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Lola ist Catgirl. Als megaberühmte Superheldin kämpft sie für das Gute, und als megaberühmter Filmstar begeistert sie alle Kinozuschauer. - Das passiert allerdings leider nur nachts, wenn Lola wieder nicht einschlafen kann. Tagsüber ist sie das Schneewittchen im Schultheaterstück. Der Weg zum Ruhm ist eben lang und hart. Doch dann werden Lola und ihre beste Freundin Flo von der Agentin einer Kinder-Casting-Agentur entdeckt und zu einem Vorsprechen für den Kinofilm "Draculas Töchter" eingeladen! Catgirl war gestern, jetzt sieht sich Lola schon als Vampir durch die Lüfte fliegen ... Die warmherzig und humorvoll erzählte Spiegel-Bestseller-Reihe der renommierten Autorin Isabel Abedi um das beliebte Mädchen Lola, ihre Familie und ihre Freunde.
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Seitenzahl: 207
1.
WARUM ERST DAS GANZE KINO UND DANN MEINE BESTE FREUNDIN WEINTE
Meine Freundin sagt, manchmal ist das Leben eine schwarze Katze. Es schleicht sich unbemerkt an einen ran, fährt die Krallen aus und zerkratzt einem das Herz. Meine Freundin sagt dauernd so seltsame Sachen über das Leben und früher wusste ich manchmal nicht, was sie damit meint. Aber dann war mein Leben plötzlich eine schwarze Katze und als es die Krallen ausfuhr, verstand ich meine Freundin. Nur dass sie da nicht mehr meine Freundin war – und genau darum geht es in dieser Geschichte. Es geht natürlich noch um mehr; um Schneewittchen und die sieben Zwerge, um Draculas Töchter und meinen Kampf mit dem Drachen, um den Cooltuer, Gloria und den König der Löwen und natürlich um meinen Wunsch und den Unfall, der … Aber halt, jetzt bin ich viel zu weit gegangen. Das versteht ja kein Mensch, wenn ich die Geschichte von hinten erzähle. Also beginne ich beim Anfang.
Am Anfang war ich Catgirl und draußen fiel Schnee. Der Schnee war weiß und mein Lederkostüm war schwarz wie meine Lackstiefel und mein Katzenschwanz, den ich auf dem roten Teppich hinter mir herzog. Der rote Teppich lag vor dem Kino, denn heute feierte mein Spielfilm Premiere.
Seit Monaten lief die Vorschau in allen Kinos und die Welt konnte es kaum noch erwarten, mich zu sehen. Mich, die berühmte Schauspielerin Lola Veloso – als Catgirl. Natürlich hatte ich schon in vielen Filmen die Hauptrolle gespielt, aber Catgirl war eindeutig der beste. Als im Kino das Licht ausging, war es totenstill. Dann öffnete sich der Vorhang und der Film begann: Ich kletterte auf Hochhäuser, ich schlug die Feinde mit meinen Krallen in die Flucht und natürlich rettete ich die Welt. Aber meine Lieblingsszene war die, in der ich den Jungen rettete, den ich liebte. Und ihn anschließend küsste. Der Junge, den ich liebte, hieß Alexandre. Ich hatte ihn in mein Versteck gebracht, denn er war schwer verletzt und deshalb küsste ich als Erstes seine Wunden. Als Catgirl hatten meine Küsse eine magische Wirkung, müsst ihr wissen. Als ich seine Wunden heil geküsst hatte, küsste ich Alexandre auf den Mund. Dort war er zwar nicht verletzt, aber eine magische Wirkung hatte mein Kuss auch dort, denn Alexandre fragte mich, ob ich ihn heiraten würde. Ich überlegte und dann sagte ich „Miau“, das hieß in der Katzensprache: „Ja, ich will.“
An dieser Stelle weinten alle Leute im Kino, am meisten mein Papai, der natürlich auch zur Premiere gekommen war, zusammen mit Mama, Oma, Opa, meiner Tante Lisbeth, Penelope, meinem Freund Alexandre und meiner besten Freundin Flo. Die hatte übrigens auch eine Rolle in Catgirl, nur nicht die Hauptrolle, denn die hatte ja ich. Trotzdem fing auch meine beste Freundin an zu weinen. Erst leise und dann immer lauter und dann so laut, dass ich meine Augen öffnete – und zurück in die Wirklichkeit kehrte. Ihr wisst schon, wohin, oder?
