Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieses Buch will ein Hilfsmittel für die historische Antisemitismusforschung sein und richtet sich an Studenten, Historiker und interessierte Laien, die sich in das Sachgebiet einarbeiten wollen. Zu diesem Zweck sind in ihm Rezensionen, ein Forschungsüberblick und eine Bibliographie zum Antisemitismus in Deutschland zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg zusammengestellt worden. Der erste Teil bietet Rezensionen wichtiger Monographien, die zwischen 2007 und 2011 erschienen sind. Ausgewählt wurden Arbeiten, die auf zentrale Forschungskontroversen verweisen, bisher weniger beachtete Teilbereiche oder Quellen erschließen, neue Interpretationsangebote offerieren oder in methodischer Hinsicht neue Wege gehen. Im zweiten Teil folgt ein Forschungsüberblick, der in möglichst konziser Form Ergebnisse, Hypothesen und Desiderate der neueren historischen Antisemitismusforschung vorstellt. Dabei soll auch ein Blick auf die Theorieangebote der Nachbarwissenschaften und den historiographiegeschichtlichen Wandel geworfen werden. Unterstützt wird die Darstellung durch ein sozial- und politikgeschichtliches Tabellenwerk. Den Abschluss bildet eine Bibliographie mit über 700 Titeln zum Antisemitismus in Deutschland während des 19. Jahrhunderts.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 538
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Einleitung
Rezensionen
Antisemitismusforschung zwischen Innovation und Stagnation
Anmerkungen zu Christoph Nonn, Antisemitismus, Darmstadt 2008.
Antisemitismus in Zentraleuropa
Anmerkungen zu Anmerkungen zu: Werner Bergmann/ Ulrich Wyrwa, Antisemitismus in Zentraleuropa, Darmstadt 2011.
Sozialneid als Universalerklärung?
Anmerkungen zu Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt a.M. 2011.
Antisemitismus in Stuttgart
Anmerkungen zu Martin Ulmer, Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Berlin 2011.
Friedrich Nietzsche und der Antisemitismus
Anmerkungen zu Thomas Mittmann, Vom "Günstling" zum "Urfeind" der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Würzburg 2006.
Paul de Lagarde – Ein früher "Vordenker des Nationalsozialismus"?
Anmerkungen zu: Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.
Anti- Antisemitismus auf dem Prüfstand
Neue Studien über das Verhältnis von Sozialismus und Liberalismus zu Antisemitismus und Judentum
Anmerkungen zu: Lars Fischer, The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, Cambridge 2007 und Auguste Zeiß- Horbach, Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Leipzig 2008.
Antisemitismus vor Gericht
Anmerkungen zu Christoph Jahr, Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879–1960), Frankfurt a.M. 2011.
Forschungsüberblick
I. Theorieangebote
I.1. Marxismus
I.2. Gruppensoziologie
I.3. Psychoanalyse
I.4. Sozialwissenschaftliche Vorurteilsforschung
II. Auf dem Weg zum modernen Antisemitismus
II.1. Antisemitismusbegriff
II.2. Vom Antijudaismus zum Antisemitismus
II.3. Umstrittene Emanzipation
III. Paradigmen und "Denkstile" in der Historiographie
III.1. Politik- und Ideengeschichte
III.2. Krisentheorie der Moderne
III.3. "Neue Kulturgeschichte" und Pluralisierung der Forschung
IV. Drei Säulen antisemitischer Ideologie im Kaiserreich
IV.1. Sozioökonomische Judenfeindschaft und asymmetrische Modernisierung
IV.2. Antisemitismus und Konfession, religiöse Vorurteile und Feindbilder
IV.3. Nationalistischer und völkisch- rassistischer Antisemitismus zwischen Weltanschauung und Wissenschaft
V. Erscheinungsformen des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich
V.1. Politischer Antisemitismus
V.2. Gesellschaftlicher Antisemitismus
V.3. Politische Gewalt
V.4. Integration oder Ausgrenzung? Reaktionen auf den Antisemitismus in Staat und Gesellschaft
V.5. "Kultureller Code" oder "soziale Norm"?
V.6. Ablenkungsstrategie "von oben" oder Mobilisierung "von unten"?
V.7. Antisemitismus im Ersten Weltkrieg
VI. Perspektiven des internationalen Vergleichs
Großbritannien – Frankreich – Österreich- Ungarn – Russland
Tabellen
Bibliographie
Person- und Ortsregister
Dieses Buch will ein Hilfsmittel für die historische Antisemitismusforschung sein und richtet sich an Studenten, Historiker und interessierte Laien, die sich in das Sachgebiet einarbeiten wollen. Zu diesem Zweck sind in ihm Rezensionen, ein Forschungsüberblick und eine Bibliographie zum Antisemitismus in Deutschland zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg zusammengestellt worden. Der erste Teil bietet Rezensionen wichtiger Monographien, die zwischen 2007 und 2011 erschienen sind. Im zweiten Teil folgt ein Forschungsüberblick, der in möglichst konziser Form Ergebnisse, Hypothesen und Desiderate der neueren historischen Antisemitismusforschung vorstellt. Dabei soll auch ein Blick auf die Theorieangebote der Nachbarwissenschaften und den historiographiegeschichtlichen Wandel geworfen werden. Unterstützt wird die Darstellung durch ein sozial- und politikgeschichtliches Tabellenwerk. Den Abschluss bildet eine Bibliographie mit über 700 Titeln zum Antisemitismus in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit des Deutschen Kaiserreichs liegt.
Für die dritte Auflage wurde der Rezensionsteil überarbeitet. Dabei wurde dem Aufschwung der historischen Komparistik in der Antisemitismusforschung Rechnung getragen. Dies gilt zum einen für den internationalen Vergleich, dessen Bemühungen, eine gesamteuropäische Geschichte des Antisemitismus zu schreiben, noch in den Anfängen stecken. Zum anderen für Längsschnittstudien, die die Entwicklung des Antisemitismus über Epochenschwellen der Politikgeschichte hinweg verfolgen. In den Forschungsüberblick wurden die Erkenntnisse neuerer Studien eingearbeitet, und die Bibliographie wurde aktualisiert.
Bad Salzuflen, Mai 2016
Der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn hat einen modernen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus verfasst. Die Strukturierung um wissenschaftliche Kontroversen und die starke Berücksichtigung des internationalen Vergleichs machen das Buch zu einem innovativen Werkzeug für Studenten und Forscher gleichermaßen.
Nonns Buch ist keine gewöhnliche Geschichte des Antisemitismus. Es stehen nicht die historischen Fakten selbst in Vordergrund, sondern ihre Interpretation im wissenschaftlichen Diskurs. Der Ansatz auf der Metaebene ist bislang selten versucht worden, u.a. weil er hohe Ansprüche an eine breite Quellen- und Literaturkenntnis stellt. Diesen Ansprüchen ist Nonn in jedem Fall gerecht geworden. Wenn in den folgenden sieben Anmerkungen auf mehr Schwächen als Stärken hingewiesen wird, so sind es Schwächen auf hohem Niveau.
1. Das Kapitel zu den "Ursachen des Antisemitismus" bietet keinen verlässlichen Überblick, weil es sich zu selektiv dem Theoriearsenal der Nachbarwissenschaften Psychologie und Soziologie zuwendet. Zunächst werden psychologische Ansätze unzulässig auf Adornos These von der "autoritären Persönlichkeit" verkürzt. Als zweites befasst sich Nonn mit "Religion als Ursprung", worunter er leider nur die altbackene These vom "ewigen Judenhass" aus vormoderner christlicher Wurzel versteht. Die neueren Forschungen zum Verhältnis von Antisemitismus und Konfession nimmt er dagegen kaum wahr. "Soziale und wirtschaftliche Kontexte", womit faktisch marxistische Ansätze und die Rosenbergsche Krisentheorie gemeint sind, schreibt der Autor dagegen groß. Es ist zu begrüßen, dass Nonn der notorischen Ausblendung sozioökonomischer Erklärungsmodelle durch die "neue Kulturgeschichte" nicht unkritisch das Wort redet. Dennoch wäre es erfreulich gewesen, auch etwas mehr über den theoretischen Background der neueren, in der Regel kulturwissenschaftlich inspirierten Forschung zu erfahren. Hier hätten sozialwissenschaftliche Vorurteilsforschung, Ethnologie und Gruppensoziologie als Theorielieferanten zumindest angesprochen werden müssen. Das hätte auch für ein besseres Verständnis dessen sorgen können, was Nonn als "integrierende Interpretationen" bezeichnet.
2. Wer die einschlägige Forschungsliteratur kennt, dem fällt auf, dass sich Nonn in einigen Fällen zu unkritisch an anderen Gesamtdarstellungen und Sammelrezensionen orientiert. So geht er beispielsweise Albert Lichtblau auf den Leim, der Eva Reichmann als Begründerin der Realkonfliktthese vorstellt. Dabei hat Reichmann in ihrem Buch zwischen einer "echten" und einer "unechten Judenfrage" unterschieden. Damit nimmt sie eine Mittelposition zwischen Realkonfliktthese (Hannah Arendt) und Ersatzkonfliktthese (Jean-Paul Sartre) ein.
1
Die Studie von Klaus Holz zum Verhältnis von Nationalismus und Antisemitismus hält Nonn für "breit belegt".
2
Dabei stützt sich Holz auf eine semantische Mikroanalyse von gerade einmal sechs Quellen aus zwei Jahrhunderten und unterlässt zudem noch eine Rezeptionsforschung, die begründen könnte, warum ausgerechnet diese Quellen paradigmatisch sein sollen.
3
3. Ein wichtiges Ergebnis der neueren Antisemitismusforschung ist, dass auch im "Zeitalter der Säkularisierung" positive wie negative Judenbilder in starkem Maße von konfessionellen Milieus geprägt wurden. Davon ist in Nonns Arbeit leider wenig zu finden. Die Kontroverse um den katholischen Antisemitismus stellt er immerhin noch entlang der Extrempositionen von Uwe Mazura und Olaf Blaschke dar, allerdings nur, um ihre Fruchtlosigkeit zu konstatieren.
4
Nonn bietet dem Leser eine fragwürdige Kompromissformel an, indem er sagt, es habe zwar Antisemitismus im katholischen Milieu, nicht hingegen in der Zentrumspartei gegeben. Nun war das Zentrum aber eine Milieupartei par excellence und – wie Hannes Ludyga jüngst gezeigt hat – im erzkatholischen Bayern die treibende Kraft des Antisemitismus.
