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In einer Kleinstadt wie Norden passiert selten etwas richtig Spannendes. Aber was ist, wenn doch? Und dabei sind auch noch wichtige Persönlichkeiten involviert, dessen Privat-leben eigentlich nicht an die Öffentlichkeit geraten sollte? Der erste Fall von Dr. Tomas Masbaum verläuft alles andere als gut für ihn, gehört er doch direkt zu den Hauptverdächtigen. Dabei will er doch nur aufdecken, wer Larissa Weinberg ermordet hat und er ist sich ziemlich sicher, dass ihm der Mörder bereits bekannt ist. Doch wie verhält man sich richtig, wenn sich das Übernatürliche einmischt? Lässt sich die Anonymität wahren, wenn ein Mord alle vorhandenen Fakten offenlegt? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
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Seitenzahl: 347
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Im Internet geben wir nur zu gerne unsere Anonymität auf und geben Dinge von uns preis, die wir im realen Alltag niemals offenlegen würden. Doch was passiert, wenn diese zwei verschiedenen Welten miteinander kollidieren?
Für Maria L.
Auf deinem Sofa entstand diese Geschichte.
Alle beschriebenen Orte, Häuser und Landschaften in Norden und Umgebung gibt es wirklich. Die Internetseite www.secretorgy.org ist frei erfunden, alle weiteren existieren tatsächlich. Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Epilog
Nachwort
Es kam ihm absurd vor, sich hier und jetzt bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Die improvisierte Umkleidekabine war nicht größer, als in jedem billigen Kaufhaus. Das diffuse Licht einer kleinen Nachttischlampe reichte aus, um seine Muskeln und die pulsierende glatte Haut gutmütig auszuleuchten. Er schloss kurz die Augen und horchte auf das frische fließende Blut in seinen Adern. Die aufkommende Erregung gab ihm genug Energie, mit dem engen schwarzen Slip herauszutreten und sich vor die geschlossene Tür zu stellen.
Beim Ablegen seiner Uhr hatte er registriert, dass es nicht mal mehr fünf Minuten dauern würde. Um Punkt 23:00 Uhr würden sich alle sechs Türen öffnen. Er hatte nicht erwartet, dass die Spannung ihn so stark erfassen würde, schließlich war er reich an Erfahrungen. Doch eine Szene wie diese war ihm bisher unbekannt.
Ein sanftes Geräusch, wahrscheinlich von einer Klangschale erzeugt, signalisierte den Beginn des Abenteuers und wie von Geisterhand öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Obwohl es das nicht sollte, schlug sein Herz schnell und unregelmäßig und es kostete ihn tatsächlich etwas Überwindung, die Hand zu heben und die leichte Holztür weiter zu öffnen, sodass er in den Raum treten konnte. Seine Schritte knarrten auf dem alten Dielenfußboden, doch vergaß er das beim Anblick der Innenausstattung.
Die Organisatoren hatten sich nicht gespart und nichts dem Zufall überlassen. Eine überdimensionale Spielwiese mit dunkelrot bezogenen Matratzen thronte majestätisch in der Mitte des Raumes. Ein Sofa in Form eines Cs befand sich links davon und auf dem Couchtisch stand ein Sektkühler mit sechs Gläsern. Auf der rechten Seite hing eine professionelle Sling an der Decke, davor auf einem großen Tisch fand sich eine breit gefächerte Auswahl an Sexspielzeugen. Unmengen von roten Stabkerzen gaben dem Raum ein lüsternes Ambiente.
Erst jetzt nahm er sich Zeit, um sich die anderen fünf Teilnehmer anzuschauen. Eine Schönheit mit langen Beinen und einem grazilen Gang kam von der Tür gegenüber seiner hinaus. Ihr fast schwarzes Haar fiel in seidigen Wellen bis hinunter zum schwarzen Spitzen-BH.
Ein rothaariges Rasseweib kam von rechts heran. Sie wirkte älter als die andere, doch die vollen Lippen und die stechenden grünen Augen gaben einen ersten Einblick in die Wollust. Beim Gehen strich sie über ihr dunkelgrünes Negligé und trotz der Entfernung konnte er erkennen, dass ihre Nippel sofort hart wurden.
Direkt links von ihm erschien ein junger Mann in kräftiger Statur und einer dunkel schimmernden Haut. Seine fast schwarzen Knopfaugen glänzten im Licht der Kerzen. Die silbernen Retropants wölbten sich beachtlich und machten eindeutig Lust auf mehr. Obwohl die breiten Schultern auf einen Handwerker schließen ließen, gaben die manikürten Fingernägel und die feingliedrigen Finger einen gegenteiligen Eindruck.
Von hinten kam noch eine dritte Frau, eine Blondine mit übergroßem Vorbau. Er rätselte kurz, ob die Brüste operiert waren, verlegte diesen Gedanken aber vorerst. Ihre ansonsten schlanke Figur schien fest und trainiert zu sein. Die braunen Augen sahen ihn forsch und bereits fordernd an. Mit ihr würde er beginnen.
Dann kam von rechts noch ein weiterer Mann hinzu und beim Blick in dessen Gesicht begann er leicht zu taumeln. Er hatte diese markanten Züge schon einmal gesehen, es musste allerdings viele Jahre her sein. Die blauen Augen musterten ihn von oben bis unten und anscheinend gefiel ihm, was er sah.
Die Rothaarige hatte inzwischen begonnen, die Gläser mit der prickelnden Flüssigkeit zu füllen, während der Rest in willkürlicher Reihenfolge auf dem Sofa Platz nahm. Die Stille der Atmosphäre war gespannt und in freudiger Erwartung. Niemand wagte es, zu sprechen. Das gehörte zu den Regeln...
Dr. Tomas Masbaum fühlte sich beschissen, obwohl die Uhr an seinem Macbook erst zehn nach zehn anzeigte. Die Berichte lagen alle komplett vor ihm ausgebreitet, doch die Informationen verschwammen zu einem Brei an Fakten, die im überhaupt nicht weiterhalfen.
Seit Tagen saß er an diesem Fall, ohne Ergebnisse und neue Erkenntnisse gab es auch nicht, obwohl er alle ihm bekannten Quellen durchgegangen war. Eine Frau war gestorben; verblutet, nachdem ihr Kopf vom Körper abgetrennt wurde. Doch leider gab es keine weiteren Hinweise auf den Tatverlauf.
Ein Tattoo auf der rechten Hand entwickelte bei der Kripo Gerüchte, dass sie eine Hexe gewesen sein musste. Allerdings zeigten die vor ihm liegenden Fotos eine verschrumpelte blutlose Variante ihrer Selbst und Dr.
