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Ungekürzte Neuausgabe. Neu übersetzt aus dem Amerikanischen von Mac Conin. Anne Shirley hat sich verändert – und doch ist sie ganz die Alte. Zurück in Avonlea nimmt sie ihre erste Anstellung als Lehrerin an und bringt mit ihrem unerschütterlichen Optimismus frischen Wind ins beschauliche Dorfleben. Mit Fantasie, Leidenschaft und ihrem einzigartigen Charme begegnet sie den Herausforderungen des Erwachsenenwerdens: neue Freundschaften werden geschlossen, liebenswerte Eigenheiten bringen unverhofft Chaos und Lachen, und manchmal steht Anne vor der Frage, welchen Weg ihr Herz wirklich gehen will. „Anne in Avonlea“ entführt in eine Welt voller Wärme, Witz und Lebensfreude. Begleiten Sie Anne auf einer Reise, die zeigt, dass das Leben niemals stillsteht und dass der Mut zu träumen oft der erste Schritt ist, um den eigenen Platz in der Welt zu finden. Ideal für alle, die sich erneut in die malerische Landschaft von Prince Edward Island und in Annes mitreißende Geschichten verlieben möchten. Ein zeitloser Klassiker über Mut, Träume und die Kraft der eigenen Vorstellung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch
Dies ist die Fortsetzung von ‚Anne auf Green Gables‘.
Im ersten Teil beschließen die Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert einen Waisenjungen zur Unterstützung ihrer Farm Green Gables aufzunehmen. Sie ahnen nicht, dass stattdessen das lebhafte, rothaarige Mädchen Anne Shirley bei ihnen ankommt.
Mit ihrer unbändigen Fantasie, ihrem scharfen Verstand und ihrem großen Herzen stellt Anne das beschauliche Leben in Avonlea auf den Kopf. Sie kämpft gegen Vorurteile, entdeckt wahre Freundschaft und folgt ihrem Traum, eine gebildete und unabhängige Frau zu werden.
Anne in Avonlea
Anne Shirley, die unerschütterliche Träumerin aus Green Gables, ist inzwischen erwachsen geworden – zumindest ein wenig. Als frisch gebackene Lehrerin kehrt sie zurück nach Avonlea, dem idyllischen Dorf auf Prince Edward Island, um eine neue Generation junger Köpfe zu inspirieren.
Doch Annes Leben bleibt voller Überraschungen und Abenteuer: neue Freundschaften, alte Bekannte, und natürlich ihre unnachahmliche Fähigkeit, Chaos und Freude gleichermaßen zu stiften. Mit ihrem Herz am richtigen Fleck und ihrer grenzenlosen Vorstellungskraft meistert Anne jede Herausforderung – und zeigt uns erneut, wie schön das Leben sein kann, wenn man sich traut, zu träumen.
Ein zeitloser Klassiker über Mut, Träume und die Kraft der eigenen Vorstellung.
Impressum:
Erschienen im kontrabande Verlag, Köln.
Landsbergstraße 24 . 50678 Köln
Ungekürzte Ausgabe © 2025 kontrabande Verlag
Erstmals 1909 erschienen im Verlag L. C. Page, Boston, Massachusetts,
unter dem Titel „Anne of Avonlea“
Umschlagbild & Umschlaggestaltung: kontrabande Verlag, Köln,
Titelgeneration teilweise midjourney.
Übersetzung: Mac Conin, kontrabande Verlag, Köln.
Von Hand übersetzt – keine KI-Übersetzung.
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ISBN E-Book 978-3-911831-21-5
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-911831-22-2
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.kontrabande.de
Viel Spaß beim Lesen.
Über die Autorin
Lucy Maud Montgomery (1874–1942) war eine kanadische Schriftstellerin, die mit ‚Anne auf Green Gables‘ einen der bekanntesten Jugendromane der Welt schuf. Aufgewachsen in der ländlichen Idylle von Prince Edward Island, ließ sie ihre Kindheitserfahrungen in ihre Werke einfließen. Ihre Geschichten zeichnen sich durch lebendige Charaktere, Naturbeschreibungen und eine starke weibliche Perspektive aus.
Sie verlor früh ihre Mutter und wurde von ihren Großeltern auf Prince Edward Island erzogen. Schon als Kind entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben und veröffentlichte ihre ersten Geschichten in lokalen Zeitungen. Nach einer Ausbildung zur Lehrerin arbeitete sie einige Jahre als Lehrerin und später als Redakteurin, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete.
1908 veröffentlichte sie ‚Anne auf Green Gables‘, das sofort ein großer Erfolg wurde. Sie schrieb insgesamt acht Bände über Anne Shirley und viele weitere Romane, darunter Emily of New Moon und The Blue Castle. Ihr Werk machte sie zu einer der bekanntesten kanadischen Autorinnen.
Einfluss von ‚Anne auf Green Gables‘ auf ihr Leben
Der Erfolg des Romans veränderte Montgomerys Leben nachhaltig. Sie wurde international berühmt und konnte vom Schreiben leben – eine Seltenheit für Frauen ihrer Zeit. Dennoch kämpfte sie mit persönlichen Herausforderungen, darunter Depressionen, familiäre Probleme und der Druck, immer neue Anne-Romane schreiben zu müssen, obwohl sie sich auch anderen Themen widmen wollte.
Trotz aller Schwierigkeiten blieb Montgomery eine der bedeutendsten Stimmen der kanadischen Literatur, und ‚Anne auf Green Gables‘ beeinflusst bis heute Leser weltweit. Ihr Werk inspirierte zahlreiche Verfilmungen, Theaterstücke und Adaptionen und machte Prince Edward Island zu einem literarischen Pilgerort.
Obwohl ‚Anne auf Green Gables‘ nicht explizit als feministischer Roman gedacht war, enthält er viele fortschrittliche Elemente. Anne Shirley, die Hauptfigur, ist eine willensstarke und kluge Waise, die sich in einer von Konventionen geprägten Gesellschaft behauptet. Sie strebt nach Bildung, hat ihren eigenen Kopf und hinterfragt Geschlechterrollen, was sie zu einer untypischen Heldin ihrer Zeit macht. Ihre Entwicklung zeigt, dass Frauen mehr sein können als nur Ehefrauen und Mütter – sie können selbstbestimmt ihre Zukunft gestalten.
Trotz der klassischen Erzählweise bleibt die Geschichte auch heute noch aktuell. Annes Beharrlichkeit, ihre Vorstellungskraft und ihr Wunsch nach Unabhängigkeit machen sie zu einer Figur, die über Generationen hinweg inspiriert. Zwar sind einige gesellschaftliche Vorstellungen des Romans aus heutiger Sicht überholt, doch die zentrale Botschaft – dass Träume, Bildung und Selbstvertrauen entscheidend sind – bleibt universell.
Für
meine ehemalige Lehrerin
HATTIE GORDON SMITH
in dankbarer Erinnerung an ihr
Verständnis und ihre Ermutigung.
Wo sie geht, erblühn die Pfade,
Pflicht wird still zu sanfter Pflicht.
Was das Leben streng uns lade,
wandelt sie in weiches Licht.
—John Greenleaf Whittier (1807–1892)—
Ein erzürnter Nachbar
Ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen, sechzehneinhalb Jahre alt, mit ernsten grauen Augen und Haar, das ihre Freundinnen als kastanienbraun bezeichneten, hatte sich an einem schönen Augustnachmittag fest entschlossen, eine gewisse Anzahl Verse aus Vergil zu übersetzen. Dazu hatte es sich auf der breiten roten Sandsteinstufe eines Bauernhauses auf Prince Edward Island niedergelassen.