5
Um das Ausmaß des Antisemitismus im katholischen Sozialmilieu zu bestimmen, hätte man sich schon an die regional- und sozialgeschichtlichen Details wagen müssen. Die neueren Studien zur protestantischen Seite werden bei Nonn nur zitiert, aber nicht angemessen rezipiert. Dass es im Kaiserreich und in der Weimarer Republik neben dem völkischen auch einen bedeutenden und im 19. Jahrhundert gar vorherrschenden christlich- konservativen Strang des modernen Antisemitismus gegeben hat, bleibt unterbelichtet. Religiös motivierte Judenfeindlichkeit weiß Nonn offenbar nur dem vormodernen Antijudaismus zuzuordnen, dessen mentalitätsgeschichtliches Hineinwirken in den modernen Antisemitismus er immerhin in einem Kapitel eingehend diskutiert.
4. Nonn zieht gegen die These zu Felde, der deutsche Antisemitismus sei nach dem Scheitern der Antisemitenparteien in wirtschaftliche und nationalistische Interessenverbände ausgewandert. Der Autor behauptet, der Vereins- und Verbandsantisemitismus sei nach dem Motto "wer suchet, der findet" auf der Basis unrepräsentativer Einzelquellen überschätzt worden.
6
Nonn selbst verfährt lieber nach dem Motto, "wer nicht sucht, findet auch nichts" und ignoriert wichtige Studien zu BdL und DHV, erwähnt den Alldeutschen Verband nur am Rande und verliert über das völkische Vereins- und Publikationswesen kein Wort. Lediglich die Studentenverbindungen finden angemessene Berücksichtigung. Es trifft zwar zu, dass die meisten Verbände nicht ausschließlich und nicht einmal vorrangig antisemitisch waren, aber sie verknüpften Antisemitismus mit anderen Anliegen wie Nationalismus, Mittelstandspolitik, Antiliberalismus, Antisozialismus und Antifeminismus. Das war kein Zeichen der Schwäche (wie Nonn meint), sondern eine Erfolgsgarantie. Die Amalgamierbarkeit des modernen Antisemitismus mit anderen rechten Ideologien ließ ihn im "nationalen Lager" zu einem "kulturellen Code" (Shulamit Volkov) werden, zum Signum einer nationalistischen, antimodernen Gegenkultur. Beachtenswert ist allerdings Nonns Hinweis, dass sich die Verbreitung antisemitischer Einstellungen im Alltag nicht ausschließlich über eine um Parteien und Verbände gestrickte Organisationsgeschichte erfassen lässt. Regional- und mikrohistorische Studien, wie sie Utz Jeggle, Ulrich Baumann, Helmut Walser Smith und Christoph Nonn selbst vorgelegt haben, sind da schon aufschlussreicher. Dasselbe gilt für die Zusammenführung von Antisemitismusforschung und deutsch- jüdischer Geschichte (so bei Till van Rahden und Uffa Jensen).
7
5. In Nonns Darstellung des "Antisemitismus in Deutschland vor 1933" (so die Kapitelüberschrift) klafft eine riesige zeitliche Lücke, weil Erster Weltkrieg und Weimarer Republik fast komplett unter den Tisch fallen. Daher kommt auch die entscheidende Radikalisierungsstufe zwischen 1916 und 1923 (Stichworte: "Judenzählung", Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund, Protokolle der Weisen von Zion) kaum in den Blick. Dies ist allerdings nicht dem Autor allein anzukreiden, denn er spiegelt damit nur eine eklatante Forschungslücke wider. Emanzipationszeit und Kaiserreich sind – was den Antisemitismus betrifft – weitaus besser erforscht als die Zeit nach 1914. Für Weimarer Republik und NS- Zeit gilt zudem, dass die Antisemitismusforschung häufig in der Nationalsozialismusforschung aufgeht und moderatere Formen der Judenfeindlichkeit aus den Augen verliert. Letzteres lässt sich auch bei Nonn beobachten. Im Dritten Reich habe der Radikalantisemitismus der Nationalsozialisten von der Indifferenz der Massen profitiert. Warum die meisten Deutschen der NS- Judenpolitik indifferent gegenüberstanden, bleibt allerdings offen, weil Nonn die Entwicklung des Judenbildes in der deutschen Öffentlichkeit jenseits der schrillen NS- Propaganda nicht verfolgt.
6. Ihre Stärken hat Nonns Arbeit gerade dort, wo andere Gesamtdarstellungen Schwächen zeigen. In einem ausführlichen Kapitel zum internationalen Vergleich durchbricht der Autor die nationalgeschichtliche Fragmentierung der Antisemitismusforschung und stellt allzu voreilige Aussagen über einen "deutschen Sonderweg" in Frage. Der moderne Antisemitismus war seit dem 19. Jahrhundert ein europäisches Phänomen, allerdings mit erheblichen nationalen Unterschieden was Ideologie und Intensität betrifft.
8
Frankreich war nicht nur das Pionierland der Judenemanzipation, sondern auch des modernen Antisemitismus. Zunächst war er hier eher mit der Linken verbunden, wechselte aber spätestens mit der Dreyfusaffäre die Seiten und wurde zum Privileg der antirepublikanischen Rechten. In Großbritannien und den USA war Antisemitismus kaum ideologisch und organisatorisch verfestigt. Er grassierte allenfalls in nationalen Krisenzeiten als Ressentiment in allen politischen Lagern. In Italien gab es keine Verknüpfung von Radikalnationalismus und Antisemitismus wie in Deutschland. Der Antisemitismus war selbst unter Mussolini lange Zeit unbedeutend. Seine Verbindung mit ethnischen Konflikten und aufstrebenden Nationalbewegungen machte den Antisemitismus in Osteuropa dagegen besonders radikal und gewaltbereit, was vor allem in Russland durch eine unvollendete Judenemanzipation zusätzlich begünstigt wurde. Enttäuschend ist in diesem Kapitel nur der Abschnitt zum Vielvölkerstaat Österreich- Ungarn, dem Nonn gerade einmal eine halbe Seite widmet.
Im Unterschied zu vergleichbaren Gesamtdarstellungen befasst sich Nonn recht ausführlich mit dem Antisemitismus nach 1945. Er analysiert nicht nur den Inhaltswandel nach dem Holocaust, sondern lotet aus, wie sich die demoskopisch gemessenen Zu- und Abnahmen judenfeindlicher Einstellungen erklären lassen. Von großer zeitgeschichtlicher und aktueller Relevanz ist das Kapitel zum Antisemitismus im Islam, in dem Nonn der Frage nachgeht, ob es sich um einen europäischen Import oder ein Eigengewächs handelt.
7. In einem abschließenden Kapitel zu möglichen Forschungsperspektiven kritisiert Nonn zu Recht die thematische Engführung in der Antisemitismusforschung. Er fordert mehr vergleichende Ansätze, nicht nur was den internationalen Vergleich betrifft, sondern auch Quervergleiche mit anderen ethnischen, konfessionellen und sozialen Konflikten. Nur so lassen sich Ausmaß und Rolle des Antisemitismus in einer Gesellschaft zuverlässig bestimmen. Zweitens hält Nonn eine stärkere Berücksichtigung von Alltagsgeschichte und deutsch- jüdischer Geschichte für nötig, um der Erforschung von Organisationen, Ideologien und Diskursen die Ebene der historischen Akteure wieder an die Seite zu stellen. Im Unterschied zu vielen anderen Historikern ist Nonn nicht entgangen, dass die "neue Kulturgeschichte" in ihrem kulturanthropologischen Stochern nach Motiven und Semantiken die Akteursebene genauso vernachlässigt wie es zuvor die Sozialgeschichte getan hat.
Insgesamt ist Nonns Buch gekennzeichnet durch eine eigentümliche Mischung aus Innovation und Stagnation. Während der Autor in einigen Themenfeldern der Forschungspraxis geradezu vorauseilt, bleibt er in anderen hinter ihr zurück. Es zeigt sich einmal mehr, dass das boomende Genre der griffigen Überblicksdarstellung nicht überschätzt werden sollte, was die zuverlässige Wiedergabe von Forschungsständen betrifft. Das liegt gerade beim Thema Antisemitismus zum einen an der kaum noch beherrschbaren Literaturfülle. Zum andern muss in Rechnung gestellt werden, dass auch als "Studienliteratur"9 ausgewiesene Werke nicht nur "neutral" Forschungsergebnisse referieren, sondern auch versuchen, selbst Thesen und Synthesen zu entwickeln. (Vor allem Studenten in frühen Semestern sind geneigt, dies zu übersehen.) Die Lektüre einer Überblicksdarstellung erspart niemandem, selbst Quellen und Sekundärliteratur zu konsultieren, um sich ein eigenes Bild zu machen.
Die Entstehung des modernen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein gesamteuropäisches Phänomen. Mit dem Ziel einer Europäisierung der Antisemitismusforschung präsentieren Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa nun erstmals den Forschungsstand zur Geschichte des Antisemitismus für Zentraleuropa, d.h. Deutschland, Österreich und die Schweiz, in einem Band. Anders als der Titel vermuten lässt, bieten die Autoren keine transnationale Geschichte eines geographischen oder ethnographischen Raumes, sondern eine vergleichende Darstellung von Nationalgeschichten. Das liegt wohl vor allem an der ungleichgewichtigen Forschungslage über die drei behandelten Länder.
Obwohl es in der Erforschung der Geschichte des deutschen Antisemitismus durchaus noch weiße Flecken gibt, lassen sich mit der Sekundärliteratur zum Thema ganze Bibliotheken füllen. Neben voluminösen Gesamtdarstellungen liegen zahlreiche Detailstudien zu Ideologien, sozialen Trägerschichten, Parteien, Organisationen und zur regionalen Verbreitung vor. Zudem verfügt die Erforschung von Antisemitismus, völkischer Bewegung und Nationalsozialismus in Deutschland über eine universitäre Institutionalisierung, die in anderen Ländern Mitteleuropas so nicht gegeben ist. In Österreich ist es erst seit den 1980er Jahren zu einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte gekommen. Mit beeinflusst von außen durch die Standardwerke von Peter Pulzer, Bruce Pauley und Steven Beller hat die österreichische Forschung mittlerweile etwas aufgeholt.10 Zum Antisemitismus in der Geschichte der Schweiz gibt es überhaupt erst seit wenigen Jahren einen Forschungsstand. Zudem muss noch in Rechnung gestellt werden, dass die für Deutschland und Österreich bedeutende angloamerikanische Forschungstradition in Bezug auf die Schweiz nicht existiert.