Ja, die Wirklichkeit, das war mein Kinderzimmer in der Bismarckstraße 44 – und dort war ich zwar Lola Veloso, aber nicht Catgirl und auch keine berühmte Schauspielerin, sondern die Tochter von Mama und Papai, Enkeltochter von Oma und Opa, Nichte von Tante Lisbeth, beste Freundin von Flo – und schlaflos wie fast jede Nacht. Ihr wisst ja, wenn ich nicht schlafen kann, fange ich an zu träumen und stelle mir vor, wer ich wohl wäre, wenn ich nicht ich wäre. Dann bin ich Sängerin oder Reporterin oder Spionin und habe meist auch einen anderen Namen. Aber als berühmte Schauspielerin habe ich beschlossen, meinen wirklichen Namen zu behalten. Erstens, weil ich für meine vielen Filmrollen sowieso immer andere Namen habe, und zweitens, weil Lola Veloso für eine berühmte Schauspielerin doch richtig gut klingt.
Der Junge, den ich liebe, heißt auch in Wirklichkeit Alexandre, weil er Franzose ist und in Paris lebt. Aber ich nenne ihn Alex und er nennt mich Lola Löwin oder „ma chérie“. Das ist der französische Ausdruck für „mein Liebling“ und er schmilzt auf der Zunge wie ein magisches Wort. Meine beste Freundin Flo lebt in Hamburg und in jener Nacht lag sie neben mir.
Sie schlief – und weinte. Sie weinte wirklich und so fürchterlich, dass meine ganze Kopfhaut kribbelte und ich Flo in die Wangen kniff, bis sie die Augen aufschlug, mich ansah und sagte: „Aua.“
„Wieso ‚Aua‘?“, fragte ich. „Hast du dir wehgetan?“
Flo schüttelte den Kopf. „Du“, sagte sie. „Du hast mir wehgetan.“
„Entschuldigung“, sagte ich. „Ich wollte doch nur, dass du aufwachst, deshalb hab ich dich gekniffen.“
Wieder schüttelte Flo den Kopf. „Das war es ja gar nicht. Es war das, was du gesagt hast.“
Hä? Wie jetzt? „Ich hab nichts gesagt“, sagte ich.
„Doch“, sagte Flo und ihre Stimme klang ganz piepsig. „Ich hasse dich und ich wünschte, du wärst tot! Das hast du gesagt und dann bist du weggelaufen und ich wusste, es war für immer.“
Ich setzte mich auf. „Das war doch nur ein Traum, Flo.“
„Ja, das weiß ich. Aber er war so …“, Flo fuhr sich durch ihre schwarzen Zauselhaare, „… er war so echt.“
Ich hielt meiner besten Freundin ein Taschentuch hin. „Mensch, Flo, so was würde ich doch niemals sagen!“
Flo putzte sich die Nase und dann stand sie auf, um sich etwas zu trinken zu holen. Als sie draußen war, hatte ich ein ganz komisches Gefühl im Bauch und das hörte auch nicht auf, als Flo zurück in mein Zimmer kam, sich neben mich legte und anfing, mit mir über das Theaterstück zu sprechen. Ein bisschen würde ich nämlich auch in der Wirklichkeit Schauspielerin werden. Ich würde zwar nicht Catgirl spielen, aber immerhin würde ich in ein paar Monaten auf unserer Schulbühne stehen – und mit etwas Glück die Hauptrolle in dem Stück bekommen, das Frau Wiegelmann sich für uns ausgesucht hatte. Es war Schneewittchen und morgen würden wir mit den Proben beginnen. Ehrlich gesagt finde ich das Stück ein bisschen peinlich. Ich meine, wir sind Viertklässler! Aber Opa sagt immer, am Anfang muss man kleine Brötchen backen und damit hat er ja auch recht. Catgirl konnte ich nachts sein. Tagsüber würde ich Schneewittchen spielen.