Aber so ein Augustnachmittag – mit ein paar Wolken im blauen Himmel, die über die reifen Felder trieben, einer kleinen Brise, die flüsternd in den Pappeln spielte, und dem flammenden Tanzen roter Mohnblumen im Wind vor dem dunklen Gehölz junger Tannen in der Ecke des Kirschgartens – so ein Nachmittag war eher für Träumereien geschaffen als für tote Sprachen.
Der Vergil glitt bald unbeachtet zu Boden, und Anne, das Kinn in die Hände gestützt, die Augen auf die prachtvollen, bauschigen Wolken gerichtet, die sich gerade wie ein gewaltiger weißer Berg über Mr. J. A. Harrisons Haus türmten, war längst weit fort – in einer wunderbaren Gedankenwelt, in der eine gewisse Lehrerin Großes bewirkte, künftige Staatsmänner formte und jungen Herzen und Köpfen hohe Ideale einpflanzte.
Zugegeben – wenn man auf die nackten Tatsachen zurückkam, was Anne allerdings nur tat, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, dann sah es nicht gerade so aus, als würde die Schule von Avonlea allzu viel Prominenz hervorbringen.
Aber man konnte ja nie wissen, was alles möglich war, wenn eine Lehrerin ihren Einfluss richtig einsetzte. Anne hatte bestimmte rosarot gefärbte Ideale, was eine Lehrerin alles bewirken konnte, wenn sie nur den rechten Weg einschlug.
Sie träumte sich gerade mitten in eine hinreißende Szene, vierzig Jahre in der Zukunft, mit einer berühmten Persönlichkeit. Worin genau deren Berühmtheit bestand, ließ sie in neblig Trüben. Aber es wäre wohl ganz nett, wenn sie Universitätsrektor oder kanadischer Premierminister wäre … wie diese Person sich tief über ihre runzlige Hand beugte und versicherte, dass sie es gewesen sei, die einst ihren Ehrgeiz entfacht habe, und all der Erfolg im Leben auf den Unterricht zurückgehe, den sie ihm vor so langer Zeit an der Schule von Avonlea erteilt habe.
Diese angenehme Vision wurde jäh von einer überaus unerfreulichen Störung unterbrochen.
Eine unscheinbare kleine Jerseykuh kam hastig den Weg herabgelaufen, und keine fünf Sekunden später traf Mr. Harrison ein – sofern ‚traf ein‘ nicht viel zu milde ist, um die Art seines Einmarschs in den Hof zu beschreiben.
Er kletterte ohne auch nur daran zu denken, das Tor zu öffnen, über den Zaun und stellte sich wütend vor die verdutzte Anne, die aufgesprungen war und ihn nun etwas verwundert anblickte.
Mr. Harrison war ihr neuer direkter Nachbar, doch sie war ihm bislang nie persönlich begegnet, obwohl sie ihn ein- oder zweimal gesehen hatte. Anfang April, noch bevor Anne von Queen’s zurückgekehrt war, hatte Mr. Robert Bell, dessen Hof westlich an das Cuthbert-Anwesen grenzte, sein Land verkauft und war nach Charlottetown gezogen.
Der Hof war von einem gewissen Mr. J. A. Harrison gekauft worden – über ihn wusste man nur seinen Namen und dass er aus New Brunswick stammte. Aber kaum war er einen Monat in Avonlea, hatte er sich bereits den veritablen Ruf eines Sonderlings erworben. „Ein richtiger Spinner“, wie Mrs. Rachel Lynde sagte. Mrs. Rachel war, wie jene unter euch wissen werden, die sie schon kennen, eine sehr direkte Dame.
Mr. Harrison war jedenfalls anders als die anderen Leute – und das ist bekanntlich das Kennzeichen eines Sonderlings. Zunächst einmal führte er den Haushalt selbst und hatte öffentlich erklärt, dass er keine Weiberleute um sich haben wolle.
Die weibliche Bevölkerung von Avonlea rächte sich entrüstet mit allerlei gruseligen Geschichten über seine Hauswirtschaft und seine Kochkünste. Er hatte den kleinen John Henry Carter aus White Sands eingestellt, und John Henry war es auch, der die Geschichten in Umlauf brachte.
Zum Beispiel gab es im Hause Harrison keine festen Essenszeiten. Mr. Harrison ‚nahm einen Bissen‘, wenn er Hunger hatte, und wenn John Henry zufällig in der Nähe war, bekam er auch etwas ab – war er es nicht, musste er bis zur nächsten Gelegenheit warten, wenn der Hausherr Hunger verspürte. John Henry beklagte sich kläglich, er wäre längst verhungert, wenn er sonntags nicht nach Hause hätte fahren und sich dort ordentlich sattessen können. Seine Mutter packte ihm montagmorgens stets einen Korb mit „Futter“ für die Woche.
Was das Geschirrspülen anging, so machte Harrison nie den geringsten Versuch, es zu tun – es sei denn, ein verregneter Sonntag zwang ihn dazu. Dann legte er los, wusch alles auf einmal im Regenfass und ließ das Geschirr draußen an der Luft trocknen. Mr. Harrison war zudem als geizig verschrien.
Als man ihn bat, für das Gehalt von Reverend Mr. Allan zu spenden, sagte er, er würde doch erst mal sehen wollen, wie viele Dollar Predigtleistung er dafür zurückbekäme. Er wollte doch nicht die Katze im Sack zu kaufen. Und als Mrs. Lynde ihn um einen Beitrag für die Missionen bat – und dabei ganz nebenbei auch einen Blick ins Haus werfen wollte – meinte er, es gebe mehr Heiden unter den alten Klatschweibern in Avonlea als irgendwo sonst, und er würde liebend gern für eine Mission spenden, die sich deren Christianisierung verschreiben würde, wenn sie sich dazu bereitfände.
Mrs. Rachel verließ empört das Haus und meinte, es sei ein Segen, dass die arme Mrs. Robert Bell schon im Grab liege – es hätte ihr das Herz gebrochen, den Zustand ihres einst so gepflegten Hauses mitansehen zu müssen. „Sie hat jeden zweiten Tag den Küchenboden geschrubbt“, erzählte Mrs. Lynde empört Marilla Cuthbert, „und wenn du ihn jetzt sehen könntest! Ich musste meine Röcke hochhalten, um überhaupt drüberlaufen zu können.“
Und dann war da noch Mr. Harrison’s Papagei mit Namen Ginger. Niemand in Avonlea hatte je zuvor einen Papagei gehabt; allein das war schon grenzwertig, was den guten Ruf anging. Und dieser Papagei erst! Wenn man John Henry Carter glauben durfte, war das Tier völlig verrucht und verdorben.
Ginger fluchte fürchterlich. Mrs. Carter hätte John Henry am liebsten sofort dort weggeschafft, wenn sie sich sicher gewesen wäre, dass sie woanders eine Stelle für ihn fände. Außerdem hatte Ginger ihm eines Tages, als er sich zu nah an den Käfig lehnte, ein Stück aus dem Nacken gebissen. Mrs. Carter zeigte jedem die Bisswunde, wenn der arme John Henry sonntags nach Hause kam.
All diese Dinge schossen Anne durch den Kopf, während Mr. Harrison sprachlos und offenbar vor Wut bebend vor ihr stand. Selbst in seinen freundlichsten Momenten konnte man Mr. Harrison kaum als gutaussehend bezeichnen. Er war klein, dick und kahl – aber jetzt, mit purpurrotem Gesicht vor Zorn und hervorquellenden, blauen Augen, erschien er Anne als der hässlichste Mensch, dem sie je begegnet war.
Plötzlich fand Mr. Harrison seine Stimme wieder.
