fragend an.
„Ich stelle mir oft vor, dass ich wunderschön angezogen bin. Heute Morgen, als ich das Waisenhaus verlassen habe, habe ich mich furchtbar geschämt, weil ich dieses schreckliche alte, häßliche Leinenkleid tragen musste. Alle Waisenkinder müssen so etwas tragen. Ein Kaufmann in Hopeton hat dem Heim im letzten Winter hundert Meter davon gespendet. Manche sagen, er wollte ihn nur loswerden, aber ich glaube lieber, dass er es aus reiner Güte getan hat – du doch auch, oder? Als wir in den Zug stiegen, hatte ich das Gefühl, alle Leute würden mich anschauen und bemitleiden. Aber dann habe ich mir einfach vorgestellt, ich würde ein wunderschönes, hellblaues Seidenkleid tragen. Wenn man sich schon etwas ausmalt, dann doch wenigstens etwas richtig Schönes. Und einen großen Hut voller Blumen und schaukelnder Federn, dazu eine goldene Uhr, feine Handschuhe und schicke Stiefel. Und sofort fühlte ich mich besser und habe die Reise zur Insel mit jeder Faser genossen. Ich bin überhaupt nicht seekrank geworden auf der Überfahrt. Mrs. Spencer auch nicht, obwohl sie das sonst immer wird. Sie meinte, sie hätte gar keine Zeit gehabt, seekrank zu sein, weil sie die ganze Zeit aufpassen musste, dass ich nicht über Bord gehe. Sie sagte, sie habe noch nie ein Kind gesehen, das so herumschnüffelt wie ich. Aber wenn ich sie vom Seekrankwerden abgehalten habe, dann war mein Herumschnüffeln doch eine echte Wohltat, nicht wahr?
Und ich wollte unbedingt alles sehen, was es auf diesem Schiff zu sehen gab, weil ich nicht wusste, ob ich je wieder die Gelegenheit dazu haben würde. Oh, da sind ja noch viel mehr blühende Kirschbäume! Diese Insel ist der blütenreichste Ort, den ich je gesehen habe. Ich liebe sie jetzt schon und bin so froh, dass ich hier leben werde.
Ich habe immer gehört, dass Prince Edward Island der schönste Ort der Welt ist, und ich habe mir oft vorgestellt, hier zu leben – aber ich hätte nie gedacht, dass es wirklich einmal passieren würde. Es ist einfach wunderbar, wenn Träume wahr werden, findest du nicht?
Aber diese roten Straßen sind wirklich seltsam. Als wir in Charlottetown in den Zug stiegen und die roten Straßen an uns vorbeizuflitzen begannen, habe ich Mrs. Spencer gefragt, warum sie rot sind. Sie sagte, sie wisse es nicht – und ich solle sie bloß nicht noch mehr fragen. Sie meinte, ich hätte ihr schon tausend Fragen gestellt. Wahrscheinlich hatte sie sogar recht. Aber wie soll man denn sonst etwas herausfinden, wenn man keine Fragen stellt?
Und warum sind die Straßen nun rot?“
„Tja, also … ich weiß nicht“, sagte Matthew.
„Na, das ist doch eine Sache, die man irgendwann herausfinden kann. Ist es nicht großartig, dass es so viele Dinge gibt, die man noch entdecken kann? Das macht mich richtig froh, am Leben zu sein – die Welt ist so spannend! Sie wäre nur halb so interessant, wenn wir schon über alles Bescheid wüssten, oder? Dann gäbe es doch gar keinen Raum mehr für die Fantasie, oder? Aber rede ich zu viel? Das sagen die Leute ständig zu mir. Würde es dich stören, wenn ich weiterspreche? Falls ja, höre ich auf. Ich kann aufhören, wenn ich es mir fest vornehme – auch wenn es schwerfällt und nicht immer gelingt.“
Zu seiner eigenen Überraschung stellte Matthew fest, dass er die Unterhaltung genoss. Wie die meisten stillen Menschen mochte er gesprächige Leute – solange sie das Reden übernahmen und nicht erwarteten, dass er sich daran beteiligte.
