Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen - Katrin Reimer-Gordinskaya - E-Book

Antisemitismus – Heterogenität – Allianzen E-Book

Katrin Reimer-Gordinskaya

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Beschreibung

Die jüdische Community Berlins ist so heterogen wie die Bevölkerung der Stadt insgesamt. Jüdische Berlinerinnen und Berliner sind Teil des kulturellen Lebens und der demokratischen Zivilgesellschaft. Zugleich sind sie in der Stadt eine Minderheit, in deren Alltag sich Antisemitismus in unterschiedlichsten Formen niederschlägt. In diesem Teil des »Berlin-Monitors« wird untersucht, wo und wie jüdische Berlinerinnen und Berliner in ihrem Alltag Antisemitismus erfahren und welche Umgangsweisen sie individuell und kollektiv finden. Auch die Reaktion aus dem nicht-jüdischen Umfeld kommt zur Sprache: Gelingt es, solidarisch gegen Antisemitismus und verknüpfte Diskriminierung vorzugehen? Nachdem 2019 die erste Repräsentativerhebung des »Berlin-Monitors« veröffentlicht wurde, erscheint hiermit der erste Schwerpunkt des qualitativen Studienteils »Aktivierende Befragung«.

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Katrin Reimer-Gordinskaya • Oliver Decker • Gert Pickel (Hrsg.)

DER BERLIN-MONITOR

Antisemitismus Heterogenität Allianzen

Jüdische Perspektiven auf Herausforderungen der Berliner Zivilgesellschaft

Katrin Reimer-Gordinskaya • Selana Tzschiesche

Der Berlin-Monitor ist ein seit 2019 von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung gefördertes Forschungsprojekt durchgeführt in Kooperation der Universität Leipzig und der Hochschule Magdeburg-Stendal.

www.berlin-monitor.de

© 2021 zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe, zuklampen.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Autor*innen: Katrin Reimer-Gordinskaya, Selana Tzschiesche

(Hochschule Magdeburg-Stendal)

Herausgeber*innen: Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya (Hochschule Magdeburg-Stendal), Prof. Dr. Oliver Decker (Universität Leipzig), Prof. Dr. Gert Pickel (Universität Leipzig)

Unter Mitarbeit von: Julia Schuler, Charlotte Höcker, Henriette Rodemerk, Nabila Essongri, Dorothea Föcking (Universität Leipzig)

Lektorat: Tilman Meckel

Gestaltung und Satz: Uta-Beate Mutz, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-86674-902-3

gefördert durch:

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort und Einleitung

I. Antisemitismus in Berlin: Erfahrungen, Folgen und Umgangsweisen

Einleitung

a) Kontinuitäten von Antisemitismus in Berlin und ihre aktuellen Bedeutungen

b) Begegnungen in der postnationalsozialistischen Gegenwart Berlins

c) Orte und Praktiken der Besonderung einer Minderheit

d) Jüdische Berliner*innen im ‚Israel-Blick‘ der Mehrheitsgesellschaft

e) Aggressionen: Quellen, Qualitäten und Lebensbereiche

f) Bedrohungspotenzial und widerständige Normalität im Alltag

g) Bedeutungen für Betroffene und Reaktionen Dritter in unterschiedlichen Kontexten

h) Einschränkung der Möglichkeitsräume jüdischen Alltagslebens

i) Wahrnehmung, Bewertung und Kommunikation von Antisemitismuserfahrungen

j) Individuelle Umgangsweisen: Ausweichen und Konfrontation zwischen Fremd- und Selbstbestimmung

k) Kollektiv-informelle Umgangsweisen: Zuhörer*innen und mobilisierungs(un)fähige Netzwerke

l) Kollektiv-professionelle Strukturen: Beratung, Monitoring, Empowerment, Advocacy

Zusammenfassung: Antisemitismus in Berlin – Erfahrungen, Folgen, Umgangsweisen

II. Plurale (jüdische) Zugehörigkeiten: Diskriminierung, Inklusion, Heterogenität

Einleitung

a) Plurale Zugehörigkeiten, Einengung und ‚Intersektionalität'

b) Verschiedene und verknüpfte Diskriminierung und plurale Zugehörigkeiten im Alltag

c) Verschiedene/verknüpfte Diskriminierung in der Beratungslandschaft und im Antidiskriminierungsrecht

d) Konvergenzen und Divergenzen: Aktuelle Bedeutungen von Migrationsgeschichten

e) Aufbruch und Ankunft. Kontingentflüchtlinge im hierarchischen Migrationsregime

f) Integrationsregime und Leben in der Zone der Exklusion

g) Bildungswege wider institutionelle Hürden

h) Altersarmut und Wiedergutmachungsinszenierung

i) Immer noch ‚arm, aber sexy‘? Berlin aus jüdisch-migrantischen Perspektiven – 2000 – 2020

j) Feministisch-Jüdisch-Queer: Inklusion, Abwehr – Solidarität?

k) Ostdeutsch-jüdische Erfahrungswelten: Neue Blicke auf Geschichte und ihre Gegenwart

Zusammenfassung: Plurale (jüdische) Zugehörigkeiten – Diskriminierung, Inklusion, Heterogenität

III. Gemeinsam gegen Antisemitismus, für Vielfalt und Demokratie?

Einleitung

a) Von 1989 bis zu den 2000er Jahren – Einwanderung und kultureller Wandel (in) der Stadt

b) Die 1990er: ReKonstruktion, ReVitalisierung und Pluralisierung jüdischer Lebenswelten

c) Hin zum Selbstverständnis einer ‚Migrationsgesellschaft‘ – und auf dem Weg ins Postmigrantische

d) Die 1990er und 2000er Jahre: Awareness für aktuellen Antisemitismus – langer Atem und erste Erfolge

e) Die 2010er Jahre: Perspektivwechsel, neue Institutionen und Akteur*innen und Empowerment

f) Lernprozesse, Resonanz und jüngste Erfolge: Strukturen in Politik und Zivilgesellschaft

g) Sensibilisierung und Bildung wegen und gegen Antisemitismus: Stand und Perspektiven

h) Jüdische Lebenswelten und postmigrantische Kulturen: Eigenständigkeit, Netzwerke und ‚Allianzen'

i) Kooperation, Netzwerke und Solidarisierung gegen Antisemitismus: Stand und Perspektiven

j) Gemeinsam gegen Antisemitismus und / im Rechtsextremismus?

k) Für eine Gesellschaft der Vielen einschließlich Juden*Jüdinnen in Berlin

l) Gespräche über Gräben und Brücken

m) Gemeinsam für eine offene und solidarische Gesellschaft? Bündnispolitiken in Berlin

Zusammenfassung und Ausblick

Aktivierende Befragung: Erläuterung des methodischen Vorgehens als Lese- und Rezeptionshilfe

Literaturverzeichnis

Endnoten

Vorwort und Einleitung

Berlin ist Lebensort einer heterogenen Bevölkerung, die in dieser Stadt Freiräume für diverse Lebensentwürfe schafft und findet. Zugleich spüren viele, dass diese Freiräume zunehmend bedroht sind. Der damit einhergehende Widerspruch wird nicht zuletzt in den jüdischen Communities der Stadt erlebt. Im Berlin-Monitor (vgl. Pickel et al. 2019) versuchen wir mit den uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln auszuloten, wie es um Kräfteverhältnisse zwischen progressiven und regressiven Strömungen in der Stadt bestellt ist, und Wissensgrundlagen für die Weiterentwicklung demokratischer Alltagskulturen zu schaffen.

