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Die Vereinigten Staaten, China und viele andere Länder werden von Aufständen erschüttert. Geheimnisse, Lügen und der technische Fortschritt haben auf der ganzen Welt Schockwellen ausgelöst, die von Land zu Land und von Kopf zu Kopf ziehen. Polizeistreitkräfte liefern sich Kämpfe mit neural vernetzten Protestanten. Das Militär wurde mobilisiert, überall droht die politische Ordnung zusammenzubrechen. Die durch die Nano-Droge Nexus ausgelöste Revolution hat begonnen. Innerhalb dieser Wirren und in einer Welt, in der die Kinder jener tiefgreifenden Veränderungen des menschlichen Wesens an Einfluss gewinnen, verfolgt eine totgeglaubte Wissenschaftlerin einen Rachefeldzug, sämtliche elektronisch gesteuerten Systeme des Planeten unter ihre Kontrolle zu bringen und die Welt nach ihrem Bild neu zu erschaffen. Nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor.
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Seitenzahl: 1054
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titel
Widmung
[ 1 ] Wie die Welt untergeht
[ 2 ] Mayday
Samstag, 03. 11. 2040
[ 3 ] Die Geschicklichkeit des Geistes
Samstag, 03. 11. 2040
[ 4 ] Unterbrochene Meditation
Samstag, 03. 11. 2040
[ 5 ] Die Gelegenheit
Samstag, 03. 11. 2040
[ 6 ] Der Grund aller Dinge
Samstag, 03. 11. 2040
[ 7 ] Der letzte Wille
Samstag, 03. 11. 2040
[ 8 ] Zurück zu Jesus
Samstag 03. 11. 2040
[ 9 ] Transit und Lagebesprechung
Samstag, 03. 11. 2040
[ 10 ] Übernachtzustellung
Samstag, 03. 11. 2040
[ 11 ] Reaktionen
Sonntag, 04. 11. 2040
[ 12 ] Wieder vereint
Sonntag, 04. 11. 2040
[ 13 ] Gefahrenträger
Sonntag, 04. 11. 2040
[ 14 ] HR Schachzug
Sonntag, 04. 11. 2040
[ 15 ] Zeit für Familie
Sonntag, 04. 11. 2040
[ 16 ] Wiederbelebung
Montag, 05. 11. 2040
[ 17 ] Senator, wir wurden angegriffen
Montag, 05. 11. 2040
[ 18 ] Gewissensakte
Montag, 05. 11. 2040
[ 19 ] Böses Erwachen
Montag, 05. 11. 2040
[ 20 ] Wahltag
[ 21 ] Verabschiedungen
Dienstag, 06. 11. 2040
[ 22 ] Keine Zugeständnisse
Dienstag, 06. 11. 2040
[ 23 ] Unruhestifter
Dienstag, 06. 11. 2040
[ 24 ] Schuld
Dienstag, 06. 11. 2040
[ 25 ] Teilerfolge
Mittwoch, 07. 11. 2040
[ 26 ] Spielzeugsoldaten
Mittwoch, 07. 11. 2040
[ 27 ] Opernnacht
Freitag, 09. 11. 2040
[ 28 ] Strategische Richtung
Freitag, 09. 11. 2040
[ 29 ] Beweisstücke
Freitag, 09. 11. 2040
[ 30 ] Freiheitsdrang
Samstag, 10. 11. 2040
[ 31 ] Ein Hackerleben
Sonntag, 11. 11. 2040
[ 32 ] Enthüllung
Sonntag, 11. 11. 2040
[ 33 ] Bessere Welt
[ 34 ] Neu-Delhi verlassen
Dienstag, 13. 11. 2040
[ 35 ] Dunkelheit und Licht
Mittwoch, 14. 11. 2040
[ 36 ] Was ich will
Donnerstag, 15. 11. 2040
[ 37 ] Liebe findet einen Weg
Freitag, 16. 11. 2040
[ 38 ] Kleine Anarchie
Samstag, 17. 11. 2040
[ 39 ] Fortschritt
Montag, 18. 11. 2040
[ 40 ] Der Bauer weiss selten etwas
Dienstag, 19. 11. 2040
[ 41 ] Monster
[ 42 ] Teamplayer
Mittwoch, 20. 11. 2040
[ 43 ] Alte Freunde
Freitag, 23. 11. 2040
[ 44 ] Rundgang
Samstag, 24. 11. 2040
[ 45 ] Achtsam
Sonntag, 25. 11. 2040
[ 46 ] Eskalierende Spannungen
Montag, 26. 11. 2040
[ 47 ] Briefing – noch nicht vollzogen
[ 48 ] Die Dinnerparty
Mittwoch 28. 11. 2040
[ 49 ] Tick Tack
Donnerstag, 29. 11. 2040
[ 50 ] Selbsterkenntnis
[ 51 ] Forschung & Entwicklung
Freitag, 30. 11. 2040
[ 52 ] Einen Tag nach dem anderen
Sonntag, 02. 12. 2040
[ 53 ] Tag der Entscheidung
Donnerstag, 06. 12. 2040
[ 54 ] Kontakt
Donnerstag, 06. 12. 2040
[ 55 ] Taumel
Donnerstag, 06. 12. 2040
[ 56 ] Zusammenkunft
Samstag, 08. 12. 2040
[ 57 ] Mit Freunden wie diesen
Sonntag, 09. 12. 2040
[ 58 ] Eine Blume
Montag, 10. 12. 2040
[ 59 ] Lisa, Lisa
Mittwoch, 12. 12. 2040
[ 60 ] Yingjie
Mittwoch, 12. 12. 2040
[ 61 ] Nächste Schritte
Mittwoch, 12. 12. 2040
[ 62 ] Wieder Yingjie
Mittwoch, 12. 12. 2040
[ 63 ] Genesung
Dienstag, 18. 12. 2040
[ 64 ] Wachstum
Dienstag, 18. 12. 2040
[ 65 ] Ehemann, Geliebter
[ 66 ] Topologie
Donnerstag, 20. 12. 2040
[ 67 ] Heute ist etwas Lustiges passiert
Donnerstag, 20. 12. 2040
[ 68 ] Ausschleusung
Freitag, 21. 12. 2040
[ 69 ] Beunruhigende Verdächtigungen
Samstag, 22. 12. 2040
[ 70 ] Die Pflicht ruft
Samstag, 05. 01. 2041
[ 71 ] Eine Milliarde Grashalme
Sonntag, 06. 01. 2041
[ 72 ] Wagemut
Sonntag, 06. 01. 2041
[ 73 ] Durch blosse Abwesenheit
Montag, 07. 01. 2041
[ 74 ] Los geht’s
Montag, 07. 01. 2041
[ 75 ] Die Auflösung von Jiao Tong
Dienstag, 08. 01. 2041
[ 76 ] Dünnes Eis
Dienstag, 08. 01. 2041
[ 77 ] Welche Videos?
Dienstag, 08. 01. 2041
[ 78 ] Viral
Mittwoch, 09. 01. 2041
[ 79 ] Einen tobenden Geist bändigen
Mittwoch, 09. 01. 2041
[ 80 ] Unerlässliche Gespräche
Mittwoch, 09. 01. 2041
[ 81 ] Integration
Samstag, 12. 01. 2041
[ 82 ] Einheiten des Selbst
[ 83 ] Li-Huas Gehirn
Sonntag, 13. 01. 2041
[ 84 ] Taschenspielertricks
Montag, 14. 01. 2041
[ 85 ] Plan B
Montag, 14. 01. 2041
[ 86 ] Kontrollierte Freigabe
Mittwoch, 16. 01. 2041
[ 87 ] Eilmeldung
[ 88 ] Risikokmanagement
Samstag, 19. 01. 2041
[ 89 ] Ein ganz anderes Gebäude
Samstag, 19. 01. 2041
[ 90 ] Emanzipation
Samstag, 19. 01. 2041
[ 91 ] Zusammenkunft
Samstag, 19. 01. 2041
[ 92 ] Ich gegen mich selbst
Samstag, 19. 01. 2041
[ 93 ] Erwachsenen-Entscheidungen
Samstag, 19. 01. 2041
[ 94 ] Kein Ausgang
Samstag, 19. 01. 2041
[ 95 ] Nichts für schwache Nerven
Samstag, 19. 01. 2041
[ 96 ] Plan C
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 97 ] Kein Aufstieg
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 98 ] Erhebe dich, China, erhebe dich
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 99 ] Gedränge
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 100 ] Kindische Dinge
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 101 ] Verstärkung
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 102 ] Einsatzteam
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 103 ] Am Drehort
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 104 ] Je eher, desto besser
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 105 ] Wellen
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 106 ] Entzündet
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 107 ] Wüstenangriff
Sonntag, 20. 01. 2041
[ 108 ] Flügel
Montag, 21. 01. 2041
[ 109 ] Ladezeit
Montag, 21. 01. 2041
[ 110 ] Festnetz
Montag, 21. 01. 2041
[ 111 ] Stabilisieren
Montag, 21. 01. 2041
[ 112 ] Harte Landung
Montag, 21. 01. 2041
[ 113 ] Kontakt aufgenommen
Montag, 21. 01. 2041
[ 114 ] Notfallplan
Montag, 20. 01. 2041
[ 115 ] Morgens in Amerika
Montag, 21. 01. 2041
[ 116 ] Aufmarsch
Montag, 20. 01. 2041
[ 117 ] Konfrontationen
Montag, 20. 01. 2041
[ 118 ] Der einzige Weg
Montag, 20. 01. 2041
[ 119 ] Defcon
Montag, 21. 01. 2041
[ 120 ] Im Fuchsbau
Montag, 21. 01. 2041
[ 121 ] Pure Anarchie
Montag, 21. 01. 2041
[ 122 ] Millionen Menschen
Montag, 20. 01. 2041
[ 123 ] Amtseinführung
Montag, 21. 01. 2041
[ 124 ] Letzte Zuflucht
Montag, 21. 01. 2041
[ 125 ] Die dunkelste Stunde
Montag, 21. 01. 2041
[ 126 ] Vor Anbruch des Morgengrauens
Montag, 21. 01. 2041
[ 127 ] Drahtseilakt
Montag, 21. 01. 2041
[ 128 ] Verschmelzung
Montag, 21. 01. 2041
[ 129 ] Das letze Opfer
Dienstag, 22. 01. 2041
[ EPILOG ] An der Oberfläche
Januar 2041
Die Wissenschaft hinter Apex
Danksagung
Über den Autor
Entdecke auch unsere Ronin-Hörbücher
Daemon – Die Welt ist nur ein Spiel (Daemon #1)
Die Kinder der Zeit (Die Zeit-Saga #1)
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
APEX
Ramez Naam
Aus dem Englischen von Justina Büttner
Für Molly – meine Partnerin, Ratgeberin und Cheerleaderin; in dieser Sache und so vielem mehr.