Masbaum war dankbar, dass er es nicht mehr geschafft hatte, vor seinem Dienst einen Happen Essen zu vertilgen.
Sein Chef erwartete Ergebnisse, das war ihm klar, doch selbst sein messerscharfer Verstand lieferte nicht die erwarteten Resultate, denn nur ihr Tattoo gab Anlass zu einer Lösung. Bisher hatte jeder Versuch, es zu googeln ins Leere geführt.
Er rieb seine tiefblauen Augen und durchdachte seine Möglichkeiten. Es wäre nicht der erste Fall, in dem seine Mutter zur Hilfe kam, denn sie verstand es irgendwie, seine Gedankengänge zu einem sinnvollen Konsens zu verstricken und damit alltägliche Dinge aufzudecken, die ihm ansonsten verborgen blieben.
Birgit Masbaum lebte noch immer in der selben Hamburger Wohnung, in der Tomas aufgewachsen war und der Kontakt über Telefon war manchmal über Monate die einzige Möglichkeit zu reden, von Emails einmal abgesehen.
In ihren Glanzzeiten war sie Oberstudienrätin des Humboldt-Gymnasiums gewesen und der Ruhestand wuchs ihr allmählich über den Kopf. Immer aktiv und mit hoher Intelligenz gesegnet, konnte sie sich nicht damit abfinden, zur gemütlichen Rosenzüchterin oder etwas ähnlich Langweiligen zu werden.
Schon beim zweiten Klingeln ging sie ans Telefon, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ihr Kommissar-Sohn bei ihr anrief und ihre Hilfe benötigte: „Tomas, wie schön, dass du anrufst. Kann ich etwas für dich tun? Geht es dir gut? Was macht die Arbeit?“
Der brünette Kriminalbeamte trank noch schnell einen Schluck seines Mate-Guarana-Tees, bevor er ohne Schweife zum Punkt kam:
„Ich komm bei meinem Fall nicht weiter. Hast du Zeit, mit mir noch einmal die Fakten durchzugehen?“ Er konnte vor seinem inneren Geiste förmlich sehen, wie sie zufrieden lächelte:
„Für dich hab ich doch immer Zeit, Tommy. Dann schieß mal los!“ Er hasste es, wenn sie diese peinliche Verniedlichungsform benutzte, doch war er zu gutmütig, sie auf diesen Makel hinzuweisen. Stattdessen verschaffte er sich kurz einen Überblick und feuerte dann eine Salve an Informationen heraus:
„Einer Frau wurde in ihrem eigenen Haus der Kopf abgetrennt – das Blut verteilte sich bis in die letzten Winkel der Küche. Ihr Name ist Lana Schröder, 36 Jahre alt, Single. Sie lebte in einer alten Siedlung hier in Norden, nach dem Tod der Eltern erbte sie das Haus und lebt seitdem dort allein und sehr zurückgezogen. Freunde und Bekannte haben wir bisher keine gefunden, die Nachbarn hatten eher Angst vor ihr und beschreiben sie als 'alte Jungfer mit Hang zum Okkulten'. Einige sagten sogar, sie wäre eine Hexe, was wohl mit dem Tattoo auf ihrer Hand zusammenhängt. Ein beliebtes Wicca-Symbol, laut Internet.
Am Tatort gab es keine Anzeichen für einen Kampf, keine Spuren oder Fingerabdrücke, außer von Lana selbst. Weil im Haus überall Teppich verlegt ist, gab es auch keine Fußspuren oder -abdrücke. Und selbst für die Forensiker ein Problem: es ist bisher immer noch ungeklärt, wie der Kopf abgetrennt wurde. Keine handelsübliche Waffe kommt in Frage – es sieht fast so aus, als wurde der Schädel mit reiner Willenskraft abgerissen worden.“ Mit einem tiefen Seufzer beendete Masbaum den Monolog. Er trank noch einen großen Schluck Tee, während er auf die erste Frage seiner Mutter wartete. Er vernahm leichte Zwischengeräusche, die nicht von ihr kamen – wahrscheinlich hatte sie sich zum Denken auf den Balkon hinaus gesetzt.
„Hat sie einen Computer? Habt ihr die Festplatten, Emails und sowas überprüft? Mit irgendwem muss sie Kontakt gehabt haben.“
Seine feingliedrigen Finger huschten geschwind über die Tastatur, um die entsprechende Seite auf dem Bildschirm aufzurufen:
„Ja, haben wir überprüft. Sie schrieb an einem Buch über Kräuterheilkunde und die IT-Profis haben herausgefunden, dass sie regen Kontakt mit ein paar Leuten in einem Chat für Okkultes hatte, doch wie sich herausstellte, kannte sie niemanden davon persönlich. Ein Handy besaß sie nicht und die Telefonaufstellung zeigt nur ein paar Bestellungen, zwei Anrufe mit einer Cousine und vier Mal hat sie bei Pizza Pronto angerufen.“ Er rieb sich die Augen bei den irrelevanten Informationen und gähnte ausgiebig. Wann war eigentlich sein letzter Urlaubstag gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht sollte er Hauptkommissar Reinhardt bei Gelegenheit fragen, ob ein Kurzurlaub möglich wäre. In letzter Zeit gab es viel weniger Reibungspunkte als sonst. Seine Mutter riss ihn aus seinen Gedanken:
„Wer hat sie eigentlich gefunden?“ Das hatte er vergessen zu erzählen. Er wechselte zurück zum Protokoll:
„Der Postbote hatte sich gewundert, dass ihr Briefkasten übervoll war. Er klingelte und als nichts passierte, ging er um das Haus herum und entdeckte sie durchs Fenster auf dem Küchenboden liegend.“ Das Klicken eines Feuerzeugs ließ ihn aufhorchen, anscheinend hatte sich Birgit Masbaum eine Zigarette angezündet. Eine Angewohnheit, die Tomas nicht gutheißen konnte, doch er war es Leid, sie auf die gesundheitsschädigende Wirkung aufmerksam zu machen. Manchmal beschlich ihn das Gefühl, sie hätte bereits vergessen, was mit seinem Vater geschehen war.