„Wenn Annalisa die Rolle nicht kriegt“, gab Flo zu bedenken. Annalisa hatte sich nämlich auch gewünscht, Schneewittchen zu sein.
„Annalisa!“, schnaubte ich. „Hast du schon mal ein blondes Schneewittchen gesehen?“
„Nö“, gab Flo zu. „Aber wenn es danach geht, kriegst du die Rolle auch nicht.“
Ich seufzte. Da hatte Flo leider recht. Schließlich war ich auch blond und nicht schwarzhaarig wie mein Papai, aber daran konnte man ja etwas ändern.
„Ich könnte mir eine Perücke kaufen. Oder mir die Haare färben.“
Flo gähnte. „Das könnte Annalisa aber auch.“
„Trotzdem“, sagte ich. „Wenn jemand Schneewittchen wird, dann ich. Das wirst du schon sehen.“
Ich kuschelte mich neben Flo und ein paar Minuten später war meine Freundin eingeschlafen. Ich dagegen blieb wach. Ich versuchte wieder Catgirl zu sein oder meine Premierenparty zu feiern oder zumindest Annalisa die Schneewittchenrolle wegzuschnappen. Aber irgendwie funkte mir immer dieser Satz dazwischen, den ich in Flos Traum gesagt hatte. Ich stand noch einmal auf und ging ans Fenster. Draußen schneite es tatsächlich in riesigen Flocken, und als ich das Fenster öffnete, war die Welt ganz wunderbar still.
„Ich werde dich nie hassen, Flo“, sagte ich leise in die Stille hinein. Da schmatzte meine Freundin im Schlaf und als ich mich neben sie legte, dachte ich, dass ich eigentlich sehr glücklich war. Ich hatte eine beste Freundin, ich hatte einen Jungen, den ich liebte und bald würde ich bestimmt auch eine tolle Rolle haben. Und dann wäre ich fast eine richtige Schauspielerin. Das jedenfalls sagte Papai, als wir am nächsten Abend in der Perle des Südens zu Abend aßen.
2.
DUNKLE GESICHTER UND EIN FLIEGENDER TASCHENKREBSSCHWANZ
Es ist noch gar nicht lange her, da sollte Die Perle des Südens Hamburgs größter Flop werden. Die Perle des Südens ist unser brasilianisches Hafenrestaurant, wo Flos Mutter Penelope als Kellnerin arbeitet, wenn sie nicht gerade auf der Bühne steht und singt und dabei aussieht wie ein Superstar. Nach ihrem letzten Auftritt hatte ihr sogar ein Musikproduzent das Angebot gemacht, zusammen mit dem brasilianischen Musiker Eduardo Macedo eine CD aufzunehmen. Und Die Perle des Südens ist jetzt Hamburgs größtes Top – dank mir und Flo. Damals waren wir Agentinnen in geheimer Mission und unser Feind war der Cooltuer, ein berühmter Restaurantkritiker, der Penelope schrecklich geärgert hat und mit einem schlechten Artikel unser Restaurant vernichten wollte. Aber das haben Flo und ich verhindert. Inzwischen ist der Cooltuer Stammgast in der Perle des Südens und Penelopes glühendster Verehrer. Er hat sie schon mindestens dreißigmal zum Essen eingeladen, aber bis jetzt hat Penelope noch keinmal Ja gesagt. Flo ist das ganz recht, aber mir tut der Cooltuer ein bisschen leid. Zum einen, weil ich finde, dass er gar nicht so cool ist, wie er tut, und zum anderen, weil er der Vater des Jungen ist, den ich liebe. Und letztendlich hat sein Artikel Die Perle des Südens nicht vernichtet, sondern gerettet. Deshalb hängt er seit Anfang des Jahres auch in einem goldenen Rahmen neben der Bar. Nicht der Cooltuer natürlich, sondern der Artikel, den er zum guten Schluss über unser Restaurant geschrieben hat. Darin steht unter anderem, dass Die Perle des Südens mit einem Zauber versehen ist, der seine Gäste in eine andere Welt entführt. In eine Welt der brasilianischen Genüsse, der brasilianischen Musik, aber vor allem der brasilianischen Lebensfreude.