Im Kontext der Aktivierenden Befragung, einem von drei methodischen Ansätzen (vgl. a. a. O., 70 ff., und 122 ff. in diesem Bericht), werden sukzessive vier Schwerpunkte mit qualitativ-subjektwissenschaftlichen Mitteln untersucht: Antisemitismus, Rassismen, Prekarisierung und Heteronormativität. Der vorliegende Bericht ist dem ersten Schwerpunkt gewidmet. Ausgangs- und Fluchtpunkt ist dabei die demokratische Zivilgesellschaft Berlins. Von ihr gehen wir gedanklich und praktisch-forschend jeweils aus. Ihre Akteur*innen sind die primären Adressat*innen des vorliegenden Berichts.

Vielen dieser Akteur*innen der Berliner Zivilgesellschaft ist die längere Entwicklung des Ringens um demokratische Verhältnisse (nicht nur) in Berlin bekannt. Nach einem kurzen Moment der Hoffnung, den Schwung der DDR-Oppositionsbewegung für die Entwicklung demokratischer Alltagskultur nutzen zu können, griff auch in Berlin der nationalistische Furor der 1990er Jahre um sich. Zugleich boten gegenkulturelle Bewegungen ihm die Stirn und schufen Freiräume für non-konforme Lebensweisen. Aus diesen progressiven Strömungen speiste sich der um die Jahrtausendwende ausgebildete gesamtgesellschaftliche Kompromiss, der das ethno-nationale Paradigma zugunsten der Propagierung von Vielfalt hinter sich zu lassen begann. Die seit den 2000er Jahren aufgelegten Bundes- und Landesprogramme für Demokratie geben dem Umstand Ausdruck, dass auch unter diesen Vorzeichen Menschenrechte verteidigt und Teilhabe und Anerkennung erstritten werden mussten. Und während dies einerseits gelang, erodiert andererseits die gesellschaftliche Basis eines teils instrumentell verkürzten Verständnisses einer Gesellschaft der Vielfalt. Der ‚historische Block’ (Gramsci), der diesen Kompromiss ‚für Vielfalt’ trug, sieht sich seit den 2010er Jahren von einer zunehmend organisierten und vernetzten regressiven Strömung herausgefordert.

Dass wir uns vor diesem Hintergrund zunächst dem Schwerpunkt Antisemitismus widmen, liegt nicht nur daran, dass diesem in Politik und Öffentlichkeit in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Ausschlaggebend ist auch die Überzeugung, dass eine Demokratie in Deutschland nicht bestehen kann, wenn Juden*Jüdinnen in ihr nicht ‚ohne Angst verschieden sein‘ (Adorno) können. Damit wird keiner Hierarchisierung von Leid das Wort geredet, sondern angesprochen, dass der ‚Zivilisationsbruch, verübt an Juden‘ (Diner), die Spannung zwischen Partikularem und Universellem in sich trägt. Gesprächspartner*innen drückten ähnliche Gedanken mit Blick auf die Bedeutung von Menschenrechten in der Gegenwart so aus: Die Garantie der allgemeinen Menschenrechte im Grundgesetz ist ohne Auschwitz nicht zu denken, und das Grundgesetz hat seine Bestimmung, eine Republik zu verfassen, nicht erreicht, solange Antisemitismus virulent ist.

Es ist aus unserer subjektwissenschaftlichen Perspektive begrüßenswert, dass in der Antisemitismusforschung jüngst die Perspektive der Betroffenen ins Blickfeld gerückt wurde und so bettet sich die Aktivierende Befragung in diese (recht junge) Forschungsrichtung ein. Es geht hier also um Antisemitismus als Erfahrung, als etwas, das von Menschen in Berlin erlebt wird bzw. werden muss, sowie um die Frage, welche Folgen dies insbesondere im Hinblick auf die Einschränkung des Rechts auf Gleichheit und Differenz hat. Das Interesse unserer subjektwissenschaftlichen Handlungsforschung gilt zudem der Frage, wie Betroffene auf Antisemitismuserfahrungen reagieren und welche mehr oder weniger defensiven und offensiven Umgangsweisen sie unter bestimmten Umständen entwickeln (können). Diese drei Teilbereiche behandelt das erste Kapitel.

Weil jüdische Zugehörigkeiten plural und die jüdischen Communities in Berlin im bundesweiten Vergleich relativ vielfältig sind, war es uns ein Anliegen, diese Diversität in thematisch relevanten Bereichen zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere der Umstand, dass jüdische Berliner*innen nicht allein Antisemitismus erfahren, sondern verknüpft mit oder unabhängig von diesem auch andere Formen der Diskriminierung. In und aus jüdischen Communities heraus entwickeln zivilgesellschaftliche Akteur*innen auch angesichts dessen Initiativen, die auf Inklusion zielen. Dies vollzieht sich in einer jüdischen und nicht-jüdischen Umgebung, die durch Heterogenität gekennzeichnet ist, woraus insbesondere im Kontext der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft Blindstellen und Ausschlüsse entstehen, aber auch Perspektiven für die Formulierung gemeinsamer Anliegen sichtbar werden. Diese drei Teilbereiche sind Gegenstand des zweiten Kapitels.

Das dritte Kapitel widmet sich vor diesem Hintergrund der Frage, inwieweit es in Berlin gelingt, angesichts der gegebenen Vielfalt Netzwerke, Allianzen und Bündnisse gegen Antisemitismus zu bilden. Dabei geht es auch darum zu rekapitulieren, welche Voraussetzungen in der Berliner Stadtgesellschaft geschaffen werden mussten, um diese Fragen aus jüdischen Perspektiven heraus zu stellen und praktisch aus jüdischen Communities heraus anzugehen.

Der Bericht schließt mit einer Erläuterung der Methodik und einem Ausblick auf den weiteren Verlauf der Aktivierenden Befragung.