„Ich versuche, das noch einmal zusammenzufassen. Du hast eine Leiche mit abgetrenntem Kopf, blutleer, keine Verdächtigen, keine Spuren, kein Motiv, Selbstmord kann offensichtlich ausgeschlossen werden und nur die Vermutung, dass sie eine Hexe war oder sich für eine hielt, macht das ganze interessant.“
Sie machte eine künstlerische Pause: „Tommy, ich fürchte, mit logischem Denken kommst du hier nicht weiter. Die Frage muss doch jetzt lauten: Welche Gründe gibt es, eine Hexe zu töten? Und zusätzlich sollte geklärt werden, inwiefern es wichtig ist, ihr den Kopf abzutrennen. Vielleicht solltest du selbst mal in diesen Chat gehen, in dem sie sich herumtrieb. Vielleicht findest du dort Antworten.“ Auf den Gedanken war er tatsächlich noch nicht gekommen. Er rief einen Browser auf und gab in die Adresszeile www.wicca-chat.com ein. Der Bildschirm wurde schwarz und weißer Text mit vielen okkulten Symbolen und Bildern tauchte auf. Auf der linken Seite fand er den Link zum flashbasierten Chat und klickte darauf. Sofort tauchte ein Dialogfenster auf, in dem er einen ausgedachten Nikname eingeben konnte.
Er entschied sich spontan für wizardofoz42 und glücklicherweise war der Name noch nicht vergeben. Schon ploppte der Chat auf und bereits über hundert User tummelten sich hier.
„Ich bin drin, Mom. Das werde ich mal probieren. Danke für den Tipp. Wenn es etwas Neues gibt, ruf ich dich wieder an, okay?“ Sie blies den Zigarettenrauch heraus: „Gut, Tommy, halte mich auf den Laufenden.“ Und dann hatte sie auch schon aufgelegt.
Es dauerte gar nicht lange und ein warlock365 lud ihn in einen Privatchat ein. Dr. Masbaum drückte auf 'Annehmen' und ein eigener kleiner Chatraum öffnete sich. Er konnte sehen, dass der andere fleißig am Tippen war und in der Tat erschien kurz darauf ein längerer Text. Warlock wollte darauf hinweisen, dass der Zauberer von Oz nur ein albernes Märchen ist und dieser Nikname deswegen unangebracht sei. Tomas schloss daraus, dass die hier Anwesenden sehr ernsthaft mit dem Thema Hexen und Hexenkult umgingen und er mit seinem üblichen Zynismus wohl nicht weiterkommen würde. Daher beschloss er, selbst auch seriös an die Sache heranzugehen und fragte den User ganz direkt, mit welcher Intention er sich hier angemeldet hatte. Doch warlock365 schien durchaus gewillt zu sein, ihm zu helfen.
Tomas versuchte gerade, die Frage nett zu formulieren, warum es sinnvoll sein könnte, einer bereits toten Hexe zusätzlich noch den Kopf abzureißen, als Hauptkommissar Lutz Reinhardt auf einmal seine Tür öffnete und mit schnellen Schritten auf Dr. Masbaum zusteuerte. Dank seiner gedrungenen Gestalt und der schlechten Verarbeitung seines Turnschuhs ließ jeden der Schritte mit einem schrillen Quietschen zu einer unerträglichen Qual werden. Ohne große Umschweife fing er an zu sprechen und so wie er die Worte betonte, konnte man denken, dass Masbaum an dem Gesagten direkt Schuld hatte:
„Wir haben schon wieder eine Tote. Auch blutleer, allerdings ist der Kopf noch dran.
Dafür scheint die Haut komisch grau zu sein. Wir sollen sofort zum Tatort kommen. Ich fahre.“ Zu widersprechen wäre fatal gewesen, das wusste Tomas, daher verabschiedete er sich schnell von dem Warlock, griff seine Jacke und sein Ipad und folgte seinem Chef mit großen, eleganten Schritten.
Ihre kurze Fahrt führte sie in die Bleicherslohne. Die Straße wirkte ruhig, obwohl ein großes Kaufhaus in unmittelbarer Nähe stand. Sie parkten den schwarzen Passat hinter dem Streifenwagen, der bereits vor der Garage eines Mehrfamilienhauses stand.
Auf dem Weg zur Haustür wunderte sich Masbaum über einen neu gepflanzten Baum in der Mitte der Einfahrt und empfand diese Platzierung als äußerst unpraktisch. Die Bewohner würden schon nach kurzer Zeit darüber fluchen, allerdings wusste er aus seiner Erfahrung als Mieter, dass man sich so etwas nicht immer aussuchen konnte.
Nach fünf gefliesten Stufen erreichten die beiden Ermittler die dunkelgrüne Haustür und suchten auf den Klingelschildern den Namen Weinberg. Sie fanden ihn in der Mitte von drei zur Auswahl stehenden, sodass der Tatort anscheinend in der ersten Etage zu finden war.
Lutz Reinhardt hatte Tomas bereits im Auto die ersten Informationen mitgeteilt: ‚Bei der Leiche handelte es sich um Larissa Weinberg, 23 Jahre alt, allein lebend, arbeitete als Frisörin in der Osterstraße.‘
Die Treppe im hellen Erkerflur des Altbaus knarrte bei jedem Schritt und gab einem möglichen Mörder kaum eine Chance, völlig geräuschlos zu entkommen.
Masbaum schmunzelte bei dem Gedanken.
Nach vierundzwanzig Stufen entdeckten sie die offen stehende Tür und hörten emsige Stimmen in der Wohnung. Noch vor dem Ende der Treppe kramte Tomas sein Ipad aus der sicheren Verwahrung und machte, bevor er eintrat, ein Foto von der Tür samt Rahmen.
Ihm fiel auf, dass es keine Kratzspuren gab und auch das Schloss keine Anzeichen eines Einbruches zeigte.
Den Eingangsbereich der Wohnung konnte Masbaum nur als kompakt bezeichnen. Ein Lowboard links, kleiner Schuhschrank rechts.
Ansonsten führten drei Türen in die Zimmer, wobei die lautesten Geräusche aus dem Raum geradeaus kamen, sodass sich Lutz und Tomas direkt dorthin wandten und mit dem Öffnen begann das Wuseln erst.
Ole Janssen kam sofort auf sie zugestürmt, als hätte ein Mädchen auf einer Party zwei gute Freundinnen entdeckt. Die Umarmungen sparte er sich glücklicherweise und kam direkt zum Punkt:
„Guten Morgen, Hauptkommissar Reinhardt, Kommissar Masbaum. Wir stehen hier vor einem Rätsel.“ Tomas verkniff sich, Ole darauf hinzuweisen, dass er Dr. Masbaum hätte sagen müssen. Er war bereits davon genervt, dass der zuständige Polizist in Mordfällen ihm bei jeder Gelegenheit schöne Augen machte.