Ich glaube, dass viele Menschen den Artikel gelesen haben, denn seit er Anfang Dezember in der Zeitung erschienen ist, freut sich Opa immer öfter, dass der Laden brummt. So wie heute, am Sonntag, als Flo und ich mit Mama ins Restaurant kamen. Unsere Weihnachtsferien waren vorbei und morgen fing die Schule wieder an. Frau Wiegelmann hatte versprochen, am ersten Schultag die Rollen für Schneewittchen zu verteilen und außerdem würden wir im Sachunterricht mit dem Thema „Ich und mein Körper“ anfangen und Sexualkunde haben, worauf Flo und ich schon ordentlich gespannt waren. Aber heute gab es erst mal „Fejoada à la Zwerg“, mein brasilianisches Lieblingsessen mit Bohnen, zubereitet von meinem Lieblingskoch Zwerg. Zum Glück war auch Berg, der afrikanische Hilfskoch, wieder da, denn der Laden brummte wirklich außerordentlich.
Das Restaurant hatte so viele Gäste, dass Papai, Penelope und Opa gar nicht mit uns essen konnten. Dafür kam Oma mit meiner Tante Lisbeth, die seit letztem Jahr kurze Haare hat und Werbung für Jungenmode macht. Manchmal finde ich das fast ein bisschen ungerecht. Meine Tante ist noch nicht mal drei, kann kaum einen Satz sprechen und trotzdem sind ihre Fotos in allen großen Zeitschriften. Heute Nachmittag hatte sie schon wieder einen Fototermin.
„Na Tante Lisbeth, wie war’s?“, fragte ich, als sich Oma mit ihrer jüngsten Tochter an unseren Tisch setzte. Meine Tante hielt mir einen Digitalfotoausdruck hin. „Ibsel voll cool.“
Oma verdrehte die Augen, aber ich starrte auf das Foto und musste zugeben: Meine Babytante sah wirklich sehr, sehr cool aus. Ihre Haare waren mit Glitzergel zu einer Igelfrisur gestylt und sie trug eine schwarze Lederjacke mit Stachelnieten. In der Hand hielt sie ein Mikrofon und ihr Mund war aufgerissen, als sänge sie ein wildes Lied. Ja, Tante Lisbeth sah fast aus wie die berühmte Sängerin Jacky Jones, die ich mal in meiner Fantasie gewesen bin.
„Wow“, sagte jetzt auch Flo, die sich über meine Schulter beugte, aber Oma tauschte einen Blick mit Mama und verdrehte die Augen.
„Also, ich weiß nicht“, sagte sie leise. „Jetzt haben sie Lisbeth sogar zu einem Casting für einen Werbefilm eingeladen. Wohin soll das mit dem Kind noch führen? Sie kann ja noch nicht mal richtig reden!“
„Zu einem Casting für einen Werbefilm? Du meinst, Tante Lisbeth darf sich für eine richtige Rolle vorstellen?“ Ich starrte erst meine Tante und dann meine Oma an. „Kann ich da mal mit?“ Oma seufzte, und Papai, der kurz an unseren Tisch gekommen war, strich mir über den Kopf. „Du wirst jetzt Schneewittchen, Cocada. Damit hast auch du eine tolle Rolle und bist fast eine richtige Schauspielerin.“
Da nickte ich. Genau. Jetzt musste ich mich erst mal auf mein Glück in unserem Stück verlassen, denn damit hatte ich mein erstes kleines Brötchen schon gebacken.