Die Studie beruht auf Gesprächen mit 30 Expert*innen, die fachliche und/oder persönliche Einblicke in die genannten Themenbereiche geben können. Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Wir hoffen, dass die erarbeitete Rekonstruktion eine nützliche ergänzende Grundlage für die Weiterentwicklung der Gegenwehr gegen Antisemitismus und des Engagements für eine demokratische Alltagskultur in Berlin sein kann.

Katrin Reimer-Gordinskaya (Haifa/Stendal) und

Selana Tzschiesche (Berlin)

I. Antisemitismus in Berlin: Erfahrungen, Folgen und Umgangsweisen

Einleitung

In Berlin existiert eine im bundesweiten Vergleich relativ große Bandbreite jüdischer Communities, die Teile der Vielfalt dieser Stadt ausmachen. Die jüdischen Berliner*innen1 gestalten in dieser Stadt ihr Alltagsleben und sind insbesondere auch in der demokratischen Zivilgesellschaft aktiv. Über sie war und ist in der nicht-jüdischen Öffentlichkeit und Forschung verschiedentlich die Rede, mit ihnen und aus ihrer Perspektive wurde und wird jedoch seltener gesprochen und geforscht.

Dies gilt auch für jene sozialpsychologische Forschung zu Antisemitismus, die die Entstehung und Entwicklung der Bundes- und Landesprogramme des sogenannten zivilgesellschaftlichen Ansatzes der Demokratieförderung (vgl. Roth 2003; Roth & Benack 2003) seit Anfang der 2000er Jahre begleitet hat. So wird in den Repräsentativerhebungen antisemitischer Einstellungen bzw. Vorurteile (vgl. Decker & Brähler 2018, 192 ff.; Zick et. al. 2019, 82 und 102 ff.2) die Verbreitung von Facetten ‚pathischer Projektionen‘3 in der Gesamtbevölkerung (ab einem bestimmten Alter) ermittelt. Auch der Berlin-Monitor mit seinem Mixed-Method-Design geht teilweise auf diese Weise vor (vgl. Pickel et al. 2019, 55 ff.). Wenngleich dieses Design zusätzlich auch die Erhebung von Diskriminierungserfahrungen umfasst, sind in den Samples dieser Art der Repräsentativerhebungen Juden*Jüdinnen (und andere von Antisemitismus Betroffene) nicht in hinreichender Zahl aufgehoben, so dass deren Erfahrungen nicht abgebildet werden können (vgl. a. a. O., 15). Und während Befunde über (die Verbreitung von) Facetten antisemitischer Projektionen wichtige Grundlagen für die Gestaltung von Handlungsstrategien gegen Antisemitismus liefern, können sie per definitionem nur wenig darüber aussagen, wie sich Antisemitismus in der Lebenswelt und in der Erfahrung von Juden*Jüdinnen darstellt. Diese Perspektive einzubeziehen und in den Mittelpunkt zu stellen, ist für die Aktivierende Befragung im Berlin-Monitor und diesen Bericht leitend.

In diesem Kapitel werden drei Leitfragen, die auch im Titel angedeutet werden, verfolgt:

– Wie stellt sich Antisemitismus in der Erfahrung von Betroffenen lebensweltlich dar?

– Welche lebensweltlichen und persönlichen Folgen hat Antisemitismus?

– Welche individuellen und kollektiven Umgangsweisen mit (Folgen von) Antisemitismus gibt es?

Beantwortet werden diese Leitfragen auf der Grundlage von Expert*innen-Interviews, die theoriegeleitet (ein)geordnet, verknüpft und zu rekonstruktiven Beschreibungen verdichtet werden (zur Methodik und Datenbasis siehe: 126 ff.). Leitend ist dabei der Gedanke, die Bandbreite all dessen in den Blick zu nehmen, was das Recht auf Gleichheit und Differenz von Juden*Jüdinnen in Berlin einschränkt (vgl. Pickel et al. 2019, 55 ff.). In einer auf die Re konstruktion von Antisemitismus aus der Sicht von Betroffenen angelegten Studie ist es nicht zielführend, dieses Phänomen vorab – und womöglich zu eng – zu definieren. Zudem kommen für die Einordnung des von den Gesprächspartner*innen Mitgeteilten neben Theorien des Antisemitismus und der Geschichte und Gegenwart von Judenfeindschaft in ‚Deutschland‘4 auch angelagerte Bereiche wie kulturelles Gedächtnis und Erinnerungspolitiken infrage. Welche historischen und zeitgeschichtlichen Konstellationen, welche Dimensionen und Facetten des Antisemitismus und dessen Nachgeschichte und Gegenwart von den Expert*innen angesprochen wurden, zeigt sich im Zuge der Darstellung. Es wird an Ort und Stelle auf jeweils einschlägige Theorie, Forschung bzw. Debatten verwiesen.

Die Darstellung folgt im Groben den o. g. Forschungsfragen, die indes nicht trennscharf nacheinander abgearbeitet werden. Sie beginnt mit der Thematisierung der Kontinuität von Antisemitismus in Berlin in einem biografisch und dynamisch für Gesprächspartner*innen relevanten Erfahrungszeitraum und geht auf aktuelle Bedeutungen des Lebens in einer postnationalsozialistischen Stadtgesellschaft ein (a, b). Es folgen Schilderungen zu Besonderung, Bedrohung und Aggressionen als Formen von Antisemitismuserfahrungen im Berliner Alltag, wobei die Erfahrung, im ‚Israel-Blick‘ der Mehrheitsgesellschaft zu stehen, eigens behandelt wird (c – f). Anschließend werden persönliche und über-individuelle bzw. lebensweltliche Folgen dieses Alltagsantisemitismus beleuchtet, wobei auch Reaktionen Dritter thematisiert werden (g, h). Abschließend wird auf teils unterschiedliche Wahrnehmungsweisen von Antisemitismus sowie individuelle, kollektiv-informelle und professionell-kollektive Umgangsweisen (i – l) als Formen der Gegenwehr gegen Antisemitismus eingegangen. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung und Reflexion der Ergebnisse.

Hinweis: Die Zitate ohne Quellennachweis stammen aus den Expert*innen-Interviews.

a) Kontinuitäten von Antisemitismus in Berlin und ihre aktuellen Bedeutungen

Im Sinne der Leitfragen und eingedenk der Problematik, dass Antisemitismus im dominanten Diskurs historisiert wird, fragten wir nach Erfahrungen mit aktuellem Antisemitismus in Berlin. Diese Fragen wurden teils mit Verweisen auf dessen Kontinuität(en) in der Stadt beantwortet. Aktuell bedeutsam werden diese Kontinuität(en) für Gesprächspartner*innen u. a. dadurch, dass gegenwärtiger Antisemitismus vor deren Hintergrund erfahren wird. Und während die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus begrüßt wird, problematisieren Gesprächspartner*innen eine Assoziation von Shoa und Judentum bzw. Antisemitismus und Juden*Jüdinnen. Folgend wird geschildert, wie aus jüdischen Perspektiven auf Kontinuitäten des Antisemitismus und postnationalsozialistische Konstellationen in Berlin geblickt wird.