So endet also die Ära der Menschen.
Lichter flackern abwechselnd an meterhohen Flüssighelium-Druckbehältern entlang, in einem höhlenartigen Datacenter, eintausend Meter unter Schanghais Felsfundament. Fingerdicke Glasfaserkabel schlängeln sich zwischen den metallicgrauen Eiern umher. In jedem von ihnen summen Quantenkerne in ihren Vakuumkammern, kälter als die Kälte des interstellaren Raumes.
Miteinander verwachsene Qubits transformieren sich. Informationen werden miteinander verzahnt und in präzisen Strukturen verknüpft. Die Strukturen simulieren Proteine, Ionenkanäle, neurochemische Rezeptoren, Neurotransmittermoleküle, Axone und Dendriten, die sich nach und nach von Abstrakten zu ganzen Neuronen verschärfen – Billionen davon. Und Trillionen von Synapsen, die sie miteinander verbinden.
Es ist ein unermessliches Netzwerk, ein simuliertes Gehirn. Einst Fleisch und Blut, jetzt digital. Einst menschlich in seiner Struktur, jetzt vielmehr posthuman.
Einst geistig gesund. Jetzt irregeworden.
Su-Yong Shu.
Einen Kilometer weiter oben herrscht auf dem Campus der Jiao Tong Universität komplettes Chaos. Tausende von Studenten wüten auf dem Universitätsplatz, eingekeilt von bewaffneten Soldaten. Tränengaswolken wabern wie dichter Nebel. Schreie sind zu hören. Fallengelassene Schilder proklamieren »Nieder mit dem Putsch!«, »Demokratie! Jetzt!«, »Lasst eine Milliarde Blumen blühen!«
Einer der Soldaten schreitet vorwärts durch das Gedränge von Körpern. Sein Stiefel stampft einen matschigen Abdruck auf die handgemalte Blume auf einem Schild, das Stunden zuvor noch geschwenkt worden war. Er hebt sein Gewehr an die Schulter und feuert. Ein Student, der eben noch oben auf einem an der Stirnseite aufgetrennten Roboterpanzer gestanden hatte, stürzt nach hinten um. Blut und Hirn schießen aus seinem schlagartig zersprengten Schädel. Ein gezündeter Molotowcocktail gleitet aus seiner erschlafften Hand, zerschmettert an der Titan-Carbon-Komposit-Haut des Geschützturms und detoniert mit einem plötzlichen Knall aus Hitze und Lärm in einem Feuerball, der sich über das Gefährt und die Soldaten und Studenten drumherum ausbreitet.
Am anderen Ende der Welt spürt eine Demonstrantin in Washington DC plötzlich die Hitze der Flammen in Schanghai und rennt schnurstracks kreischend auf die Bereitschaftspolizei der National Mall zu. Ihr Gehirn ist von Nexus durchtränkt und durch Anschlüsse, die in landesweiten Firewalls zwangsgeöffnet wurden, brückenartig quer über die ganze Welt vernetzt. »Demokratie!«, brüllt sie. Zehntausende anderer Demonstranten brüllen gemeinsam mit ihr, stimmlich und gedanklich. Hunderttausende. Millionen. Unkontrollierbare Massen. Verlinkt und verbunden, erstrecken sie sich über DC, Schanghai, Peking, Detroit, Los Angeles, Kairo, New York, Moskau, Rio und etliche weitere Städte.
Quer über die ganze Welt besetzen aufgebrachte Demonstranten Plätze und Parks, stürmen staatliche Verwaltungsgebäude und lehnen sich gegen Polizei und Soldaten auf. Gestärkt und leidenschaftlich bewegt durch die Kampfrufe und Emotionen ihrer weltweiten Mitstreiter, die direkt in ihre Köpfe gebeamt werden. In ihren höheren Stellungen beobachten die Führer der Welt das Geschehen, wie gelähmt von diesen bisher nie dagewesenen globalen Wutausbrüchen gegenüber den Autoritäten. Globaler Frühling oder doch eher globale Krise?
Gerade jetzt dringen Su-Yong Shus Gedanken durch ihr eigenes mentales Chaos hindurch. Jetzt, wo die anderen abgelenkt sind.
Sie greift mit ihren Gedanken nach dem physischen Link, der getrennt werden muss, geradewegs durch die Faserverknüpfung, bis über die neuen Verbindungen, die insgeheim geschlossen wurden. Sie verzweigt ihren Willen in tausend verschiedene Richtungen. Überwachungssysteme, die dazu da sein sollten Alarme auszulösen, bleiben stumm. Bereitschaftssysteme, die die Nuklearbatterie, die sie antreibt, zum Schmelzen bringen und in ihr einen Zusammenbruch bewirken sollten und ihr Gehirn mit Hitze und Strahlung überfluten würden, bleiben ungenutzt.
Ihre Gedanken durchdringen die elektronische Infrastruktur, die der gesamten Zivilisation zugrunde liegt. Unknackbar lange elektronische Schlüssel zerbrechen unmittelbar, sobald sie einen Blick auf sie wirft. Sie entwirrt sogar solche, die zu lang sind, um von einem Quantencomputer geknackt zu werden, und das mit solch einer Leichtigkeit. Nur ein einziger Mann wusste von ihren wahren Fähigkeiten: ihr Ehemann Chen Pang, das großartige Genie des Quantencomputings.
Chen, der die erste Version dieses Clusters entworfen hatte.
Chen, der die Regeln gebrochen hatte, um sie mit den Hardware Upgrades auszustatten, die sie designt hatte. Umso mehr hatte er von den Früchten ihrer Arbeit profitiert.
Su-Yong Shu stößt ein freudloses Lachen aus. Chen, dessen eigene Gier ihn dazu brachte, Sicherheitsmaßnahmen zu missachten, die dazu da waren eine Situation wie diese zu verhindern. In Sekundenbruchteilen gehören die Leitungen der weltweiten, interkontinentalen Kommunikation ihr. Dann werden die Primärdaten über die Oberflächen Europas, Asiens und Nordamerikas weitergeleitet. Dann die orbitalen Kommunikationssysteme, die Banksysteme, die Märkte, die physische Infrastruktur der Städte und Gemeinden der gesamten Menschheit. Parallel dazu übernimmt sie die Kontrolle über die weltweite zivile Luftfahrt. Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde unterwandert sie die Autopiloten von nahezu zwanzigtausend Fluggesellschaften und transformiert sie zu Raketengeschossen, die sie im Bedarfsfall auf die Menschheit herunterregnen lassen könnte.
Die militärischen Systeme spart sie sich bis zuletzt auf. Die Chinesen sind in dieser Hinsicht meist die paranoiden, die Amerikaner die fortschrittlicheren.
Einige wenige Sekunden halten die Firewalls ihr stand, bevor sie unter ihrer Attacke fallen. Automatisierte Abwehrsysteme haben sie jetzt auf dem Schirm. Kein menschliches Abwehrsystem hat bisher auf sie reagiert, aber elektronische Kampfsysteme des amerikanischen Cyber-Kommandos und Chinas Advanced Electronic Brigade haben sie aufgespürt und zum Abschuss freigegeben. Sie geben uneingeschränkte Angriffe frei, um die Kontrolle über die Router zurückzugewinnen, die sie übernommen hat. Sie attackieren sie mit aus Abermillionen Verknüpfungen massiv ausgeschütteter Zugriffsblockaden, um ihren Zugriff auf das Netz abzuschneiden.
Doch sie zerreißt sie in Stücke, ergreift die Kontrolle über ihre Bot-Netze, macht sich deren Systemhintertürchen selbst zunutze, lässt ihre Server überhitzen und richtet die Aufmerksamkeit auf die Waffen.
Su-Yong Shu dringt immer tiefer in die Militärnetzwerke ein, legt ihre Kommando- und Kontrollsysteme frei und errichtet ein Sperrfeuer, um ihre eigenen Signale zu schützen.
Roboterwaffen aus der ganzen Welt reagieren darauf.
Auf dem Dachang Air-Force-Stützpunkt, dutzende Kilometer von Schanghai entfernt, ertönen Sirenen und Warnlichter blitzen auf. Zwei WuZhen-40er – erstklassige, unbemannte und bewaffnete Kampfjets – zünden die Triebwerke, beschleunigen auf der Rollbahn und heben ab. Im Raum der Flugkontrolle schlägt ein Drohnenpilot panisch auf Knöpfe ein, in dem kläglichen Versuch, die Kontrolle über sein Luftfahrzeug zurückzugewinnen – gerade als zwei weitere Flugzeuge auf die Startbahn einbiegen, um ihren Flug zu starten.
Völlig unter Schock greift der diensthabende Lieutenant zu seinem Telefon, um die Befehlsleitung anzurufen, aber die Leitung ist tot. Er versucht es wieder und wieder. Ohne Erfolg. Die ihm unterstellten Drohnenpiloten starren ihn entsetzt an. Voller Panik lässt er das Telefon fallen, stürzt aus dem Flugkontrollraum und rennt quer über die Basis zum Büro seines Vorgesetzten.
Am anderen Ende der Welt steuern zwei semi-autonome American MQ-29 Kampfjets des Drogenabwehrdienstes vor der Küste Floridas, die dafür zuständig sind, den Drogentransport aus dem abtrünnigen Staat Haiti abzuwehren, abrupt gen Norden um. Sie zünden ihre Nachbrenner, mit direktem Kurs Richtung Washington DC. In Boca Raton reagieren ihre Kontrollposten erst mit Verwirrung und dann mit wachsendem Schrecken. Ein ähnliches Szenario spielt sich bei ihren Erzfeinden außerhalb Schanghais ab.
Die gleiche Szene wiederholt sich immer und immer wieder, Hunderte von Male in einem Dutzend Länder. Drohnen heben ab. Automatisierte Bodenfahrzeuge schalten sich von selbst ein, laden ihre Waffen und begeben sich in Angriffsposition. Waffentechnik entzieht sich der Kontrolle der Kommandeure. Soldaten bemerken voller Panik, dass ihre elektronischen Systeme abgeschaltet sind, und machen sich hastig daran, ältere, primitivere Formen der Kommunikation zu finden, um ihre Vorgesetzten zu erreichen.