„Das mache ich nicht länger mit“, schäumte er. „Keinen Tag mehr, hören Sie, Fräulein. Beim Donnerwetter, das ist jetzt das dritte Mal, Fräulein … das dritte Mal! Geduld ist keine Tugend mehr, Fräulein! Ich habe Ihrer Tante das letzte Mal ausdrücklich gesagt, dass das nicht nochmal vorkommen darf … und sie hat es trotzdem … sie hat es wieder geschehen lassen … was soll das, frage ich Sie! Deshalb bin ich hier, Fräulein.“
„Würden Sie mir bitte erklären, worin das Problem besteht?“, fragte Anne mit ihrer würdevollsten Stimme. Sie hatte sie in letzter Zeit fleißig geübt, um gut vorbereitet zu sein, wenn die Schule wieder anfing – doch das zeigte keinerlei Wirkung auf den wütenden J. A. Harrison.
„Problem, sagen Sie? Beim Donner, das Problem ist groß genug, das kann ich Ihnen sagen. Das Problem ist, Fräulein, dass ich diese Jersey-Kuh Ihrer Tante schon wieder in meinem Haferfeld gefunden habe – vor nicht mal einer halben Stunde! Das dritte Mal, wohlgemerkt! Letzten Dienstag war sie drin, und gestern auch. Ich bin extra hergekommen und habe Ihrer Tante gesagt, dass es nicht wieder vorkommen darf. Und jetzt ist es doch passiert. Wo ist Ihre Tante, Fräulein? Ich will sie nur einen Moment sprechen und ihr meine Meinung sagen … die Meinung von J. A. Harrison, Fräulein!“
„Wenn Sie Miss Marilla Cuthbert meinen – sie ist nicht meine Tante – sie ist nach East Grafton gefahren, um eine entfernte Verwandte zu besuchen, die sehr krank ist“, entgegnete Anne, wobei ihre Würde mit jedem Wort ein wenig zunahm. „Es tut mir sehr leid, dass meine Kuh in Ihren Hafer eingebrochen ist … sie gehört mir, nicht Miss Cuthbert … Matthew hat sie mir vor drei Jahren geschenkt, als sie noch ein Kalb war, er hat sie damals von Mr. Bell gekauft.“
„Leid tut’s Ihnen, Fräulein? Davon wird’s auch nicht besser. Sie sollten sich mal anschauen, was dieses Tier in meinem Hafer angerichtet hat, sie hat alles niedergetrampelt, vom Zentrum bis zum letzten Halm, Fräulein.“
„Es tut mir sehr leid“, wiederholte Anne entschlossen, „aber vielleicht wäre Dolly gar nicht auf Ihr Feld durchgebrochen, wenn Ihre Zäune in besserem Zustand wären. Der Teil des Grenzzauns, der Ihr Haferfeld von unserer Weide trennt, gehört zu Ihrem Grundstück – und ich habe neulich bemerkt, dass er nicht gerade stabil aussieht.“
„Mein Zaun ist völlig in Ordnung“, fauchte Mr. Harrison, nun noch zorniger darüber, dass der Krieg plötzlich auf sein eigenes Terrain getragen wurde. „Nicht mal ein Gefängniszaun könnte so eine verrückte Kuh draußen halten. Und ich kann Ihnen sagen, Sie rotzfreches rothaariges Ding, wenn die Kuh wirklich Ihnen gehört, wie Sie behaupten, dann sollten Sie Ihre Zeit besser damit verbringen, sie aus fremdem Getreide fernzuhalten, statt hier rumzusitzen und Schundromane zu lesen.“ … Dabei warf er einen vernichtenden Blick auf den unschuldigen, bräunlichen Vergil, der zu Annes Füßen lag. In diesem Moment war nicht nur Annes Haar rot … was für sie stets ein wunder Punkt war.
„Ich habe lieber rote Haare als gar keine – abgesehen von einem kläglichen Haarkranz um die Ohren“, konterte sie blitzschnell.
Der Treffer saß – Mr. Harrison war überaus empfindlich, wenn es um seine Glatze ging. Seine Wut verschlug ihm erneut die Sprache, und er starrte Anne nur sprachlos an. Diese hatte sich mittlerweile wieder im Griff und setzte zum Gegenangriff an.
„Ich will Ihnen gegenüber Nachsicht üben, Mr. Harrison, weil ich Vorstellungskraft besitze. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie furchtbar es sein muss, eine Kuh im Hafer vorzufinden, und ich werde Ihnen die Dinge, die Sie gesagt haben, nicht übelnehmen. Ich verspreche Ihnen, dass Dolly nie wieder in Ihren Hafer einbricht. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.“
„Na, dann sorgen Sie auch dafür, dass es so bleibt“, murmelte Mr. Harrison in etwas gedämpfterem Ton. Doch er stapfte trotzdem wütend davon, und Anne konnte ihn noch brummeln hören, bis er außer Hörweite war.
Tief verstimmt stapfte Anne über den Hof und sperrte die widerspenstige Jerseykuh in den Melkstall.
„Da kommt sie nur raus, wenn sie den Zaun einreißt“, überlegte sie. „Im Moment sieht sie ganz ruhig aus. Wahrscheinlich ist ihr übel vom ganzen Hafer. Ich hätte sie letzte Woche an Mr. Shearer verkaufen sollen, als er sie wollte – aber ich dachte, es wäre besser, bis zur Viehauktion zu warten und alle Tiere zusammen loszuwerden. Wahrscheinlich stimmt es wirklich, dass Mr. Harrison ein Sonderling ist. Von einer verwandten Seele kann man bei ihm jedenfalls nicht reden.“
Anne hatte immer ein wachsames Auge für verwandte Seelen. Marilla Cuthbert fuhr gerade in den Hof, als Anne vom Haus zurückkam, und letztere eilte sofort, um Tee zu machen. Beim Tee besprachen sie die Angelegenheit.
„Ich bin froh, wenn die Auktion vorbei ist“, sagte Marilla. „Es ist eine zu große Verantwortung, so viel Vieh auf dem Hof zu haben, und niemanden außer diesem unzuverlässigen Martin, der sich darum kümmern soll. Er ist bis jetzt nicht zurück, obwohl er hoch und heilig versprochen hat, spätestens gestern Abend wieder da zu sein, wenn ich ihm freigebe, damit er zur Beerdigung seiner Tante gehen kann. Ich weiß nicht, wie viele Tanten er eigentlich hat – das war jetzt schon die vierte, die gestorben ist, seit er vor einem Jahr hier angefangen hat.