Auf die Bitte um eine Einschätzung des aktuellen Antisemitismus in Berlin antwortet ein*e Gesprächspartner*in5 im Bewusstsein um die unterschiedlichen Geschichten der beiden Stadthälften mit dem Hinweis, dass er nie verschwunden war: „Ja, […], also, ich würde sogar einen Schritt zurückgehen und sagen […], den gab’s immer“, womit „die beiden Nachkriegsdeutschlands“ gemeint sind sowie „nicht nur die bekannten Fälle“, sondern „eben die kleinen Beleidigungen und Angriffe des Alltags“. Während demnach nach der Shoa in Ost- und Westberlin lebende jüdische Generationen auf teils unterschiedliche und teils ähnliche Weisen mit Antisemitismus konfrontiert waren, sind die biografisch-familiären Verbindungen der heute in Berlin lebenden Juden*Jüdinnen zu diesem Kontinuum in der Stadt unterschiedlich (vgl. zur Heterogenität jüdischer Berliner*innen: Kapitel II, d – k und III, b). Unseren Gesprächspartner*innen ist diese Linie jedoch unabhängig davon bewusst, ob sie selbst bzw. ihre Familien schon lange oder erst seit kurzem in der Stadt leben. Kontinuitäten des Antisemitismus und Verbindungslinien zur Shoa wurden in unterschiedlichen Zusammenhängen angesprochen.

Um die Geschichte der Kontinuität, des Bruchs und Fortwirkens zu wissen, bedeutet aus dieser Perspektive allerdings gerade nicht, Juden*Jüdinnen bzw. jüdische Kulturen und Zugehörigkeiten mit der Geschichte des Antisemitismus und der (Nachgeschichte der) Shoa zu identifizieren.6 Im Gegenteil: So macht ein*e andere*r Gesprächspartner*in darauf aufmerksam, dass „das zwanghafte Nebeneinanderstellen von Faschismus und Judentum“ in Teilen der nicht-jüdischen Dominanzgesellschaft 7 als Zumutung erlebt wird. Und gewissermaßen an die Adresse derjenigen gerichtet, die diese Engführung (mehr oder weniger unbewusst) vornehmen, fährt er*sie fort: „Das Judentum hat mit dem Faschismus überhaupt nichts zu tun. Also, das kann ich nur an dieser und jeder anderen Stelle immer nur wieder ganz, ganz deutlich machen. Das ist nicht miteinander verknüpft, sondern nur dadurch verknüpft, dass es diese Verbrechen gegeben hat.“ Ein*e weitere*r Gesprächspartner*in führt einen ähnlichen Gedanken mit Blick auf aktuelle Debatten über Antisemitismus aus. So sei es einerseits wichtig, dass Antisemitismus wahrgenommen wird: „Ich habe das Gefühl, sozusagen, dass es eben dieser- es ist total wichtig, dass es diese gesellschaftspolitische Debatte um Antisemitismus gibt. Guckend auf die Mehrheitsgesellschaft, so.“ Allerdings stelle sich dies in einem bestimmten Sinn für Juden*Jüdinnen anders dar: „Ich habe das Gefühl, dass es für mich und auch für viele Menschen um mich herum ein totales Ärgernis ist, dass diese Debatte funktioniert“, weil „es so schön ins Narrativ der Mehrheitsgesellschaft passt. Aus dem einen Opferstatus Juden und Jüdinnen in den nächsten zu packen. Und immer auch verbunden mit der Frage: ‚Stelln die sich nicht doch an?‘ Ja, und so, oder ‚Das wird aufgebauscht‘, oder wie auch immer. Das find ich ein Problem.“

Jenseits solcher von außen erfolgenden Zuschreibungen spricht aus den Worten der Gesprächspartner*innen eine Sensibilität für Kontinuität, Zäsur und Wandel der Judenfeindschaft in dieser Stadt, in der im 19. Jahrhundert der im Nachhinein so genannte Antisemitismusstreit tobte (vgl. Zimmermann & Berg 2011), die im 20. Jahrhundert Ausgangspunkt der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden*Jüdinnen war (vgl. Hilberg 1961) und in deren Stadthälften Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Bergmann & Erb 1991; Haury 2002) ebenso wie in der Berliner Republik präsent blieb und bleibt (vgl. Reensmann 2004, 334 ff.; Salzborn 2019).

Dabei deutet sich schon an, dass die Gesprächspartner*innen auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Begriffen (Antisemitismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Holocaust, Shoa) referieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist darin in unserem Zusammenhang jedoch die Katastrophe der Ermordung der europäischen Juden*Jüdinnen. Dieser „Zivilisationsbruch, verübt an Juden“ (Diner 2007, 14), hat auch aktuell für Juden*Jüdinnen in Berlin andere Bedeutungen als für nicht-jüdische Berliner*innen. Während insbesondere Nachfahren der Täter*innen sich aus der Sicht von Gesprächspartner*innen mit diesem Verbrechen und insbesondere mit der konkreten eigenen Familiengeschichte befassen sollten (s. u.), könnten sie nicht dasselbe von den Nachfahren der Opfer verlangen: „Und wir müssen uns von Hause aus, außer dass es uns eben bis ins Tiefste betrifft, aus Verstrickungen in der Familie, in der Geschichte, müssen wir uns als jüdische Menschen damit überhaupt nicht beschäftigen, wenn wir das nicht wollen“, betont ein*e Gesprächspartner*in. Der hier womöglich anklingende Protest gegen den ungewollten Einbezug jüdischer Berliner*innen in die nicht-jüdisch-deutsche Verantwortungsübernahme geht mit dem Verweis darauf einher, sich der familiär tradierten Nachgeschichte der Shoa kaum entziehen zu können. Andere Gesprächspartner*innen der zweiten und dritten Generation formulieren, dass überlebt zu haben für ihre Eltern und Großeltern mit dem Gefühl der „Schuldigkeit, rausgekommen zu sein“, verbunden war. Dieses Trauma hinterlässt in ihrem Leben Spuren (vgl. Rosenthal 1997, 135 ff.; Aarons & Berger 2017). Und während vielfach von Überlebenden berichtet worden ist, dass sie sich angesichts der Shoa von Gott abwandten (vgl. Lassley 2015), berichtet ein*e Gesprächspartner*in umgekehrt von einer Hinwendung zum Judentum als Religion, mit der sie*er aufwuchs: „Für mich persönlich sind meine Eltern religiös geworden, sagen wir, not disconnected from the Holocaust.“