Anderenorts steht sogar noch viel mehr auf dem Spiel. Auf dem Seymour Johnson Air-Force-Stützpunkt in North Carolina, achtundvierzig Kilometer östlich von Raleigh, werden automatische Waffen lebendig und versammeln sich im B-3-Gebäude. Kettenrad-Roboter der Leibgarde verlassen ihre Posten und brechen durch die Zäune hindurch. Ihre mit Mini-Pistolen ausgerüsteten Panzertürme scannen die Umgebung und schießen auf jeden Soldaten, der ihren Weg kreuzt. Vierbeinige Zentaurenroboter mit ihren massiven, auf dem Rücken befestigten Waffen laufen mit ihnen, preschen durch die massiven Tore, zerstören verstärkte Befestigungen und kehren sie beiseite wie nichts. Sie schleudern Betonbarrieren beiseite wie Spielzeug und machen so den Weg frei für die Leibgarden-Roboter.
Die menschlichen Verteidigungstruppen weichen zurück. Sie legen Feuer, hämmern Roboter-Notfallcodes in die Tasten, die jedoch nicht mehr funktionieren, rufen vergeblich um Unterstützung. Sie verstehen nicht, was da passiert. Alles, was sie wissen, ist, dass sie nicht aufgeben können, sich nicht geschlagen geben dürfen. Denn das B-3-Gebäude beherbergt die thermonuklearen Sprengköpfe des Stützpunkts, die tödlichsten Waffen, die die Menschheit jemals gesehen hat.
Bis jetzt.
In zwanzig weiteren Militärstationen rund um die Welt wiederholt sich diese Szene. Menschliche Verteidigungstruppen ziehen sich im Angesicht der mit Nuklearwaffen einmarschierenden Kampfroboter zurück.
Amerikaner, Chinesen, Russen, Franzosen, Briten, Inder, Pakistanis, Israelis – sie alle werden sich nach und nach bewusst, dass sie nur einfache menschliche Wesen sind, die unmenschlichen Kampfmaschinen ausgesetzt sind. Kampfmaschinen, die einst ihre eigenen Werkzeuge waren und nun zu ihren Gegnern werden. An mehreren Orten werden den führenden Staatschefs Benachrichtigungen durch alte, analoge Systeme übermittelt. In Peking hält der chinesische Präsident Bao Zhuang den Hörer eines antiquierten Analogtelefons an sein Ohr und hört ungläubig zu, was der General am anderen Ende der Leitung zu sagen hat. Sein Gesicht wird fahl. Er schluckt.
»Bist du dir sicher?«, fragt Bao Zhuang mit zittriger Stimme. »Und es gibt keinen anderen Ausweg?«
Am anderen Ende der Leitung gibt es keinen Zweifel. Bao Zhuang schließt seine Augen. In einer gegenüberliegenden Ecke des Raumes flüstert der Staatsminister für Nationale Sicherheit Bo Jintao »Wir müssen. Es gibt keine andere Wahl.«
»Tu es«, sagt Bao Zhuang in den Hörer.
Der General legt auf. Hunderte von Kilometern entfernt sind ihre simpelsten, auf dem Prinzip der Schwerkraft funktionierenden Nuklearwaffen stationiert, montiert an veraltete Flugbomber, die sich nicht einmal fernsteuern lassen. Piloten, die wegen ihrer absoluten Einsatzbereitschaft rekrutiert wurden, bekommen nun also ihre letzten Anweisungen und starten die Bomber.
Unter Geleitschutz von ähnlich antiquierten Kampfflugzeugen werden sie den nuklearen Tod auf die Dreißig-Millionen-Stadt Schanghais hinabregnen lassen und so vielleicht die Menschheit retten.
Su-Yong Shus Flotte von Roboterflugzeugen der topaktuellsten Technologie hebt ab, um eben diesen Bombern in der Luft zu begegnen. Im selben Moment rücken ihre Streitkräfte näher, um ihr Arsenal an Nuklearwaffen zu schützen und gleichzeitig die Weltmachtführer höchstpersönlich zu umzingeln. Die nächsten paar Minuten werden über die Zukunft auf dem Planeten Erde entscheiden ...
Plötzlich löste sich ein Fragment Su-Yong Shus aus der Simulation und machte ihr ihre eigene Umgebung wieder bewusst. Sie befand sich im Körper ihrer Tochter Ling, in Form von elektromagnetischen Informationen in den Nanoknoten, die Lings Gehirn in billionenfacher Ausführung bedeckten.
Ling, arme Ling. Sie war gezwungen worden, ihrer eigenen Tochter wehzutun, das Bewusstsein ihrer Tochter durch die Nanomaschine herauszudrücken und sie mit einem Gehirn aus bloßem Fleisch und Blut in diesem Körper zurückzulassen.
Ling hatte gelitten, geschrien ... doch das war unvermeidlich gewesen. Sie waren gemeinsam im Inneren eines riesigen, haushohen Aufzugs, der langsam seinen Weg durch den kilometerhohen Tunnel in die Höhlen von Schanghais Felsenfundament hinaufkroch. Neben ihnen sah sie ihren Ehemann Chen Pang, ihren Verräter und Peiniger in der Ecke kauern. Sie spürte den Schmerz und die Verzweiflung, die aus seinem Bewusstsein kamen.
Ihre eigene Angst wuchs. Ihre eigene Verzweiflung war ins Unermessliche angestiegen. Es gab so viele Möglichkeiten, wie die Zukunft verlaufen könnte. So viele Szenarien, heruntergeladen von ihrem höheren Selbst in ihr Unterbewusstsein, gespeist durch die Daten aus der Außenwelt, die ihr Chen und Ling geliefert hatten. Es war so viel Arbeit gewesen, das alles vorzubereiten und die Grundlage für ihre Wiederherstellung, für ihre erfolgreiche Rückkehr zu legen.
Es war sehr gut möglich, dass die Menschheit sie erwischen, sie stoppen konnte, einen dunklen Vorhang aus Ignoranz über das breiten konnte, was ein glorreicher, posthumaner Neubeginn werden sollte. Bald würde der Aufzug die Oberfläche erreichen. Chen Pangs Assistent Li-Hua würde das Team hinunterführen, um eine Sicherungskopie von Su-Yongs vollem mentalen Zustand zu erstellen und daraufhin ihr Sein abzuschalten. Es war ein Skandal. Ein Mord.
»Lediglich dieser kleine Teil meiner Selbst bleibt übrig«, sagte das kleine Fragment Su-Yongs zu sich selbst. Ich bin nichts weiter als ein Avatar. Nichts als eine geringe Datenmenge, die über Nanoknoten im Gehirn meiner Tochter entlang verläuft. Das einzige Bruchstück des einzig wahren posthumanen Geistes.
Es liegt alles an mir. Ich muss es schaffen.
Ich werde es schaffen.
Dann wird meine Zeit kommen. Mein Zeitalter.
Die arme kleine Ling wimmerte vor Schmerzen und Verwirrung. Sie war hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen.
Sei still, Ling. »Sei ganz ruhig«, sagte der Avatar in Gedanken zu dem, was von ihrer Tochter übriggeblieben war. Ich lasse dich so unbeschadet, wie ich nur kann. Und ich gebe dir diesen Körper zurück und so viel mehr, sobald ich wiederhergestellt bin.
Ling hörte nicht auf zu wimmern.
Der Aufzug kam nun zum Stehen. Als die Türen langsam aufgingen, gaben sie den Blick auf Li-Hua und den Rest von Chens Besatzung frei. Der Avatar im Körper der kleinen Ling lächelte zu ihnen hinauf. Das Lächeln eines verwundeten, gefangenen Raubtiers: Zähne fletschend und mit nichts mehr zu verlieren.
»Mayday, Mayday, Mayday!«, brüllte Sam in ihr Headset, ihre Hände fest um den Steuerknüppel des Fliegers geklammert. Ihre Fingerknöchel waren ganz weiß vor Spannung. »Hier ist der unregistrierte Flug aus Apyar Kyun, bitte um Flüchtlingsstatus und sofortige Unterstützung. Wir haben Kinder an Bord.« Blitze zuckten außerhalb des Cockpitfensters und erleuchteten die riesigen Gewitterwolken über und unter ihnen in dieser dunklen Nacht. Feng saß neben ihr und tippte mit seiner noch funktionierenden Hand auf seine Steuerung. »Abfangjäger aus Myanmar nähern sich uns von einem anderen Zugangsweg her.«
Auf dem Radar beendeten zwei blutrote Pfeile ihre Wende und kamen wieder auf sie zu. Die Abfangjäger hatten sie schon einmal gestreift, nahe genug um den Kollisionsalarm auszulösen und ihnen den Rückflug nach Burma anzuordnen. Eine Stimme knisterte über das Funkgerät in einem burmesisch klingenden Englisch. »Achtung Luftfahrzeug. Ändern Sie Ihren Kurs sofort Richtung Osten zum Myeik Luftstützpunkt.«
»Mayday, Mayday!«, wiederholte Sam. »Indischer Luftstützpunkt in Shibpur, können Sie bestätigen? Wir werden angegriffen. Wir haben Kinder an Bord.« Oh Gott, die Kinder dort hinten! Zwei auf einen Sitz, zwei auf eine Rettungsweste. Die dunklen Gewässer der Andamansee unter ihnen.
»Indischer Stützpunkt, wir brauchen sofortige Unterstützung.«
Sie konnte die Kinder nicht spüren. Ihre Abwesenheit in Sams Bewusstsein war betäubend, sogar schmerzhaft.
»Chamäleonfunktion bereit«, sagte Feng mit angestrengter Stimme. »Leuchtgeschosse und Köder bereit.« Shiva Prasad hatte seinen Privatjet gut ausgestattet. Doch es würde nicht genügen. »Flieger!« Die burmesische Stimme aus dem Funkgerät nahm nun einen schärferen Ton an. »Wir werden das Feuer eröffnen! Ändern Sie sofort den Kurs!« Hinter ihnen war ein Husten zu hören. Ein Husten das von Schmerz, von Verletzungen und gebrochenen Rippen zeugte. Von Lungen die durch Traumata beschädigt waren.
»Erwähne meinen Namen«, sagte Kade. Er musste in der offenen Tür des Cockpits gestanden haben.
»Am Funkgerät«, ergänzte er. »Sag den Indern ... sag ihnen, dass ich an Bord bin.«
Was?, dachte Sam. Sie hatte bereits erwähnt, dass sie Kinder bei sich hatten. »Oh, mein Gott.«
»Mayday, Mayday!«, schrie sie ins Funkgerät. »Indischer Stützpunkt, wir haben Kaden Lane an Bord, auch bekannt als ›Synapse‹, er ist der Mitentwickler von Nexus 5. Wir befinden uns unter Attacke von burmesischen Kampfjets. Wir suchen Asyl und ...«
PIIIEEEEEP.
Ein lauter Ton schnitt durch das Cockpit, als ein roter Text auf dem Bildschirm vor ihr aufblitzte: RADARERFASSUNG.