Er gab der Feuerzangenbowle auf der letzten Weihnachtsfeier Schuld daran. Seine alkoholgetränkte Feierlaune hatte dem hübschen Beamten durch direkte Flirtversuche Hoffnung gegeben, irgendwann mal bei ihm landen zu können. Doch Tomas zog es vor, Beruf und Privatleben möglichst nicht zu vermischen.
Janssen strich mit der Hand über seinen Dreitagesbart und ließ seine haselnussbraunen Augen über seine Notizen wandern, ehe er mit den Fakten fortfuhr:
„Der jungen Frau wurde ein Gegenstand in den linken Brustkorb gerammt. Anscheinend wurde ihr gesamtes Blut aus dem Körper gesaugt, es gibt allerdings keine Spuren, wie das gemacht werden konnte. Ihre Haut ist fahl, fast grau. Bis auf die Wunde am Herzen weist sie allerdings keine weiteren Verletzungen auf. Der Holzstuhl dort ist zerbrochen.“ Ole zeigte an das Ende des Leichensacks, an dem die Sitzecke des Wohnzimmers begann. Einer der schwarz lackierten Stühle lag auf dem Laminat-Fußboden, die Lehne war abgebrochen und Splitter aus Buchenholz waren sichtbar.
Hauptkommissar Reinhardt ging näher an den zerstörten Stuhl heran: „Wurde die abgebrochene Lehne gefunden?“ Oles Schultern zuckten nach unten und seufzte leicht, bevor er antwortete: „Nein, anscheinend ist es das einzige Teil, dass vom Tatort entfernt wurde. Übrigens wurden drei verschiedene Fingerspuren entdeckt, eine davon wird die des Opfers sein.“ Der gewissenhafte Polizeibeamte durchstöberte seinen Notizblock, ob noch eine Information fehlte. Masbaum ging direkt an ihm vorbei. Dessen feine Nase nahm den Duft von Oles Parfum auf – eine würzige Mischung aus Nadelholz, Limette und Koriander. Er tippte auf eine unbekannte Sorte, die trotzdem teuer gewesen sein musste.
„Können wir nun die Leiche sehen?“ Der brünette Ermittler drehte den Kopf und lächelte, sodass Janssen schnell den Blick abwenden musste, damit sein Chef nicht sehen konnte, wie er errötete.
Tomas wollte die Antwort nicht abwarten, daher ging er vor dem eingehüllten Körper in die Hocke und griff mit routinierten Handbewegungen zum Reißverschluss. Ein unangenehmes Quietschen begleitete das Öffnen des Leichensacks und eine merkwürdige Geruchslosigkeit ließ den Ermittler stutzig werden.
Masbaum war es gewohnt, dass Mordopfer nach ein paar Stunden bereits das übliche Verwesungsaroma verströmten. Doch in diesem Fall nicht; das einzige, was seine Nase wahrnahm, war weiterhin nur das Parfum von Ole Janssen. Irritiert schaute Tomas zu seinem Vorgesetzten, denn er konnte sich darauf keinen Reim machen. Aber der zuckte nur desinteressiert mit den Schultern.
Anscheinend wollte Lutz wieder einmal testen, was sein Kollege herausfinden konnte. In letzter Zeit kam das häufiger vor und Masbaum fragte sich, was Reinhardt damit bezwecken wollte. In Japan galt eine Ausbildung erst als abgeschlossen, wenn man besser als der Meister geworden war, doch Tomas bezweifelte, dass sein Chef das wusste. Im Gegenteil nahm er an, dass Reinhardt darauf wartete, dass er Fehler machte. Aber den Gefallen wollte er ihm nicht tun.
Er verbreiterte den Spalt, sodass er einen Blick auf das Gesicht des Opfers werfen konnte und erschrak. Obwohl die Haut fast aschgrau verfärbt war und der Blutverlust ihr Gesicht verändert hatte, erkannte er in ihr eine der Frauen von gestern Nacht. Sofort kamen ihm Bilder vor das innere Auge:
Nackte Haut, die sich schwitzend aneinander rieben, Körperflüssigkeiten wurden ausgetauscht und Worte keine gesprochen. Tomas erinnerte sich an diese Frau mit den langen schwarzen Haaren, der Figur eines Models und dem knallroten Lippenstift.
Den leicht glänzenden Lippgloss trug sie immer noch, woraus Masbaum schloss, dass ihr Todeszeitpunkt nicht lange, nach dem sie wieder zu Hause angekommen war, gewesen sein konnte. Allerdings wollte er es möglichst genau wissen: „Gibt es bereits Schätzungen, zu welcher Uhrzeit sie gestorben ist?“ Ole Janssen blätterte panisch durch seine Notizen, aber die passende Antwort bekam Tomas von einem Gerichtsmediziner, der noch im Raum anwesend war: „Es muss gegen fünf Uhr gewesen sein. Die Leichenstarre ist schon recht fortgeschritten, obwohl sie komischerweise angehalten hat, was wahrscheinlich mit dem Fehlen des Blutes zusammenhängt. Wir werden nach der Obduktion präzisere Angaben machen können.“
Für Kommissar Masbaum war das eine wichtige Information. Alle an der Orgie Beteiligten gingen gleichzeitig, um drei Uhr morgens – und zwar lebendig.
Also ging es darum, herauszufinden, was in den zwei Stunden danach mit Larissa passierte. Lutz wandte sich noch einmal an Ole und dem Gerichtsmediziner: „Wer hat sie eigentlich gefunden?“ Janssen bekam einen hochroten Kopf, denn er hatte in seinem schicken Block eine Seite übersehen. Er versuchte, möglichst schnell eine Antwort auf die Frage zu geben: „Keiner. Es gab heute morgen auf der Wache in Norden einen anonymen Anrufer, der an dieser Adresse eine Leiche meldete. Hat noch den Namen des Opfers dazu gesagt und dann aufgelegt. Das Zurückverfolgen der Nummer ergab, dass der Anruf von der Telefonzelle an der Post getätigt wurde.“
Es gab also keine Möglichkeit, herauszufinden, wer das gewesen sein könnte, allerdings war die Chance sehr hoch, dass der Mörder selbst die Informationen an die Polizei gegeben hatte. Einige Serienkiller waren so selbstverliebt und risikofreudig, dass sie sich nicht davor scheuten, aufzufliegen. Sie spielten mit den Ermittlern.
Tomas hoffte, es nicht mit so einem aufnehmen zu müssen.