So sehr jüdische Berliner*innen mit dieser Stadt verbunden sind (vgl. Kapitel II, i), gilt vor diesem Hintergrund doch auch, dass das heutige Berlin seine NS-Geschichte in sich trägt und seine Bevölkerung sich zu großen Teilen aus zwei der drei postnationalsozialistischen Gesellschaften (vgl. Lepsius 1993; Hammerstein 2017) speist.8 So resultiert für eine*n schon lange in Berlin lebende*n Gesprächspartner*in aus dem Gesagten, „wie man dieses Land halt auch als verbrannte Erde wahrnehmen kann, als Land, in dem man vielleicht nie mehr wirklich sein kann.“ Und für eine*n in den letzten Jahren nach Berlin gekommene*n Gesprächspartner*in war die Entscheidung für Berlin als Stadt in „Germany“ keine ungebrochene: „I also had mixed feelings about […] living here as a Jew and what does that mean.“

Vielleicht lässt sich als resultierende Anforderung an den öffentlichen Diskurs über Antisemitismus vor diesem Hintergrund festhalten, dass in ihm ein „Spagat“ gelingen sollte bzw. müsste: Nämlich einerseits Antisemitismus als Alltagsphänomen mit einer langen Geschichte wahr- und ernst zu nehmen, ohne dabei Juden*Jüdinnen in eine Opferrolle zu pressen und jüdische Kulturen und Zugehörigkeiten hinter Stereotypen verschwinden zu lassen.9

b) Begegnungen in der postnationalsozialistischen Gegenwart Berlins

Die Begegnung jüdischer und nicht-jüdischer Berliner*innen findet vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten auch in einer Gegenwart statt, die durch unterschiedliche aktuelle Bedeutungen des Nationalsozialismus und der Shoa mitbestimmt ist. Aufseiten der nicht-jüdischen Dominanzgesellschaft ist die Beziehung zu diesem Kontinuum überwiegend mit einer widersprüchlichen Geschichte der (familiären und gesellschaftlichen) Auseinandersetzung mit und Verdrängung von Schuld und Verantwortung verknüpft (vgl. Diner 2007, 7 ff.; Lepsius 1993; Welzer et al. 2002; Zick et. al. & EVZ 2020). Aus der Sicht unserer Gesprächspartner*innen resultieren daraus eine Reihe von Dissonanzen.

So erläutert ein*e Gesprächspartner*in, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa eine bestimmte Tradition der Verfolgung antisemitischer Straftaten entstanden sei, die er*sie als „Verobjektivierung des Antisemitismus-Schutzes“ bezeichnet: Holocaustleugnung und andere antisemitische Aussagen würden hierbei als Beleidigung geahndet, auch ohne dass konkrete Personen mit diesen Aussagen adressiert worden seien. Denn Jüdinnen*Juden, so der*die Gesprächspartner*in sarkastisch, seien „ja nicht da“ gewesen bzw. als Abwesende behandelt worden. So habe die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich vor sich selbst schützen wollen und dazu eine „empfindliche jüdische Ehre“ konstruiert. Umgekehrt wird von Gesprächspartner*innen auch die Begründung gegenwärtigen Engagements gegen Antisemitismus als Ausdruck historischer Verantwortungsübernahme problematisiert, weil dazu weit weniger als die Shoa Grund genug sein sollte: „Und da sag ich immer, entschuldige mal, es hat wenig mit der deutschen Geschichte zu tun, Menschen anständig zu behandeln. (lacht) Es, sagen wir mal, es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.“

Hier deutet sich an, dass das Engagement gegen aktuellen Antisemitismus für nicht-jüdische Deutsche aus der Dominanzgesellschaft die Funktion der ‚Gegenwartsbewältigung‘ im Rahmen des ‚Gedächtnistheaters‘ (Czollek 2018, 19 ff.) haben kann, in dem jüdische Einrichtungen und Personen für eine dem nicht-jüdisch-deutschen Begehren entsprechende Inszenierung von Versöhnung instrumentalisiert werden.

Eine solche Instrumentalisierung wird von Gesprächspartner*innen in ihrem Alltag wahrgenommen. Benannt wird etwa das Gefühl, in eine „Rolle reingedrückt zu werden“, und zwar in die „des sich fügenden Opfers“. Auch werden Gesprächssituationen so wahrgenommen, dass „any narrative [of the Holocaust, Anm. d. Verf.] that challenges the German narrative is unwelcome.“ So hätten nicht-jüdische Deutsche auf die Benennung baltischer Mörder*innen entgegnet, ausschließlich Deutsche (also weder Litauer*innen, noch Est*innen oder Lett*innen) könnten (Mit-)Verantwortung für den Holocaust tragen. Hier verkehrt sich die vielleicht positiv intendierte Verantwortungsübernahme für das von Deutschen der NS-Volksgemeinschaft und ihren Helfershelfer*innen begangene Verbrechen mit Blick auf die historischen Ereignisse in die Ausblendung von Kollaboration. Und in der angesprochenen Interaktion hat dies den Effekt, dass der*die nicht-jüdisch-deutsche Interaktionspartner*in den Nachfahren der Opfer abspricht, historische Umstände zu benennen und zu erforschen, die womöglich auch die eigene Familiengeschichte berühren.

Vor diesem Hintergrund wird auch die kritische Kommentierung der in jüngerer Zeit öffentlich vielfach geäußerten Sorge um „das Wegsterben von Zeitzeug*innen“ durch Gesprächspartner*innen verständlich. Der*die Gesprächspartner*in setzt dem entgegen: „Leute, dann nehmt doch mal ’ne kleine emotional-geistige Blutprobe und guckt euch das mal an, was da so in euch selber drin ist. Und da gibt es genug und es stirbt uns gar nichts weg.“ Aus dieser Perspektive wirke das Vergangene solange als ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ (Bauriedl 1986) nach, wie psychosoziale Folgen über Generationen hinweg nicht „unter die Lupe genommen und wirklich bis ins Feinste ausgelotet“ worden seien.