Aber dass ihm das Zusammensein mit einem kleinen Mädchen gefallen könnte, hätte er nie gedacht. Frauen waren ihm schon unangenehm genug, aber kleine Mädchen waren noch schlimmer. Er hasste es, wenn sie sich schüchtern an ihm vorbeidrückten und ihn aus dem Augenwinkel musterten, als erwarteten sie, dass er sie auf der Stelle fressen würde, falls sie es wagten, ein Wort zu sagen. So benahmen sich die wohlerzogenen Mädchen aus Avonlea.
Aber diese sommersprossige Hexe war völlig anders. Und obwohl es für seinen langsamen Geist gar nicht so einfach war, mit ihren schnellen Gedankensprüngen Schritt zu halten, fand er, dass er ihr Geplauder irgendwie mochte. Also sagte er – wie immer schüchtern: „Oh, du kannst reden, so viel du willst. Das macht mir nichts aus.“
„Oh, wie schön! Ich wusste, dass wir uns gut verstehen würden. Es ist mir eine solche Erleichterung, einfach reden zu können, wenn man Lust dazu hat, ohne dass einem jemand sagt, Kinder sollten still sein und nur gesehen, aber nicht gehört werden. Das habe ich bestimmt schon eine Million Mal zu hören bekommen.
Und die Leute lachen über mich, weil ich große Wörter benutze. Aber wenn man große Gedanken hat, braucht man doch auch große Wörter, um sie auszudrücken, oder?“
„Tja, also … das klingt vernünftig“, sagte Matthew.
„Mrs. Spencer meinte, meine Zunge müsse in der Mitte aufgehängt sein. Aber das ist sie nicht – sie ist ganz fest an einem Ende befestigt. Mrs. Spencer hat mir erzählt, dass euer Haus Green Gables heißt. Ich habe sie über alles ausgefragt. Sie sagte, dass es von Bäumen umgeben ist. Darüber war ich noch glücklicher, denn ich liebe Bäume!
Im Waisenhaus gab es überhaupt keine. Nur ein paar winzige, kümmerliche Bäumchen vor dem Eingang, umgeben von so kleinen, weiß getünchten Gitterchen. Sie sahen selbst aus wie Waisen, diese Bäume. Ich hätte jedes Mal weinen können, wenn ich sie angesehen habe.
Ich habe oft mit ihnen gesprochen: ‚Oh, ihr armen kleinen Dinger! Wenn ihr nur in einem großen Wald stehen würdet, mit anderen Bäumen ringsum, mit Moos und Glockenblumen an euren Wurzeln und einem plätschernden Bach ganz in der Nähe, mit Vögeln, die in euren Zweigen singen – dann könntet ihr wachsen, nicht wahr? Aber hier könnt ihr das nicht. Ich weiß genau, wie ihr euch fühlt, ihr armen Bäumchen.‘
Heute Morgen fiel es mir richtig schwer, mich von ihnen zu verabschieden. Man hängt so sehr an solchen Dingen, nicht wahr? Gibt es eigentlich einen Bach in der Nähe von Green Gables? Das habe ich Mrs. Spencer ganz vergessen zu fragen.“
„Tja, also … ja, direkt unterhalb des Hauses fließt einer.“
„Das ist ja wunderbar! Es war schon immer mein Traum, in der Nähe eines Baches zu wohnen. Ich hätte nie gedacht, dass er einmal wahr werden würde. Träume gehen ja meistens nicht in Erfüllung, oder? Aber gerade jetzt fühle ich mich fast vollkommen glücklich. Ich kann mich nicht vollkommen glücklich fühlen, weil – na ja, welche Farbe würdest du das nennen?“
Sie zog einen ihrer langen, glänzenden Zöpfe über ihre schmale Schulter und hielt ihn Matthew vors Gesicht. Matthew hatte wenig Erfahrung darin, die Farbtöne von Damenhaaren zu bestimmen, aber in diesem Fall bestand kein Zweifel.
„Es ist rot, nicht wahr?“, sagte er.
Das Mädchen ließ den Zopf mit einem Seufzer fallen – einem tiefen, schweren Seufzer, der aus den tiefsten Tiefen zu kommen schien und das ganze Leid der Menschheit in sich zu tragen schien.