Mit Schwung erhob sich Masbaum aus der Hocke und schaute sich im Wohnzimmer um. Die Sofa-Ecke mit einem großen Plasma-Fernseher an der Wand wirkte unberührt. Über einen Lesesessel fiel ihm ein Kunstdruck auf. Eine düstere fantastische Landschaft bildete den Hintergrund für eine Frauengestalt, die mit einem Zauberstab an einem sehr großen Kessel stand. Als sich Tomas noch weiter umsah, entdeckte er noch weitere Bilder mit okkulten Motiven.
Auf einem schwarzen Schreibtisch stand Larissas Notebook mit einem bekannten Markennamen darauf. Ein Blick zu Ole, der nickte, gab ihm die unausgesprochene Erlaubnis, den Laptop zu starten. Das Windows-7-Logo zeigte ihm, dass die Frisörin mit einer veralteten Software arbeitete. Es dauerte dementsprechend lange, bis der Rechner hochgefahren war. Und obwohl sie nicht die aktuellste Version des Betriebssystems besaß, war es natürlich passwortgeschützt. Damit kam er nicht weiter. Zum Glück hatte die Kripo Aurich sehr gute Computerspezialisten, die sich ohne große Mühe in das PC-Herz hacken konnten.
Er klappte das schwarze Gerät wieder zu und ging zu Ole: „Das Ding muss zu den IT-Profis gebracht werden. Ich will wissen, was auf der Festplatte ist. Vielleicht hat sie ein Tagebuch geführt. Außerdem brauchen wir eventuell die letzten Emails und die Kontaktdaten ihrer Freunde. Sind die Eltern schon benachrichtigt worden?“
Nun war es an Ole, aufreizend zu lächeln:
„Das wollten wir euch überlassen. Ihr seid so viel besser darin, schlechte Nachrichten zu überbringen. Sie haben ihr Haus an der Lütetsburger Straße 62. Wenn ihr gleich losfahrt, seid ihr noch vor zwölf dort.
Sonst platzt ihr noch ins Mittagessen. Ihr wisst doch, wie akribisch die Ostfriesen auf ihre festen Essenszeiten bestehen.“ Dr.
Masbaum verdrehte die Augen. Obwohl er jetzt schon seit fünf Jahren in der Küstenstadt Norden lebte, waren ihm die Gepflogenheiten der hier heimischen Bewohner suspekt. Als „Hamburger Jung“ war er mit Großstadtflair aufgewachsen und die offene Art mit toleranter Haltung schien Tomas sehr konträr zu der verschrobenen Lebensweise, die ihm in Ostfriesland häufig begegnete.
Mittlerweile war es halb zwölf und die Sonne stand steil am Firmament. Vereinzelte Wolken schlichen über den Himmel und der Wind wehte kontinuierlich, sodass die Sommerwärme aushaltbar war. Beim Verlassen des Mehrfamilienhauses notierte er sich im Kopf, dass sie nach dem Gespräch mit den Eltern zurückkommen mussten, um Larissas Nachbarn zu befragen.
Der schwarze Passat hatte sich in der Mittagshitze in einen fahrbaren Backofen verwandelt, sodass Lutz Reinhardt mit dem Anlassen des Wagens die Klimaanlage auf 20 Grad stellte. Trotzdem würde es noch einige Zeit dauern, bis im Auto eine angenehme Temperatur herrschen würde. Tomas vermutete, dass sie bis dahin ihr Ziel hinter Tidofeld bereits erreicht haben würden. Allerdings wusste man das nie so genau. Mit der neuen Umgehungsstraße und dem Kreisel konnte es zu bestimmten Stoßzeiten sein, dass einem bis zu zehn Minuten geklaut wurden. Eigentlich sollte das System den Straßenverkehr effektiver gestalten, aber gerade morgens, wenn alle zur Arbeit fuhren, war das Gegenteil der Fall.
Im Auto sprachen die Ermittler nur wenig. Tomas fragte sich, wie er seinem Chef erklären sollte, dass er Larissa kannte und womöglich einer der letzten war, der sie lebend gesehen hatte. Das Verhältnis zu Lutz Reinhardt war bereits gestört. Zu häufig waren sie in der Vergangenheit aneinander gerasselt, denn Masbaums Verhältnis zu Autorität war ein anderes als das seines Chefs. Mit dem fotografischen Gedächtnis und seinem Hang zu computerbasierten Techniken entsprach seine ermittelnde Arbeitsweise so gar nicht der von Reinhardt. Lutz war ein Polizist alter Schule und neuen Methoden nicht sonderlich aufgeschlossen. Aber er brauchte die Analyse von Masbaum, um den Fall zu lösen:
„Was hältst du davon?“ Ohne das Steuer loszulassen, warf er einen Blick zu seinem Kollegen. Masbaum hatte sein Tablet auf dem Schoß liegen und studierte die gemachten Fotos. Es dauerte etwas, bis sich Tomas zu einer Antwort durchringen konnte: „Es ist merkwürdig. Wir haben eine Leiche mit unbekannten Symptomen. Einen Tatort, der, bis auf den kaputten Stuhl, keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung aufweist und zur Zeit haben wir noch keine Verdächtigen. Momentan würde ich vermuten, dass sie den Täter kannte.“ Die Straße verlief gradlinig von Bargebur über Tidofeld nach Lütetsburg und das Fehlen jeglicher Kurven nahm dem Straßenverlauf jegliche Spannung. Tomas schaute aus dem Fenster. Die Netto-Filiale tauchte auf der rechten Seite auf, wobei der fast leere Parkplatz für diese Tageszeit ungewöhnlich war. Masbaum erinnerte sich daran, dass bei seiner Ankunft in Norden vor fünf Jahren dieses Gebäude eine Filiale von Plus beherbergte. Er hatte allerdings in beiden Läden nie etwas gekauft.
Innerlich bereitete er sich schon darauf vor, was er den Eltern sagen würde. Es gab keine schonende Methode, jemandem mitzuteilen, dass ein geliebter Mensch nicht mehr auf Erden weilte. Ein totes Kind, egal ob erwachsen oder nicht, war ein schmerzlicher Verlust für Eltern und nette Worte eines Polizisten konnte ihnen das verstorbene Fleisch und Blut auch nicht wieder zurückbringen.
Lutz fuhr routiniert in den Kreisverkehr hinein und bog dann rechts in die erste mögliche Ausfahrt, wobei er gewissenhaft auf die Radfahrer achtete. Erst, als sie die Gefahrenzone hinter sich hatten, stellte Lutz die entscheidende Frage:
„Was ist das Motiv? Warum bringt jemand eine einfache Frisörin um?“ Tomas wusste, dass er auf die Schnelle keine passende Antwort finden würde, daher versuchte er, mit dem Ausschlussverfahren näher an die Lösung heranzukommen: „Es wurden keine Wertgegenstände entwendet, also können wir Raubmord ausschließen. Ehrenmord können wir aufgrund ihrer deutschen Abstammung auch abhaken.