Insgesamt plädieren Gesprächspartner*innen für mehr Konkretion in der Auseinandersetzung sowohl mit dem System des Nationalsozialismus und der Spezifik und Singularität der Shoa als auch den unterschiedlichen biografisch-familiären Bezügen zu dieser Geschichte. So sei es zwar „ein wichtiger menschlicher Moment“, wenn sich etwa bei Kindern und Jugendlichen über die Lektüre des Tagebuchs von Anne Frank10 ein „Identifikationsmoment“ einstelle, es müsse aber auch eine theoretische Auseinandersetzung geben und gefragt werden: „Naja, aber was ist das denn jetzt eigentlich, was den Holocaust ausmacht in seiner Einzigartigkeit. Worum geht’s da? Geht’s um sechs Millionen Tote? Geht’s um die Art und Weise, wie die […] ermordet worden sind?“ Betroffenheit, etwa auch über Gedenkstättenbesuche, herbeiführen zu wollen, könne laut dieses*r Gesprächspartner*in ohne differenzierte pädagogische Bearbeitung zur Lähmung der weiteren Auseinandersetzung führen: „Die heißt, dass man vielleicht nie wieder über Juden oder Jüdinnen redet und dass man nie wieder antisemitisch sein kann, obwohl man’s ist. Weil man nie verstanden hat, was Antisemitismus auszeichnet.“ Vielmehr sei, so ein*e andere*r Gesprächspartner*in, einerseits die konkrete Betrachtung der eigenen Familiengeschichte, „das genaue Hingucken und auch das schmerzhafte Hingucken“, notwendig: „Die Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten [wird] so lange immer weiter gehen, wie wir diese wirklich giftige Myzel nicht unter die Lupe genommen und wirklich bis ins Allerfeinste ausgelotet haben.“11 Andererseits müsse betrachtet werden, wie Nationalsozialismus und Shoa gesellschaftlich möglich wurden: „[D]ass der Begriff ‚Fabrikation von Leichen‘ nicht von ungefähr kommt, und dass es ’ne bestimmte Auseinandersetzung mit ’ner Gesellschaft fordert. Mit der Bürokratie in ’ner Gesellschaft, auch mit den Führerfiguren, die in einer Gesellschaft gewünscht waren oder sind, who knows. So, aber dass da nicht so: ‚Naja und dann haben sie sechs Millionen Leute vergast und das war scheiße und drum herum gab’s ’ne krasse Diktatur.’ Aber so richtig erklären, kann das immer noch niemand.“

Für eine*n Gesprächspartner*in liegt besonders in der persönlich-biografischen Auseinandersetzung die Hoffnung auf eine Art von „kritischem Frieden, der alle miteinbezieht“, was für ihn*sie bedeuten würde, „die Idee von ‚Wir‘ und ‚Miteinander‘ nicht nur zu konstruieren, sondern wirklich mit Leben zu füllen, die tiefer geht, die einfach tiefer geht und deswegen auch einen Bestand hat, der über das so ’n bisschen Entnazifizierte und ‚Wir-sind-ja-jetzt-alle-ganz-zivilisierte-Bürger-und-Bürgerinnen‘ hinausgeht, denn wie weit es trägt, das sehen wir ja jetzt gerade wieder.“

Die Beobachtungen und Gedanken der Gesprächspartner*innen können als Entgegnungen auf von der Dominanzgesellschaft entwickelte Praktiken der Auseinandersetzung mit Antisemitismus verstanden werden. Sie fordern dazu auf, etablierte Formen der (straf-)rechtlichen Ahndung und pädagogischen Auseinandersetzung sowie des Gedenkens an den Holocaust zu hinterfragen. Dabei geht es einerseits darum, dynamische Funktionen, die bestimmte Praktiken (Rollenzuschreibungen in Erinnerungskulturen, Verdrängung etc.) für Nachfahren der Täter*innen haben können, in den Blick zu nehmen und die damit verbundene Instrumentalisierung von Juden*Jüdinnen aufzugeben. Andererseits bzw. damit einhergehend wäre es wichtig, die biografisch-familiäre Nachgeschichte aufseiten der Nachfahren von Täter*innen konkret anzunehmen, um „[d]ie Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten“ als „never ending story“ (s. o.) zu unterbrechen. Und schließlich gilt es, die Spezifik und Singularität der Shoa mit ihrer menschheitsgeschichtlichen Bedeutung zu vermitteln.12

c) Orte und Praktiken der Besonderung einer Minderheit

In einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft13 zu leben, gehört zum Alltag der jüdischen Berliner*innen in Bezug auf die Stadt insgesamt wie auf die meisten ihrer Institutionen und Lebenswelten. Jenseits des damit gegebenen Umstands, eine zahlenmäßig kleine Gruppe zu sein, problematisieren die Gesprächspartner*innen in diesem Zusammenhang, als besonders markiert und damit zu ‚Anderen‘ gemacht zu werden. Solche Formen der Besonderung14 werden mit Blick auf öffentliche Reden, Institutionen und Einrichtungen sowie soziale Interaktionen und Settings thematisiert.

So wurde für den öffentlichen Diskurs von einem*r Gesprächspartner*in exemplarisch die Formel von „jüdischen Mitbürgern“ als Form der Verweigerung von Zugehörigkeit und Anerkennung als Gleiche benannt, denn „wenn du ‚Mit-‘ bist, bist du nicht dabei“. Insoweit diese oder ähnliche Formeln im öffentlichen Diskurs verwendet werden, können sie nicht unmittelbar erwidert werden. Ein*e andere*r Gesprächspartner*in teilt die Erfahrung mit, in einer nicht-jüdischen Schule in direkten Interaktionen das Gefühl der Zugehörigkeit und Normalität vermisst zu haben: „[W]as es gab, war so ne Form von Ausnahmeerscheinung-Sein bei mir an der Oberschule, weil ich war nicht auf der jüdischen Oberschule, die es ja in Berlin durchaus auch gegeben hätte, ich habe mich dagegen entschieden“. Während die Besonderung sich hier im Binnenraum einer normalisierten15 Schule vollzieht, wird im Kontext der von ihm*ihr besuchten jüdischen Grundschule von besondernden Blicken aus dem äußeren Umfeld des Schulgebäudes berichtet, „wenn du aus der jüdischen Schule rausgehst und die Leute hingucken.“