„Ja, es ist rot“, sagte sie ergeben. „Jetzt verstehst du, warum ich nicht vollkommen glücklich sein kann. Niemand mit roten Haaren kann das. Die anderen Dinge stören mich nicht so sehr – die Sommersprossen, die grünen Augen, meine Magerkeit. Die kann ich mir einfach wegdenken. Ich stelle mir vor, ich hätte eine wunderschöne, rosige Haut und strahlende, veilchenblaue Augen. Aber die roten Haare – die kann ich mir nicht wegträumen. Ich versuche es wirklich. Ich sage mir: ‚Mein Haar ist tiefschwarz, schwarz wie der Flügel eines Raben.‘ Aber die ganze Zeit weiß ich, dass es einfach nur rot ist, und das bricht mir das Herz. Es wird mein lebenslanges Leid sein.
Ich habe einmal in einem Roman von einem Mädchen gelesen, das ein Leben lang traurig war, aber es waren nicht ihre roten Haare. Ihr Haar war goldblond, es wallte in herrlichen Wellen von ihrer alabasterweißen Stirn. Was ist eigentlich eine alabasterweiße Stirn? Ich konnte das nie herausfinden. Kannst du es mir sagen?“
„Tja, also, ich fürchte, das kann ich nicht“, gestand Matthew, dem langsam schwindelig wurde. Er fühlte sich, als wäre er wieder ein Junge auf einem Jahrmarkt, als ihn ein anderer dazu überredet hatte, auf ein Karussell zu steigen.
„Na ja, was immer es war, es muss etwas Wunderschönes gewesen sein, denn sie war von göttlicher Schönheit. Hast du dir jemals vorgestellt, wie es sein muss, göttlich schön zu sein?“
„Also, nein, das habe ich noch nie“, gestand Matthew ehrlich.
„Ich schon, oft. Was würdest du lieber sein, wenn du es dir aussuchen könntest – göttlich schön, strahlend klug oder engelhaft gut?“
„Nun ja, ich … ich weiß nicht genau.“
„Ich auch nicht. Ich kann mich nie entscheiden. Aber es macht eigentlich keinen Unterschied, denn es ist unwahrscheinlich, dass ich je eines davon sein werde. Engelhaft gut werde ich ganz bestimmt nie sein. Mrs. Spencer sagt – oh, Mr. Cuthbert! Oh, Mr. Cuthbert!! Oh, Mr. Cuthbert!!!“
Das war allerdings nicht das, was Mrs. Spencer gesagt hatte; auch war das Kind nicht aus der Kutsche gefallen, und Matthew hatte nichts Überraschendes getan. Sie waren lediglich um eine Kurve gebogen – und plötzlich befanden sie sich in der Allee.
Die ‚Allee‘, wie die Leute von Newbridge sie nannten, war ein Straßenabschnitt von vier- bis fünfhundert Metern Länge, der vollständig von riesigen, breit ausladenden Apfelbäumen überwölbt wurde, die vor vielen Jahren von einem eigenwilligen alten Farmer gepflanzt worden waren.
Über ihnen bildete eine endlose Decke aus schneeweißer, duftender Blütenpracht ein natürliches Gewölbe. Darunter lag die Luft in einem violetten Dämmerlicht, und weit voraus schimmerte ein Streifen Abendhimmel, leuchtend wie ein großes Kirchenfenster am Ende einer Kathedrale.
Die Schönheit dieses Anblicks verschlug dem Mädchen die Sprache. Sie lehnte sich in der Kutsche zurück, die dünnen Hände gefaltet, das Gesicht verzückt zu der weißen Pracht über ihr erhoben.
Selbst als sie die Allee hinter sich gelassen hatten und die lange Anhöhe hinunter nach Newbridge fuhren, rührte sie sich nicht und sprach kein Wort. Noch immer schaute sie mit entrücktem Blick in den Sonnenuntergang, mit Augen, die eine Welt voller wundervoller Träume auf dieser glühenden Leinwand vor sich sahen.
Durch Newbridge hindurch fuhren sie – ein geschäftiges kleines Dorf, in dem Hunde bellten, kleine Jungen johlten und neugierige Gesichter aus den Fenstern lugten, und noch immer schwieg sie.
Drei weitere Meilen verstrichen, und das Kind sagte noch immer kein Wort. Doch nun war klar: Sie konnte ebenso leidenschaftlich schweigen, wie sie reden konnte.