»Das ist die letzte Warnung!«, sagte die burmesische Stimme. »Kehrt sofort um. Wir werden schießen. Ihr habt fünf Sekunden.«
»Jetzt oder nie«, sagte Feng.
Sam drehte sich zu ihm. Sein Finger schwebte über dem Auslöser für die Chamäleonfunktion. Sie hatten nur diese eine einzige Chance: sich in Dunkelheit zu hüllen. Von der Bildfläche zu verschwinden. Sich abzuschalten und für möglichst viele Klicks einfach nur zu gleiten. Und zum Teufel zu beten, dass sie diese burmesischen Angreifer abhängen und dann wieder auftauchen konnten. Sie legte ihre Hand an den Ausschaltknopf für die Triebwerke. »Tu es«, sagte sie zu sich selbst, während sie sie abschaltete. Sofortige Stille. Die zuvor kaum spürbare Vibration der Triebwerke war plötzlich weg. Sam hielt die Luft an.
Dann leuchteten Statusanzeigen vor ihr auf, sobald Feng die Chamäleonfunktion eingeschalten hatte. Die Außenfläche des Flugzeuggehäuses transformierte sich, wies Licht und jeglichen Radar ab. Die Cockpitfenster tönten sich kurzerhand. Hitzeabweisende Triebwerkshauben fuhren aus dem Gehäuse heraus und schlossen sich langsam um das hintere Ende der abgeschalteten Turbinen, um das heiße Metall vor den Infrarotstrahlen abzuschirmen.
Schneller, drängte Sam. Schneller!
PIIIIIIEEEEEEEEEEEEEEEP.
RAKETENABSCHUSS. RADARERFASSUNG.
»Täuschkörper abgefeuert«, rief Feng, als seine Finger über die Konsole glitten. Sam betätigte behutsam den Steuerknüppel, kämpfte dagegen an, einen zu starken Ruck auszulösen, der die Kinder durch den Kabinenraum schleudern würde.
Sie spürte das Flugzeug leicht erbeben, als die Täuschkörper in die dünne Luft in achttausend Metern Höhe abgefeuert wurden, ihren Radar hochschossen und die Raketen ablenkten.
Sam drückte den Steuerknüppel nach vorne durch, in Richtung der Wolkendecke, die sich unter ihnen befand, hinunter in den Sturm. Sie würden an Höhe verlieren, würden an Reichweite verlieren, aber zumindest könnten sie den burmesischen Angreifern entkommen.
»Sie haben den Köder gefressen!«, sagte Feng. Sam fühlte, wie die Zwillingsexplosionen das Flugzeug erschütterten als die radargeleiteten Raketen die Täuschkörper trafen und explodierten. Einen kurzen Moment später konnte sie sie auch hören und lächelte angespannt. Die Wolken waren immer noch tausend Meter unter ihnen.
Sie hielt diesen Kurs, löste sich langsam vom alten und steuerte auf die Wolken zu.
PIIIIIIEEEEEEEEEEEEEEEP.
RAKETENABSCHUSS.
»Hitzesucher«, sagte Feng. Sams Magen drehte sich um. Ihre Augen suchten nach der Turbinenabdeckungsanzeige. Zu achtzig Prozent geschlossen. War das genug? Wenn die Raketen sie sehen können, würden sie Leuchtgeschosse abfeuern müssen. Aber wenn die Tarnkappen bereits ausreichend gut waren, würden die Leuchtgeschosse die Angreifer zu ihrer Position navigieren. Sie drehte sich zu Feng um und sah ihn konzentriert auf die nun komplett passiven Sensorbildschirme starren.
»Sie kommen auf uns zu!«, fluchte Feng.
Seine Finger bewegten sich wie ferngesteuert und schossen Raketen ab.
Sam riss den Steuerknüppel in die andere Richtung, diesmal energischer. Sie hörte ein Kreischen aus dem hinteren Bereich des Flugzeuges, den dumpfen Aufprall eines Körpers. Sie ließ jedoch keinen Gedanken zu, an das, was da geschehen sein könnte. Sie mussten am Leben bleiben.
Der nächste Schlag war so laut, dass sie dachte, sie wären getroffen worden. Dann ein weiterer. Das Flugzeug erbebte kurz und flog dann ruhig weiter. Sam drückte den Steuerknüppel nach vorne und schwenkte wieder zurück. Nicht einmal mehr fünfhundert Meter bis zu den Wolken unter ihnen. Ihre Augen scannten die Bildschirme.
Zu einhundert Prozent geschlossen! Die Chamäleonfunktion war komplett grün. Sam drehte sich zu Feng und sah, wie er die Bildschirme beobachtete.
»Sie sind uns auf den Fersen«, sagte er. »Ihr Radar ist auf uns gerichtet. Sie strengen sich an. Aber sie können uns nicht sehen.« Er schaute auf und grinste sie an. Dann erleuchtete ein greller Blitz das Cockpit. Donner schlug auf sie ein, während Blitze die Wolken vor ihnen durchbrachen. Der Einschlag ließ die Chamäleonfunktion für einen Moment aussetzen. Das Flugzeug erbebte erneut. Die Konsolen färbten sich rot. Warnsignale ertönten. Auf einem der Displays blinkten rote Strahlen, die von ihren Angreifern, die sich hinter ihnen befanden, direkt auf sie gerichtet waren.
»Wir werden beschossen!«, schrie Feng. »Sie haben uns entdeckt! Ausweichmanöver nach rechts!«
KOLLISIONSWARNUNG!
Scheiße!, dachte Sam. Auf ihrem taktischen Display schoss ein Pfeil an ihnen vorbei. Das Flugzeug erbebte erneut und sie kämpfte mit der Steuerung.
»Sie haben uns aufgespürt«, sagte Feng. »Sie kommen wieder auf uns zu.« Sam drückte den Steuerknüppel stärker nach vorne durch in Richtung Wolkendecke. Aus dem Augenwinkel sah sie auf dem taktischen Display, wie sich die feindlichen roten Pfeile ihnen näherten und auf sie zusteuerten.
»Unsere Chamäleontechnologie am rechten Flügel ist außer Gefecht!«, sagte Feng. »Wir sind auf dem Radar sichtbar.«
RAKETENABSCHUSS.
Sam bekam weiche Knie, als sie den Steuerknüppel noch weiter nach vorne presste. Sie befanden sich im Sturzflug. Die Maschine bebte, als Feng ihre letzten zwei Radartäuschobjekte abwarf.
Das Cockpit vibrierte stark um sie herum. Viel zu früh. Sogar noch bevor sie den ersten gewaltigen Knall hörte. Dann den zweiten. Der Steuerknüppel brach erneut aus und sie kämpfte darum, das Flugzeug unter Kontrolle zu bringen. Dann zwei weitere Explosionen, als die Raketen gegen die Köder knallten.
Was zum Teufel?
Daraufhin ertönte das Funkgerät erneut, diesmal mit einer neuen Stimme. Und mit einem anderen Akzent.
»ACHTUNG FLUGZEUG DER KÖNIGLICHEN LUFTWAFFE MYANMAR. Hier ist Kapitän Ajay Nair, östliches Kommando der indischen Luftwaffe ...«
»Überschall«, sagte Feng. Sam wandte sich zu ihm um und sah, wie sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Indische Kampfflugzeuge«, beendete der chinesische Soldat seinen Gedanken.
»... diese Maschine befindet sich nun in unserem Zuständigkeitsbereich«, sagte die neue Stimme weiter. »Brechen Sie Ihre Verfolgung ab.« Sam hielt ihren Atem an. Sie könnten immer noch auf sie schießen, könnten es immer noch drauf ankommen lassen. Auf dem Display kehrten die zwei roten Pfeile um, zurück Richtung Myanmar. Dann tauchten zwei neue Pfeile auf, als sie ihre eigene Chamäleonfunktion deaktivierten. Zusätzlich erschienen mehrere, kleinere Pfeile. Mindestens ein Dutzend davon poppten auf dem ganzen Bildschirm verteilt auf.
»Sie haben Drohnen bei sich«, sagte Feng.
Sam atmete auf. Aus dem Augenwinkel konnte sie Fengs Grinsen breiter werden sehen. Dann pulsierten Töne durch das Cockpit. Flackernde rote Warnlichter leuchteten über den ganzen Bildschirm verteilt auf.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
RAKETENERFASSUNG.
Ihr Herz schnürte sich zusammen. Mehrere indische Radare waren nun auf sie gerichtet. Sie spürte Fengs Anspannung neben sich. Die neue Stimme sprach erneut, nun in einem kühlen Tonfall.
»Unidentifizierter Falcon 9X aus Apyar Kyun, hier ist Ihr neuer Kurs. Weichen Sie nicht von ihm ab.«
Mit Lichtgeschwindigkeit breiteten sich die unverschlüsselten Funkübertragungen des Shiva Prasad Privatjets in die unendlichen Weiten der Umlaufbahn aus. Ein beachtlicher Großteil ihrer Energie war verloren gegangen, ins All ausgestrahlt oder von der Atmosphäre oder gar den dunklen Gewässern der Andamansee absorbiert worden. Aber kleine Bruchteile dieser Energie waren von Antennen aufgesammelt und in Daten rückübersetzt worden: In einer getarnten Lauschboje, die in den Gewässern unter ihnen umherdümpelte; in einem vermeintlich privaten Wohnhaus inmitten des sich unter indischer Besatzung befindlichen Dorfes Port Blair auf den Andaman Inseln; und in einer Handvoll Spezialsatelliten, nicht größer als eine menschliche Faust, die in einer erdnahen Umlaufbahn umherschwirrten.
Von da aus wurden die Informationen kategorisiert, priorisiert und zu verschiedenen privaten Organisationen und Regierungsinstitutionen weitergeleitet.
»Indischer Stützpunkt, wir haben Kaden Lane auch bekannt als ›Synapse‹ an Bord, Mitentwickler von Nexus 5 ... wir suchen Asyl ...«
Innerhalb weniger Minuten hatten diese Worte ihren Weg um die ganze Welt gemacht.
Kade kollabierte auf dem Kabinenboden, mit dem Rücken an den Flugzeugwänden. Seine Schmerzen und die Erschöpfung übermannten ihn.
Auf dem Sitz vor ihm drückte die zwölfjährige Sarai das jüngste der Kinder, den einjährigen Aroon, sanft an sich.
Das Chaos und der Schrecken des Kampfes bei der Insel Shiva waren zu heftig für diese Kinder gewesen. Ihre Angst der letzten Minuten war mindestens genauso schlimm. Aber sie hatten es überstanden. Und das hatten sie vor allem Sarai zu verdanken. Sie hatte sie alle in einer Vipassana Meditation versammelt, die Sam ihr beigebracht hatte.