Insoweit jüdische Zugehörigkeiten nicht durch religiöse Zeichen oder säkulare Symbole sichtbar sind bzw. gemacht werden, gehören jüdische Berliner*innen vor allem für ihre nicht-jüdische Umwelt teils16 zu den sogenannten invisible minorities. Im letzteren Sinne meint etwa einer* unserer Gesprächspartner*innen: „Ich trage keine Kippa. Ich sehe genauso wie meine Vorfahren mitteleuropäisch aus, mehr oder weniger […]. Man wird mich nicht sofort für einen Juden erkennen. Vielleicht nicht ganz deutsch, aber irgendwie – ich falle nicht auf.“ Zugleich haben jüdische Berliner*innen auch grundsätzlich keinen Anlass, ihrer nicht-jüdischen Umwelt unmittelbar mitzuteilen, jüdisch zu sein: „Also man geht ja auch nicht rum und sagt: ‚Guten Tag, [Name des*der Gesprächspartner*in], Jude*Jüdin.‘“ Dass die eigene (auch) jüdische Zugehörigkeit in diesen Fällen weder wahrgenommen noch mitgeteilt wird, kann zu etwas führen, das ein*e Gesprächspartner*in als „Schrankjude“ bezeichnet: „Das Judentum wird im Schrank gelassen und nicht rausgelassen“, und es bedeutete „eine Überwindung, […] aus dem Schrank rauszukommen.“ So finden sich Juden*Jüdinnen in Situationen wieder, in denen sie auf unangenehme Art und Weise unsichtbar bleiben. Und schließlich wird geschildert, dass es unter diesen Umständen einer Art des ‚Outings‘ bedarf, wenn die eigene jüdische Zugehörigkeit mitgeteilt werden will: „Das heißt, es muss erstmal ein Bekenntnis geben.“

Zu dieser unfreiwilligen Unsichtbarkeit und der Schwierigkeit, sich als (auch) jüdisch zu zeigen, trägt insbesondere bei, dass es im Umgang mit nicht-jüdischen Interaktionspartner*innen keine Selbstverständlichkeit ist, die eigene jüdische Zugehörigkeit, wenn es passend und gewollt wäre, ansprechen zu können. Vielmehr berichten unsere Gesprächspartner*innen von verkrampften, unsicheren und übergriffigen Reaktionen, wobei unterschiedliche Gründe und Motive eine Rolle spielen können: „Im Kontakt mit […] nicht-jüdischen Menschen [ist] es ganz schwierig […], ein gleichberechtigtes Erstgespräch zu führen“, was „etwas mit Geschichte und mit Unsicherheiten und mit […] vielleicht auch transportieren Vorstellungen von Antisemitismus, aber vor allen Dingen mit ‚man weiß nicht, wies geht‘ zu tun hat“. Ursächlich seien demnach nicht immer antisemitische Projektionen, sondern auch der Umstand, dass jüdische Kulturen für viele nicht-jüdische Berliner*innen kein Teil der eigenen Lebenswelt sind und in der Begegnung mit Juden*Jüdinnen angesichts der – hier in ihrer Bedeutung nicht näher erläuterten – ‚Geschichte‘ Unsicherheiten aufseiten der nicht-jüdischen Interaktionspartner*innen entstünden.17

Diese Konstellation ist gravierend, weil es um Bekannte, Kolleg*innen und Mitstreiter*innen geht, Menschen also, die zum engeren privaten, beruflichen und politischen Umfeld gehören. Diese Kontexte ermöglichen es den Betroffenen zwar im Gegensatz zu Äußerungen im öffentlichen Diskurs grundsätzlich, selbst direkt zu reagieren und sich zu solchen Formen der Besonderung zu verhalten, erschweren eine Auseinandersetzung aber offenbar zugleich (vgl. Kapitel I, g). Entsprechend berichtet ein*e Gesprächspartner*in beispielhaft davon, ungewollt als jüdisch markiert zu werden: „,[D]as ist meine jüdische Blablabla.’ Also, tja.“ Diese philosemitische18 Übergriffigkeit wird als belastend erlebt und zugleich fällt es schwer, ihr offensiv zu begegnen: „Wenn es passiert, ist es eigentlich immer mit so nem Rumpelstielzcheneffekt verbunden. Ich möchte sofort im Erdboden versinken und auf der anderen Seite der Erde wieder rauskommen, weil ich es als ganz schrecklich empfinde. Und da es so schwierig zu thematisieren is, schluck ich das meistens runter.“

Ein*e andere*r Gesprächspartner*in berichtet von der Erfahrung, von nicht-jüdischen Kolleg*innen in Reaktion auf einen von Dritten verursachten antisemitischen Vorfall in einer Art höflichen Distanz gehalten zu werden, die auf einer Mischung aus Abwehr und Selbstinszenierung als ‚gute Deutsche‘ beruhe: „Und die zweite Sache war, wie, die [Kolleg*innen] sind sehr nett, aber wie sie reagiert haben, war ein bisschen problematisch, dachte ich, weil – und das ist nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl habe. Die haben Angst vor dem Thema gehabt und dann […] waren sie mehr damit beschäftigt, nett zu mir zu sein und zu zeigen, wie offen sie sind und dass es doch keine Rolle spielt, welche Religion ich habe und blablabla.“ In der hier beschriebenen Alltagserfahrung wird eine direkte, offene Beziehung zur*m Betroffenen als auch jüdischer Person vermieden und sie im Sinne der Befindlichkeit des nicht-jüdischen Umfeldes (Schamgefühle, Unsicherheiten) auf Distanz gehalten.

Der Alltag mit seinen Situationen und Konstellationen der Besonderung, die sowohl aus Folgen des dominanzkulturellen Umgangs mit dem Holocaust resultieren als auch unmittelbar philo- bzw. antisemitisch begründet sein können, wird von jüdischen Berliner*innen aktiv und widerständig gehandhabt (vgl. Kapitel I, j). Und zugleich bringt ein*e Gesprächspartner*in etwas zum Ausdruck, das als Auftrag an die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft und insbesondere an die Dominanzgesellschaft gelesen werden kann: „Ich glaube, ich habe mir sehr oft in meinem Leben gewünscht, dass Judentum in Deutschland nicht so was Besonderes sein muss“.

d) Jüdische Berliner*innen im ‚Israel-Blick‘ der Mehrheitsgesellschaft

Eine spezifische Form der projektiven Besonderung bzw. Antisemitismuserfahrung, die unsere Gesprächspartner*innen im beruflichen oder privaten Umfeld erleben, ist, seitens nicht-jüdischer Interaktionspartner*innen unvermittelt mit dem Staat Israel identifiziert und für dessen Politik verantwortlich gemacht zu werden. Ein*e Gesprächspartner*in schätzt dies als verbreitetes Phänomen ein: „Das ist aber so allgemeiner Mainstream. Und es machen – also ich würde denken, es machen achtzig bis neunzig Prozent aller Deutschen. Und zwar gewohnheitsmäßig.“19