Ich werde heilfroh sein, wenn die Ernte eingebracht ist und Mr. Barry die Farm übernimmt. Bis Martin zurück ist, müssen wir Dolly im Stall lassen – sie muss auf die hintere Weide, aber der Zaun dort muss noch repariert werden. Ich sage dir, es ist wirklich ein einziges Kreuz, wie Rachel immer sagt. Jetzt liegt auch noch die arme Mary Keith im Sterben, und was aus ihren beiden Kindern werden soll, weiß der Himmel. Sie hat einen Bruder in British Columbia und ihm geschrieben – aber sie hat noch keine Antwort bekommen.“
„Wie sind die Kinder denn so? Und wie alt?“
„Sechs – und Zwillinge.“
„Oh, Zwillinge haben mich schon immer besonders fasziniert, seit Mrs. Hammond so viele hatte“, sagte Anne begeistert. „Sind sie hübsch?“
„Ach Gott, das konnte man gar nicht erkennen … sie waren viel zu dreckig. Davy hatte draußen Matschkuchen gemacht, und Dora war rausgegangen, um ihn reinzuholen. Davy hat sie kopfüber in den größten Kuchen geschubst und, weil sie geweint hat, hat er sich selbst mittenrein geworfen, um ihr zu zeigen, dass das nun wirklich kein Grund zum Heulen ist. Mary meinte, Dora sei eigentlich ein sehr braves Kind – aber Davy stecke voller Unfug. Er hat nie eine richtige Erziehung genossen, kann man sagen.“
„Sein Vater ist gestorben, als er noch ein Baby war, und Mary ist seither fast ständig krank.“
„Ich habe immer Mitleid mit Kindern, die keine richtige Erziehung bekommen haben“, sagte Anne ernst. „Du weißt ja, ich hatte auch keine – bis du dich meiner angenommen hast. Ich hoffe, ihr Onkel wird sich um sie kümmern. Welche Verwandtschaft besteht denn genau zwischen dir und Mrs. Keith?“
„Mary? Keine – gar keine. Es war ihr Mann, er war ein Cousin dritten Grades von uns. Ach, schau mal, da kommt Mrs. Lynde über den Hof. Ich hab schon gedacht, dass sie vorbeischaut, um etwas über Mary zu hören.“
„Erzähl ihr nichts von Mr. Harrison und der Kuh“, bat Anne inständig. Marilla versprach es; aber das Versprechen war eigentlich überflüssig, denn kaum hatte sich Mrs. Lynde ordentlich niedergelassen, sagte sie auch schon: „Ich habe heute gesehen, wie Mr. Harrison eure Jersey aus seinem Haferfeld gejagt hat, als ich von Carmody zurückkam. Er sah ziemlich wütend aus. Hat er großen rumgelärmt?“
Anne und Marilla tauschten verstohlene, belustigte Blicke. Nichts in Avonlea entging dem wachsamen Auge von Mrs. Lynde. Erst an jenem Morgen hatte Anne gesagt: „Wenn du um Mitternacht in dein Zimmer gehst, die Tür abschließt, den Vorhang runterziehst und niest, dann wird Mrs. Lynde dich am nächsten Tag fragen, wie es deinem Schnupfen geht!“
„Ich glaube schon, dass er sich aufgeregt hat“, gab Marilla zu. „Ich war unterwegs. Er hat Anne ordentlich die Meinung gesagt.“
„Ich finde ihn sehr unangenehm“, sagte Anne mit einem empörten Kopfschütteln, bei dem ihre roten Haare aufblitzten.
„Da hast du das einzig Wahre gesagt“, meinte Mrs. Rachel feierlich. „Ich wusste, dass es Ärger geben würde, als Robert Bell seinen Hof an einen Mann aus New Brunswick verkauft. Das hab ich gleich gesagt. Ich weiß nicht, was aus Avonlea werden soll, wenn so viele fremde Leute hier einfallen. Bald ist es nicht mal mehr sicher, nachts im eigenen Bett zu schlafen.“
„Wieso, wer kommt denn sonst noch Fremdes her?“, fragte Marilla neugierig.
„Hast du es denn noch nicht gehört? Nun, da ist zum einen die Familie Donnell. Die haben Peter Sloanes altes Haus gemietet. Peter hat den Mann angestellt, um seine Mühle zu betreiben. Sie stammen aus dem Osten, und stell dir mal vor, keiner weiß etwas über sie. Dann zieht auch noch diese nichtsnutzige Familie Cotton von White Sands her. Die werden nur eine Last für die Allgemeinheit sein. Er hat Schwindsucht … wenn er nicht gerade stiehlt … und seine Frau ist ein schlaffes Wesen, das zu nichts fähig ist. Sie wäscht sogar ihr Geschirr im Sitzen. Und Mrs. George Pye hat den Waisen-Neffen ihres Mannes aufgenommen – Anthony Pye. Der wird bei dir zur Schule gehen, Anne, also kannst du dich schon auf Ärger gefasst machen. Und du bekommst noch einen neuen Schüler. Paul Irving kommt aus den Staaten, um bei seiner Großmutter zu leben. Du erinnerst dich doch an seinen Vater, Marilla … Stephen Irving, der damals Lavendar Lewis in Grafton sitzen ließ?“
„Ich glaube nicht, dass er sie sitzen lassen hat. Es gab, soviel ich weiß, einen Streit. Vermutlich hatten beide ihren Anteil Schuld.“
„Wie dem auch sei, er hat sie nicht geheiratet, und seitdem soll sie recht wunderlich sein. Sie lebt ganz allein in diesem kleinen Steinhaus, das sie ‚Echo Lodge‘ nennt. Stephen ist in die Staaten gegangen, hat dort mit seinem Onkel ein Geschäft aufgebaut und eine Amerikanerin geheiratet. Seitdem ist er nie wieder nach Hause gekommen, obwohl seine Mutter ihn ein- oder zweimal besucht hat. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, und jetzt schickt er den Jungen für eine Weile zu seiner Mutter. Der Junge ist zehn Jahre alt, und ich weiß nicht, ob er ein besonders wünschenswerter Schüler sein wird. Bei diesen Yankees kann man das ja nie wissen.“
Mrs. Lynde betrachtete alle Menschen, die das Pech hatten, außerhalb von Prince Edward Island geboren oder aufgewachsen zu sein, mit einer Haltung, die klar sagte: „Was kann schon Gutes von auswärts kommen?“ Natürlich, es konnten schon anständige Leute dabei sein. Aber sicherer war es, wenn man daran zweifelte. Sie hatte eine besondere Abneigung gegen ‚Yankees‘. Ihr Mann war einmal von einem Arbeitgeber in Boston um zehn Dollar betrogen worden, und weder Engel noch Gewalt noch sonst eine Macht hätten Mrs. Rachel davon überzeugen können, dass nicht ganz Amerika dafür verantwortlich war.
„Die Schule von Avonlea wird ein bisschen frisches Blut schon verkraften“, sagte Marilla trocken, „und wenn der Junge seinem Vater ähnelt, wird er völlig in Ordnung sein. Steve Irving war der netteste Junge, der hier je aufgewachsen ist – auch wenn manche ihn für eingebildet hielten. Ich denke, Mrs. Irving wird sehr froh sein, das Kind bei sich zu haben. Sie ist sehr einsam, seit ihr Mann gestorben ist.“
„Ach, der Junge mag ja in Ordnung sein, aber er wird eben anders sein als die Avonlea-Kinder“, sagte Mrs. Rachel, als wäre damit alles gesagt. Mrs. Rachels Meinungen über Menschen, Orte oder Dinge hatten immer Bestand – so viel war sicher.
„Was hör ich da – du willst einen Verein zur Verschönerung des Dorfes gründen, Anne?“
„Ich habe nur beim letzten Debattierclub mit ein paar Mädchen und Jungen darüber gesprochen“, sagte Anne errötend. „Sie fanden, das wäre eine schöne Idee. Und Mr. und Mrs. Allan auch. Viele Dörfer haben inzwischen so etwas.“
„Na, da wirst du dir damit aber eine Menge Ärger einhandeln. Lass besser die Finger davon, Anne, wirklich. Die Leute lassen sich nicht gern verbessern.“
„Aber wir wollen ja gar nicht die Leute verbessern. Es geht um Avonlea selbst. Es gäbe viele Dinge, die man tun könnte, damit es hübscher aussieht. Zum Beispiel – wenn wir Mr. Levi Boulter überreden könnten, dieses scheußliche alte Haus auf seiner oberen Farm abzureißen – wäre das nicht eine Verbesserung?“
„Das wäre es allerdings“, gab Mrs. Rachel zu. „Diese alte Ruine ist dem Ort schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Aber wenn eure Verschönerer es tatsächlich schaffen, Levi Boulter zu irgendeiner öffentlichen Tat zu überreden, ohne dass er dafür bezahlt wird – dann will ich dabei sein und zusehen, wie das vonstattengeht. Ich will dich ja nicht entmutigen, Anne, vielleicht ist ja was dran an deiner Idee, auch wenn du sie vermutlich aus irgendeiner überflüssigen Yankee-Zeitschrift hast. Aber du wirst schon mit deiner Schule genug zu tun haben. Ich rate dir als gute Freundin: Lass die Finger von den Verschönerungen. Aber – ich weiß, wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, dass du weitermachen wirst. Du warst ja schon immer jemand, der die Dinge irgendwie zu Ende bringt.“
Etwas am entschlossenen Zug um Annes Lippen verriet, dass Mrs. Rachel mit dieser Einschätzung nicht ganz falsch lag. Anne hatte sich fest vorgenommen, den Verschönerungsverein zu gründen. Gilbert Blythe, der in White Sands unterrichten sollte, aber von Freitagabend bis Montagmorgen immer zu Hause war, war begeistert davon. Und die meisten anderen waren bereit, bei allem mitzumachen, was gelegentliche Treffen bedeutete – und damit auch ein bisschen ‚Spaß‘. Was genau unter den ‚Verschönerungen‘ zu verstehen war, wusste allerdings außer Anne und Gilbert kaum jemand so recht. Die beiden hatten schon so viel darüber gesprochen und geplant, dass es in ihrer Vorstellung ein ideales Avonlea gab – wenn auch nur in ihrem Kopf.