„Ich schätze, du bist ziemlich müde und hungrig“, wagte Matthew schließlich zu sagen, weil ihm keine andere Erklärung für ihre anhaltende Sprachlosigkeit einfiel. „Aber jetzt ist es nicht mehr weit – nur noch eine Meile.“
Sie erwachte aus ihrer Träumerei mit einem tiefen Seufzer und sah ihn mit dem sanften, versonnenen Blick eines Menschen an, der weit in eine andere Welt gewandert war, von den Sternen geleitet.
„Oh, Mr. Cuthbert“, flüsterte sie, „dieser Ort, durch den wir gerade gefahren sind – dieser weiße Ort – wie heißt er?“
„Nun ja, das war wohl die Allee“, sagte Matthew nach kurzem, nachdenklichem Schweigen. „Es ist eine ganz hübsche Stelle.“
„Hübsch? Oh, ‚hübsch‘ scheint mir nicht das richtige Wort. Auch ‚schön‘ nicht. Die beiden Worte reichen einfach nicht aus. Oh, es war wunderbar – einfach wunderbar. Es ist das erste, was ich je gesehen habe, das ich mir nicht noch schöner vorstellen könnte. Es hat mich einfach … zufriedengestellt.“
Sie legte eine Hand auf ihre Brust. „Es hat mir eine seltsame, wundervolle Wehmut beschert – und doch war es eine angenehme Wehmut. Hast du jemals so ein Gefühl gehabt, Mr. Cuthbert?“
„Nun ja, ich kann mich nicht erinnern, so etwas je gefühlt zu haben.“
„Ich habe das oft – immer, wenn ich etwas wahrhaft Wunderschönes sehe. Aber sie sollten diesen herrlichen Ort nicht einfach ‚die Allee‘ nennen. Dieser Name hat doch gar keine Bedeutung. Sie sollten ihn … mal überlegen … den ‚Weißen Weg der Freude‘ nennen. Ist das nicht ein wunderschöner, poetischer Name? Wenn mir ein Name nicht gefällt – sei es der Name eines Ortes oder einer Person, dann denke ich mir immer einen neuen aus und benutze einfach den. Im Waisenhaus gab es ein Mädchen namens Hepzibah Jenkins, aber ich habe sie mir immer als Rosalia DeVere vorgestellt. Andere mögen diesen Ort die Allee nennen, aber für mich wird es immer der ‚Weiße Weg der Freude‘ sein.
Haben wir wirklich nur noch eine Meile, bis wir zu Hause sind? Ich bin froh – und doch auch traurig. Traurig, weil diese Fahrt so schön war, und ich bin immer traurig, wenn schöne Dinge zu Ende gehen. Vielleicht kommt danach etwas noch Schöneres – aber man kann sich nie sicher sein. Meistens ist es ja doch nicht so. Das ist zumindest meine Erfahrung.
Aber ich bin froh, weil ich nach Hause komme. Weißt du, ich hatte, seit ich denken kann, nie ein richtiges Zuhause. Allein der Gedanke, dass ich jetzt wirklich ein eigenes Heim bekomme, gibt mir dieses seltsam schöne Ziehen im Herzen.“
Sie hatten gerade die Kuppe eines Hügels überquert. Vor ihnen lag ein Teich, der sich wie ein langer, geschwungener Fluss dahin wandte. Eine Brücke spannte sich über ihn, und von dort bis zu seinem unteren Ende, wo ein bernsteinfarbener Streifen Sanddünen ihn vom dunkelblauen Golf jenseits abgrenzte, schimmerte das Wasser in einem wundersamen Spiel wechselnder Farben – die zartesten Nuancen von Krokus und Rosé, von durchscheinendem Grün und anderen schwer fassbaren Farbtönen, für die es keine Namen gab.
Oberhalb der Brücke zog sich der Teich in einen Kranz aus Tannen und Ahornbäumen, die dunkle, durchscheinende Spiegelungen auf die glatte Oberfläche warfen. Hier und da neigte sich ein wilder Pflaumenbaum über das Wasser, wie ein weiß gekleidetes Mädchen, das sich auf Zehenspitzen zu seinem eigenen Spiegelbild beugte.
Aus dem Sumpf am oberen Ende des Teichs erklang das klare, wehmütige, süße Konzert der Frösche. Auf einem Hang dahinter lugte ein kleines graues Haus durch eine weiße Apfelplantage. Obwohl es noch nicht ganz dunkel war, leuchtete bereits ein warmes Licht aus einem der Fenster.