Was die Entstehung des modernen Antisemitismus betrifft positionieren sich Bergmann und Wyrwa sehr eindeutig. Sie weisen ältere ideengeschichtliche und neue kultur- und mentalitätsgeschichtliche Thesen zurück, die eine Kontinuität zwischen dem vormodernen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus behaupten. Der Antisemitismus sei keine anthropologische Konstante, sondern an einem konkreten historischen Zeitpunkt, nämlich dem Umbruch zur industriekapitalistischen Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, entstanden. Damit folgen die Autoren der von Hans Rosenberg und Werner Jochmann formulierten Krisentheorie, die sich zurzeit heftigen Angriffen von Seiten der "neuen Kulturgeschichte" ausgesetzt sieht. Dennoch gehen auch Bergmann und Wyrwa nicht davon aus, dass der Antijudaismus für die Entstehung des Antisemitismus völlig bedeutungslos gewesen sei. Er habe ein Vorurteilsreservoir gebildet, aus dem sich die Antisemiten im Sinne einer "Erfindung von Tradition" (Eric Hobsbawm) bedienen konnten. Anders als noch Reinhard Rürup begreifen Bergmann und Wyrwa nicht den Paradigmenwechsel von Religion zu Rasse als ausschlaggebendes Kriterium für die Abgrenzung von Antijudaismus und Antisemitismus. Entscheidend sei vielmehr der Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Judenfeindlichkeit. Während der Antijudaismus eine diskriminierte ethnisch-religiöse Minderheit am Rande der Gesellschaft angriff, richtete sich der moderne Antisemitismus vorwiegend gegen die im Zentrum der bürgerlichen Gesellschaft angekommenen emanzipierten und assimilierten Juden, die man mit abstrakten Modernisierungsprozessen identifizierte.11
Bergmann und Wyrwa behaupten, der Antisemitismusbegriff habe diese Entwicklung auf den Punkt gebracht und sei ein "zugkräftiges politisches Schlagwort"12 gewesen. Dabei stellen die Autoren die Entstehungsgeschichte des Antisemitismusbegriffs nicht nur unvollständig dar, sie überschätzen auch seine Nutzbarkeit als politisches Schlagwort. Bereits im Kaiserreich war "Antisemitismus" eher negativ besetzt, weshalb nach der Jahrhundertwende keine judenfeindliche politische Gruppierung mehr diesen Begriff in ihrem Namen führte. An seine Stelle traten tendenziell positiv konnotierte Begriffe wie "deutsch", "national", "sozial" und "völkisch". Propagandaminister Joseph Goebbels verbot 1935 sogar die Verwendung des Antisemitismusbegriffs in der Presse.
Die wichtigsten sozialen Trägerschichten des Antisemitismus erkennen Bergmann und Wyrwa in jenen gesellschaftlichen Gruppen, die sich von Modernisierungsprozessen bedroht fühlten: Handwerker, Angestellte, Beamte, Studenten und Bauern. Im Bürgertum und den protestantischen Kirchen sei die Haltung zu Judentum und Antisemitismus differenzierter gewesen. Am widersprüchlichsten präsentierte sich das protestantische Bildungsbürgertum, aus dem führende antisemitische Ideologen ebenso entstammten wie die schärfsten Kritiker des Antisemitismus. Was Arbeiter und die katholische Kirche betrifft, geben sich die Autoren leider mit Pauschalurteilen zufrieden.
Die Arbeiter seien gegenüber dem Antisemitismus immun gewesen, während er bei den Katholiken zu einem "zentralen Bestandteil des kirchlichen Bekenntnisses" geworden sei.13 Es ergibt sich unwillkürlich die Frage, welche Haltung die in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht gerade kleine Gruppe der katholischen Arbeiter gegenüber dem Antisemitismus einnahm. Die mittlerweile recht umfangreiche aber immer noch sehr widersprüchliche Forschungslage zu Arbeitern und Katholiken hätte Anlass zu differenzierteren Bewertungen geben können, die in den ereignisgeschichtlichen Passagen dann auch durchschimmern.
In der Agitation gegen die Judenemanzipation zwischen 1780 und 1871 erkennen Bergmann und Wyrwa die unmittelbaren Vorläufer des modernen Antisemitismus. Das Auftreten Adolf Stoeckers, der Antisemitismusstreit um Heinrich von Treitschke und die Antisemitenpetition sorgten dann im Jahr 1879 für den Durchbruch des Antisemitismus als Ideologie und als soziale und politische Bewegung. Von Berlin verlagerte sich das Geschehen in den 1880er Jahren in die Provinz, wo in Hessen und Sachsen regionale Hochburgen entstanden. Die Wahlerfolge der Antisemitenparteien blieben aufgrund interner Differenzen kurzlebig. Dafür diffundierte der Antisemitismus in die Zivilgesellschaft hinein, in Vereine, Verbände, Studentenverbindungen, in die Medien oder in alltägliche Interaktionen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat dieses Phänomen mit dem Begriff des "kulturellen Codes" treffend umschrieben.14 Jedoch trat der Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs in eine Phase der Radikalisierung ein, die auch während der ruhigen Jahre der Weimarer Republik nicht wieder zurück gedreht werden konnte. Die Nationalsozialisten erhoben nach ihrer Machtergreifung den Antisemitismus zur Staatsraison. Bis 1942 überführten sie ihn von der politischen Propaganda zum beispiellosen Genozid über die Phasen Entrechtung, Dissimilation, Deportation, Vernichtung. Bergmann und Wyrwa schildern nicht nur die Ereignisgeschichte des Holocaust, sondern fragen nach der Rolle des Antisemitismus bei seiner Durchführung. Begriffe wie "Erlösungsantisemitismus" (Saul Friedländer) und "eliminatorischer Antisemitismus" (Daniel Goldhagen) treffen eher auf das Regime zu als auf die deutsche Bevölkerungsmehrheit. Sie habe sich eher passiv verhalten. Nach Jeffrey Herf waren es gerade die älteren, moderateren Formen des Antisemitismus, die zur moralischen Indifferenz führten. Auch in der Kontorverse zwischen Intentionalisten und Strukturalisten finden Bergmann und Wyrwa eine Synthese. Viele Maßnahmen in der "Judenfrage" seinen nicht langfristig geplant gewesen, sondern stellten spontane Reaktionen auf Krisensituationen dar. Diese habe das Regime, so Gerhard Botz, durch seine antisemitische Politik aber gezielt herbeigeführt.15 Nach 1945 verschwand der Antisemitismus nicht aus der deutschen Gesellschaft, wandelte aber sein Erscheinungsbild. In der DDR fand er im staatsoffiziellen Antizionismus eine neue Ausdruckform. In der Bundesrepublik transformierte er sich in einen Schuldabwehrantisemitismus im Rahmen von Auseinandersetzungen um Vergangenheitspolitik und Wiedergutmachungsleistungen.
In Österreich habe sich der Antisemitismus überwiegend auf Wien konzentriert. Während der parteipolitische Antisemitismus in Deutschland im Niedergang begriffen war, wurde er in Form der Christlichsozialen Partei des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger in Österreich staatstragend. Zwar hatte dies zunächst keine nennenswerten Folgen für die Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts immerhin 10% der Wiener Bevölkerung ausmachten. Doch radikalisierte sich der Antisemitismus ähnlich wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu einer systemoppositionellen Konsensideologie aller konservativen und rechten Gruppierungen. Mit der Ausschaltung der Arbeiterbewegung durch den Ständestaat 1933/34 gab es keine nennenswerten Gegenkräfte mehr. So waren die Pogrome und "wilden Arisierungen" im Gefolge des Anschlusses an das Dritte Reich 1938 nicht aus Deutschland importiert, sondern das Resultat einer langen antisemitischen Vorgeschichte. Im Falle Österreichs konzentrieren sich Bergmann und Wyrwa zu sehr auf Wien als "europäische Hauptstadt des Antisemitismus" und vernachlässigen die Rolle der Nationalitätenkonflikte in der späten Habsburgermonarchie, über die der Antisemitismus auch in der Provinz Einzug hielt. Georg Ritter von Schönerer und seine Alldeutschen waren zwar nur eine radikale Randerscheinung im politischen Spektrum. Doch auch in den gemäßigten Teilen der deutschnationalen Bewegung, beispielsweise in den Schutzverbänden, war der Antisemitismus weit verbreitet.16
Im Zentrum des Antisemitismus der Schweiz stand vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Fremdenabwehr. Sie richtete sich zunächst gegen die im Kanton Aargau ansässige eigene jüdische Minderheit, der man die rechtliche Gleichstellung lange Zeit per Volksabstimmungen verwehrte. Als die russischen Pogrome, die Auflösung der Habsburgermonarchie und die Verfolgungen des Dritten Reiches jüdische Flüchtlinge ins Land spülten, wurden sie zum Gegenstand von Überfremdungsängsten und von politischen Maßnahmen, jüdische Einwanderung und Naturalisierung zu erschweren. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die "Schächtfrage". Das Schächtverbot ermöglichte, unter dem Deckmantel des Tierschutzes orthodoxe Ostjuden vor einer Zuwanderung in die Schweiz abzuschrecken. Eine Strategie, die zeitweilig auch das Transitland Sachsen verfolgte. Eine organisatorische und weltanschauliche Verdichtung des Antisemitismus wie in Deutschland und Österreich hat es in der Schweiz aber nicht gegeben. Nur wenige politische Gruppierungen, wie die Frontisten in den 1930er Jahren, bekannten sich offensiv zum Antisemitismus. Interessanterweise näherte sich der Schweizer Antisemitismus nach 1945 dem deutschen und österreichischen Schuldabwehrantisemitismus an. Anlass dazu boten Debatten um "namenlose Vermögen" und die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs.
Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa bieten eine ausgewogene Mischung aus ereignis- und strukturgeschichtlichen Fakten auf der einen Seite und historischen und soziologischen Deutungen auf der anderen Seite. Für eine Überblicksdarstellung ist das Buch an manchen Stellen überraschend detailliert. Es bewegt sich auf der Höhe des Forschungsstandes, wobei für die vorgebildeten Leser nur die Abschnitte über die Schweiz echtes Neuland darstellen dürften. Der einzige wirkliche Mangel des Buches ist, dass ein Gesamtfazit über die Entwicklung des modernen Antisemitismus von den Anfängen bis heute im zentraleuropäischen Raum fehlt.