„Guck mal, da kommt Jeff“, sagte Mama mit einem Blick zur Tür. Jeff war der Cooltuer, den wir natürlich nur noch heimlich so nannten. Er trug auch eine schwarze Lederjacke (allerdings ohne Stachelnieten) und setzte sich zu uns an den Tisch. Er strubbelte über Tante Lisbeths noch immer glitzerspitze Igelstacheln, nickte in die Runde und bestellte bei Penelope gefüllte Taschenkrebse.
„Sonst noch einen Wunsch?“, fragte Penelope.
„Einen gut gekühlten Weißwein“, sagte der Cooltuer und grinste Penelope an. „Und ein Abendessen zu zweit. Wie wäre es mit nächstem Donnerstag?“
Flo zog eine Grimasse. Penelope seufzte, aber ein bisschen grinste sie auch. „Donnerstag habe ich Dienst.“
„Dann vielleicht Freitag?“ Der Cooltuer legte den Kopf schief und sah plötzlich aus wie sein jüngster Sohn Pascal.
„Da habe ich einen Studiotermin mit Eduardo Macedo und dem Musikproduzenten. Ich soll für unsere brasilianische CD ein paar Stücke von Maria Bethania vorsingen.“
Jetzt seufzte der Cooltuer. „Herzlichen Glückwunsch. Und was ist mit Samstag?“
„Da unternimmt Penelope etwas mit ihrer einzigen Tochter“, kam Flo ihrer Mutter zuvor.
Der Cooltuer zuckte mit den Schultern. „Da kann man nichts machen.“
„Genau“, bekräftigte Flo und machte sich über das Fischgericht her, das Papai ihr serviert hatte.
Eine Viertelstunde später brachte Papai dem Cooltuer seine gefüllten Taschenkrebse. „Bon apetite, meu amigo.“
Das hieß auf Deutsch: „Guten Appetit, mein Freund“, aber der Cooltuer zog ein langes Gesicht. Sicher nicht wegen Papais Bemerkung oder wegen der Krebse, sondern wegen Penelope, die jetzt am Nachbartisch stand und sich mit einem brasilianischen Gast unterhielt.
Der Gast hatte schwarze Rastalocken, die ihm bis auf die Schultern fielen. Seine Haut war dunkel wie die von Papai, aber noch dunkler war seine Stimme, wegen der ich plötzlich meine Ohren spitzte. Das heißt, eigentlich spitzte ich nicht wegen der Stimme die Ohren, sondern wegen dem, was die Stimme gerade sagte.
„Vocé é uma gata.“ Das sagte der Mann mit der dunklen Haut und der dunklen Stimme zu Flos Mutter, und davon wurde auch Penelopes Gesicht schlagartig dunkel – dunkelrot, um genau zu sein. Flo, die meinem Blick gefolgt war, machte ein verwirrtes Gesicht.
„Was ist denn mit Penelope los?“, fragte sie, während neben mir der Cooltuer mit Kauen aufhörte und jetzt ebenfalls zum Nachbartisch hinüberstarrte. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Falte.
„Deine Mutter ist eine Katze“, sagte ich zu Flo und wünschte mir im nächsten Moment, ich hätte nichts gesagt.
„Eine, bitte was?“, fragten Flo, meine Oma und der Cooltuer wie aus einem Mund.