Dabei werden Juden*Jüdinnen in Berlin unter Absehung von ihrer konkreten Persönlichkeit und ihren Zugehörigkeiten auf ein abstraktes ‚Jüdischsein‘ festgelegt, symbolisch aus Berlin/Deutschland ausgeschlossen und mit dem Staat Israel identifiziert, also einer spezifischen, israelbezogenen Projektion ‚des Juden‘ unterworfen.20 Auch von der Komplexität der Geschichte (und Gegenwart) des jüdischen Staates als eines „Gemeinwesens, das nicht in Europa, aber doch von Europa ist“ (Diner 2002, 103), wird abgesehen, um unter Einebnung des Unterschieds zwischen Regierungen und Staat sowie der Konstruktion eines ‚jüdischen‘ Staates21 einer ‚Israelkritik‘22 Ausdruck zu geben. Im Resultat verlangt eine sich auf moralisch sicherem Posten wähnende nicht-jüdische Person von einer jüdischen Person, der Verantwortung für und ggf. Schuld an Unrecht zugeschrieben wird, Rechenschaft abzulegen und sich ggf. gar zu exkulpieren (Täter-Opfer-Umkehr). Diese Dynamik wird von Gesprächspartner*innen als belastend erlebt und beschrieben: „‚Warum macht ihr denn das?‘ Also, als Israeli, ‚Warum stört ihr die Palästinenser?‘ oder so was, aber Sachen, wo ich so-, es macht alles so glatt und so unkompliziert. […] Und wenn man spricht mit dir, als ob du verantwortlich bist für alles, was Israel macht, oder alles, was Juden machen etc., ist es, it’s exhausting.“

Die israelbezogenene projektive Besonderung, die Juden*Jüdinnen in Berlin erleben, kann aufseiten der nicht-jüdischen Akteur*innen neben der Funktion der Täter-Opfer-Umkehr auf spezifischen Ressentiments beruhen, die in solchen Situationen indirekt kommuniziert werden, oder solche Ressentiments können direkt in die Kommunikation einfließen. Während solche Erfahrungen mit der Umwegkommunikation bzw. explizit antisemitischen Adressierungen im Zusammenhang mit dem ‚Israel-Blick‘ von unseren Gesprächspartner*innen nicht mitgeteilt wurden, wurde von einer*m Gesprächspartner*in von einer israelbezogenen Aggression auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 9. November berichtet: Hier wurde ihr*ihm von (vermutlich nicht-jüdischen) Teilnehmer*innen gesagt, die „Scheißfahne“ – gemeint war die Fahne des israelischen Staates – herunterzunehmen. Ein*e andere*r Gesprächspartner*in brachte Angst vor Anschlägen, die aus (auch israelbezogenem) Antisemitismus resultieren können, zur Sprache: „ob sie von Nazis kommen oder ob sie doch vom islamistischen Terror kommen. Oder ob sie von Palästinenser*innen kommen. Oder ob sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Wahn der Befreiung Palästinas kommen“, könne man dabei nicht wissen. „Aber, was du genau weißt – es geht überhaupt nicht um dich. Sondern es geht um ein Bild von ‚dem Juden‘“.

Alldem zum Trotz wägen Gesprächspartner*innen teils ab, ob es in bestimmten Situationen potenziell tatsächlich um ein Gespräch über „Israel“ gehen könnte. Wo sie dies für möglich erachten und sich darauf einlassen, scheitere dies aber häufig einerseits an einer „große[n] Unkenntnis von sozusagen ’ner israelisch-palästinensischen Lebensrealität“ und andererseits daran, dass „das […] irgendwie dominiert [ist] von was Weirdem 23“, was „super wenig mit israelischer Lebensrealität zu tun [hat], so. Weder auf palästinensischer noch auf israelisch-jüdischer Seite.“ Diskussionen, die der Komplexität des Gegenstandes gerecht würden, könnten nur mit wenigen geführt werden.24

Zudem, so bringen Gesprächspartner*innen zum Ausdruck, hat Israel für sie als Teil der jüdischen Minderheit in dieser Stadt nicht nur eine andere Bedeutung als für die nicht-jüdische Mehrheit. Es mangele auf deren Seite auch an dem Verständnis dafür, „was Israel für ein Zufluchtsort war“25 und für viele Jüdinnen*Juden in Deutschland/ Berlin aus den in diesem Kapitel beschriebenen Gründen potenziell auch weiterhin ist. Zugleich ist dieses Bild für Gesprächspartner*innen damit verbunden, dass es weltweit „keinen sicheren Ort für Juden“ gebe und dies in gewisser, wenn auch anderer Weise auch für Israel gelte, denn „in Israel gibt es Krieg öfters mal“.26

Die unter diesen Voraussetzungen aufgedrängten und/oder geführten Debatten um, wie Gesprächspartner*innen es formulieren, die Topoi „Israel“ und „Nahostkonflikt“ führen bei einem*r Gesprächspartner*in zu der Aussage, „irgendwie einfach zu wund an der Stelle zu sein“. Und auch die kulturelle und politische Vernetzung mit der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft wird behindert, „weil es so ’ne sehr starke Polarisierung zum Thema Israel gibt, und […] du dich so deutlich distanzieren müsstest, um überhaupt gehört zu werden, dass wir das nicht tun. […] Is’ nicht unser Thema. Israel ist nicht unser Thema.“ (Vgl. dazu Kapitel II, j und III, m)

Mit Blick auf die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft, ob als Einzelne in sozialen Interaktionen oder in der kulturellen und politischen Arbeit, lässt sich aus dem Gesagten als Forderung mitnehmen, dass die dynamische Fixierung auf Israel zu reflektieren und die für Juden*Jüdinnen belastenden und sie gefährdenden Implikationen (projektive Besonderung, Umwegkommunikation, Aggression [s. u.] sowie Bedrohungspotenziale) zu unterbrechen sind. Insoweit dies gelänge und die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft sich der Komplexität der israelisch-palästinensischen Konstellation zu nähern bereit wäre, könnten auch Dialoge über diese möglich werden.

e) Aggressionen: Quellen, Qualitäten und Lebensbereiche

Antisemitische Aggressionen richten sich gegen Menschen, die von ihren Urheber*innen als jüdisch wahrgenommen werden, so dass auch nicht-jüdische Personen betroffen sein können. In diesem Abschnitt werden – bis auf eine Ausnahme und ein Beispiel – Erfahrungen jüdischer Betroffener sowie von Akteur*innen, die über ihre professionelle (oder ehrenamtliche) Funktion Kenntnis einer Vielzahl von Vorfällen haben, wiedergegeben.

Erlebt werden antisemitische Aggressionen in unterschiedlichen Qualitäten von (non-) verbalen Äußerungen bis hin zu tätlichen Angriffen. Solche Vorfälle ereignen sich in der Öffentlichkeit, im beruflichen und privaten Umfeld sowie in Institutionen und Einrichtungen der Stadt, also in unterschiedlichen Lebensbereichen