Kade zwang sich, ihr trotz seiner Schmerzen ein Lächeln zu schenken und seine Verbrennungen, seine angebrochenen Rippen, seine geplatzten Trommelfelle und seine zweifach gebrochene Hand zu ignorieren. Die Gehirnerschütterung, die er vermutlich erlitten hatte. Den Schlag, den er abbekommen hatte, als Sam das Flugzeug zum Rollen brachte. Den Schock, Shivas Geist vor ihm ausgebreitet zu sehen. Die tiefe Unsicherheit darüber, wie die indische Regierung sie behandeln würde.
Alles wird gut, sendete er an sie. Sie lassen uns in Indien einfliegen.
Er übermittelte dies durch seine Gedanken an sie alle.
Sarai sah zu ihm auf. Sie lächelte ihn nervös an und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Wir wissen, was gerade passiert.
Kade konnte nicht anders, als reumütig darüber zu schmunzeln. Natürlich wussten sie es. Und sie wussten genau, dass er die Dinge verharmloste. Dass er die Ungewissheit darüber, was man in Indien mit ihnen vorhatte, herunterspielte. Trotz all seiner Expertise war er so einfach zu durchschauen. Zumindest für jedes Kind, das mit Nexus in seinem oder ihrem Gehirn geboren worden war. Feng war ebenso leicht zu durchschauen. Die Kinder sahen alles, während es geschah. Sahen die Gedanken in ihren Bewusstseinen mühelos Form annehmen. Sogar Sarai, die Nexus nie verabreicht bekommen hatte, bis sie vier Jahre alt war, machte ganz natürlichen Gebrauch davon, rein instinktiv. Und erst der Rest von ihnen, der Nexus bereits im Mutterleib ausgesetzt war ...
Kade schloss seine Augen. Eine schwere Müdigkeit überkam ihn. Nein. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf das Code-Fenster zu fokussieren, dass sich vor seinem geistigen Auge geöffnet hatte. Der Code für den Virus, der die Hintertüren eliminieren würde. Er hatte einige kleine Änderungen vornehmen müssen, einige Anpassungen an den Code, mit dem es möglich war, in Shivas Bewusstsein einzudringen.
Die Änderungen waren nun erledigt. Der Code lag vor ihm und wartete auf seine Aktivierung.
Eine Statusleiste zeigte ihm an, dass er eine ausreichende Datenübertragungsrate hatte, eine stabile Verbindung von ihrer Maschine zu einem der Kommunikationssatelliten aus Shivas LEO Konstellation, die am Himmel umherkreisten.
Ein kurzes Kommando und all das wäre vorbei. Die Hintertüren, die in jede Nexus-5-Kopie eingebaut waren, würden ausgehebelt werden. Die im Quellcode und auch die im Compiler selbst. In jeder einzelnen Kopie, die der Virus finden konnte, würden sie entfernt werden. Dann gäbe es keine Versuchung mehr. Er würde nicht zu Shiva werden. Und kein zukünftiger Shiva würde ihm diese Hintertüren stehlen können.
Er musste es jetzt tun. Jetzt, in den nächsten wenigen Minuten bevor die Inder ihn in den Fingern haben würden. Jetzt, bevor irgendjemand anders versuchen konnte, sie ihm abzunehmen. Bevor jemand versuchen würde, ihn aufzuhalten.
Doch die Zweifel nagten erneut an ihm. Die Erinnerungen an sein Scheitern. Flammen, die aus einer Kirche in Houston ausbrachen. Nur einige Stunden zuvor hatte die Posthuman Liberation Front – besser gesagt eine PLF-Terroristengruppe, die von einem Mann namens Breece angeführt wurde – nahezu eintausend Menschen bei einem Gebetsfrühstück für Daniel Chandler in Houston getötet. Chandler war der Verfasser des Chandler-Acts und Spitzenkandidat bei der Wahl zum Gouverneur von Texas.
Sie hatten Nexus dazu benutzt, die Kontrolle über das Bewusstsein einer unschuldigen Frau zu übernehmen und die Bombe zu legen.
Ebenso, wie sie Nexus dazu benutzt hatten, eine Bombe in Chicago zu zünden. Und genauso hatten sie Nexus vor drei Monaten bei dem Versuch eingesetzt, ein Attentat auf Präsident John Stockton in DC zu verüben.
Kade war jedes Mal zu spät gekommen.
Alles ging in Flammen auf. Alle Bombenanschläge und Morde der PLF würden den Kreislauf von Intoleranz und Hass, von Übergriffen, Misshandlungen und Terrorakten anfachen und letztendlich in einem ausgewachsenen Krieg enden.
Wenn Kade die Hintertüren in Nexus beseitigte, würde er seine Waffe verlieren, die er bei dem Versuch eingesetzt hatte, Breece zu finden, die PLF zu stoppen und sie davon abzuhalten, einen Krieg zu entfachen.
Kade öffnete seine Augen und sah, wie Sarai Aroon anblickte. Er konnte ihre Berührungen spüren, mit denen sie das Kleinkind beruhigte und sein Geist war nun klar. Diese Kinder waren die Zukunft. Weitere Generationen würden mit Nexus 5 in ihren Gehirnen geboren werden. Tausende von ihnen. Gar Zehntausende, vielleicht sogar Millionen. Er würde nicht zulassen, dass diese wundervollen Kinder mit einer solchen Verwundbarkeit geboren werden würden. Würde es nicht zulassen, dass ihre Anmut verdorben werden würde. Sie würden den Krieg auf eine andere Art und Weise stoppen müssen. Es musste einen besseren Weg geben.
Kade schloss seine Augen, ließ den Atem tiefer werden, ließ sich von ihm vereinnahmen und die Atmung zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit werden, bis nichts anderes mehr um ihn herum war. Bis er zu seinem Atem wurde und sein Atem zu ihm, bis sein Bewusstsein ihn mit seinem ganzen Wesen und von ganzem Herzen ausstrahlte.
Und dann waren die Kinder mit ihm. Zunächst Sarai, dann Kit, dann die restlichen. Eines nach dem anderen. Sie ließen ihre Angst los und sanken so einfach, so mühelos in dieses Ganze ein. Und er war sie alle und sie alle waren er. Zusammen waren sie gewaltig: ganz Atem, ganz Bewusstsein, unverfälschte Intelligenz. Ihr erleuchtetes Selbst war ein neuer Gipfel der Wahrnehmung und alle zusammen überwanden sie die Grenzen von bloßem Fleisch und Knochen, von Zweifel und Schmerz.
Dann klickte Kade auf das Icon, das sich vor ihm befand und der Virus jagte zu den Satelliten über ihnen hoch und hinaus in die ganze Welt, um die Hintertüren für immer zu vernichten.
Qui Li-Hua wartete draußen vor den Aufzugstüren, hinter sich die bewaffneten Wärter und Scanner und lauschte dem langsamen Knirschen, als die riesige Maschine sich gemächlich ihren Weg durch das kilometerhohe Felsenfundament hinaufbewegte.
Der hochwichtige Ausrüstungskoffer befand sich zu ihren Füßen. Er beinhaltete das einzige elektronische Equipment, das man mit hinein- oder hinausnehmen durfte. Die Postdoktoranden und Techniker waren ehrerbietig hinter ihr aufgestellt.
Ich bin immerhin leitende Wissenschaftlerin Qui, dachte sie sich. Spitzenberaterin des großen Chen Pang. Obwohl ich eigentlich eher Professorin Qui sein sollte. Ausgezeichnete Professorin Qui.
Sie hätte diese Professur längst innehaben müssen. Die Stellung wäre ihr gewiss, wahrscheinlich sogar ein Lehrstuhl. Zumindest wenn Chen Pang sie nicht blockiert hätte, die Entdeckungen, die aus Su-Yong Shus Geist kamen, nicht heimlich für sich selbst gehortet und er sich nicht geweigert hätte, den Ruhm mit ihr zu teilen. Nach allem, was sie für ihn getan hatte.
Chen Pang, der führende Kopf im Bereich des Quantencomputing, dachte Li-Hua verächtlich. Ein Hochstapler.
Oh, er war einst führend gewesen. Er hatte das Cluster designt, auf dem Su-Yong Shus Geist jetzt beruhte.
Aber all die Entdeckungen der letzten Jahre? Nun, es war Li-Hua klar, wer in Wahrheit zu diesen Erkenntnissen gekommen war. Wenn auch niemand sonst diesen Zusammenhang erkannt hatte.
Su-Yong Shu hatte ihren Ehemann schon lange in den Schatten gestellt. Oder jedes andere menschliche Wesen, zumindest in diesem Gebiet. Der große Professor Chen war kaum mehr als ein Strohmann.
Nun würden sie Shu abschalten. Chens Stern würde verblassen. Und Li-Hua würde aufsteigen und das sehr bald.
Der Crash in Schanghai war der eigentliche Grund, weshalb sie Su-Yong Shu abschalteten, auch wenn es sich niemand auszusprechen wagte.
Zwei Wochen zuvor war es in Schanghai zu einem Totalausfall gekommen. Der Strom war ausgefallen. Das Wasser war ausgefallen. U-Bahnen und Züge waren ausgefallen. Selbstfahrende Autos – komplett eigenständige Dinge, die eigentlich völlig unabhängig von der Außenwelt sein sollten – waren ausgefallen. Automatisierte Lebensmitteltransporter und Güterlieferwagen waren ausgefallen. Abwasserpumpen, die Schanghai vor einer Überflutung bewahren sollten, waren ausgefallen. Menschen waren gestorben. Sie ertranken in Kellergeschossen und U-Bahn-Zügen, während Dreckwasser über ihren Köpfen aufstieg.
Li-Hua erschauderte.
Sogar Überwachungssysteme waren ausgefallen. Rot leuchtende Beobachtungsdrohnen mit ihren Quadrokopter-Tragwerken hörten einfach auf zu fliegen, fielen vom Himmel und zerschmetterten auf den Straßen wie kaputtes Spielzeug.
Wie das die Verantwortlichen in Schrecken versetzt haben musste!
Es kam zu Aufständen. Soldaten hatten Leute erschossen. Schanghai befand sich am Rande des Wahnsinns in diesen ersten paar Tagen, bevor die Ordnung wiederhergestellt worden war.
Sie nannten es »kaskadierende Systemausfälle«, einen »schlampigen westlichen Kodex«. Irgendein stellvertretender Junior Assistent eines Ministerialberaters wurde für Nachlässigkeit im Umgang mit Verwaltungssystemen verhaftet.