„Äh …“, sagte ich und steckte mir schnell einen Riesenlöffel Bohnen in den Mund. Penelope verließ den Nachbartisch. Ihr Gesicht war jetzt nicht mehr ganz so dunkelrot. Dafür lag auf ihren Lippen ein Lächeln, das Flo ganz hibbelig machte. „Hat das etwa dieser Typ gesagt? Dass meine Mutter eine Katze ist?“
„Schownlich“, nuschelte ich mit vollem Mund und schob schnell noch eine Portion Bohnen nach, um Zeit zu schinden. Die Falte auf der Stirn des Cooltuers wurde gefährlich tief. Flo wackelte ungeduldig mit dem Kopf. „Kannst du mal aufhören, dir den Mund mit Pupsbohnen vollzustopfen und Klartext reden?“
„Im Klartext“, erklärte Mama, die wohl ebenfalls die Ohren gespitzt hatte, „hat der Typ deiner Mutter gerade gesagt, dass sie eine heiße Mieze ist.“
Oma riss die Augen auf. „Also wirklich“, sagte sie empört.
Flo riss auch die Augen auf, aber empört sah sie nicht aus, eher stolz. Sie drehte sich zu dem anderen Tisch um und flüsterte mir zu: „Wow! Der Typ ist ja wohl richtig cool.“
Das fand Mama anscheinend auch, denn sie kicherte. Aber im nächsten Moment sprang sie auf, weil der Cooltuer neben ihr wie verrückt zu husten angefangen hatte. Er hustete und hustete und sein Gesicht wurde so tiefdunkelrot, dass ich dachte, gleich stirbt er. Er reckte die Hände in die Luft, während Mama ihm auf den Rücken schlug, immer fester und fester, bis Penelope mit einem Glas Wasser an unseren Tisch gelaufen kam und plötzlich ganz besorgt aussah. Sie hielt ihm das Glas hin, aber der Cooltuer schüttelte nur verzweifelt mit dem Kopf, rollte die Augen, und dann – Mama hatte gerade ziemlich fest zugeschlagen – schoss ein Taschenkrebsschwanz aus seinem Mund und landete auf Flos Teller.
„Iiiih“, sagte Flo angeekelt.
„Witzig“, sagte Tante Lisbeth und kicherte.
Mama setzte sich wieder auf ihren Platz. „Das war noch gar nichts“, meinte sie. „Ich kenne eine Geschichte von einer Frau, die sich an einer Fischgräte verschluckt hat. Die Frau hat gehustet und gehustet und dann ist die Fischgräte in ihre Mandel geflutscht und dort ist sie das ganze Wochenende quer drin stecken geblieben, bis die Frau sich mit einer Schere im Mund rumgestochert hat, um die Gräte rauszuschneiden. Dabei hat sie die Mandel erwischt und es fing wie verrückt zu bluten an, und …“
„Viktualia!“, schimpfte Oma meine Mutter aus. „Kannst du deine unappetitlichen Geschichten nach dem Essen erzählen?“
Mama machte ein beleidigtes Gesicht, während das Husten des Cooltuers in ein erschöpftes Röcheln überging. Inzwischen sahen alle Gäste zu uns herüber, auch der brasilianische Mann am Nachbartisch. Er grinste, aber auf eine Art, die ich ziemlich gemein fand. Dann sah er zu Penelope und lächelte und Penelope lächelte zurück.
Seltsam, dachte ich plötzlich. Als der Cooltuer damals in unser Restaurant gekommen war, hatte ich ihn auf den ersten Blick nicht leiden können. Den brasilianischen Mann am Nebentisch hatte ich dagegen auf den ersten Blick cool gefunden. Aber jetzt, auf den zweiten Blick, da hatte er etwas an sich, das mich irgendwie abstieß, obwohl er Brasilianer war wie mein Papai und obwohl er wirklich sehr, sehr gut aussah mit seiner dunklen Haut und seiner schwarzen Löwenmähne. Ja, es war wirklich seltsam.