Mrs. Rachel hatte noch eine weitere Neuigkeit. „Die Schule in Carmody haben sie einer gewissen Priscilla Grant gegeben. Bist du nicht mit einem Mädchen dieses Namens in Queen’s gewesen, Anne?“
„Aber ja! Priscilla soll in Carmody unterrichten? Wie wunderbar!“, rief Anne, ihre grauen Augen leuchteten auf wie Abendsterne – und Mrs. Lynde fragte sich erneut, ob sie je mit sich ins Reine kommen würde, ob Anne Shirley nun wirklich ein hübsches Mädchen sei oder nicht.
Übereilt verkauft – und dann bereut
Am nächsten Nachmittag fuhr Anne mit Diana Barry zum Einkaufen nach Carmody. Diana war natürlich ein festes Mitglied des Verschönerungsvereins, und auf dem Hin- und Rückweg redeten die beiden Mädchen über kaum etwas anderes.
„Das Allererste, was wir machen sollten, ist, die Halle streichen zu lassen“, sagte Diana, als sie an der Avonlea-Halle vorbeifuhren – einem ziemlich heruntergekommenen Gebäude, das in einer bewaldeten Senke lag, ringsum beschattet von Fichten. „Das ist ein richtig hässlicher Ort, und wir müssen uns darum kümmern, noch bevor wir versuchen, Mr. Levi Boulter zum Abriss seines Hauses zu bewegen. Vater sagt, das schaffen wir nie. Levi Boulter ist zu geizig, um Zeit oder gar Geld dafür zu opfern.“
„Vielleicht lässt er die Jungs das Haus abreißen, wenn sie ihm versprechen, die Bretter wegzuschaffen und für ihn als Anzündholz zu spalten“, sagte Anne hoffnungsvoll. „Wir müssen unser Bestes geben und uns damit zufriedengeben, langsam anzufangen. Wir können nicht erwarten, gleich alles auf einmal zu verbessern. Wir müssen natürlich erst einmal die öffentliche Meinung formen.“
Diana wusste nicht so genau, was es bedeutete, die öffentliche Meinung zu formen – aber es klang beeindruckend, und sie war ziemlich stolz darauf, einem Verein mit einem so ehrgeizigen Ziel anzugehören.
„Mir ist gestern Abend noch etwas eingefallen, was wir machen könnten, Anne. Weißt du dieses dreieckige Stück Land, wo die Straßen von Carmody, Newbridge und White Sands zusammenkommen? Es ist ganz mit jungen Fichten zugewachsen – aber wäre es nicht schön, sie alle zu roden und nur die zwei oder drei Birken stehen zu lassen, die dort wachsen?“
„Großartig!“, stimmte Anne fröhlich zu. „Und dann stellen wir eine gemütliche Bank unter die Birken. Und wenn der Frühling kommt, legen wir in der Mitte ein Blumenbeet an und pflanzen Geranien.“
„Ja – aber wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen, damit die alte Mrs. Hiram Sloane ihre Kuh von der Straße fernhält, sonst frisst sie uns die Geranien wieder weg“, lachte Diana. „Ich beginne zu verstehen, was du mit ‚öffentliche Meinung bilden‘ meinst, Anne. Da drüben ist jetzt das alte Boulter-Haus. Hast du je so ein verfallenes Nest gesehen? Und dann auch noch direkt an der Straße! Ein altes Haus ohne Fenster erinnert mich immer an etwas Totes, dem man die Augen ausgepickt hat.“
„Ich finde, ein altes, verlassenes Haus ist ein so trauriger Anblick“, sagte Anne verträumt. „Es kommt mir immer so vor, als würde es an seine Vergangenheit denken und um seine alten Freuden trauern. Marilla sagt, dass in diesem Haus früher einmal eine große Familie gelebt hat und es ein richtig hübscher Ort war, mit einem wunderschönen Garten und Rosen, die überall emporkletterten. Es war voller Kinder, voller Lachen und Gesang – und jetzt ist es leer, und nichts streift mehr hindurch außer dem Wind. Wie einsam und traurig es sich fühlen muss! Vielleicht kommen sie alle in mondhellen Nächten zurück – die Geister der Kinder von einst, und die Rosen, und die Lieder – und für einen Moment kann das alte Haus träumen, es sei wieder jung und voller Freude.“
Diana schüttelte den Kopf. „Ich stelle mir so etwas über solche Orte gar nicht mehr vor, Anne. Erinnerst du dich nicht, wie böse Mutter und Marilla waren, als wir uns Geister im Spukwald ausgedacht haben? Bis heute kann ich nicht ruhig durch dieses Gehölz gehen, wenn es dunkel ist. Und wenn ich anfangen würde, mir solche Sachen über das alte Boulter-Haus auszumalen, hätte ich auch davor Angst, vorbeizugehen. Außerdem sind diese Kinder gar nicht tot. Die sind alle erwachsen geworden und stehen gut im Leben. Einer von ihnen ist sogar Metzger. Und Blumen und Lieder können sowieso keine Geister haben.“
Anne unterdrückte ein leises Seufzen. Sie hatte Diana sehr lieb, und sie waren immer gute Gefährtinnen gewesen. Aber sie hatte längst gelernt, dass sie, wenn sie in das Reich der Fantasie wanderte, allein gehen musste. Der Weg dorthin führte über einen verzauberten Pfad, dem selbst ihre Liebsten nicht folgen konnten.
Während die Mädchen in Carmody waren, zog ein Gewitter auf. Es dauerte nicht lange, aber die Heimfahrt, durch Wege, auf denen die Regentropfen an den Zweigen funkelten, und durch kleine, grüne Täler, in denen das nasse Farn würzigen Duft verströmte, war herrlich. Doch gerade als sie in die Zufahrt der Cuthberts einbogen, sah Anne etwas, das ihr die ganze Landschaft verleidete. Rechts vor ihnen erstreckte sich Mr. Harrisons weites, grau-grünes Haferfeld – nass und üppig – und mitten darin, bis zu den glatten Flanken im dichten Grün stehend, blickte eine Jerseykuh ihnen ganz ruhig über die wogenden Halme hinweg entgegen!
Anne ließ die Zügel fallen und stand auf – mit fest zusammengepressten Lippen, die nichts Gutes für das räuberische Huftier verhießen. Sie sagte kein Wort, kletterte aber flink über die Räder, schwang sich über den Zaun und stob los, noch bevor Diana überhaupt verstand, was geschehen war.
„Anne, komm zurück!“, schrie diese, sobald sie die Sprache wiederfand. „Du ruinierst dir dein Kleid in dem nassen Getreide!“ Zu sich sagte sie: “Sie hört mich nicht! Na schön, allein schafft sie das mit der Kuh nie. Ich muss ihr natürlich helfen.“
Anne stürmte wie eine Verrückte durch das Getreide. Diana sprang flink hinunter, band das Pferd sicher an einem Pfosten fest, schlug den Rock ihres langen, hübschen Karo-Kleids über die Schultern, kletterte über den Zaun und rannte ihrer aufgebrachten Freundin hinterher. Sie konnte schneller laufen als Anne, die von ihrem triefnassen Rock behindert wurde, und hatte sie bald eingeholt. Hinter ihnen ließ sich eine Spur erkennen, die Mr. Harrison das Herz brechen würde, sobald er sie zu Gesicht bekommen würde.