Götz Aly ist einer der umstrittensten zeitgenössischen Historiker. Seine Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust liegen zumeist quer zur vorherrschenden Forschungsmeinung, sind manchmal mit einer provokativen Absicht geschrieben und sind dennoch äußerst einflussreich in Historiker-, Soziologen- und Journalistenkreisen. Bei Aly ist die historische Forschung immer nur der verlängerte Arm der Politik. So färbte zuletzt seine Metamorphose vom Alt-68er zum Neoliberalen auch auf seine Bücher zum Dritten Reich ab.17 Die Lust an der Provokation, an der unorthodoxen politischen Meinung und an gewagten "Großthesen" sichern Aly hohe Auflagen und machen ihn zum "König des Feuilletons", gehen aber leider voll zu Lasten der wissenschaftlichen Solidität.
Aly zählt zu jenen Historikern, die glauben, sich nicht an Forschungsständen orientieren zu müssen, sondern mit jeder Studie das Rad neu erfinden zu können. Auch für sein jüngstes Buch, das sich der Geschichte des Antisemitismus zwischen 1800 und 1933 widmet, verwirft Aly sämtliche Ergebnisse der Antisemitismusforschung in Bausch und Bogen. Begrüßenswert ist die Absicht des Autors, nach sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Faktoren zu fragen, die den Holocaust ermöglichten, anstatt die übliche Politik- und Ideengeschichte von der völkischen Bewegung bis zum Nationalsozialismus wiederzukäuen. Mit der Ausnahme seiner eigenen Familiengeschichte wendet sich Aly dann aber leider keineswegs den "einfachen Leuten" zu, sondern nutzt überwiegend gedruckte Quellen, die zumeist von berühmten Bildungsbürgern oder Politikern stammen. Am Ende entsteht so einmal mehr eine methodisch fragwürdige Mentalitätsgeschichte "von unten" aus Quellen "von oben".
In Aufbau, Stil und der Tendenz zu gewagten "Großthesen" knüpft das Buch eher an die phänomenologischen Studien an, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, als an die aktuelle Antisemitismusforschung. Aly widmet sich der Geschichte des deutschen Antisemitismus unter der Fragestellung, warum die Deutschen im Holocaust zu Tätern und die Juden zu Opfern wurden. Eine echte Forschungsfrage ist das allerdings nicht, denn Aly lüftet bereits in der Einleitung das Geheimnis. Die Juden hätten sich nach ihrer Emanzipation im 19. Jahrhundert einen Modernisierungsvorsprung in Wirtschaft und Gesellschaft erarbeitet. Währenddessen reagierten die Deutschen auf sozioökonomische Modernisierungsprozesse eher träge und ablehnend. Den Erfolg der Juden, die noch wenige Jahrzehnte zuvor eine diskriminierte Minderheit am Rande der Gesellschaft waren, beargwöhnten die Deutschen mit dem Sozialneid der "zu kurz gekommenen". Dieser Sozialneid habe sich dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem immer radikaleren Antisemitismus gesteigert, weil nun auch die Deutschen in soziale Positionen drängten, die vor ihnen die Juden okkupiert hatten. Hier dürfte Norbert Elias‘ Theorie der Etablierten-Außenseiter-Beziehungen als Vorlage gedient haben, nur dass bei Aly die Juden die Etablierten und die Deutschen die Außenseiter sind.18 Die Gegenüberstellung von "Deutschen" (statt Christen oder Nichtjuden) und "Juden" ist im Übrigen kein Lapsus des Rezensenten, sondern entspricht Alys Diktion.
Dass es ein Modernisierungsgefälle zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gab, aus dem Mentalitätsunterschiede resultierten, ist nicht zu bestreiten. Die radikalen Schlussfolgerungen, die Aly daraus zieht, beruhen allerdings auf grotesken Verallgemeinerungen auf der Grundlage einer als Mentalitätsgeschichte getarnten Völkerpsychologie. Weder berücksichtigt der Autor mentalitätsprägende Faktoren, die quer zum Gegensatz "Deutsche" – "Juden" standen (soziale Schicht, Geschlecht, Urbanitätsgrad, religiöse Bindung usw.). Noch kümmern ihn Prozesse wie Akkulturation und Kulturtransfer, die bis 1933 trotz aller antisemitischen Tendenzen die Juden fest in die deutsche Gesellschaft einbanden. Stattdessen stehen "Deutsche" und "Juden" in Alys Buch einander als identitäre Kollektivgruppen gegenüber, denen konträre Mentalitäten unterstellt werden. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populäre Selbst- und Fremdzuschreibungen werden vom Autor einfach beim Wort genommen und normativ umgewertet: Aus dem rassischen Überlegenheitsanspruch der Völkischen wird das Zerrbild des "Deutschen" als kollektivistischem, trägem und spießbürgerlichem Freiheitsfeind gezimmert. Die antisemitische Wahnvorstellung von der "Judenherrschaft" wird in das philosemitische Konstrukt vom Juden als aufstiegsorientierten Erfolgsmenschen übersetzt. Das ist Mentalitätsgeschichte zum Abgewöhnen.
Im Gegensatz zu Einleitung und Schlussbetrachtung argumentieren die einzelnen Kapitel etwas zurückhaltender und gleiten seltener in einen feuilletonistischen Stil ab. Der Autor untersucht die deutsche Geschichte vom Ende des Heiligen Römischen Reiches bis zur NS-Machtergreifung auf Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen des Antisemitismus. In diesem Zusammenhang frischt Aly die These vom "deutschen Sonderweg" auf. Im Unterschied zu Hans-Ulrich Wehler19 macht er aber nicht die Beharrungskraft vormoderner Eliten für den Verfall der politischen Kultur verantwortlich, sondern die modernisierungs- und freiheitsfeindliche Volksmasse. Aus diesem Grund insistiert Aly darauf, den Antisemitismus nicht allein der politischen Rechten anzulasten, sondern einem nebulösen deutschen Volkscharakter zuzuschreiben. Schließlich seien ja auch die vormärzlichen Demokraten Antisemiten gewesen. Diese Behauptung ist nicht ganz falsch, aber quellenkritisch angreifbar. Als Gewährsmänner führt Aly ausgerechnet Fürst von Metternich, Heinrich von Treitschke und Franz Schnabel an, die allesamt aus unterschiedlichen Gründen Gegner der 1848er waren und ein Interesse daran hatten, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Aly knöpft sich auch die SPD vor. Einzelne judenfeindliche Aussagen aus den Reihen der Partei hält er für unbedeutend.20 Ihr Eintreten für soziale Gleichheit, gegen Kapitalismus und Liberalismus habe aber den NS-Volkskollektivismus mentalitätsgeschichtlich vorbereitet. In dieser Logik hat auch die Erfindung der Eisenbahn Auschwitz vorbereitet. Der Zusammenhang zwischen Kapitalismuskritik und Antisemitismus war eine Möglichkeit, aber weder zwingend noch universell. Aly selbst zitiert ausführlich Friedrich Naumann, der sich gleichzeitig für einen starken Sozialstaat und gegen den Antisemitismus aussprach.21 Der Widerspruch zu seinen eigenen Thesen fällt Aly leider nicht auf. Außerdem gerät in der gesamten Darstellung völlig aus dem Blickfeld, dass für die Verbreitung des Antisemitismus neben mentalen Dispositionen in erster Linie die Multiplikatorenfunktion von Eliten verantwortlich zu machen ist.
Trotz aller quellenkritischer Schwächen und manchen befremdlichen Pauschalurteilen ist Aly zuzustimmen, wenn er betont, dass eine sozioökonomisch motivierte Judenfeindlichkeit in Deutschland auch über die Reihen der überzeugten Antisemiten hinaus sehr weit verbreitet war. Daraus lässt sich aber nicht auf eine gesamtgesellschaftliche antisemitische Mentalität schließen. Aly tut dies dennoch, indem er, ähnlich wie Daniel Goldhagen und Lars Fischer, die Unterscheidung zwischen Antisemitismus als Stereotyp und Antisemitismus als Weltanschauung verwischt.22 Gar keine Aufschlüsse bietet die Sozialneidthese über Tätermotivationen im Holocaust. Denn der Holocaust betraf nicht nur die assimilierten und aufstiegsorientierten deutschen Juden, sondern in viel größerem Umfang die pauperisierten Ostjuden. Worum hätte man die "Luftmenschen" Osteuropas beneiden sollen?
Ohne Zweifel, Sozialneid war und ist eine wichtige Ursache für Antisemitismus. Auch hat die Antisemitismusforschung, mit Ausnahme des volkskundlichen Ansatzes in der Nachfolge von Utz Jeggle23, mentalitätsgeschichtliche Aspekte gegenüber der Politik- und Ideengeschichte vernachlässigt. Alys Sozialneidthese ist aber wegen ihres monokausalen Anspruchs und ihrer völkerpsychologischen Fundierung kein Gewinn für die Geschichtsschreibung zum deutschen Antisemitismus. Der Forschungsstand ist mittlerweile zu komplex, als dass man mit monokausalen "Großthesen" etwas erreichen könnte – außer die Steigerung der Auflage und den Widerspruch der Zunft. Es steht zu befürchten, dass Alys Buch als abschreckendes Beispiel genutzt wird, um die berechtigte Frage nach sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ursachen des Antisemitismus als essentialistisch zu diskreditieren. Damit hätte Götz Aly der Antisemitismusforschung einen Bärendienst erwiesen.
Der Mythos vom "liberalen Südwesten" ist bis heute in der Regionalgeschichtsschreibung weit verbreitet. Im Gegensatz zu Preußen habe man in Baden und Württemberg die Tradition der Revolution von 1848/49 nicht über Bord geworfen und sich eine gesunde Skepsis gegenüber dem preußisch–kleindeutschen Obrigkeitsstaat bewahrt. Radikalnationalismus und Antisemitismus seien am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger verbreitet gewesen als in anderen Teilen Deutschlands. Für Baden ist diese These in der jüngeren Forschung bereits relativiert worden, nun hat Martin Ulmer auch für Stuttgart und den württembergischen Raum eine Studie vorgelegt, die den Mythos vom "liberalen Südwesten" erschüttert.24
Die Antisemitenparteien des Kaiserreichs konnten in Württemberg kaum Fuß fassen, allerdings nur, weil der Antisemitismus bereits von anderen Parteien, Vereinen und Verbänden okkupiert war. Die Konservativen und die nationalliberale Deutsche Partei, gelegentlich auch das Zentrum, bedienten in Wahlkämpfen, Parlamentsreden und in ihrer Presse judenfeindliche Vorurteile. Neben dem eher gemäßigten und codierten Antisemitismus der Parteien etablierte sich eine radikale und offene Judenfeindlichkeit in der völkischen Bewegung und in wirtschaftlichen Interessenverbänden. Für beide Tendenzen entwickelte sich Stuttgart, mit seinem kleinbürgerlichen Sozialprofil, zu einer Hochburg. Neben diesem ideologischen Antisemitismus waren eher traditionelle judenfeindliche Denk- und Handlungsmuster in der Alltagskultur verbreitet. Sie blieben allerdings zumeist unter der Verschriftlichungsschwelle, so dass Ulmer nur auf den antisemitischen Massenkrawall von 1873 und die Umbenennung der Stuttgarter Judenstraße durch die christlichen Anwohner 1893 verweisen kann.25 Damit hat er allerdings zwei Ereignisse zu Tage gefördert, die Antisemitismusforschung und Landesgeschichte bislang kaum im Blick hatten.