„Das ist Barrys Teich“, sagte Matthew.
„Oh, dieser Name gefällt mir auch nicht. Ich werde ihn … ich glaube … den ‚See der glänzenden Wasser‘ nennen. Ja, das ist der richtige Name. Ich weiß es, weil es mir einen Schauer über den Rücken jagt. Wenn ich einen Namen finde, der genau passt, dann spüre ich das. Hast du jemals so einen Schauer gefühlt?“
Matthew dachte nach. „Nun ja, doch. Ich bekomme immer so einen Schauer, wenn ich diese hässlichen weißen Engerlinge aus den Gurkenbeeten ausgrabe. Ich kann ihren Anblick nicht ausstehen.“
„Oh, ich glaube nicht, dass das genau die Art von Schauer ist, die ich meine, oder? Es scheint mir nicht viel Zusammenhang zwischen Engerlingen und einem See der glänzenden Wasser zu geben, findest du nicht? Aber warum nennen die anderen Leute ihn Barrys Teich?“
„Wahrscheinlich, weil Mr. Barry dort oben in dem Haus wohnt. Seine Farm heißt Orchard Slope. Wenn da nicht dieser große Busch dahinter wäre, könntest du Green Gables von hier aus sehen. Aber wir müssen über die Brücke und der Straße folgen, das macht fast eine halbe Meile mehr aus.“
„Hat Mr. Barry kleine Mädchen? Naja, nicht so ganz klein – ungefähr in meinem Alter?“
„Er hat eins, sie ist elf. Sie heißt Diana.“
„Oh!“ Das Mädchen sog hörbar die Luft ein. „Was für ein wundervoller Name!“
„Nun ja, ich weiß nicht … Mir kommt er ein bisschen heidnisch vor. Ich hätte lieber Jane oder Mary genommen, einen vernünftigen Namen. Aber als Diana geboren wurde, wohnte ein Schulmeister dort zur Miete, und der durfte den Namen aussuchen. Und so nannte er sie Diana.“
„Ach, ich wünschte, es hätte so einen Schulmeister gegeben, als ich geboren wurde. Oh, da ist die Brücke! Ich werde jetzt meine Augen ganz fest schließen. Ich habe immer Angst, wenn ich über Brücken fahre. Ich kann mir einfach nicht helfen – ich stelle mir vor, dass sie genau in dem Moment, in dem wir in der Mitte sind, wie ein Taschenmesser zusammenklappt und uns zerquetscht. Darum schließe ich immer meine Augen. Aber wenn ich denke, dass wir die Mitte erreicht haben, muss ich sie immer kurz öffnen. Denn weißt du, wenn die Brücke tatsächlich zusammenklappen würde, dann würde ich es doch sehen wollen. Oh, was für ein herrliches Rumpeln das macht! Ich liebe das Rumpeln. Ist es nicht wundervoll, dass es so viele Dinge auf der Welt gibt, die man lieben kann? Oh, wir sind ja schon drüben. Jetzt schaue ich zurück. Gute Nacht, du lieber See der glänzenden Wasser. Ich sage den Dingen, die ich liebe, immer gute Nacht – genau wie den Menschen. Ich glaube, sie mögen das. Das Wasser sieht aus, als würde es mich anlächeln.“
Als sie den Hügel hinauf und um eine Ecke gefahren waren, sagte Matthew: „Jetzt sind wir fast zu Hause. Das dort drüben ist Green Gables.“
„Oh, sag es mir nicht!“, unterbrach sie ihn atemlos, packte seinen halb erhobenen Arm und schloss die Augen, um seine Geste nicht zu sehen. „Lass mich raten. Ich bin sicher, ich finde es heraus.“
Sie öffnete die Augen und blickte sich um. Sie standen auf dem Kamm eines Hügels. Die Sonne war schon seit einiger Zeit untergegangen, doch die Landschaft lag noch im warmen Abendlicht. Im Westen erhob sich der dunkle Kirchturm einer kleinen Kirche gegen den goldenen Himmel. Unter ihnen erstreckte sich ein sanftes Tal, dahinter ein lang gezogener Hang mit verstreuten Bauernhöfen.