Ich sah zum Cooltuer, zu Jeff, und beschloss, ihn auch heimlich ab heute nicht mehr Cooltuer zu nennen.
Jeff nahm jetzt Penelope das Glas aus der Hand, trank es in einem Zug leer, legte einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch und verließ das Restaurant. Verwundert sah Penelope ihm nach. „Stimmte was mit dem Essen nicht?“, fragte sie. Flo und ich wechselten einen Blick.
„Ich glaube“, bemerkte Oma trocken, „es war eher der Nachbartisch, mit dem etwas nicht stimmte.“
„Oh“, sagte Penelope und wurde schon wieder rot. Dann ging sie hastig zur Bar. Wir aßen weiter, bis meine Tante irgendwann anfing, ihre Fleischklöße durchs Restaurant zu werfen und Oma entschied, dass es Zeit zum Gehen war.
„Wir gehen auch“, sagte Mama zu Flo und mir. „Morgen ist Schule, da wollt ihr schließlich fit sein.“
Oh ja, das wollten wir. Zumindest wollte ich fit sein, denn morgen würde sich entscheiden, ob ich Schneewittchen werden würde oder nicht.
3.
SCHNEEWITTCHEN UND DER SPIEGEL
„Es war einmal mitten im Winter und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, da stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Oh, hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen. Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.“
So beginnt das Märchen von Schneewittchen, das wir am Montagmorgen im Probenraum der Aula abwechselnd vorlasen. Wir, das waren die dreizehn Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen, die sich vor den Weihnachtsferien zu dem Theaterprojekt angemeldet hatten. Aus den Parallelklassen kamen sechs und aus unserer Klasse sieben Kinder: Sol, Ansumana, die Kussmaschine (ein Junge namens Mario, der immer die Mädchen küssen will), Annalisa, Frederike, Flo – und natürlich ich.
Annalisa hatte den Anfang gelesen und ich las den Schluss, wo der Spiegel der bösen Stiefmutter mitteilt, dass die frisch vermählte Königin Schneewittchen tausendmal schöner sei als sie. „Da“, las ich, „stieß das böse Weib einen Fluch aus und ihr ward angst, so angst, dass sie sich nicht zu lassen wusste. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, doch ließ es ihr keine Ruhe, sie musste fort und die junge Königin sehen. Und wie sie eintrat, erkannte sie Schneewittchen und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über das Kohlenfeuer gestellt, die wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rot glühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“
„Warum“, fragte Ansumana Frau Wiegelmann, als ich das Buch zugeklappt hatte, „warum haben Sie sich eigentlich so ein blödes Babymärchen für uns ausgesucht? Wenn wir ein Theaterstück aufführen, warum können wir dann nicht was Cooles machen?“
Ein paar Kinder klatschten und riefen durcheinander, aber als sich alle wieder beruhigt hatten, sagte Frau Wiegelmann mit ihrem Lächeln, das ich so an ihr mag: „Das könnt ihr doch. Was spricht dagegen, dieses Märchen anders aufzuziehen?“
„Hä?“, fragte Ansumana. „Was soll das denn heißen?“
„Na, es abzuwandeln“, erklärte Flo. „In eine andere Zeit versetzen oder so.“
Frau Wiegelmann nickte. „Genau. Ende März findet unsere Aufführung statt. Das heißt, wir haben fast drei Monate Zeit, um uns mit dem Stück zu beschäftigen. Es umzuschreiben oder uns zu überlegen, wie wir die Rollen verändern.“
„Für die sieben Zwerge hätte ich schon eine Idee“, rief Tom aus der 4c. „Die könnten doch in unserem Stück eine Hip-Hop-Band sein.“
Frau Wiegelmann lachte. „Das klingt doch schon mal gut. Ihr könntet euch einen Hip-Hop-Tanz ausdenken, mit dem die Zwerge abends in ihr Häuschen getanzt kommen.“
„Und Schneewittchen ist eine Punkerin“, rief Frederike.