Ein großes heuristisches Plus von Ulmers Längsschnittstudie ist, dass sie die Entwicklung bis zur NS-Machtergreifung 1933 darstellt und so einen Vergleich zwischen dem Antisemitismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ermöglicht. Mit Ausnahme der Zeit zwischen 1919 und 1924 war Württemberg eine Hochburg konservativer, völkischer und republikfeindlicher Kräfte, die in Form der Bürgerpartei sogar die Landesregierung unter Staatspräsident Wilhelm Bazille stellten.26 Dem Aufstieg der NSDAP in den 1930er Jahren sei durch Enttabuisierung und Radikalisierung des Antisemitismus bereits seit Ende des Ersten Weltkrieges der Boden bereitet worden. Rechtsparteien, Völkische und Nationalsozialisten waren in Stuttgart früh eng miteinander verzahnt und unterschieden sich in Sachen Antisemitismus kaum voneinander. Eine Schlüsselrolle bei der Entstehung dieses Netzwerkes kam dem völkischen Multifunktionär Alfred Roth zu. Dem aus Stuttgart stammenden Roth gelang es, das zersplitterte völkische Lager in Dachverbänden zusammen zu schließen, die zuerst den Deutschnationalen nahe standen und später in der NSDAP aufgingen.27 Gleichzeitig wurde der Antisemitismus zum Allgemeingut der bürgerlichen Parteien, Vereine und Verbände, und selbst die KPD geriet aus opportunistischen Gründen ins antisemitische Fahrwasser. Diese Universalisierung des Antisemitismus blieb nicht folgenlos. Obwohl die Stuttgarter Juden auch im Kaiserreich nur teilintegriert waren, sahen sie sich im Laufe der 1920er Jahre zunehmender Diskriminierung ausgesetzt. Die angeblich liberale politische Kultur Württembergs atmete nicht im Geringsten den Geist der Weimarer Verfassung.
Zur Erklärung der Entstehung und Verbreitung des modernen Antisemitismus in Stuttgart und Württemberg lehnt Martin Ulmer die These Hans Rosenbergs ab, dass es sich um eine unmittelbare Reaktion auf wirtschaftliche Krisensituationen gehandelt habe.28 Der Antisemitismus sei vielmehr durch permanente Präsenz im öffentlichen Diskurs, in codierter und offener Form, zur gesellschaftlichen Normalität geworden. Die Universalisierung des Antisemitismus sei in Stuttgart dadurch begünstigt worden, dass die Distanz zwischen dem etablierten Bürgertum und dem völkischen Radikalismus deutlich geringer gewesen sei als in anderen Städten. Außerdem bringt Ulmer den Faktor Konfession ins Spiel. Er vergleicht das mehrheitlich protestantische Stuttgart mit den katholischen Großstädten Köln und Düsseldorf und kommt zu dem Ergebnis, dass der mit dem Nationalismus eng verbundene Protestantismus Judenfeindlichkeit begünstigt habe.29 Diese These lässt sich allerdings kaum verallgemeinern. Es gibt auf protestantischer wie katholischer Seite etliche Gegenbeispiele. So spielte der Antisemitismus in Frankfurt a.M., Breslau und Königsberg lange Zeit kaum eine Rolle, während das katholische München in den 1920er Jahren zu einer antisemitischen Hochburg wurde.30
An zahlreichen Beispielen widmet sich Ulmer ausführlich den sprachlichen Codierungen des Antisemitismus. In vielen Reden und Texten kommen die Begriffe "jüdisch", "Jude" oder "Judentum" gar nicht vor, und dennoch transportierten sie antisemitisches Gedankengut. Dies funktionierte, weil bestimmte Schlüsselbegriffe so oft in antisemitischen Kontexten verwendet wurden, dass ihnen eine judenfeindliche Konnotation auch ohne expliziten Verweis auf "die Juden" anhaftete. Daher genügt Ulmer allein der Nachweis bestimmter Codewörter wie "Wucher", "Schacher", "Börse" usw., um Antisemitismus zu diagnostizieren. Ob eine Äußerung antisemitisch gemeint war und so verstanden wurde, hängt jedoch von der Positionierung der Sprecher bzw. Schreiber sowie vom Kontext und den Rezipienten ab. Den jeweiligen Intentionen und Rezeptionen geht der Autor leider vielfach nicht auf den Grund. Zwar liegt der weltanschauliche Charakter und propagandistische Gebrauch des Antisemitismus durch die rechte Szene auf der Hand. Doch für sein Überschwappen bis ins liberale Bürgertum und in die Arbeiterbewegung ist alleine die Übernahme bestimmter Begriffe und Diskurse kein hinreichender Beleg. Wahrscheinlicher als die Herausbildung eines antisemitischen Gesellschaftskonsenses ist, dass die judenfeindliche Meinungsführerschaft der Rechten zum Verstummen der Gegenstimmen führte. Ulmer selbst zeigt diese Entwicklung am Beispiel der Barmat- und Sklarek-Skandale auf31, bei denen die Verstrickung jüdischer Unternehmer in Korruptionsaffären von der republikfeindlichen Propaganda ausgeschlachtet wurde.
Martin Ulmers Studie überzeugt in ihren empirischen Ergebnissen, weniger in ihrem methodischen Ansatz. Von der Analyse der politischen Kultur Württembergs abgesehen, bleibt die Ursachenforschung hinter dem Nachweis antisemitischer Tendenzen zurück. Mentalitätsgeschichte und Diskursanalyse neigen zur Tautologie, indem sie Entstehung und Verbreitung von Antisemitismus auf judenfeindliche Mentalitäten und Diskurse zurückführen. Antisemitismus wird aus Antisemitismus erklärt, anstatt aus gesellschaftlichen Verwerfungen, die mit einer "Judenfrage" gar nichts zu tun haben. Hier haben Ideen- und Sozialgeschichte, obwohl sie nicht gerade im postmodernen Trend liegen, mehr zu bieten. Leider pflegt Ulmer ein rein affirmatives Verhältnis zur "neuen Kulturgeschichte" und versäumt es, Erkenntnischancen und -grenzen dieser Disziplin für die Antisemitismusforschung kritisch abzuwägen. Das hätte seine Arbeit nicht schwächer, sondern stärker gemacht.
1932 spottete Kurt Tucholsky über die Vereinnahmung Friedrich Nietzsches (1844–1900) durch die Nationalsozialisten:
"Einige Analphabeten der Nazis, die wohl deshalb unter die Hitlerschen Schriftgelehrten aufgenommen worden sind, weil sie einmal einem politischen Gegner mit dem Telephonbuch auf den Kopf gehauen haben, nehmen Nietzsche heute als den ihren in Anspruch. Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen."32
Um Nietzsches Philosophie tobt bis heute ein Deutungskampf unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Richtungen, der schon zu Lebzeiten des Philosophen begann. Dazu trug die Struktur seines Werkes bei, das in unzusammenhängende Aphorismen zerfasert ist, zu vielen Themen widersprüchliche Aussagen trifft und posthum durch tendenziöse Veröffentlichungen aus dem Nachlass verfälscht wurde. Nietzsches wechselhafte und interpretationsoffene Äußerungen zu den Themen Judentum und Antisemitismus führten dazu, dass einige Interpreten aus ihm einen Vorkämpfer des Antisemitismus machten, während andere ihn für einen Philosemiten hielten.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Nietzsche noch zu den wichtigsten Vordenkern des Nationalsozialismus gezählt, während dies heute auch von erklärten Nietzsche-Gegnern kaum noch behauptet wird. Mit der Entdeckung Nietzsches durch die existenzialistische und postmoderne Philosophie, vor allem in Frankreich, Italien und den USA, eroberte eine „linke“ Nietzsche-Lesart die Diskurshoheit. Nun erkannte man in Nietzsche den Aufdecker subtiler Machtmechanismen, während alle antisemitischen oder anderweitig faschistoiden Passagen seines Werks als metaphorisch gemeint entschärft wurden. Spätestens seit dem Bruch mit Richard Wagner 1876 habe sich Nietzsche eindeutig vom völkischen Antisemitismus distanziert. Belegt wird dies zumeist mit Briefen und persönlichen Aufzeichnungen des Philosophen, in denen er die zeitgenössischen Antisemiten beschimpfte. Fundierte Nietzsche-Rehabilitationen bieten u.a. Steven E. Aschheim, Massimo Ferrari Zumbini und Christian Niemeyer.33 Sie haben sich allerdings damit begnügt, Nietzsches eigenen (von nachträglichen Fälschungen gereinigten) Standpunkt zu Judentum und Antisemitismus zu eruieren und dessen Kompatibilität mit dem modernen Antisemitismus zu untersuchen. Thomas Mittmann setzt eine politik- und sozialgeschichtlich fundierte Rezeptionsforschung dagegen, mit der es ihm gelingt, einige Gewissheiten der heutigen Nietzsche-Forschung ins Wanken zu bringen.
Mittmann setzt sich in seiner Studie von den heute dominierenden linken und postmodernen Nietzsche-Deutungen ab. Die Nutzung von Nietzsches Werk durch Antisemiten, Völkische und Nationalsozialisten habe nicht allein auf tendenziösen Entstellungen und Fälschungen im Umkreis des Weimarer Nietzsche-Archivs beruht. Vielmehr habe der Philosoph selbst mit seinem antichristlichen Antijudaismus und seinen eugenischen Gedankenspielen Steilvorlagen für die weltanschauliche Radikalisierung des Antisemitismus geliefert. Judenfreundliche und anti-antisemitische Aussagen Nietzsches deutet Mittmann nicht als Philosemitismus, sondern als Abwehr gegenüber den Vereinnahmungsversuchen durch die völkischen Antisemiten. Diesen durchaus plausiblen Thesen steht in Mittmanns Studie leider keine adäquate ideen- und philosophiegeschichtliche Analyse gegenüber. Der Autor begnügt sich mit dem Verweis auf hinlänglich bekannte Passagen aus Nietzsches Werken, Briefen und Aufzeichnungen. Die Frage, ob dem Antisemitismus in Nietzsches Philosophie eine tragende Rolle zukommt oder ob er nur zeitgenössische Vorurteile spiegelt, bleibt offen.