Bleibt nur Liebe, Eifersucht als Motiv oder sie hat etwas gewusst, dass geheim bleiben soll.“ Mit flinken Fingern wischte er über die Glasplatte und zoomte näher an ein Bild heran.
Er hatte im Regal über dem Schreibtisch eine Fotografie entdeckt, die Larissa mit einem Mann auf einem Boot zeigte. Irgendwie kam ihm die männliche Person bekannt vor. Er setzte Daumen und Zeigefinger auf die Stelle des Fotos und zog mit einer streckenden Bewegung die Gliedmaßen auseinander, sodass er das Gesicht erkennen konnte. Masbaums Fitnesstrainer, Luca Rosenbaum, strahlte Larissa verliebt an und in seinen blauen Augen spiegelte sich im Sonnenlicht das Meer wider. Obwohl Tomas mehrmals in der Woche im sogenannten „MAX“ seine verschiedenen Workouts durchging, beschränkte sich die Kommunikation mit seinem Coach auf das Nötigste. Allerdings meinte er sich daran zu erinnern, dass Luca einmal erwähnt hatte, seine Freundin wäre blond. Larissas lange Haarpracht schimmerte von Natur aus tiefschwarz; nur mit großem chemikalischen Aufwand war es möglich gewesen, so eine Schneewittchen-Mähne zu blondieren. Eine Frisörin sollte es besser wissen und das Risiko, mit einer Glatze zu enden, nicht eingehen.
Für eine Freundschaft kannten sich die beiden Muskelpakete nicht gut genug, doch Tomas mochte Luca und hätte ihn jemand nach einer Beschreibung gefragt, wären „einfühlsam, sensibel und treudoof“ die drei Attribute gewesen, die am besten gepasst hätten. Er war eindeutig nicht der Typ dafür, fremdzugehen. Viel wahrscheinlicher war Larissa eine Exfreundin, die dem blonden Adonis immer noch hinterher weinte.
Masbaum hatte sich für heute Nachmittag eine Stunde mit Luca reserviert. Er nahm sich vor, ihm dabei ausnahmsweise mit Gesprächen zu belästigen und diese private Information aus ihm herauszukitzeln.
Ein Ruckeln riss Tomas aus seinen Gedanken. Lutz Reinhardt hatte den Wagen vor der angegebenen Adresse geführt und auf der Einfahrt angehalten.
Tomas verfrachtete sein Ipad wieder in die Schutzhülle, löste den Gurt und stieg aus. Ein Windstoß erwischte sein Jackett, sodass die rechte Hälfte zur Seite aufschlug. Er schloss die zwei mittleren Knöpfe und schaute sich um.
Sowohl das Grundstück als auch das zweistöckige Backsteinhaus der Familie Weinberg schienen recht groß zu sein. Im Garten befand sich ein ovaler Fischteich und bot einen harmonischen Blickfang im grasgrünen Garten. Das Haus mit der Nummer 62 stand im hinteren Teil von Lütetsburg. Masbaum entdeckte den neuen Parkplatz für die Golfbegeisterten auf der anderen Straßenseite.
Überraschenderweise war dieser voll und nicht zum ersten Mal wunderte sich Tomas, dass so viele Ostfriesen dieser teuren Sportart nachgingen. Dem traditionellen Boßeln konnte er zwar auch nichts abgewinnen, aber der Gemeinschaftsgeist, der dabei herrschte, fand bei ihm Zuspruch.
Lutz ging um das Auto herum, lief aber noch nicht zur Haustür, denn er kannte mittlerweile Masbaums Eigenarten. Es war jedes Mal das Gleiche. Er stellte sich an einen willkürlichen Punkt und drehte sich langsam um 360 Grad. Innerhalb dieser Drehung nahm er mit den verschiedenen Sinnen den Standort in sich auf und prägte sich alles mögliche ein:
Himmelsrichtungen, den Geruch, die Gebäude, Details und Emotionen.
Eifersüchtig betrachtete Reinhardt dieses merkwürdige Verhalten. Er hatte sich mit Fleiß, Sorgfalt und gutem logischen Denken zum Hauptkommissar hochgearbeitet. Die Intuition und das angeborene Talent, Fälle zu lösen, besaß Lutz leider nicht. Das war der einzige Grund, warum er Dr. Masbaum überhaupt an seiner Seite tolerierte. Gerade bei schwierigen Fällen konnte ein Psychologe im Dienst wahre Wunder wirken.
Als Tomas seine Eindrücke gesammelt hatte, ging er mit forschem Schritt auf seinen Kollegen zu, um dann mit ihm gemeinsam zur Tür zu gehen. Auf der rechten Seite des Hauses fanden sie eine solide Glastür mit einer Messingglocke an der Wand, anstelle einer Klingel. Tomas kam sich albern vor, zum herumhängenden Seil zu greifen und das wohlklingende „Ding-dong“ auszulösen.
Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Anette Weinberg die Tür öffnete. Sie erschrak, als sie das förmlich aussehende Duo auf ihrer Schwelle stehen sah. Masbaum schätzte sie auf Anfang 60, doch ihr modischer Kleidungsstil machte sie um Jahre jünger: „Frau Weinberg, dürfen wir bitte hereinkommen. Das ist Hauptkommissar Reinhard, ich bin Kommissar Dr. Masbaum.“
Ihr ohnehin schon blasses Gesicht verlor nun jegliche Farbe. Stumm trat sie zur Seite und ließ die Männer vorbeigehen, wobei sie den rechten Zeigefinger in Richtung Wohnzimmer streckte. Während sie den großen Raum betraten, ergänzte Lutz: „Wir sind von der Kripo Aurich. Ist Ihr Mann auch zu Hause?“
Die leicht ergraute Mutter von Larissa setzte sich in einen anthrazitfarbenen Sessel, um den Ermittlern das lange Sofa anbieten zu können: „Nein, mein Mann ist noch auf Arbeit. Bei VW, Frühschicht, kommt erst um halb drei. Aber bitte, sagen Sie doch endlich, worum es geht! Sie machen mir Angst.“
Tomas schaute fragend zu Reinhardt, doch dessen selbstgerechte Miene stellte klar, dass er ihm die Drecksarbeit nicht abnehmen würde. Masbaum schlug die Beine übereinander, faltete die langen Finger zu einer Gebetshaltung und legte in seinen Blick so viel Mitgefühl, wie er konnte: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass man ihre Tochter Larissa heute Vormittag in ihrer Wohnung tot aufgefunden hat.“
Tomas beobachtete eine merkwürdige Veränderung in ihrer Haltung. Fast hatte er das Gefühl, als wäre sie erleichtert gewesen. Jedenfalls reagierte sie viel gefasster, als er vermutet hätte. Er ließ ihr daher weniger Zeit, als geplant, sich wieder zu sammeln: „Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir leider davon ausgehen, dass sie ermordet wurde. Hatte Larissa vielleicht Probleme?