„Anne, um Himmels willen, bleib stehen!“, keuchte die arme Diana. „Ich bin völlig außer Atem, und du bist bis auf die Haut nass.“
„Ich … muss … diese Kuh … da raus … haben … bevor … Mr. Harrison … sie sieht“, japste Anne. „Es ist mir … egal, ob ich … dabei ertrinke … wenn wir … es nur … schaffen.“
Aber die Jerseykuh sah keinerlei Grund, sich von ihrer saftigen Weide vertreiben zu lassen. Kaum waren die beiden außer Atem geratenen Mädchen in ihre Nähe gekommen, drehte sie sich um und rannte geradewegs in die entgegengesetzte Ecke des Feldes.
„Schneid ihr den Weg ab!“, schrie Anne. „Lauf, Diana, lauf!“
Diana lief. Anne versuchte es auch, und die boshafte Jerseykuh raste wie von Sinnen über das Feld. Diana dachte insgeheim, das sei sie vermutlich wirklich von Sinnen sei. Es dauerte volle zehn Minuten, bis sie es geschafft hatten, ihr den Weg abzuschneiden und sie durch die Lücke in der Ecke auf den Cuthbert-Weg zu treiben.
Man kann nicht leugnen, dass Anne in diesem Moment alles andere als engelsgleich gestimmt war. Und es trug auch nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei, dass ein Buggy am Wegesrand stand – darin saßen Mr. Shearer aus Carmody und sein Sohn, beide mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Ich glaube, du hättest mir die Kuh besser verkauft, als ich sie letzte Woche haben wollte, Anne“, gluckste Mr. Shearer.
„Sie können sie jetzt haben, wenn Sie wollen“, rief Anne, rot vor Hitze und völlig zerzaust. „Sie können sie in diesem Augenblick bekommen!“
„Abgemacht. Ich gebe dir die zwanzig Dollar, die ich dir schon vorher geboten habe, und Jim hier kann sie gleich nach Carmody treiben. Sie geht heute Abend mit dem Rest der Ladung in die Stadt. Mr. Reed aus Brighton sucht eine Jerseykuh.“
Fünf Minuten später marschierten Jim Shearer und die Jerseykuh die Straße hinauf, und die impulsive Anne fuhr mit ihren zwanzig Dollar in der Tasche die Zufahrt zu Green Gables hinunter.
„Was wird Marilla wohl sagen?“, fragte Diana.
„Ach, sie wird nichts dagegen haben. Dolly gehörte mir, und es ist nicht wahrscheinlich, dass sie bei der Auktion mehr als zwanzig Dollar gebracht hätte. Aber ach je – wenn Mr. Harrison das Getreide sieht, wird er wissen, dass sie schon wieder darin war. Und nachdem ich ihm mein Ehrenwort gegeben habe, dass ich es nie wieder zulassen würde! Nun gut, das hat mir eine Lehre erteilt: Ich werde nie wieder mein Ehrenwort geben, wenn es um Kühe geht. Eine Kuh, die über unseren Zaun springen oder ihn durchbrechen kann, ist nirgendwo sicher aufzubewahren.“
Marilla war zu Mrs. Lynde gegangen, und als sie zurückkam, wusste sie schon alles über den Verkauf und die Übergabe von Dolly – denn Mrs. Lynde hatte das meiste von ihrem Fenster aus beobachtet und sich den Rest zusammengereimt.
„Ich denke, es ist vielleicht ganz gut, dass sie weg ist, auch wenn du die Dinge wieder einmal auf entsetzlich überstürzte Art erledigst, Anne. Ich verstehe nur nicht, wie sie aus dem Stall gekommen ist. Sie muss ein paar Bretter herausgebrochen haben.“
„Ich habe nicht daran gedacht nachzusehen“, sagte Anne, „aber ich gehe gleich mal schauen. Martin ist immer noch nicht zurück. Vielleicht sind wieder ein paar seiner Tanten gestorben. Es ist wohl so ähnlich wie bei Mr. Peter Sloane und den Achtzigjährigen. Neulich Abend las Mrs. Sloane in der Zeitung und sagte zu Mr. Sloane: ‚Ich sehe gerade, dass wieder ein Achtzigjähriger gestorben ist. Was ist ein Achtzigjähriger, Peter?‘ Und Mr. Sloane meinte, er wisse es nicht genau, aber sie müssten sehr anfällige Geschöpfe sein, denn man höre nie von ihnen, außer dass sie gestorben seien. Genauso ist es mit Martins Tanten.“
„Martin ist wie alle diese Franzosen“, sagte Marilla angewidert. „Man kann sich keinen Tag auf sie verlassen.“
Marilla sah gerade Annes Einkäufe aus Carmody durch, als ein gellender Schrei aus dem Hof ertönte. Eine Minute später stürmte Anne in die Küche und rang die Hände.
„Anne Shirley, was ist denn jetzt schon wieder los?“
„Oh, Marilla, was soll ich bloß tun? Das ist furchtbar! Und es ist ganz meine Schuld. Werde ich denn nie lernen, ein bisschen nachzudenken, bevor ich unüberlegt handle? Mrs. Lynde hat immer gesagt, ich würde eines Tages etwas Schreckliches anstellen – und jetzt ist es passiert!“
„Anne, du bist das frustrierendste Mädchen, das es gibt! Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“
„Ich habe Mr. Harrisons Jerseykuh verkauft … die, die er von Mr. Bell gekauft hat … an Mr. Shearer! Unsere Dolly steht in diesem Augenblick im Melkstall!“
„Anne Shirley, du träumst doch!“
„Ich wünschte, ich würde träumen. Aber es ist kein Traum, obwohl es sich wie ein Albtraum anfühlt. Und Mr. Harrisons Kuh ist inzwischen bestimmt schon in Charlottetown. Oh, Marilla, ich dachte, ich hätte das mit den Schwierigkeiten endlich hinter mir – und jetzt bin ich in der größten Klemme, in der ich je war! Was soll ich bloß tun?“
„Was du tun sollst? Es bleibt dir nichts anderes übrig, Kind, als zu Mr. Harrison zu gehen und es ihm zu erklären. Wir können ihm unsere Jersey im Tausch anbieten, wenn er das Geld nicht will. Sie ist genauso gut wie seine.“
„Ich bin sicher, er wird furchtbar wütend und unausstehlich sein“, stöhnte Anne.
„Das kann gut sein. Er scheint ein recht reizbarer Mensch zu sein. Ich gehe hin und erkläre es ihm, wenn du willst.“
„Nein, wirklich nicht, so gemein bin ich nun auch wieder nicht“, rief Anne. „Das ist alles meine Schuld, und ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass du meine Strafe übernimmst. Ich gehe selbst – und zwar sofort. Je eher es vorbei ist, desto besser, denn es wird furchtbar demütigend sein.“
Die arme Anne holte ihren Hut und die zwanzig Dollar und war gerade im Begriff hinauszugehen, als ihr Blick zufällig durch die offene Speisekammertür fiel. Auf dem Tisch ruhte ein Nusskuchen, den sie am Morgen gebacken hatte. Eine besonders köstliche Kreation, überzogen mit rosa Zuckerguss und mit Walnüssen verziert. Anne hatte ihn eigentlich für Freitagabend vorgesehen, wenn sich die Jugend von Avonlea in Green Gables zur Gründung des Verschönerungsvereins treffen wollte.