Friedrich Nietzsche begann seine lebensphilosophische Karriere als Jünger Richard Wagners. Dessen manischer Antisemitismus fand Eingang in Nietzsches Frühwerk und in sein Umfeld. Nietzsche veröffentlichte beim antisemitischen Verleger Ernst Schmeitzner, und seine Schwester Elisabeth heiratete mit Bernhard Förster einen führenden Radauantisemiten der "Berliner Bewegung". Nach dem Bruch mit Richard Wagner, versuchte Nietzsche, sich von den Antisemiten abzusetzen, denn er fürchtete zu Recht, dass die Zuordnung zur völkischen Literatur einer breiteren Rezeption seines Werks im Weg stand. Beispielsweise trennte sich Nietzsche von Schmeitzner und verspottete den antisemitischen Verleger Theodor Fritsch, der ihn für seine Antisemitische Correspondenz gewinnen wollte. Der Bayreuther Kreis und andere antisemitische Gruppierungen beantworteten dies mit der Denunzierung Nietzsches als "Judengünstling". Die Freundschaft des Philosophen mit Paul Rée und seine Entdeckung durch jüdische Literaturkritiker wie Georg Brandes und Leo Berg schien ihren Verdacht zu bestätigen, dass Nietzsche zu den Juden übergelaufen sei.
Während der Weimarer Republik nahm die Nietzsche-Rezeption eine radikale Wendung. Nun hielt nur noch der Bayreuther Kreis an der Denunziation des Philosophen als "Judengünstling" fest. Andere rechtsextreme und völkische Gruppen betrieben erfolgreich die Nationalisierung und Faschisierung Nietzsches. Diese Trendwende kann im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückgeführt werden: 1. Während Nietzsche im Kaiserreich noch kaum bekannt war, entwickelte er sich in der Weimarer Republik zu jenem Klassiker der deutschen Philosophie, der er bis heute ist. Die radikale Rechte konnte es sich nicht leisten, einen so populären Denker den politischen Gegnern zu überlassen. 2. Elisabeth Förster-Nietzsche gelang es, mit dem Nietzsche-Archiv und der Kontrolle über den Nachlass, die Rezeption in ihrem – d.h. im völkischen – Sinne zu steuern und zu institutionalisieren. 3. Die Antisemiten entdeckten neue Aspekte in Nietzsches Werk, die ihn nunmehr als Vordenker einer modernisierten und radikalisierten Judenfeindlichkeit erscheinen ließen. Nach Mittmann handelte es sich dabei um Nietzsches Religions- und Moralkritik. Das Judentum wurde als Quelle der minderwertigen christlichen Sklavenmoral ausgemacht, woraus die Antisemiten den Schluss zogen, das Christentum "entjuden" oder durch neopagane Religionsformen ersetzen zu müssen. Neben den völkisch-religiösen Sektierern beriefen sich nun auch die Anhänger eines pseudowissenschaftlichen Rassenantisemitismus auf Nietzsche. Seine Forderungen nach einer Ausmerzung der Minderwertigen wurden in eugenischen Programmen biologistisch konkretisiert – bis hin zu eliminatorischen Fantasien zur "Lösung der Judenfrage". Ganz in diesem Sinne wurde Nietzsche auch von den Nationalsozialisten selbst verstanden, wie aus den Schriften Alfred Bäumlers, Alfred Rosenbergs und Heinrich Härtles ersichtlich wird.
Thomas Mittmann hat aufgedeckt, dass namhafte Protagonisten des modernen Antisemitismus, nach anfänglicher Gegnerschaft, Nietzsches Philosophie für sich entdeckten. Dabei beruhte ihre Nietzsche-Rezeption keineswegs allein auf Fälschungen und Entstellungen. In einigen Aspekten von Nietzsches Philosophie fanden sich Anknüpfungspunkte für eine Radikalisierung des Antisemitismus bis hin zur Eliminationsforderung. Ob deshalb auch Nietzsche selbst "ein besonderes Kapitel in der Ideengeschichte des modernen Antisemitismus"34 gebührt, kann auf der Grundlage von Mittmanns Studie aber nicht abschließend entschieden werden. Dafür gibt der Autor der Rekonstruktion von Nietzsches Haltung zu Judentum und Antisemitismus sowie dem jüdischen und anti-antisemitischen Gegendiskurs zu wenig Raum. Sicher ist jedenfalls, dass Nietzsche mit seiner Befürchtung Recht behielt: Die Zäune waren nicht hoch genug, um die "Schweine und Schwärmer" von seiner Philosophie fern zu halten.35
Das Hauptaugenmerk der historischen Antisemitismusforschung ist bislang, vor allem was das 19. Jahrhundert betrifft, vorrangig auf Ideologien und organisatorische Strukturen gerichtet gewesen. Die Frage, wie einzelne Menschen zum Antisemitismus fanden, stößt außerhalb der NS-Täterforschung nach wie vor auf ein geringes wissenschaftliches Interesse. Gelungene biographische Studien wurden bislang nur dem Wagnerianier Houston Stewart Chamberlain, dem Pionier des Rassenantisemitismus Wilhelm Marr und dem Hofprediger Adolf Stoecker gewidmet.36 Zwar hat die ideengeschichtliche Erforschung der Vordenker der völkischen Bewegung große Fortschritte gemacht.37 Doch kommen auch heute noch in allen Ansätzen – von der Ideologiekritik über die politische Sozialgeschichte bis hin zu Diskurs- und Semantikanalysen – rezeptionsgeschichtliche Aspekte zu kurz, so dass die Verbreitung, Wahrnehmung und (mit Blick auf den Nationalsozialismus) die Kontinuität völkischen Gedankenguts nach wie vor schwer einzuschätzen sind. Ulrich Sieg hat mit seiner Arbeit über den Orientalisten und selbsternannten "Propheten Deutschlands" Paul de Lagarde daher gleich mehrere Forschungslücken gefüllt. Lagarde ist nicht nur als Stichwortgeber von Antisemitismus und völkischem Nationalismus in seiner eigenen Epoche von erheblicher Bedeutung. Er war einer der wenigen Antisemiten des 19. Jahrhunderts, zu denen sich die Nationalsozilisten freimütig bekannten und deren politische Schriften Adolf Hitler intensiv studierte.
Paul de Lagarde wurde 1827 als Paul Bötticher in Berlin geboren. Seine erste Lebenshälfte stand unter keinem guten Stern. Nur wenige Tage nach der Geburt starb seine Mutter. Zu seinem Vater, einem strenggläubigen Pietisten, hatte er zeitlebens ein frostiges Verhältnis. Um mit seiner freudlosen Jugend zu brechen, ließ er sich 1854 von seiner Tante adoptieren und nahm deren Namen de Lagarde an. Seine außergewöhnliche Sprachbegabung prädestinierte Paul de Lagarde für eine akademische Karriere, die jedoch in den 1860er Jahren ins Stocken geriet. Nach einem Forschungsaufenthalt in London und Paris erhielt er in Deutschland keine Professur und musste als Gymnasiallehrer arbeiten. Erst 1869 wurde er auf den ersehnten Lehrstuhl für Orientalistik in Göttingen berufen. Dies geschah auf persönliche Intervention des preußischen Königs, der Lagardes konservative Gesinnung schätzte und das Prestigeprojekt der Septuaginta- Edition vorangetrieben wissen wollte. Als Professor erwarb sich Lagarde den Ruf eines international angesehenen Fachgelehrten, der durch außerordentliche Sprachkenntnisse und bienenhaften Fleiß auf sich aufmerksam machte. Allerdings fiel er auch durch verstörende narzisstische Züge in seiner Persönlichkeit auf, die auf sein wissenschaftliches und politisches Schrifttum abfärbten.
Lagarde war Anhänger eines extrem positivistischen Wissenschaftsverständnisses, das nur die Möglichkeit einer objektiven und gültigen Wahrheit zuließ. Hieraus ergab sich die Unfähigkeit, die den Geisteswissenschaften immanente Notwendigkeit eines kontroversen wissenschaftlichen Diskurses zu akzeptieren. Daher interpretierte Lagarde Kritik oder Nichtbeachtung als bewusste persönliche Kränkung, die es robust zu beantworten galt. So fiel der Göttinger Professor im Wissenschaftsbetrieb immer wieder durch wüste Kritikerschelte, gezielte Indiskretionen, bizarre Reformpläne und kühne Selbstheroisierung auf. Besonders wüst polemisierte Lagarde gegen die Vertreter der Wissenschaft des Judentums, die er offenbar als illegitime Konkurrenten auf dem eigenen Fachgebiet betrachtete.38 Wegen seiner Machtfülle als Ordinarius und des Prestigeunternehmens der Septuaginta- Edition konnte er sich sein Querulantentum leisten, ohne nennenswerte Konsequenzen fürchten zu müssen. Dass es ihn menschlich und wissenschaftlich isolierte, störte Lagarde ohnehin nicht, denn die Selbststilisierung zum heroischen Einzelgänger und verfolgten Propheten betrieb er nach allen Regeln der Kunst. Er benötigte diese Aura für die Popularisierung seiner unzeitgemäßen Reformideen. Denn trotz seines Positivismus und seiner Hingabe an die Wissenschaft sah Lagarde den eigentlichen Sinn seines Lebens in der Stiftung eines neuen Glaubens, der zur "Wiederverzauberung" der kalten und rationalistischen Moderne führen sollte. Bezeichnenderweise wurden Lagardes politisch- religiöse Ideen erst beachtet, als sich die deutsche Öffentlichkeit im Kontext von "Gründerkrach" und Kulturkampf verstärkt mit den Kosten von Modernisierungsprozessen auseinanderzusetzen begann. Eine breite Leserschaft fanden die seit 1878 in mehreren Auflagen und Erweiterungen erschienenen Deutschen Schriften. Sie waren ein Sammelsurium zeitkritischer Diagnosen und wirklichkeitsfremder Reformentwürfe, die zum Teil noch aus den 1850er Jahren stammten. Das Bismarck- Reich war Lagarde zu liberal, materialistisch und bürokratischsteril. Ihm fehle eine religiöse Fundierung. Die gemeinsame Orientierung auf ein ideales Ziel, das die Grundlage wahrer Frömmigkeit bilden könne, habe die pragmatische Machtpolitik des Reichsgründers nicht hervorgebracht. Abhilfe sieht Lagarde in der Stiftung einer nationalen Religion, deren nähere Charakterisierung allerdings widersprüchlich ausfällt. Einerseits will Lagarde den neuen Glauben philologisch aus den Quellen des Neuen Testaments gewinnen, andererseits wettert er gegen den "Buchstabenglauben", der echte Frömmigkeit ersticke. Einerseits lehnt er die existierende konfessionelle und kirchliche Spaltung des Christentums ab und kritisiert vor allem den Protestantismus in scharfen Tönen, andererseits zeigt er keine institutionellen Alternativen auf und bleibt mit seinen heterodoxen Thesen dem Kulturprotestantismus verpflichtet. Einerseits solle der neue Glaube historisch und christlich fundiert sein, andererseits sind sine Vorstellungen präsentisch und postchristlich, wenn er den deutschen Nationalismus in pathetischen Worten sakralisiert und fordert, die Religion müsse am "germanischen Wesen" ausgerichtet sein.