Oder hat sie sich Feinde gemacht? Wer hätte ein Motiv, ihre Tochter umzubringen?“ Statt sofort darauf zu antworten, machte sich Anette Weinberg ein paar Gedanken, um dann aufzustehen und mit gesenkter Stimme zu sagen: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche jetzt dringend eine Tasse Tee. Wollen Sie auch eine?“ Reinhardt nickte sofort dankbar, während Masbaum verwundert ablehnte, ihr aber in Richtung Küche folgte, ohne auf seinen Kollegen zu achten. Er schob die Ablenkungstaktik auf die ostfriesische Mentalität, alles mit Tee bekämpfen zu können. Ihm selbst schlug die altertümliche Zubereitungsweise mit dem dicken Stück Kluntje und der Sahnehaube auf den Magen.
Die Küche der Weinbergs erwies sich als großräumige Multifunktionsküche. Kochen, essen und verweilen – all dies war hier möglich. Tomas empfand die marmornen Arbeitsplatten in Kombination mit hell lackiertem Holz als harmonisch und spießig zugleich. Mit flinken Fingern hatte Larissas Mutter den schwarzen Wasserkocher befüllt und eine verchromte Teekanne aus dem Schrank genommen. Alle Arbeitsschritte zum fertigen Tee liefen dabei völlig automatisch ab und zeugten davon, dass sie das heiße Getränk vielleicht schon tausende Male zubereitet hatte.
Plötzlich drehte sich sich zu Masbaum um und fast im Flüsterton sagte sie: „Wie sie gemerkt haben, wundert es mich nicht, was mit Larissa passiert ist. Den guten Draht zu ihr habe ich schon vor vielen Jahren verloren. Mit der Pubertät wurde sie unglaublich rebellisch. Sie musste sich aus Prinzip von allem abgrenzen, was wir als sinnvoll empfanden. Dabei ist...“ Hier stockte sie kurz, denn die Information, dass ihre Tochter verstorben war, sickerte endlich in ihr Bewusstsein. Nun stützte sie sich krampfhaft an der Arbeitsplatte fest und ihre Augen wurden feucht: „... war sie ein schlaues Mädchen. Sie hätte so viel aus sich machen können. Doch stattdessen ließ sie die Schule schleifen, vergnügte sich lieber mit falschen Freunden und mit dem Thema Jungen fange ich besser gar nicht erst an.“ Anette machte eine künstlerische Pause, um diese These im Raum stehen zu lassen. Der Wasserkocher klickte. Sie nahm den Behälter und goss die blubbernde Flüssigkeit über die getrockneten Blätter. Sofort änderte sich die Farbe in ein schimmerndes Goldbraun. Aus einem Schrank weiter links nahm sie noch zwei Tassen und aus der Schublade zwei Löffel heraus. Sie forderte Masbaum stumm auf, das Geschirr und Besteck mitzunehmen, während sie Kluntje und Sahne in die Hand nahm. Damit liefen sie gemeinsam zurück ins Wohnzimmer, in dem sich Reinhardt offensichtlich intensiv umgesehen hatte. Er stand am Fenster und starrte gedankenverloren hinaus auf den Fischteich, als wolle er von hier aus die darin schwimmenden Lebewesen einzeln zählen. Ertappt drehte er sich unbeholfen herum und setzte sich wieder, als er die Tassen und die Kanne wahrnahm.
Als alle wieder saßen und der Tee eingeschenkt war, redete Frau Weinberg einfach weiter, ohne Lutz das vorher Besprochene wiederzugeben, doch Tomas registrierte aus dem Augenwinkel, dass sich Reinhardt keineswegs daran störte: „Mit Engelszungen haben wir auf sie eingeredet, nicht nach der zehnten Klasse von der Schule zu gehen, sondern, wie ihre Schwester Inka, weiter bis zum Abitur durchzuhalten. Die Energie hätten wir uns sparen können. Sie hatte sich längst die Flause in den Kopf gesetzt, Haardesignerin zu werden und später in den großen Städten den Stars und Sternchen die Frisuren zu richten.“ Anette verdrehte ihre grünen Augen und unterstrich damit ihren Unwillen, die Eigenständigkeit ihrer Tochter zu respektieren. Wie um ihre spießige Meinung noch zu bestärken sagte Reinhardt auf einmal: „Das hat sie ja anscheinend nicht geschafft.“
Der Weinberg entfuhr ein spontaner Seufzer, danach erzählte sie weiter: „Nein, natürlich nicht. Dafür fehlte ihr einerseits die Beharrlichkeit, andererseits fehlten ihr hier in Ostfriesland die Möglichkeiten. Sie hat nach ihrer fertigen Ausbildung innerhalb kürzester Zeit drei Mal den Arbeitgeber gewechselt, doch keiner der hiesigen Frisörmeister hatte die finanziellen Mittel, ihr die teuren Fortbildungen zu bezahlen. Im „Salon Ina“ auf der Osterstraße ist sie dann hängengeblieben. Dort war sie beliebt und viele Kundinnen kamen nur ihretwegen dorthin.“ Anette schaute zum Fenster und sah ein paar Dohlen, die sich im Garten herumtrieben. Sie schien über etwas nachzudenken, doch ließ sie sich selbst kaum Zeit dafür, denn nun fügte sie hinzu: „Wenn sie Luca hätte halten können, wäre es vielleicht nicht soweit gekommen. Doch sie hat so viel von ihm gefordert – kein Wunder, dass er sich eine Andere gesucht hat.“ Damit bestätigte sie Tomas' These, dass Larissa die Ex von seinem Fitnesstrainer war. Aber wenn sie hier weiterhin den Monologen von Frau Weinberg zuhören würden, hätten sie am Abend viel von Larissa erfahren, ohne auch nur eine weitere Spur zu bekommen, die ihnen weiterhelfen würde. Masbaum entschied daher, das Ganze hier abzukürzen: „Ihnen fällt also niemand konkret ein, der ein Motiv haben könnte?“
Verwundert nahm sie war, dass er kein Interesse daran hatte, ihren Ausschweifungen weiter zuzuhören. Fast schnippisch erwiderte sie darauf: „Nein. Tut mir Leid. Aber fragen sie doch ihre beste Freundin, Diana Cordes.