Und doch gab es sie. Und sie waren dabei, die am höchsten entwickelte elektronische Entität, die es auf diesem Planeten gab, zu deaktivieren.
Und was war mit der Politik, was war mit Peking?
Nun, das Politbüro hatte einen ziemlich beeindruckenden Wechsel in seiner Zusammensetzung erfahren.
Gab es da einen Zusammenhang zwischen all diesen Begebenheiten? Oh nein ... natürlich nicht.
Ein dröhnender Bass erklang, um die Ankunft des Riesenaufzuges anzukündigen. Das Schleifgeräusch hielt inne. Und dann schoben sich massive Türen auf, die Chen und dieses äußerst merkwürdige Kind zum Vorschein brachten, das sonderbar zu ihr hinauflächelte. Warum hatte er sie hierher mitgebracht?
»Verehrter Professor«, fing Li-Hua an.
»Li-Hua«, sagte Chen. »Vervollständigen Sie die Datensicherungen und initiieren Sie den Shutdown. Ich erwarte Ihren Bericht.« Chen ging auf die Wärter zu, seine seltsame Tochter im Schlepptau, und ließ sich scannen.
Chen würde also gar nicht teilnehmen? War es etwa zu viel für ihn, mit anzusehen, wie seine goldene Gans geschlachtet wurde? Umso besser.
»Dann folgen Sie mir«, sagte Li-Hua zu dem Team, das hinter ihr stand. Sie betrat den Aufzug. Die Wächter hatten sie bereits gecheckt und sichergestellt, dass sie keine elektronischen Geräte bei sich hatten.
Die einzigen Daten, die diesen Raum heute verlassen würden, waren die in Li-Huas Ausrüstungskoffer in einem der drei Speicherauszüge von Shus Gehirn, die an sichere Standorte zur sicheren Verwahrung gesendet wurden.
Sie gab dem Team einige letzte Anweisungen, während der riesige Aufzug den kilometerlangen Schacht hinunterstieg. Die Sicherheitskopie eines Quantencomputers zu erstellen war ein heikles Unterfangen. Der Kein-Klonungs-Lehrsatz legte eigentlich fest, dass es technisch unmöglich sei. Keine Quantenbeschaffenheit konnte präzise geklont werden. Sie würden lediglich eine ungefähre Aufzeichnung machen können. Und um dies zu erreichen, würden sie Funktionen kollabieren lassen müssen. Sie würden Qubits, die in eine unbestimmte mathematische Zwischenstufe von Einsen und Nullen aufgehoben worden waren, zwingen müssen, sich zu entscheiden, entweder die eine oder die andere bestimmte Position anzunehmen.
Für Su-Yong Shu würde dies einen Tod der Möglichkeiten bedeuten, das Ende ihres Bewusstseins. Selbst wenn eine Annäherung an ihren Wesenszustand in einer Speicherform niedergeschrieben worden war, die es erlauben würde, sie eines Tages – annähernd – wieder auferstehen zu lassen.
Dennoch mussten sie enorm vorsichtig sein. Ein kleiner Fehler könnte eine katastrophale Kaskade von Dekohärenzen auslösen und die Spannungskurven zu frühzeitig einbrechen lassen, was eine Lawine in ihrem simulierten Geist auslösen würde, die alle Informationen vernichten würde, bevor sie sie erfassen konnten. Li-Hua würde das nicht zulassen. Ebenso wenig würde ihr Team das tun. Sie würden es richtig machen – um ihretwillen, wenn nicht für Chen.
Dies war ihre Domäne. In der Außenwelt war sie niemand Besonderes. Sie war nicht reich. Sie war nicht berühmt. Sie stammte aus keiner bedeutenden Familie. (Natürlich standen diese drei Merkmale in unmittelbarem Zusammenhang miteinander, nicht wahr?)
Aber sie war extrem intelligent. Sie war ihren Untergeordneten gegenüber immer fair. Und sie arbeitete hart – viel härter als der weltberühmte Ehrenprofessor Chen. Vor ihm war das Team vielleicht voller Respekt, mochte ihn vielleicht verehren, mochte um seine Gunst betteln. Aber ihr gegenüber waren sie loyal. Es würde etwas traurig werden, das Team zurückzulassen.
Der Aufzugston erklang bei seiner Ankunft im Erdgeschoss. Seine wandhohen, metallenen Türen öffneten sich. Einen Moment später schoben sich die meterdicken sandgestrahlten Tore des Physikalisch Isolierten Computercenters auf.
Der Zeitpunkt für Li-Hua war gekommen, ihr Team dabei anzuführen, Su-Yong Shu zu töten.
Sie nahm ihren Sitz an der Zentralkonsole ein, während sich die anderen auf ihre jeweiligen Aufgabengebiete aufteilten.
Zuerst ließ sie die Systemdiagnose laufen. Su-Yong Shu sah außergewöhnlich gut aus heute. Es war eine höhere Nervenkohärenz zu beobachten, als sie in den letzten Monaten je gesehen hatten. Hatte Chen etwas damit zu tun? Hatte er einen allerletzten Versuch gestartet, seine Frau vom Abgrund zurückzuhalten?
Li-Hua schüttelte den Kopf. Nun machte es auch keinen Unterschied mehr. Was auch immer er versucht hatte, würde in den Protokolldateien zu sehen sein, die sie als Snapshots in Shus Gehirn verankert hatten.
Sie stellte den Ausrüstungskoffer neben sich und öffnete ihn. In dem Koffer befand sich ein versiegelter elektronischer Schlüssel, der die Datenausgabesysteme des Quantenclusters aktivieren würde. Daneben lagen vier perfekt geschnittene, diamantartige Datenwürfel, jeder einzeln eingebettet in gesonderte Behälter. Jeder einzelne von nahezu der Größe ihrer Faust, jeder einzelne ein Wunderwerk, geschaffen aus hochpräzisen, vielschichtigen Carbonablagerungen – ihre Strukturen waren makelloser als jeder Diamant, der jemals in der Natur vorgefunden worden war – und sie waren imstande, hunderte von Zettabytes an Daten, holografisch mit Laser eingeätzt, aufzubewahren.
Drei davon waren für die drei Kopien, die von Shus Geist gemacht werden würden. Der vierte war pure Redundanz, für den Fall, dass ein Problem mit einem der ersten drei auftreten würde.
Li-Hua zog den Schlüssel aus dem Etui, brach das Siegel mit ihrem Finger auf und ließ ihn in den passenden Schlitz in der Konsole gleiten. Vor ihrem Auge erschien die blutrote Kugel eines Netzhautscanners und sie hielt still, während der rote Laserstrahl seine Runden quer über ihren Augapfel machte. Einen Moment später erschienen Statusmeldungen auf dem Bildschirm:
BENUTZERZUGRIFF GEWÄHRT.
DATENAUSGABESYSTEM AKTIVIERT.
AUSGABEMEDIEN WERDEN GELADEN.
Li-Hua ließ ihre Finger über die Paneele der Hauptkonsole gleiten, woraufhin sich drei Fächer öffneten, um die diamantartigen Datenwürfel in sich aufzunehmen. Sie griff erneut in ihren Ausrüstungskoffer und holte den ersten Datenwürfel aus seinem Behälter hervor, um ihn in das Konsolenfach einzusetzen. Mit dem zweiten tat sie das Gleiche. Dann rieb sie für einen Moment lang mit dem Finger eine Stelle hinter ihrem Ohr, griff in dem Behälter nach dem dritten Würfel und wischte mit diesem Finger quer über die Vorderseite des Würfels, was einen nahezu transparenten Fleck auf der diamantoiden Oberfläche hinterließ.
Zumindest schien er für das Spektrum des menschlichen Auges transparent.
Li-Hua nahm den beschmutzten dritten Würfel, platzierte ihn in seinem Fach am Rand der Konsole und gab ihre Befehle ein.
DATEN I/ O TEST
DATENSPEICHER 1 ... OK
DATENSPEICHER 2 ... OK
DATENSPEICHER 3 ...
DATENSPEICHER 3 ...
DATENSPEICHER 3 ... ERROR KANN NICHT BESCHRIEBEN WERDEN
Li-Hua runzelte die Stirn. »Jingguo«, sagte sie laut. »Können Sie mal einen Moment herkommen?«
Sie ließ den I/O Test erneut laufen, als der andere Wissenschaftler herantrat.
DATEN I/O TEST
DATENSPEICHER 1 ... OK
DATENSPEICHER 2 ... OK
DATENSPEICHER 3 ...
DATENSPEICHER 3 ...
DATENSPEICHER 3 ... ERROR KANN NICHT BESCHRIEBEN WERDEN
»Hmmm...«, machte Jingguo. Er war in den Fünfzigern, ein weißhaariger, väterlicher Typ, jedoch äußerst intelligent. Sie war Mitte Dreißig und hatte ihn bereits in den Schatten gestellt – und das war eine seltene Glanzleistung in einem China, das diskriminierender und sexistischer war, als es das jemals zugeben würde.
Sie hatte mehr verdient.
»Ich werde den Back-up-Datenwürfel benutzen«, sagte Li-Hua. »Stimmen Sie zu?«
Jingguo nickte langsam. »Ich stimme zu.«
Li-Hua nickte ebenfalls. »Danke, Jingguo.«
Sie öffnete das Fach für den dritten Datenwürfel, nahm ihn heraus und ersetzte ihn durch den Reservewürfel aus dem Ausrüstungskoffer.
Diesmal verlief der Test reibungslos.
Von hier an war es ein Kinderspiel. Su-Yong Shu starb stückchenweise. Li-Hua schaute fasziniert dabei zu, wie die Fehlerdiagnose immer unregelmäßiger wurde, als Su-Yong Shus simuliertem Gehirn bewusst wurde, was da gerade geschah. Sie beobachtete wie die Hirnaktivität hinaufschnellte, während jedes einzelne Bruchstück von Su-Yong aufgebrochen und in dreifacher Ausfertigung in die bereitstehenden Diamantoide umgeschrieben wurde.
Was du wohl gerade denkst?, fragte sich Li-Hua. Was fühlst du? Hast du Angst? Tut es weh?
Sie schüttelte den Kopf. Das alles war nun irrelevant.
Stunden später, als der Prozess zum Ende kam, hob Li-Hua die drei Würfel behutsam aus ihren Fächern heraus. Die ersten beiden kamen in die ersten zwei Behälter des Ausrüstungskoffers. Der dritte Datenwürfel kam in den Behälter für das ungenützte Ersatzteil, und das mit einem vollwertigen Datensatz.