Von einem Hof zum nächsten huschten ihre Augen – voller Erwartung, voller Sehnsucht. Schließlich blieben sie an einem Hof hängen, der links abseits der Straße lag, im Zwielicht der umliegenden Bäume nur schemenhaft zu erkennen, von blühenden Obstbäumen umgeben, die ihn in milchiges Weiß tauchten. Über dem Haus leuchtete ein einzelner, großer, kristallklarer Stern in der makellosen Dämmerung des südwestlichen Himmels – wie eine Lampe der Führung und Verheißung.
„Das ist es, nicht wahr?“, sagte sie und deutete darauf.
Matthew schlug entzückt die Zügel auf den Rücken der fuchsfarbenen Stute. „Na, das hast du richtig geraten! Aber ich denke, Mrs. Spencer hat es dir so gut beschrieben, dass du es wissen konntest.“
„Nein, wirklich nicht! Alles, was sie gesagt hat, hätte genauso auf die anderen Höfe zutreffen können. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, wie es aussieht. Aber sobald ich es gesehen habe, wusste ich, dass es mein Zuhause ist. Oh, es fühlt sich an, als wäre ich in einem Traum. Weißt du, mein Arm ist bestimmt ganz blau und schwarz, weil ich mich heute so oft gekniffen habe. Jedes Mal, wenn mich eine plötzliche, schreckliche Angst überkam, dass alles nur ein Traum sein könnte, habe ich mich gekniffen, um sicherzugehen, dass es wirklich ist. Und dann fiel mir plötzlich ein, dass ich, selbst wenn es ein Traum wäre, ihn so lange wie möglich weiterträumen sollte – also habe ich aufgehört zu kneifen. Aber es ist kein Traum. Es ist echt. Und wir sind fast zu Hause.“
Mit einem glücklichen Seufzer fiel sie ins Schweigen.
Matthew rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. Er war froh, dass Marilla und nicht er es sein würde, die diesem verlorenen Geschöpf der Welt erklären musste, dass das ersehnte Zuhause nicht für sie bestimmt war.
Sie fuhren durch Lynde’s Hollow, wo es mittlerweile völlig dunkel war – aber nicht so dunkel, dass Mrs. Rachel sie nicht aus ihrem Fenster heraus erkennen konnte. Dann ging es den Hügel hinauf und in die lange Allee von Green Gables.
Als sie das Haus erreichten, spürte Matthew eine wachsende Beklemmung bei dem Gedanken an die bevorstehende Enthüllung. Es ging nicht um Marilla oder ihn selbst, nicht um den Ärger, den dieser Fehler ihnen zweifellos bereiten würde – es ging um die Enttäuschung des Kindes.
Der Gedanke, dass das leuchtende Strahlen in ihren Augen verlöschen würde, erfüllte ihn mit einem beklommenen Gefühl, als stünde er kurz davor, etwas Unschuldiges zu töten – ein Gefühl, das ihn jedes Mal überkam, wenn er ein Lamm oder Kalb schlachten musste.
Der Hof lag in tiefer Dunkelheit, als sie hineinrollten, und ringsum raschelten die Pappeln mit seidigem Flüstern im Wind.
„Hör mal, wie die Bäume im Schlaf reden“, flüsterte sie, als er sie vom Wagen hob. „Was sie wohl für schöne Träume haben müssen!“
Dann, die alte Stofftasche mit ‚all ihren weltlichen Gütern‘ fest umklammert, folgte sie Matthew ins Haus.
Marilla Cuthbert ist überrascht
Marilla kam mit energischen Schritten herbei, als Matthew die Tür öffnete. Doch als ihr Blick auf das merkwürdige kleine Wesen fiel – das steife, unschöne Kleid, die langen roten Zöpfe, die leuchtenden, erwartungsvollen Augen –, blieb sie abrupt stehen und starrte ungläubig.
„Matthew Cuthbert, wer ist das?“, rief sie aus. „Wo ist der Junge?“
„Es gab keinen Jungen“, sagte Matthew kläglich. „Nur sie war da.“
Er nickte zu dem Kind hinüber, wobei ihm einfiel, dass er sie bis jetzt nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte.
„Kein Junge? Aber es musste doch ein Junge sein!“, beharrte Marilla. „Wir haben Mrs. Spencer ausdrücklich gebeten, uns einen Jungen zu schicken.“
„Nun, das hat sie nicht. Sie hat sie hier gebracht. Ich habe den Stationsvorsteher gefragt. Und ich konnte sie doch nicht einfach dort lassen, egal wo das Missverständnis entstanden ist.“
„Na, das ist ja eine schöne Bescherung!“, rief Marilla empört.