Vielleicht weiß sie ja mehr als ich. Sie wohnt An der Welle 16, sie hat dort eine Obergeschoss-Wohnung im Hause ihres Vaters.“
Die Ermittler bedankten sich bei Frau Weinberg für ihre Gastfreundschaft und sprachen noch einmal ihr Beileid aus. Sowohl Masbaum als auch Reinhardt atmeten erleichtert aus, als sich die Tür hinter ihnen schloss.
Nun konnte die eigentliche Ermittlungsarbeit beginnen. Auf dem Weg zum Auto beschlossen sie, die Arbeit aufzuteilen, um schneller voranzukommen. Lutz würde Masbaum bei der besten Freundin absetzen und dann zurück zum Tatort fahren, um mit den Nachbarn zu sprechen. Während das Fahrzeug wieder ins Rollen kam, stellte er mit der von Frau Weinberg am Ende noch gegebenen Telefonnummer sicher, dass Diana Cordes auch gleich zu Hause sein würde. Diese schien äußerst überrascht, von der Kripo angerufen zu werden, doch zeigte sie sich kooperativ und sagte zu, Masbaum gleich in ihrer Wohnung zu empfangen.
Sein Plan war nicht aufgegangen. Larissas Tod warf ihn um Monate zurück. Er lag auf dem Bett des Hotelzimmers und starrte an die Decke. Für den Preis pro Nacht war diese Residenz ein wahrer Geheimtipp. Keine Risse, keine feuchten Wände – alles war in sehr gutem Zustand. Unzählige Enttäuschungen hatte er bei seinen wechselnden Übernachtungsorten schon erlebt. Hier in dieser kleinen Küstenstadt fühlte er sich recht wohl.
Die letzte Nacht lief anfangs sogar besser, als er sich erhofft hatte. Wer hätte gedacht, dass er seine neue Gefährtin bei einer Orgie finden würde? Er hatte sie sofort als die Frau erkannt, mit der er schon seit langem intensiven Chatkontakt pflegte. Er wollte nur dafür sorgen, dass sie sich ihm freiwillig anschloss. Und wie gewillt sie gewesen war, genau das zu tun!
Alles vorbei. Sein Verstand arbeitete schon seit Stunden daran, zu ergründen, was schief gegangen war. Wenn er nicht sorgfältig seine weitere Vorgehensweise durchplante, würden sie ihn dran kriegen. Der Verdacht würde sofort auf ihn fallen. Und er wusste nicht, ob er sich aus der Nummer mit seinen Geschick herauswinden konnte. Er hatte nicht vor, die nächsten dreißig Jahre im Knast zu verbringen.
Am Sinnvollsten würde es sein, so schnell wie möglich die Stadt zu verlassen und sich in einem anderen Land niederzulassen. Aber Norden gefiel ihm. Das Klima war mäßig, ständig wehte eine leichte bis starke Brise.
Die Menschen wirkten auf ihn fleißig und freundlich. In sexueller Hinsicht konnte er sich auch nicht beschweren.
Larissa war eine wunderschöne Frau gewesen.
Das Potential, dass in ihr gesteckt hatte, leuchtete von innen heraus. Mit ihr an seiner Seite hätten sich viele Türen geöffnet. Vielleicht wäre Alyessa dadurch wieder auf ihn aufmerksam geworden. Eifersucht und Neid waren schon immer ihre größten Schwächen gewesen.
Er schwang sich hoch und warf einen Blick auf sein Notebook. Würde er online eine Alternative für Larissa finden können?
Masbaum schaute auf die Uhr, bevor er ausstieg. Es war kurz vor dreizehn Uhr und sein Magen knurrte. Es gefiel ihm nicht, dass es in seinem Job keine geregelten Pausen gab. Seiner Meinung nach war das einer der Gründe, warum Polizisten selten bis zum Ende ihres Arbeitslebens durchhielten. Die vielen Überstunden konnten nicht ausgeglichen werden und so ergab sich das Burnout-Syndrom als beliebteste Folgekrankheit.
An der Welle 16 befand sich in dem kurzen Stück des l-förmigen Straßenverlaufs. Der Altbau hatte schon bessere Tage gesehen und auch der Vorgarten erwartete mehr Arbeit, als die Besitzer gewillt waren, einzusetzen. Große, unförmige Büsche überdeckten die Erde, in der ein paar gezielt eingesetzte Blümchen wesentlich hübscher ausgesehen hätten. Die Stufen zur Haustür waren mit Fliesen im Schachbrettmuster gefliest und trafen Masbaums Geschmack so gar nicht.
Zwei Messingschilder samt Klingel gaben zwei Namen preis: Anton Cordes und Diana Cordes. Er klingelte bei Diana und ein leises monotones Summen gab die Möglichkeit, die Tür zu öffnen. Eine simple, aber steile Treppe führte ihn hinauf in die Gemächer von Larissas bester Freundin. Er fragte sich, ob sie genauso schön war. Aus seiner Erfahrung heraus nahm er das allerdings nicht an.
Tomas erinnerte sich an die britische Sitcom 'Absolutely fabulous'. Dort gab es in einer Episode die Theorie, dass sich ein Rennpferd immer einen Esel als Partner sucht, um noch besser dazustehen. Könnte etwas mit natürlicher Balance zu tun haben, aber Tomas war sich nicht sicher.
Die achtzehn Stufen in den ersten Stock waren nicht sehr tief, sodass Masbaums schwarze Brogues nicht viel Auftrittsfläche hatten. Mit Bedacht wählte er jeden Schritt und war dankbar, als er oben heil ankam. Die Wohnungstür stand bereits offen und eine honigblonde junge Frau erwartete ihn. Tomas sah seine Theorie bestätigt, denn obwohl Diana nicht unattraktiv war, mit den weiblichen Kurven und dem naturgewellten Haar, fehlte ihr das Charisma von Larissa.
Ihre Ausstrahlung hatte eher die eines Bauerntrampels, der unbedingt in einer Stadt leben wollte. Sie versuchte eindeutig, dass Beste aus sich herauszuholen, aber es gelang ihr nur mäßig. Als sich ihre Blicke das erste Mal trafen, errötete sie sofort.