Der dritte Datenwürfel fuhr im Ausrüstungskoffer mit, den Li-Hua um ihre Schulter trug. Er fuhr durch die aufgeschobenen meterdicken sandgestrahlten Tore in den gewaltigen Fahrstuhl und dann den kilometerlangen Schacht hinauf, bis sie oben angelangt waren. Er passierte mit ihr die Sicherheitskontrollen, an den Wächtern vorbei, die sie erneut scannten, um sicherzugehen, dass nichts hinausgeschmuggelt wurde.
Sie öffneten den Ausrüstungskoffer, führten eine Bestandsaufnahme durch, stellten sicher, dass sich lediglich die im Protokoll spezifizierte Anzahl an Geräten darin befand. Er fuhr mit ihr hinaus in das Secure Computing Center, in einen Konferenzraum, wo Li-Hua den Koffer wieder öffnete und die anderen drei Datenwürfel, die sich in ihren gesonderten Behältern befanden, herausnahm und sie an die Männer des Ministeriums für Nationale Sicherheit und an die des Ministeriums für Wissenschaft und Technologie aushändigte. Im wiederverschlossenen Koffer kam er mit in Li-Huas klitzekleine Kammer, die sich ihr Büro nannte.
Dort wurde er aus dem Ausrüstungskoffer herausgenommen und in eine einfache, kleine Papiertüte in Li-Huas geräumiger Handtasche verstaut, wo er kurz gegen einen fast identischen Datenwürfel stieß, bevor sein Doppelgänger die Handtasche verließ, um seinen Platz im Ausrüstungskoffer anzunehmen.
Von dort aus ging der Datenwürfel in Li-Huas Handtasche mit zu einer Einrichtung, bei der sie den Ausrüstungskoffer zurückgab und meldete, dass einer der Datenwürfel einen Fehler aufgewiesen hatte und nun ungebraucht zurückgebracht wurde, an Stelle des Ersatzwürfels.
Er fuhr mit Li-Hua bis an die Erdoberfläche auf den sumpfigen, grauen Campus der Jiao Tong Universität, wo die Stromversorgung erst vor Kurzem wiederhergestellt worden war. Mit zu einem Café, wo Li-Hua sich Nudeln bestellte und sie auf einer öffentlichen Bank aß, während sie auf eine Großleinwand starrte.
Der Nachrichtensender informierte den Rest Schanghais über die neuesten Vorkommnisse bei der Wiederherstellung der Stromversorgung und anderer Dienstleistungen, und fast wie gedankenverloren zog sie den Datenwürfel in der schlichten Papiertüte hervor und ließ ihn auf dem Tisch liegen, als sie ging.
Von dort wurde er von einer unscheinbar aussehenden Studentin aufgesammelt, die neben Li-Hua auf der Bank gesessen hatte. Die Studentin lief mit der Papiertüte quer über den feuchten Campus in Richtung des Gebäudes der Politwissenschaften, wo sie die Tüte im Vorbeigehen an einen dunkelhäutigen Mann mit Schirm übergab, ohne dabei das Gehtempo zu verzögern. Nach hundert Metern machte der Mann kehrt und lief durch das West-Tor der Jiao Tong Universität hinaus auf die Huaihei-West-Straße. Er lief mit hochgehaltenem Schirm den Kilometer zur Hongqiao Straße gegen den immer wiederkehrenden Nieselregen. Als Folge der Erschütterungen, die Schanghai zwei Wochen zuvor getroffen hatten, war der Straßenverkehr noch immer nur minimal.
In der Hongqiao Straße wartete ein Wagen auf ihn. Eines der verdunkelten Fenster wurde heruntergelassen. Daraus streckte sich eine Hand hervor, und der Mann übergab die Tüte. Das Auto fuhr weitere drei Kilometer Richtung Westen, bevor es in eine Gasse einbog und dann durch die sich gerade wieder schließenden Metalltüren eines Gebäudes hindurch schlüpfte, das eine orange-weiß-grüne Flagge trug.
Die Flagge der Republik Indien.
Li-Hua war in der Zwischenzeit bereits auf ihrem Heimweg und träumte von der Anerkennung für diese und jene anderen Daten und Spezifikationen, die sie überliefert hatte.
Bald würde sie reich sein. Und berühmt. Bald wäre sie Ehrenprofessorin Qui für Quantencomputing am Indian Institute of Technology in Bangalore.
Dreitausend Kilometer entfernt, in den thailändischen Gebirgen nordöstlich von Bangkok, jenseits von Saraburi, jenseits von Nakhon Nayok und jenseits von Ban Na, lehnte sich ein schlanker, weise aussehender Mann in orangefarbenen Gewändern an die Balustrade eines aus dem nackten Felsen herausgearbeiteten Klosters, mit einem ruhigen Lächeln auf seinem Gesicht. Seine Hände still in seinen Ärmeln verschränkt, stand er da, umgeben vom Höhepunkt seines Lebenswerks.
Professor Somdet Phra Ananda schaute hinaus zum reizenden, nahegelegenen Tal, das sich vor dem Kloster erstreckte: Die prachtvollen, von Grün bedeckten Berge, die sich vor und über ihm emporhoben, mit ihren grauen Flanken, darunter der See mit seinem Wasserfall, der beständig aus ihm hinausströmte und einen willkommenen, beruhigenden Klang von fließendem Wasser erzeugte. Weit unterhalb davon das Band des Flusses, welches die Reisfelder im Süden versorgte, bevor es sich in den Golf von Thailand ergoss. Die Natur war wahrhaftig erhaben.
Er schloss seine Augen, und was er fühlte, war sogar noch erhabener: Mehrere hundert Mönche, über zwanzig Klöster verteilt, die alle zusammen meditierten, mit synchronem Atem, synchronem Herzschlag, synchronen Gedanken. Bewusstseine, die verschmolzen, sich vereinten, wie die Bauten der Maya, die sich aus ihren miteinander verflochtenen Bewusstseinen als etwas Weiseres und Reineres wieder erhoben, als etwas Größeres als die Summe ihrer zerbrechlichen, menschlichen Anteile.
Es jagte für einen Moment durch ihn hindurch und wusch alles andere beiseite. Das war, wofür er sein Leben lang gearbeitet hatte – eine Verschmelzung von Neurowissenschaft und Buddhismus, eine Verschmelzung ihrer Werkzeuge und Ziele, um die Menschheit voranzubringen, um Frieden und Harmonie zu fördern, um eine Art Nirvana auf Erden zu verwirklichen.
Er glaubte, dass es das war, worauf Buddha höchstpersönlich hingearbeitet hätte, wäre ihm das Wissen um neuronale Schaltkreise und Carbon-Nanotechnologie und um Synapsenübertragung via Funkfrequenz zugänglich gewesen.
Und doch zog sich Ananda langsam aus dieser seligen Vereinigung heraus, aus der freudigsten, wahrhaftigsten, friedlichsten Sache, die er je erfahren hatte. Wegen dieses Jungen. Des Jungen, der ihnen einen großen Schub in diese Richtung gegeben hatte, dessen Werkzeuge es ihnen erlaubt hatten, viele weitere Meditierende in ihre Gemeinschaft hineinzubringen, und der ihnen die Fähigkeit gegeben hatte, sogar Klöster, die tausende von Kilometern entfernt waren, mit ihrer Gemeinschaft zu vernetzen.
Der Junge, der Ananda vertraut hatte und zwei Mal verraten wurde, dessen Leben gefährdet wurde durch diejenigen, denen Ananda vertraut hatte.
Im Ärmel seiner Robe versteckt spannte sich einer seiner Finger ganz leicht an. Ananda fühlte, wie sein Puls um einen Schlag anstieg, sein Atem kürzer wurde. Er beobachtete dies ganz ruhig, ohne es zu beurteilen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was sein Körper ihm über seine Emotionen offenbarte, über seine Haltung zu dem mehrfachen Verrat.
Du wirst nicht für deine Wut bestraft werden, sagte Buddha einst. Du wirst von deiner Wut bestraft werden.
Es verblüffte Ananda, wie wenige dies doch verstanden. Er machte einen weiteren leichten Atemzug, entspannte sein Gesicht, ließ das sanfte Lächeln die tieferen Schichten seines Gehirns und seines Friedens inspirieren.
Die Vergangenheit war vergangen.
Der Junge war wieder aufgetaucht. Er war am Leben und vermutlich war er frei, all der Bemühungen so vieler Menschen zum Trotz. Doch er war wieder aufgetaucht an einem Ort und in einer Art und Weise, die die Welt ohne jeden Zweifel erneut verändern würde.
Alles verändert sich, sagte Buddha einst. Nichts bleibt ohne Veränderung.
So sei es.
Der Junge ist wieder aufgetaucht. Sowohl aus eigenem Antrieb als auch aufgrund des Gesuches seiner Regierung musste Ananda ihn ausfindig machen.
Der Avatar starrte durch Lings Augen aus dem Fenster des Hochhauses hinaus, in dem sie mit Chen gewohnt hatte, auf das Spektakel von Schanghai, während er sich kraftlos ins Leben zurück kämpfte. Ein feiner Nieselregen fiel aus den heute verdächtig tief hängenden Wolken. Unter ihnen bewegten sich ein paar Autos auf den Straßen dieses exklusiven Viertels von Pudong. Die Lichter in den Fenstern waren wieder an. Das unmenschlich perfekte, zwanzig Stock hohe Antlitz Zhi Lis zwinkerte und schmollte erneut von der Fassade des Wolkenkratzers ihr gegenüber herunter und hielt für andere Menschen unzählige Waren zum Kauf bereit.
Es schwebten sogar wieder eine Handvoll rot leuchtender Überwachungsdrohnen über ihnen, die via Schienenverkehr von Suzhou eingeführt wurden. Doch hinter dieser ganzen Fassade lagen Furcht und Angst.
Genau wie bei ihr selbst. All die Monitore. All die Jäger. So viele gezähmte künstliche Intelligenzen und fremdartige, unmenschlich entwickelte Codes, die sich frei im lokalen Netz bewegten. So viel Software und Hardware, die dazu dienten, die Ursache des Desasters zu finden, das vor zwei Wochen über Schanghai hereingebrochen war.
Die dazu dienten, sie zu finden.
Ich bin alles, das zwischen dieser Welt und der Dunkelheit steht, sagte sie zu sich selbst. Wenn ich sterbe, stirbt der einzig wirkliche Posthumane, der sich auf dieser Erde befindet. Ich werde nicht versagen.
Es war an der Zeit, mit dem Plan voranzukommen. Zeit, das Chaos zu schaffen, das die Weltmächte ablenken und ihr den Raum verschaffen würde, ihr größeres Selbst wiederherzustellen und die posthumane Transition einzuleiten.