Während dieses Gesprächs war das Kind still geblieben, ihr Blick wanderte von einem zum anderen, während jegliche Lebhaftigkeit aus ihrem Gesicht wich. Plötzlich schien sie die volle Bedeutung der Worte zu begreifen. Sie ließ ihre wertvolle Stofftasche fallen, machte einen Schritt nach vorn und rang die Hände.
„Ihr wollt mich nicht!“, rief sie aus. „Ihr wollt mich nicht, weil ich kein Junge bin! Ich hätte es mir denken können. Mich hat noch nie jemand gewollt. Ich hätte wissen müssen, dass es zu schön war, um wahr zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass mich in Wirklichkeit niemand will. Oh, was soll ich nur tun? Ich werde gleich in Tränen ausbrechen!“
Und genau das tat sie. Sie ließ sich auf einen Stuhl am Tisch sinken, warf die Arme darauf und vergrub ihr Gesicht darin, während sie in herzzerreißendes Schluchzen ausbrach.
Marilla und Matthew warfen sich über den Herd hinweg unsichere Blicke zu. Keiner von beiden wusste, was sie sagen oder tun sollten. Schließlich fasste sich Marilla ein Herz und übernahm das Wort. „Na, na, es gibt doch keinen Grund, so zu weinen.“
„Doch, den gibt es!“ Das Kind hob abrupt den Kopf, ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Lippen bebten. „Du würdest auch weinen, wenn du eine Waise wärst und an einen Ort gekommen wärst, von dem du dachtest, er würde dein Zuhause sein. Und dann musst du erfahren, dass man dich nicht haben will, weil du kein Junge bist. Oh, das ist das Tragischste, was mir je passiert ist!“
Etwas wie ein unfreiwilliges Lächeln, lange nicht mehr gebraucht und daher etwas steif, milderte für einen Moment Marillas strenge Miene. „Nun, hör mal auf zu weinen. Wir setzen dich heute Nacht nicht vor die Tür. Du wirst hierbleiben müssen, bis wir das Ganze aufgeklärt haben. Wie heißt du überhaupt?“
Das Kind zögerte einen Moment. „Würdest du mich bitte Cordelia nennen?“, fragte sie eifrig.
„Dich Cordelia nennen? Ist das dein Name?“
„N-nein, nicht genau. Aber ich würde so gerne Cordelia heißen. Es ist ein so wunderschöner, vornehmer Name.“
„Ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst. Wenn Cordelia nicht dein Name ist, wie heißt du dann?“
„Anne Shirley“, gestand die Besitzerin dieses Namens zögerlich, „aber bitte, bitte nennt mich Cordelia. Es kann euch doch egal sein, wie ihr mich nennt, wenn ich ohnehin nicht lange hier bleibe, oder? Und Anne ist ein so unromantischer Name.“
„Unromantischer Unsinn!“, sagte Marilla schroff. „Anne ist ein guter, solider, vernünftiger Name. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen.“
„Oh, ich schäme mich ja nicht“, erklärte Anne. „Ich mag Cordelia nur lieber. Ich habe mir immer vorgestellt, ich hieße Cordelia – zumindest in den letzten Jahren. Früher habe ich mir vorgestellt, ich hieße Geraldine, aber inzwischen gefällt mir Cordelia besser. Aber wenn ihr mich Anne nennt, dann bitte mit einem E am Ende.“
„Was macht das für einen Unterschied, wie es geschrieben wird?“, fragte Marilla, während sie nach der Teekanne griff und erneut ein angestaubtes Lächeln aufblitzte.