„Nö“, rief Annalisa. „Ich will keine Punkerin sein.“
„Was heißt hier, du willst keine Punkerin sein?“, fuhr ich sie an. „Schließlich ist noch nicht mal klar, ob du überhaupt Schneewittchen wirst! Ich finde sowieso, das mit den Rollen sollten wir als Erstes klären, dann kann sich jeder selbst überlegen, wie er sie abwandeln will.“
Frau Wiegelmann machte ein Gesicht, als hätte sie lieber noch ein wenig allgemein über das Stück geredet, aber plötzlich schrien alle durcheinander.
„Also gut“, lenkte Frau Wiegelmann ein. „Wir verteilen die Rollen und dann sehen wir weiter.“ Sie ging an die Tafel und schrieb alle Rollen auf, die in Schneewittchen vorkommen würden:
Schneewittchens Mutter (die gute Königin)
Der Jäger
Die sieben Zwerge
Der Prinz
Schneewittchen
Schneewittchens Stiefmutter (die böse Königin)
„So“, sagte sie. „Dann fangen wir erst mal mit den kleineren Rollen an. Wer will die gute Königin sein?“
Ich hätte nie gedacht, dass sich irgendjemand für eine andere Rolle als für die Hauptrolle melden würde, aber Frederikes Finger schoss gleich in die Höhe.
„Darf ich mich dann auch richtig mit einer Nadel blutig piksen?“, fragte sie, als Frau Wiegelmann ihren Namen an die Tafel geschrieben hatte.
„Das sehen wir dann“, meinte Frau Wiegelmann und fragte, wer die sieben Zwerge spielen wollte. Hier wurde es schon schwieriger: Aus unserer Klasse meldeten sich Ansumana, Sol und Flo. Aus den Parallelklassen wedelten Tom, Larissa, Pablo, Göran, Mona und ein riesiger Junge namens Karl mit den Händen.
„Das sind neun“, stellte ich fest.
„Und das bedeutet, wir müssen losen.“ Frau Wiegelmann holte eine Packung Streichhölzer heraus, zählte neun ab, brach von zweien die Enden ab und hielt sie dann alle mit den Köpfen nach oben zwischen ihren Fingern. „Wer die kurzen Hölzer zieht, ist draußen.“
Es traf Flo und Sol, aber beide nahmen es mit einem Achselzucken hin. Für die Rolle des Jägers meldete sich niemand, dafür wollten Sol und die Kussmaschine beide den Prinzen spielen. Frau Wiegelmann gab Sol die Rolle, weil er schon bei den Zwergen den Kürzeren gezogen hatte und die Kussmaschine stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Ich will aber nicht der blöde Jäger sein“, schimpfte er. „Der darf noch nicht mal jemanden küssen!“
„Die Rollen von Schneewittchen und der bösen Stiefmutter sind auch noch frei“, schlug Frau Wiegelmann vor. Da gab sich die Kussmaschine geschlagen und meldete sich für den Jäger. Jetzt waren nur noch zwei Rollen übrig.
„Eine Freiwillige für die böse Königin?“, fragte Frau Wiegelmann.
Ich verschränkte beide Arme vor der Brust, und Annalisa sagte: „Ich werde Schneewittchen, oder ich mache nicht mit.“
„Das sehen wir dann“, sagte Frau Wiegelmann wieder und hielt uns zwei Hölzer hin.
Ich wollte nach dem linken schnappen, aber Annalisa kam mir zuvor – und kreischte: „Das gilt nicht! Das ist ungerecht! Ich mach nicht mit! Ich spiel nicht die blöde Stiefmutter, nö! Nö, nö, nö!“
„Jedenfalls spielst du nicht Schneewittchen“, stellte ich fest und hielt mein langes Streichholz in die Luft. „Es kann nur ein Schneewittchen geben. Und das bin ich.“