Den Zeitgenossen vertrauter dürfte hingegen der Rundumschlag gegen alle Übel der Moderne gewesen sein, gegen Liberalismus und Judentum, Bürokratie und verkopfte Schulbildung, Alkohol- und Nikotinkonsum usw. Lagarde ordnete sich selbst als radikalen Konservativen ein und verfasste gar ein Programm für eine konservative Partei der Zukunft (1884). Doch sein Nationalismus, der u.a. die Propagierung eines deutschen Mitteleuropas und die Kolonialisierung osteuropäischen Lebensraums umfasste, war so maßlos, realitätsresistent und mit religiöser Semantik durchtränkt, dass er nicht mehr als konservativ beschrieben werden kann.
Wie haben Lagardes Zeitgenossen und die Nachlebenden die politischreligiösen Auslassungen des "Propheten" aufgenommen? Während Fritz Stern in seinem ideengeschichtlichen Klassiker The Politics of Cultural Despair (1961) Paul de Lagarde ein geschlossenes völkisches Weltbild attestierte, das ohne Umwege in den Nationalsozialismus führte39, betont Sieg die Brüche in Lagardes Weltanschauung. Er möchte sie in erster Linie vor dem Hintergrund der gestörten Persönlichkeit des Gelehrten und der politischen und kulturellen Sinnkrise des Kaiserreichs interpretiert wissen. Diese neue historische Einordnung ändert jedoch nichts an der Erkenntnis, dass Lagarde Antisemit und völkischer Nationalist "sans phrase" war und sich nie gegen eine entsprechende politische Vereinnahmung gewehrt hat. Gegenüber Persönlichkeiten und Zirkeln der völkischen Bewegung wahrte er zu Lebzeiten nur Distanz, weil ihm ihr Auftreten zu plebejisch und wissenschaftsfeindlich war. Dass die Popularisierung seines Gedankenguts auch durch den Bayreuther Kreis oder den ultraradikalen Antisemiten Theodor Fritsch erfolgte, störte Lagarde nicht. Der pathetische Ton, die Vagheit, Widersprüchlichkeit und verbale Radikalität seiner Texte öffneten zudem Tür und Tor für eine Rezeption durch intellektuell wenig anspruchsvolle völkische Ideologen und Politiker vom Schlage eines Georg von Schönerer, Julius Langbehn, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler.40
Anders als die ältere ideengeschichtliche Forschung begreift Sieg Rezeption nicht als einlinigen Prozess. Mit Sprachstil, Selbststilisierung und Rezeptionslenkung untersucht er "Werkzeuge", mit denen Lagarde die Wirkung seiner politischen Pamphlete erfolgreich steuerte. Gerade im Zeitalter des Fin de Siècle war der Erfolg kulturpessimistischen Gedankenguts weniger von der Kohärenz der Inhalte abhängig als von der Ausfüllung eines wortgewaltigen Prophetentums wider die verhasste Moderne. Aus dem Prinzip "style over substance" zogen auch die Persönlichkeiten und die Werke Schopenhauers, Wagners, Nietzsches und Georges ihre Faszination und nachhaltige Wirksamkeit auf das deutsche Bildungsbürgertum. Es lag voll im Trend eines vitalistischen Kulturpessimismus, die Anhäufung apodiktischer Werturteile als tiefgründige Philosophie zu verkaufen und durch sie Affirmation einzufordern, anstatt einen rationalen Diskurs anzuregen. Dieser charismatischen Wirkung widmet Sieg zu Recht mehr Aufmerksamkeit als es die ältere Rezeptionsforschung getan hat.
Schwer nachzuvollziehen ist hingegen Ulrich Siegs Kritik am Stand der historischen Antisemitismusforschung. Sie sei "kopflastig und übertheoretisiert" und reduziere hermeneutische Ansprüche zugunsten moralisierender Tendenzen.41 Beide Diagnosen widersprechen nicht nur einander, sie sind zumindest für die neuere Antisemitismusforschung schlicht unzutreffend. Als Kontrastprogramm möchte Sieg mit der Lagarde- Biographie eine "psychologisch einfühlsame Interpretation" angelehnt an Methoden aus der Ethnologie ("dichte Beschreibung") bieten. Dieses Versprechen kann allerdings den methodischen Konservatismus der Studie kaum verbergen. Sieht man einmal von einigen nicht besonders tiefschürfenden Ausflügen in die Psychologie ab, verknüpft Sieg die biographische Methode ausschließlich mit der klassischen Ideengeschichte. Handwerklich ist daran nichts auszusetzen, doch bedeutet der selbst auferlegte Theorieverzicht, dass bei der Befassung mit Lagardes völkischer Gedankenwelt viele Deutungsoptionen ungenutzt bleiben.
Beispielsweise hätten Lagardes Familiensituation, die Unfähigkeit, jede Form von Pluralismus zu akzeptieren und die unablässige Rede von "Wiedergeburt" den psychoanalytisch geschulten Kulturwissenschaftler hellhörig werden lassen müssen. Die überlieferten Selbstzeugnisse hätten es erlaubt, Lagardes narzisstische Persönlichkeitsstruktur entlang Freudscher Begrifflichkeiten zu analysieren. Da Sieg auf dieses theoretisch- methodische Handwerkszeug verzichtet, bleibt ihm nur der Verweis auf die unglückliche Kindheit und auf diverse Charakterschwächen. Eine individualpsychologische Interpretation, gar angelehnt an die psychoanalytische Antisemitismusforschung, kann so nicht vorgenommen werden.
Zutreffend erkennt Sieg in der Schaffung einer nationalen Religion das Zentrum von Lagardes Weltanschauung. Leider bewegt sich der Autor auf religionsgeschichtlichem Terrain zuweilen unsicher und gerät in Deutungsschwierigkeiten. Er registriert nicht, dass die Frontlinien zwischen Liberalismus und Konservatismus in Politik und Theologie nicht kongruent verliefen. So wundert sich Sieg beispielsweise darüber, dass Lagarde für seine religiös- politischen Traktate ausgerechnet vom liberalen Protestantenverein gelobt wurde, während er von kirchlicher Seite Prügel bezog.42 In politischen Fragen war der Göttinger Professor zweifelsohne konservativ. Aber mit seinen Thesen von der Überlebtheit der historischen Religionen, der Verachtung kirchlicher Institutionen und Dogmen, der Notwendigkeit historisch- kritischer Theologie und der Absicht, Volk, Nation und Religion miteinander in Beziehung zu setzen, stand Lagarde (ob er es wollte oder nicht) im Lager des Kulturprotestantismus und war somit Anhänger eines liberalen Religionsverständnisses. Das gilt im Übrigen auch für seine völkischen Epigonen und ihre Suche nach einer "arteigenen" Religion. Hierfür wäre die Lagarde- Rezeption in Friedrich Langes Deutschbund aufschlussreich gewesen. Die Vorstellungen von einem "christlichen Deutschtum", die in diesem einflussreichen völkischen Zirkel gepflegt wurden, bezogen sich explizit auf die Deutschen Schriften.43 Kirchenfeste konservative (!) Christen beider Konfessionen wussten mit Lagardes religiösen Reformideen dagegen nichts anzufangen, obwohl sie in der harschen Kritik an Moderne, Liberalismus und Judentum mit dem Göttinger Orientalisten politisch übereinstimmten.