„Oh, es macht einen so großen Unterschied! Es sieht viel schöner aus. Wenn du einen Namen hörst, kannst du ihn dir dann nicht auch als Schriftbild vorstellen? Ich kann das. Und A-n-n sieht schrecklich aus, aber A-n-n-e wirkt viel edler. Wenn ihr mich nur Anne mit E nennt, dann will ich mich damit abfinden, dass ich nicht Cordelia heißen darf.“
„Na gut, dann also Anne mit E. Kannst du uns jetzt erklären, wie es zu diesem Missverständnis gekommen ist? Wir hatten Mrs. Spencer gebeten, uns einen Jungen zu bringen. Gab es denn keine Jungen im Waisenhaus?“
„Oh doch, reichlich. Aber Mrs. Spencer sagte ganz deutlich, dass ihr ein Mädchen wolltet, ungefähr elf Jahre alt. Und die Heimleiterin meinte, ich wäre genau die Richtige. Ich war so glücklich darüber! Die ganze letzte Nacht konnte ich vor Freude nicht schlafen.
Oh“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu und drehte sich zu Matthew um, „warum hast du mir am Bahnhof nicht gleich gesagt, dass ihr mich gar nicht haben wollt? Dann hätte ich dort bleiben können. Wenn ich den Weißen Weg der Wonne und den See der glänzenden Wasser nicht gesehen hätte, wäre es nicht so schwer.“
„Was in aller Welt meint sie damit?“, fragte Marilla und starrte Matthew an.
„Sie … sie redet nur von ein paar Dingen, über die wir auf dem Weg gesprochen haben“, erwiderte Matthew hastig. „Ich geh mal raus und bringe die Stute in den Stall, Marilla. Mach den Tee fertig, bis ich zurück bin.“
„Hat Mrs. Spencer noch jemanden außer dir mitgebracht?“, fragte Marilla weiter, als Matthew hinausgegangen war.
„Ja, sie hat Lily Jones für sich selbst mitgebracht. Lily ist erst fünf Jahre alt und sehr hübsch, mit kastanienbraunem Haar. Wenn ich sehr hübsch wäre und kastanienbraunes Haar hätte, würdet ihr mich dann behalten?“
„Nein. Wir brauchen einen Jungen, der Matthew auf der Farm helfen kann. Ein Mädchen ist für uns völlig nutzlos. Nimm mal deinen Hut ab. Ich lege ihn mit deiner Tasche auf den Tisch im Flur.“
Anne nahm gehorsam ihren Hut ab. Kurz darauf kehrte Matthew zurück, und sie setzten sich zum Abendessen. Doch Anne brachte keinen Bissen hinunter. Vergeblich knabberte sie am Brot mit Butter und stocherte in der Schale mit eingemachten Holzäpfeln neben ihrem Teller. Sie aß wie ein Floh.
„Du isst ja gar nichts“, sagte Marilla scharf und musterte sie, als wäre das eine ernsthafte Verfehlung.
Anne seufzte. „Ich kann nicht. Ich bin in den Tiefen der Verzweiflung. Kannst du essen, wenn du in den Tiefen der Verzweiflung bist?“
„Ich war noch nie in den Tiefen der Verzweiflung, also kann ich das nicht sagen“, erwiderte Marilla trocken.
„Wirklich nicht? Hast du denn jemals versucht, dir vorzustellen, dass du in den Tiefen der Verzweiflung bist?“
„Nein, das habe ich nicht.“
„Dann kannst du es dir auch nicht wirklich vorstellen. Es ist ein ganz furchtbares Gefühl. Wenn man versucht zu essen, bekommt man einen dicken Kloß im Hals und kann keinen einzigen Bissen hinunterbekommen – nicht einmal ein Schokoladenkaramell-Bonbon. Ich habe vor zwei Jahren einmal ein Bonbon gegessen, und es war einfach köstlich. Seitdem träume ich oft, dass ich eine ganze Tüte voller Schokobonbons habe – aber immer wache ich genau in dem Moment auf, in dem ich den ersten essen will. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, weil ich nichts essen kann. Alles schmeckt bestimmt wunderbar, aber ich kann es einfach nicht.“
„Ich denke, sie ist müde“, sagte Matthew, der seit seiner Rückkehr aus dem Stall kein Wort mehr gesagt hatte. „Am besten bringst du sie ins Bett, Marilla.“
Marilla hatte sich bereits gefragt, wo sie Anne schlafen lassen sollte. Für den erwarteten Jungen hatte sie ein Lager in der kleinen Kammer neben der Küche vorbereitet. Es war sauber und ordentlich, doch schien es ihr nicht ganz richtig, dort ein Mädchen unterzubringen. Das Gästezimmer war für eine streunende Waise allerdings keine Option. Es blieb also nur das Ostzimmer im Giebel.