Aber was war das im Vergleich zu dem gerecht beleidigten Mr. Harrison? Anne fand, so ein Kuchen müsste jedes Männerherz erweichen – besonders das eines Mannes, der für sich selbst kochen musste – und packte ihn kurzerhand in eine Schachtel. Sie würde ihn Mr. Harrison als Friedensangebot mitbringen.
„Wenn er mir überhaupt die Gelegenheit gibt, etwas zu sagen“, dachte sie missmutig, während sie über den Weidenzaun stieg und den Abkürzungsweg querfeldein nahm, der golden im Licht des verträumten Augustabends lag. „Jetzt weiß ich genau, wie sich Menschen fühlen, die zur Hinrichtung geführt werden.“
Bei Mr. Harrison
Mr. Harrisons Haus war ein altmodisches, niedriges, weißgetünchtes Gebäude, das sich an ein dichtes Fichtengehölz schmiegte. Mr. Harrison selbst saß in Hemdsärmeln auf seiner mit Wein berankten Veranda und genoss seine Abendpfeife. Als er erkannte, wer da den Pfad heraufkam, sprang er plötzlich auf, stürmte ins Haus und schlug die Tür zu. Das war nichts weiter als das Ergebnis seiner Überraschung, vermischt mit einer gehörigen Portion Scham über seinen Wutausbruch am Vortag. Doch das fegte fast den letzten Rest Mut aus Annes Herz.
„Wenn er jetzt schon so bärbeißig ist – wie wird er erst sein, wenn er hört, was ich getan habe“, dachte sie verzweifelt, als sie an die Tür klopfte. Doch Mr. Harrison öffnete, lächelte verlegen und bat sie in einem recht milden, wenn auch etwas nervösen Ton herein. Er hatte seine Pfeife beiseite gelegt und das Jackett angezogen. Er bot Anne einen sehr staubigen Stuhl auf überaus höfliche Weise an, und der Empfang hätte durchaus angenehm verlaufen können – wäre da nicht der Papagei gewesen, der mit bösen, goldenen Augen durch die Gitterstäbe seines Käfigs spähte. Kaum hatte Anne sich gesetzt, rief Ginger:
„Beim Donnerwetter, was will denn dieses rothaarige Gör hier?“
Es war schwer zu sagen, wessen Gesicht röter war – das von Mr. Harrison oder das von Anne.
„Achten Sie nicht auf den Papagei“, sagte Mr. Harrison, und warf Ginger einen wütenden Blick zu. „Er … er redet nur Unsinn. Ich habe ihn von meinem Bruder bekommen, der Seemann war. Seeleute benutzen nicht immer die feinsten Ausdrücke, und Papageien sind sehr nachahmungsfreudige Vögel.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte die arme Anne, wobei die Erinnerung an ihr eigentliches Anliegen ihren Ärger dämpfte. Unter diesen Umständen konnte sie es sich nicht leisten, Mr. Harrison brüsk abzuweisen. Wenn man gerade die Kuh eines Mannes ohne sein Wissen oder Einverständnis verkauft hatte, durfte man sich nicht daran stören, wenn sein Papagei unfreundliche Dinge wiederholte. Dennoch war das ‚rothaarige Gör‘ jetzt nicht mehr ganz so demütig, wie sie es sonst vielleicht gewesen wäre.
„Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu beichten, Mr. Harrison“, sagte sie entschlossen. „Es … es geht um … die Jerseykuh.“
„Beim Donnerwetter“, rief Mr. Harrison nervös. „Ist sie schon wieder in meinen Hafer eingebrochen? Na ja, macht nichts, macht fast gar nichts. Ich war gestern zu voreilig, das ist die Wahrheit. Also, selbst wenn, ist es nicht so schlimm.“
„Ach, wenn es nur das wäre“, seufzte Anne. „Aber es ist zehnmal schlimmer. Ich habe …“
„Beim Donnerwetter, Sie wollen doch nicht sagen, sie ist in meinen Weizen geraten?“
„Nein … nein … nicht in den Weizen. Aber …“
„Dann sind es die Kohlköpfe! Sie hat meine Kohlköpfe niedergetrampelt, die ich für die Ausstellung aufgezogen habe, was?“
„Es sind nicht die Kohlköpfe, Mr. Harrison. Ich werde Ihnen alles erzählen … genau deswegen bin ich ja gekommen – aber bitte unterbrechen Sie mich nicht. Das macht mich ganz nervös. Lassen Sie mich einfach meine Geschichte erzählen, und sagen Sie bitte nichts, bis ich fertig bin. Und dann werden Sie sicher noch genug zu sagen haben“, fügte Anne nur im Gedanken hinzu.
„Ich werde kein Wort sagen“, versprach Mr. Harrison – und hielt sich daran.
Aber Ginger fühlte sich an keinerlei Schweigegelübde gebunden und rief in regelmäßigen Abständen immer wieder: „Rothaariges Gör!“, bis Anne sich ganz irritiert fühlte.
„Ich habe gestern meine Jerseykuh bei uns in den Stall gesperrt. Heute Morgen bin ich nach Carmody gefahren, und als ich zurückkam, sah ich eine Jerseykuh in Ihrem Haferfeld. Diana und ich haben sie herausgejagt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer das war. Ich war klatschnass, müde und völlig entnervt – und just in dem Moment kam Mr. Shearer vorbei und bot an, die Kuh zu kaufen. Ich habe sie ihm auf der Stelle für zwanzig Dollar verkauft. Das war falsch von mir. Ich hätte natürlich warten und Marilla fragen sollen. Aber ich neige schrecklich oft dazu, Dinge zu tun, ohne vorher nachzudenken. Jeder, der mich kennt, wird Ihnen das bestätigen. Mr. Shearer hat die Kuh sofort mitgenommen, um sie mit dem Nachmittagstransport zu verschicken.“
„Rothaariges Gör!“, bemerkte Ginger mit tiefster Verachtung.
In diesem Moment erhob sich Mr. Harrison mit einem Blick, der jedes andere Wesen außer einem Papagei in Angst und Schrecken versetzt hätte, trug Gingers Käfig in das Nebenzimmer und schloss die Tür. Ginger kreischte, fluchte und benahm sich ganz so, wie es seinem Ruf entsprach – doch da er nun allein war, verfiel er schließlich in beleidigtes Schweigen.
„Entschuldigen Sie – bitte fahren Sie fort“, sagte Mr. Harrison, der sich wieder setzte. „Mein Bruder, der Seemann, hat diesem Vogel nie Manieren beigebracht.“
„Ich ging nach Hause, und nach dem Tee ging ich hinaus in den Stall. Mr. Harrison …“ – Anne beugte sich vor, faltete die Hände in ihrer kindlichen Geste, während ihre großen grauen Augen flehend in Mr. Harrisons verlegenes Gesicht blickten. „Ich fand meine Kuh noch immer im Stall. Es war Ihre Kuh, die ich an Mr. Shearer verkauft habe.“
„Beim Donnerwetter!“, rief Mr. Harrison völlig verdattert angesichts dieses unerwarteten Endes. „Was für eine außergewöhnliche Geschichte!“
„Ach, es ist überhaupt nicht außergewöhnlich, dass ich mich und andere in Schwierigkeiten bringe“, sagte Anne kläglich. „Dafür bin ich bekannt. Man sollte meinen, ich wäre inzwischen daraus herausgewachsen … ich werde im März siebzehn … aber anscheinend bin ich es nicht. Mr. Harrison, ist es zu viel verlangt, auf Vergebung zu hoffen? Ich fürchte, es ist zu spät, Ihre Kuh zurückzubekommen – aber hier ist das Geld dafür. Oder Sie können meine haben, wenn Sie lieber möchten. Sie ist eine sehr gute Kuh. Und ich kann gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut.“
„Ach was“, sagte Mr. Harrison munter, „kein Wort mehr darüber, Fräulein. Es ist nicht der Rede wert … wirklich nicht. So was passiert eben. Ich bin selbst manchmal viel zu voreilig, Fräulein … viel zu voreilig. Aber ich kann nun mal nicht anders, als zu sagen, was ich denke. Die Leute müssen mich eben so nehmen, wie ich bin. Wenn die Kuh nun in meinem Kohl gewesen wäre … aber was soll’s, war sie ja nicht – also ist alles gut. Ich denke, ich nehme lieber Ihre Kuh im Tausch – wenn Sie sie ohnehin loswerden wollen.“
„Oh, danke, Mr. Harrison. Ich bin so froh, dass Sie nicht böse sind. Ich hatte solche Angst davor.“
„Und ich nehme an, Sie waren halbtot vor Schreck, hierherzukommen und es mir zu beichten – nach dem Aufstand, den ich gestern gemacht habe, was? Aber Sie dürfen sich meinetwegen nicht so viele Gedanken machen, ich bin eben ein fürchterlich direkter alter Kerl … neige schrecklich dazu, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie ein bisschen grob ist.“
„So ist auch Mrs. Lynde“, sagte Anne – bevor sie sich zurückhalten konnte.