Zu selten verweist Sieg auf den Kulturkampf als historischen Kontext für Lagardes nationalreligiöse Konzepte. Der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat wuchs sich zu einer fundamentalen Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in einem modernen Staatswesen aus. Das Verhältnis von Nation und Religion war daher eine aktuelle politische Frage und nicht ein abstrakter Gelehrtendiskurs, der aus einem allgemeinen Kulturpessimismus oder aus ökonomischen Verwerfungen ("Große Depression", Überfüllungskrise an den Universitäten) erwuchs. Für die Mehrheit der Zeitgenossen ließ sich die Verhältnisbestimmung von Nation und Religion durch die Etablierung des Protestantismus als nationale Leitkultur lösen.44 Nicht so für Lagarde. Ihm war der Protestantismus zu liberal und sektiererisch, der Katholizismus zu ultramontan und das Judentum ohnehin artfremd. Daher konnte seine Nationalisierung der Religion bzw. Sakralisierung des Nationalismus nicht auf vorhandenen konfessionellen Nationskonzepten aufbauen, sondern musste die Nation selbst als Letztwert setzen. Die Nation erscheint als das ideale Ziel und damit die Grundlage wahrer Frömmigkeit, die den alten, etablierten und in ihrer Ethik universalistischen Religionen gefehlt habe. Das lässt Lagardes nationalreligiöses Gedankengut in einem modernen Licht erscheinen. Es handelte sich eben nicht um einen unzeitgemäßen Neuaufguss des romantischen Nationalismus von Herder, Fichte und Schleiermacher. Sieg bleibt jedoch dabei, auch Lagardes religiöse Vorstellungswelt als konservativ und sogar pietistisch einzustufen, was den Kern der Sache verfehlt.45 Der zutreffende Verweis darauf, dass Lagardes nationale Religion nichts mit parallel aufkommenden neuheidnischen bzw. rassenreligiösen Phantasien zu tun hatte, sondern christlich zurückgebunden war, taugt nicht, um aus ihr ein konservatives Projekt zu machen. Mit Blick auf rechtsintellektuelle Zirkel in der Weimarer Republik und die Deutschen Christen in der NS- Zeit muss man die von Lagarde vorgedachte Germanisierung des Christentums als den anschluss- und zukunftsfähigeren Ansatz annehmen.46
Welche Rolle spielte der Antisemitismus in diesem Zusammenhang? Sieg analysiert ihn eher als eingestreutes Stilmittel denn als notwendigen Bestandteil nationalreligiöser Vorstellungen. So ist es auch nur konsequent, wenn er zu dem Urteil gelangt, der Antisemitismus habe in der Lagarde-Rezeption eine untergeordnete Rolle gespielt.47 Es trifft zwar zu, dass Lagardes Judenfeindlichkeit häufig eine bunte Mischung aus alten und neuen Stereotypen war, um gegen Liberalismus, Moderne und ungeliebte Kritiker zu Felde zu ziehen. Doch auch in Lagardes nationalreligiöser Weltanschauung hatte der Antisemitismus eine klar auszumachende Funktion. Er diente dazu, das konfessionelle Christentum der Gegenwart als "verjudet" zu delegitimieren und der Notwendigkeit einer neuen nationalen Religion Raum zu verschaffen.48 Mit dieser Betrachtungsweise rückt der Antisemitismus von der Peripherie ins Zentrum von Lagardes völkischem Weltbild. Obwohl Sieg im Untertitel seiner Studie von den "Ursprüngen des modernen Antisemitismus" spricht und diesem Thema mehrere Kapital widmet, fehlt in seiner Darstellung eine präzise Funktionsbestimmung des Antisemitismus. Der Autor setzt sich zwar intensiv mit Lagardes judenfeindlichen Tiraden auseinander, doch gewinnt der Leser dabei den Gesamteindruck, die Juden seien für den verbitterten Göttinger Gelehrten "nur" ein Hassobjekt unter vielen anderen gewesen. Dieser Eindruck scheint sich in der von Sieg vorgenommenen Rezeptionsforschung zu bestätigen. Denn sie deckt auf, dass Lagardes judenfeindliche Äußerungen nur bei Personenkreisen begeisterten Anklang fanden, von denen man es ohnehin erwartet hätte.49 Doch für die Rezeption dürfte weniger entscheidend gewesen sein, was Lagarde über die Juden sagte und wer sich darauf bezog. Es kam vielmehr darauf an, dass es aus der Feder eines etablierten und international angesehenen Wissenschaftlers stammte, der zudem als Orientalist auch noch "vom Fach" war. Ähnlich wie Heinrich von Treitschke (1834–1896) dürfte Lagarde erheblich dazu beigetragen haben, dem Antisemitismus im Bildungsbürgertum den "Kappzaum der Scham" (Theodor Mommsen) zu nehmen. Ein aufschlussreiches Beispiel ist Lagardes Gutachtertätigkeit in Ritualmordprozessen. Er konnte sich als Wissenschaftler nicht auf den Antitalmudismus und die verquere Ritualmordthese August Rohlings (1839–1931) einlassen, wollte aber auf eine antisemitische Tendenz nicht verzichten. So stellte er in seinen Gutachten zwar fest, dass der "jüdische Ritualmord" quellenmäßig nicht zu belegen sei, hielt es aber für möglich, dass jüdische Sekten ihn praktizierten.50 Dies zeigt, wie geschickt es Lagarde verstand, paranoiden Antisemitismus mit der Aura des honorigen Fachgelehrten zu verbinden.
Was Lagardes Einfluss auf die Inhalte antisemitischer und rassistischer Ideologien seit der Jahrhundertwende angeht, so ist Sieg dagegen im Recht, wenn er relativierende Töne anschlägt und auf die Vieldeutigkeit der Lagardeschen Weltanschauung verweist. Insbesondere in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wurde sie nur noch als Steinbruch behandelt, aus dem man sich die ideologisch verwertbaren Bestandteile nach Belieben herausbrechen konnte. Für einen biologistisch ausgerichteten wissenschaftlichen Rassismus gab Lagardes Werk nichts her, umso mehr aber für nationalreligiöse Phantasien. Allerdings veranschlagt Sieg ihre Bedeutung für die NS- Ideologie und Politik als gering und ignoriert ideengeschichtliche Ansätze, die den Nationalsozialismus als "politische Religion" deuten.51
Der Versuch Ulrich Siegs, mit seiner Biographie Paul de Lagarde stärker im ideengeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts zu verorten, anstatt ihn als Vordenker des Nationalsozialismus pauschal zu verdammen, ist grundsätzlich zu begrüßen, weist jedoch drei Schwachstellen auf. Erstens ist Siegs Einschätzung der älteren Forschungslage zu pauschal. In seinem Klassiker Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich (1964) stufte Peter Pulzer Lagarde beispielsweise treffend als Mischung aus einem romantischen Konservativen und einem modernen Imperialisten ein. Von einem Vordenker des Nationalsozialismus ist bei ihm nicht die Rede. Ähnlich differenziert äußert sich auch die wenig beachtete Studie von Robert W. Lougee, und mit der Arbeit von Vincent Viaene liegt bereits seit langem ein revisionistischer Beitrag vor.52 Zweitens kann Sieg die Kontinuitätsthese, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Befunde, nicht überzeugend entkräften. Die radikale Rechte, von völkischen Zirkeln im Kaiserreich bis zu den Nationalsozialisten, berief sich massiv auf Lagarde. Dabei rezipierte sie die politisch- religiösen Schriften des Göttinger Gelehrten zwar selektiv und bedarfsgerecht. Antisemitismus und Radikalnationalismus waren aber Lagardes Weltanschauung immanent und brauchten nicht erst durch nachträgliche Manipulation hervorgekehrt zu werden, wie es z.B. im Fall Friedrich Nietzsches geschehen ist.53 Daher kann es nicht verwundern, dass Sieg hinter die Lagarde- Apologie Viaenes zurückrudert, obwohl er in der revisionistischen Tendenz mit ihm übereinstimmt. Drittens übersieht Sieg die Modernität von Lagardes nationalreligiösem Gedankengut. In ihm ging es nicht wie in älteren romantisch- konservativen Konzepten darum, Nation und Religion einfach zu synthetisieren. Vielmehr sakralisierte Lagarde in antisemitischer und antikirchlicher Konsequenz die Nation selbst. Hier hatte der Nationalsozialismus, der sich gekonnt als politische Religion in Szene setzte, eine optimale Andockstelle gefunden, die auf mehr Kontinuität verweist, als Sieg zulassen möchte. An dieser Stelle macht sich erneut die Fixierung des Autors auf die Ideengeschichte negativ bemerkbar. So zieht er in den Kapiteln zur Rezeptionsgeschichte ausschließlich schriftliche Traditionsquellen heran. Welche Verbindungen zwischen konkreten Frömmigkeitsformen im Nationalsozialismus und nationalreligiösem Gedankengut Lagardescher Prägung bestehen könnten, untersucht er nicht.
Bei aller Kritik im Detail ist Ulrich Siegs Lagarde- Biographie ein wertvoller Beitrag zur Antisemitismus- und Nationalismusforschung, der durch eine präzise Quellenkritik spektakulären Thesen und geschichtspolitischen Fallstricken aus dem Weg gehen kann. In den Geisteswissenschaften ist heute Modernisierungs- und Liberalismuskritik wieder en vogue, häufig bemäntelt als postmodernes Lamento über die rationalistische "Entzauberung der Welt" (Max Weber). Bei aller Empathie, die Sieg seinem Untersuchungsobjekt entgegenbringt, widersteht er der Versuchung einer Apologie, und es gelingt ihm, die Abgründigkeit der Lagardeschen Versuche einer "Wiederverzauberung" der Welt aufzudecken. Sie kamen über hasserfüllte Feindbildkonstruktionen und den narzisstischen Wunsch nach einer Gesellschaft ohne Konflikte und ohne Pluralismus nicht hinaus.
Nach der Etablierung des modernen Antisemitismus auf dem politischen Massenmarkt, setzten – mit leichter Verzögerung – in den 1890er Jahren auch zivilgesellschaftliche Bemühungen um seine Abwehr ein. Seit der nationalsozialistischen Machtergreifung ist die Abwehr des Antisemitismus in Deutschland mit dem Nimbus des Scheiterns behaftet und wird daher von der Geschichtsschreibung nach 1945 naturgemäß kritischer beurteilt als von den Zeitgenossen selbst. Der Umgang mit dieser perspektivischen Verzerrung ist allerdings sehr unterschiedlich. Einige Historiker nutzen sie zu moralisierenden ex- post- Urteilen, die die Grenzen zwischen Antisemiten und Anti- Antisemiten verschwimmen lassen. Andere behalten die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Antisemiten und Anti- Antisemiten bei, nutzen aber die feineren Sensoren der Nach- Holocaust- Perspektive, um Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in den Argumentationsweisen der Gegner des Antisemitismus zu entdecken, die ihre Position schwächten. Dies beginnt bereits bei begriffsgeschichtlichen Fragen, wie der Kritik an der Wahl von "Philosemitismus" als Antonym zu Antisemitismus. Es handelt sich dabei um eine Prägung der Antisemiten, die darunter eine unkritische Verteidigung der Juden aus unbedingter Sympathie verstanden. Dies zielte nicht nur auf eine Denunziation der Gegner des Antisemitismus ab, sondern verdunkelte ihre tatsächliche Motivlage, die allzu häufig eine Solidarisierung mit den angegriffenen Juden gerade nicht beinhaltete.54 Aus diesem Grund soll hier von Anti- Antisemitismus oder Abwehr des Antisemitismus gesprochen werden. Philosemitismus findet dagegen nur als Quellenbegriff Verwendung, dessen hochproblematischer Gebrauch durch die Zeitgenossen stets mitzudenken ist.
Ein Blick in die Historiographiegeschichte zeigt, dass sich die Beurteilung der Abwehr des Antisemitismus durch jüdische Selbstorganisation einerseits und durch überwiegend nichtjüdische Organisationen andererseits auseinander entwickelt hat. Nach dem Zweitem Weltkrieg kritisierten zionistische Historiker die jüdische Selbstorganisation in Deutschland seit den 1890er Jahren als zu zögerlich, zu assimilationsorientiert und zu erfolglos im Kampf gegen den Antisemitismus.55 Heute erscheint vor allem die These von der bedingungslosen Assimilation nicht mehr haltbar. Auch der C.V. war um die Stärkung jüdischer Identität bemüht und blieb nicht auf der Stufe einer reinen Abwehrorganisation stehen. Die Ideologie vom "deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" war aus der damaligen Perspektive weder zum Scheitern verurteilt noch mit einer kulturell- religiösen Selbstverleugnung verbunden. Ebenso hat die Rechtsschutzarbeit des C.V. in jüngsten Studien eine positive Neubewertung erfahren.56