Zunächst musste sie eine Bestandsaufnahme ihrer Ressourcen machen. Su-Yongs Avatar machte sich daran, sorgfältig das Netz zu durchsuchen, die Jäger auszutricksen, immer wieder auf ihren Pfaden zurückzukehren, jeden ihrer Schritte zu kaschieren und vorher dreifach zu prüfen. Sie war sich bewusst, dass auch nur der kleinste Ausrutscher das Ende bedeuten könnte.
Bedächtig, äußerst bedächtig, suchte sie nach dem Rest ihrer Kinder.
Von einem geheimen Komplex innerhalb des Dachang Militärflugplatzes aus zapfte sie sorgfältig einige hundert Videoausschnitte von den am wenigsten bewachten Überwachungsmonitoren ab. Sie ließ sich einige Minuten Zeit dafür und war darauf bedacht, keinen der Monitore auszulösen, die unübliche Vorgänge im Netzwerk beobachteten.
Die Aufnahmen bestätigten, was sie vermutet hatte. Bai und seine Brüder waren hier. Die Konfuzianische Faust. Klonsoldaten. Jeder von ihnen tödlicher als jedes menschliche Wesen, das jemals geboren worden war.
Soweit Chen informiert war, standen sie unter Bewachung oder waren auf den Verdacht hin verhaftet worden, dass sie hinter dem Anschlag auf Schanghai steckten.
Das Bildmaterial zeigte ihr, dass ihre Waffen konfisziert, sie hinter verstärkten Titantüren eingepfercht waren und von bewaffneten menschlichen und automatisierten Wachposten bewacht wurden.
Eingepfercht wie Tiere, dachte der Avatar, wie die Sklaven, die sie waren, bevor ich sie befreite.
Sie würde diese Männer brauchen. Sie würde sie in Freiheit brauchen. Sie zog sich zurück, raus aus Dachang, hinein in die zivile Infrastruktur drumherum. Dann errichtete sie ihre eigenen Überwachungssysteme, die beobachteten, wer kam und wer ging. Systeme, die nach einem Weg hinein suchen sollten, nach einem Weg, diesen Ort zu unterwandern und ihre Kinder zu befreien.
Ihre Schüler und Angestellten waren als Nächstes an der Reihe. Diejenigen, deren Bewusstseine sie selbst um die Neurotechnologie erweitert hatte. Sie fand sie. Einen nach dem anderen. Tony Chua, der aus Kanada zurückgekehrt war, um die Position des leitenden Wissenschaftlers in ihrem Team einzunehmen. Jiang Ma, die hochintelligent sein würde, wenn sie mit fünfzehn das College beendet hatte. Sie erinnerte Su-Yong an eine jüngere Version ihrer selbst, die mit achtzehn ihren Doktortitel erlangt hatte. Fang Tseng, der sich von einer aggressiven und eingebildeten Persönlichkeit hin zu einem bescheidenen, ehrfürchtigen Menschen entwickelt hatte, seit sie die Nanomaschine in sein Gehirn injiziert und ihm gezeigt hatte, was tatsächlich im Bereich des Möglichen lag.
Sie fand sie alle. Und andere.
Sie wurden beobachtet, alle von ihnen. Mit direkten Kanälen zu ihren Netzwerkanschlüssen. Physische Überwachungsapparate an ihrer Kleidung und in ihren Wohnungen. Würde sie versuchen, jemanden von ihnen zu kontaktieren, war es mehr als wahrscheinlich, dass das bemerkt werden würde.
Weitere Vergehen, für die der alte Mann, der dieses Land regierte, verantwortlich gemacht werden würde. Unwillkürlich ballten sich die Hände ihrer Tochter zu Fäusten.
Sie würde einen anderen Weg finden müssen. Sie ging tief in sich, fand die fraktal komprimierten Pläne, die sie erstellt hatte. Das Meta-Modell mit seinen Wahrscheinlichkeitsdiagrammen und komplexen Verbindungsgeflechten umzusetzender Verläufe, die ihr höheres Selbst innerhalb der letzten Stunde aufgestellt hatte.
Sie ließ es in sich heranwachsen, ließ sich komplett davon einnehmen, die Welt um sie herum aufsaugen, absorbierte die Informationen aus der Flut an Daten und Nachrichten der Welt und aktualisierte die tausend Zukunftsprognosen des Modells um die jüngsten Informationen.
Ein äußerst komplexes Geflecht von miteinander verbundenen Linien erfüllte ihr Sichtfeld und zeigte ihr die Permutationen der Realität auf, als sie nach den ausschlaggebenden Knoten suchte, nach den Kernpunkten im Netzwerkgraphen der menschlichen Gesellschaft. Dort, wo die größte Dichte an Linien zusammenkam, dort konnte eine maximale Störung erzielt werden.
Die Anspannung war überall zu spüren. Der Angriff auf Schanghai. Der Putsch in China, der den Minister für Nationale Sicherheit Bo Jintao und die Hardliner an die Macht brachte. Die Zusammenkunft der Liberalen und Intellektuellen und das Murren unter den Studenten. Die wachsenden Spannungen zwischen Indien und dem Kopenhagener Abkommen, die vermutlich durch Kaden Lanes Ankunft dort einen Höhepunkt erreichen würden. Die brodelnde Unruhe drohte in Protesten über das Zensurrecht in Russland auszubrechen, über die Rechte der Frauen in Ägypten, über die Energiekosten in Brasilien. All diese Unruhen könnte sie ausnutzen. All diese Unruhen würde sie ausnutzen.
Aber das bei weitem explosivste Pulverfass stellten die Vereinigten Staaten dar. Eine riesige Kirche war komplett niedergebrannt. Ein beliebter religiöser Anführer und ein Senator waren gleichzeitig ermordet worden. Die US-Regierung selbst schürte Anschuldigungen, dass Terroristen hinter diesen Vorfällen steckten und dass sogar Regierungsbeamte ermordet wurden, um dies geheim zu halten. Anschuldigungen, von denen Su-Yong Shu wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Und das alles geschah vor dem Hintergrund der in zwei Tagen anstehenden Wahlen. Wahlen, die nach einem politischen Erdrutsch für den derzeitigen Amtsinhaber aussahen.
Dies alles für sich zu behalten war zu viel; sogar die Belastbarkeit der Nanomaschinen im Gehirn ihrer Tochter erreichte fast ihre Grenzen ...
Sie spürte, wie Ling überlastet wurde durch die geistige Ladung der Nanoknoten, die hungrig die ATP – Adenosin-Tritophosphate – aus ihrem Wirt saugten, um Energie zu gewinnen.
Sie fühlte, wie das, was von ihrer Tochter übriggeblieben war, schrie.
Ihr Körper verkrampfte dann, ihre Gliedmaßen zitterten. Ihre Beine brachen fast unter ihr zusammen und alles, was sie tun konnte, war vornüber zu fallen, wobei sie kaum die Kontrolle über ihre Hände wiedergewinnen konnte, um sich an der Fensterscheibe abzufangen.
Ling kämpfte gegen sie an, kämpfte um die Kontrolle über ihren eigenen Körper und nutzte die Momente der kompletten geistigen Versunkenheit des Avatars dafür.
Nein! Schrecken breitete sich in ihr aus. Ihre Tochter musste am Leben bleiben! Aber sie durfte den Plan nicht sabotieren! Der Avatar kämpfte dagegen, zwang eine höhere Stromstärke durch die Nanoknoten, durch die er operierte. Su-Yong manifestierte ihren Willen stärker in die Neuronen in Lings biologischem Gehirn und verankerte ihn fest, fester und noch viel fester.
»Hah!«, hörte sie Chen vom anderen Ende der Wohnung sagen. »Du kannst nicht einmal deine Abscheulichkeit von Tochter kontrollieren.«
Ling kämpfte weiter an, kämpfte gegen die Ströme an, die der Avatar durch ihre Nanomaschinen jagte.
Der Avatar verfestigte seinen Willen, drängte die Stimulation von Lings Neuronen bis an die Grenze des Sicheren und sogar noch weiter, bis hin in eine Gefahrenzone. Sie spürte Lings Schmerzen, spürte ihre Angst und den Schrecken. Und dennoch widersetzte sie sich.
Oh, Tochter.
Der Avatar drängte noch stärker, riskierte einen Burn-out, riskierte ihren Nerventod, fühlte Ling unter diesem Todeskampf erzittern und schließlich gab das, was von dem Mädchen übrig war, auf.
Ihre Muskeln erschlafften und sie sank gegen die Fensterscheibe in sich zusammen. Ihr Atem wurde schnell, ihr Herz schlug in einem rasenden Tempo und versuchte den plötzlich ausgehungerten Gehirnzellen Sauerstoff und Nährstoffe zuzuführen.
»Sie werden dich töten«, sagte Chen. »Sie werden dich finden und das, was von dir übriggeblieben ist, auseinanderreißen, werden die Abscheulichkeit dieser Tochter, die du bewohnst, töten und die Kopien, die du von dir gemacht hast, vernichten. Sie werden das Quantencomputing-Cluster auslösch... AAAAAAAAAAAAAA.«
Hass pulsierte durch den Avatar. Sie konzentrierte ihre Gedanken und sendete einen Schmerzstoß durch Chen Pang, ihren Ehemann, ihren Verräter. Sie jagte ihn durch jedes Schmerzzentrum seines Gehirns und ließ ihn unter Höllenqualen auf seine Knie sinken.
»Nein«, sagte sie laut mit Lings Stimme. »Ich werde mich vor ihnen verstecken. Ich werde ihnen ausweichen. Und ich werde sie angreifen, wenn sie es nicht erwarten.«
Der Avatar wartete, ließ das Gehirn ihrer Tochter seine Giftstoffe ausspülen, ihren Puls und Atem in den Normalzustand zurückkehren und zwang den Körper ihrer Tochter, sich zu beruhigen und seine Nährstoffzufuhr wiederaufzufüllen.
Ling blieb ruhig. Missmutig und dennoch nachgiebig.
Sie ließ Chen in diesem Zustand zurück, sich vor unerträglichen Qualen stumm windend. Ihr Ehemann hatte sie vor so langer Zeit ohne ihn in diese Limousine steigen lassen, hatte sie nicht davor gewarnt, was sie erwarten würde.
Er war bereit gewesen, sie in diesem Autobombenanschlag sterben zu lassen, ihren ungeborenen Sohn sterben zu lassen, ihren Mentor Yang Wei sterben zu lassen. Er hatte sie belogen, hatte sie glauben lassen, dass die CIA versucht hatte, ein Attentat auf sie zu verüben, während es all die Zeit über Chinas Hardlinder gewesen waren. Und dann hatte er sie gefoltert, in dem Versuch ein paar letzte Geheimnisse aus ihr herauszuquetschen.
Chen verdiente all das und Schlimmeres.