„Wer? Mrs. Lynde? Sagen Sie mir nicht, dass ich dieser alten Tratschtante gleiche“, sagte Mr. Harrison gereizt. „Ich bin nicht so … kein bisschen. Was haben Sie denn da in der Schachtel?“
„Einen Kuchen“, sagte Anne mutig. In ihrer Erleichterung über Mr. Harrisons unerwartete Freundlichkeit fühlte sie sich leicht wie eine Feder. „Ich habe ihn für Sie mitgebracht … ich dachte, vielleicht haben Sie nicht sehr oft Kuchen.“
„Hab ich auch nicht – das ist wahr. Und ich liebe Kuchen sehr. Ich danke Ihnen vielmals. Sieht gut aus , so von außen. Hoffentlich ist er innen genauso.“
„Ist er“, sagte Anne mit fröhlicher Zuversicht. „Ich habe schon Kuchen gebacken, die es nicht waren – das könnte Mrs. Allan bestätigen – aber dieser ist wirklich gelungen. Ich hatte ihn eigentlich für den Verschönerungsverein gemacht, aber ich kann ja noch einen neuen backen.“
„Nun, Fräulein, ich sage Ihnen was – Sie müssen mir helfen, ihn zu essen. Ich setze den Wasserkessel auf, und wir trinken eine Tasse Tee dazu. Wie wäre es damit?“
„Darf ich den Tee machen?“, fragte Anne zögernd.
Mr. Harrison lachte. „Ich sehe schon, Sie trauen meinen Fähigkeiten nicht viel zu, was das Teekochen angeht. Da täuschen Sie sich … ich kann eine Kanne Tee aufbrühen, die sich gewaschen hat. Aber machen Sie nur – glücklicherweise hat es letzten Sonntag geregnet, also gibt’s genügend sauberes Geschirr.“
Anne sprang munter auf und machte sich ans Werk. Sie spülte die Teekanne mehrmals aus, bevor sie den Tee aufsetzte. Dann fegte sie den Herd und deckte den Tisch, wobei sie das Geschirr aus der Speisekammer holte. Der Zustand dieser Speisekammer entsetzte Anne, aber sie sagte klugerweise nichts. Mr. Harrison zeigte ihr, wo sie Brot, Butter und eine Dose Pfirsiche fand. Anne schmückte den Tisch mit einem Strauß aus dem Garten und schloss die Augen vor den Flecken auf dem Tischtuch.
Bald war der Tee fertig, und Anne fand sich Mr. Harrison gegenüber an seinem eigenen Tisch wieder, schenkte ihm Tee ein und plauderte ganz ungezwungen mit ihm über ihre Schule, ihre Freunde und ihre Pläne. Sie konnte kaum glauben, was sie da erlebte. Mr. Harrison hatte Ginger wieder hereingeholt, da der arme Vogel sich sonst einsam fühlen würde, wie er sagte – und Anne, die in diesem Moment das Gefühl hatte, sie könne der ganzen Welt vergeben, bot ihm eine Walnuss an. Doch Gingers Gefühle waren tief verletzt, und er wies jegliche Freundschaftsbemühungen zurück. Er saß verdrießlich auf seiner Stange und plusterte sich so auf, dass er nur noch wie ein grün-goldener Ball aussah.
„Warum nennen Sie ihn Ginger?“, fragte Anne, die passende Namen liebte und fand, dass Ginger mit so prächtigem Gefieder nicht recht zusammenpasste.
„Mein Bruder, der Seemann, hat ihn so genannt. Vielleicht wegen seines Temperaments. Ich hänge sehr an dem Vogel … du würdest dich wundern, wie sehr. Er hat natürlich seine Fehler. Das Vieh hat mich einiges gekostet, auf die eine oder andere Weise. Manche Leute stören sich an seinem Fluchen, aber es ist ihm nicht abzugewöhnen. Ich habe es versucht … andere auch. Manche haben Vorurteile gegen Papageien. Dumm, nicht? Ich mag ihn. Ginger ist mir eine große Gesellschaft. Nichts in der Welt würde mich dazu bringen, diesen Vogel herzugeben … nichts, Fräulein.“
Mr. Harrison schleuderte diesen letzten Satz Anne mit solchem Nachdruck entgegen, als verdächtige er sie insgeheim, irgendeinen versteckten Plan zu hegen, ihn von Ginger zu trennen. Anne begann allerdings, den wunderlichen, pedantischen, nervösen kleinen Mann zu mögen, und ehe das Mahl zu Ende war, waren sie gute Freunde geworden.
Mr. Harrison erfuhr vom Verschönerungsverein und zeigte sich durchaus wohlwollend.
„Das ist eine richtig gute Idee. Macht nur weiter. Es gibt hier im Ort einiges, das man verbessern könnte … und bei den Leuten auch.“
„Oh, das glaube ich nicht“, entgegnete Anne prompt. Gegenüber sich selbst oder ihren engsten Freundinnen hätte sie vielleicht zugegeben, dass es in Avonlea und seinen Bewohnern einige kleine, leicht zu behebende Mängel gab. Aber so etwas aus dem Mund eines praktischen Außenseiters wie Mr. Harrison zu hören, war eine ganz andere Sache. „Ich finde, Avonlea ist ein wunderbarer Ort – und die Menschen hier sind auch sehr nett.“
„Ich denke, Sie haben eine ordentliche Portion Temperament“, meinte Mr. Harrison und betrachtete die geröteten Wangen und empörten Augen gegenüber. „Das gehört wohl zu Haaren wie deinen. Avonlea ist schon ein recht anständiger Flecken, sonst hätte ich mich hier nicht niedergelassen; aber selbst Sie werden doch wohl zugeben, dass es ein paar Schwächen hat?“
„Ich mag es gerade deshalb umso mehr“, sagte Anne ehrlich. „Ich mag weder Orte noch Menschen, die keine Fehler haben. Ich glaube, ein wirklich perfekter Mensch wäre furchtbar uninteressant. Mrs. Milton White sagt, sie habe zwar nie einen perfekten Menschen getroffen, aber genug über einen gehört … die erste Frau ihres Mannes. Meinen Sie nicht, es muss sehr unangenehm sein, mit einem Mann verheiratet zu sein, dessen erste Frau vollkommen war?“
„Es wäre noch unangenehmer, mit der vollkommenen Frau verheiratet zu sein“, erklärte Mr. Harrison mit plötzlicher und unerklärlicher Wärme in der Stimme.
Als der Tee vorbei war, bestand Anne darauf, das Geschirr zu spülen, obwohl Mr.