Apple und Rain - Sarah Crossan - E-Book

Apple und Rain E-Book

Sarah Crossan

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Beschreibung

Drei Jahre alt war Apple, als ihre Mum sie in einer stürmischen Nacht bei der Großmutter zurückließ. Seitdem hat Apple nichts von ihr gehört. Elf Jahre später taucht Mum plötzlich wieder auf. Mum ist das Gegenteil von Apples strenger, konservativer Nana. Im Glückstaumel zieht Apple bei Nana aus, direkt zu Mum. Womit sie aber nicht gerechnet hat: Sie ist nicht Mums einziges Kind. Dass ihre kleine Halbschwester Rain ebenso wenig von Apple wusste, macht die Sache nicht besser. Und dass Mum Apple als Babysitterin braucht, auch nicht. Apple dämmert, dass sie eine schwierige Wahl getroffen hat. Zum Glück kann sie sich dem Nachbarsjungen Del anvertrauen, der ziemlich gut zuhören kann ...

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Seitenzahl: 323

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Sarah Crossan wuchs in Dublin und London auf und schrieb schon als Jugendliche Gedichte und Geschichten und kreierte ihre eigenen Bücher. Sie studierte Philosophie, Literatur und Creative Writing und war in den USA als Englischlehrerin tätig. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Hertfordshire, England. Ihre Bücher wurden in England vielfach ausgezeichnet, und für ihren Versroman »Die Sprache des Wassers« wurde sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Sarah Crossan

Aus dem Englischen

von Birgit Niehaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2014 Sarah Crossan

Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel

»Apple and Rain« bei Bloomsbury Publishing Plc

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe

cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Birgit Niehaus

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie,

unter Verwendung einer Illustration von © Yasmeen Ismail

TP · Herstellung: wei

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-16360-0V001

www.cbt-verlag.de

Für meine Großmütter Olive Fox und Mamie Crossan.

Und natürlich für Andreas und Aoife.

Teil 1

Einsamkeit

1

Jetzt, wo ich alt genug bin, um die Geschichte zu erzählen, weiß ich gar nicht, ob sich alles wirklich so abgespielt hat, wie ich es erinnere, oder ob ich mir da im Laufe der Jahre etwas zusammenfantasiert habe. Ich hab nämlich mal über eine Sache gelesen, die sich »Infantile Amnesie« nennt. Damit ist gemeint, dass man sich an Ereignisse aus seinen allerersten Lebensjahren nicht erinnern kann, weil das Gedächtnis zu der Zeit noch nicht genug Übung im Erinnern hat. Es hat einfach noch nicht genug Routine, um alles ordentlich abzuspeichern. Das behaupten zumindest die Wissenschaftler. Aber irgendwie kann ich das nicht glauben. Ich habe nämlich sehr wohl eine Erinnerung aus meiner frühen Kindheit – und die bleibt immer gleich, die verändert sich nie. Außerdem: Wenn man sich seine Kindheitserinnerungen bloß zusammenfantasieren würde, dann wären die Erinnerungen doch bestimmt alle positiv. Man würde sich doch garantiert keine Geschichten ausdenken, die nicht gut enden.

Ich bin weinend aufgewacht. Unten im Erdgeschoss waren wütende Stimmen zu hören und draußen Donnergrollen. Ich bin aufgestanden und zum Treppenabsatz getapst. Oben am Geländer war als Kindersicherung ein weißes Gitter angebracht, damit ich die Treppe nicht runterfalle. Es war absolut unmöglich für mich, das Gitter zu öffnen, egal wie sehr ich es probierte. Ich war barfuß, hatte kalte Füße und habe meine weiße Bettdecke hinter mir hergezogen.

Im Eingangsflur, unter dem Mistelzweig, standen zwei Silhouetten. Ihre Gesichter waren im Schatten. Ich schluchzte und eine der beiden Gestalten blickte hoch. Es war Nana. »Ab ins Bett, Herzchen«, sagte sie. »Na, komm, geh schon.«

»Aber ich kann nicht einschlafen.«

Nana nickte. »Ich weiß. Ich konnte vor Weihnachten auch nie schlafen.«

Ich schüttelte den Kopf. Mit Weihnachten hatte das nichts zu tun. Ich wollte einfach nicht ins Bett zurück. Der Donner hörte sich so an, als würde er jeden Moment durch mein Zimmerfenster krachen. Und überhaupt: Warum war hier so ein Geschrei?

Wieder fing ich an zu weinen. Ich wollte, dass die Gestalt in dem grünen Mantel, die neben Nana stand, sich umdrehte. An den langen Haaren und der dünnen Taille konnte ich erkennen, dass es eine Frau war, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.

Doch sie blickte nicht auf. Sie umklammerte den Griff ihres Koffers und starrte auf die Fußmatte.

»Ich rufe dich in den nächsten Tagen an«, flüsterte es aus dem grünen Mantel, und da wusste ich, dass es meine Mum war.

»Mummy«, rief ich.

Mit ihrer freien Hand öffnete sie die Haustür. Als Nana sie davon abzuhalten versuchte, in die Dunkelheit hinauszutreten, schrie sie auf und schubste meine Großmutter gegen den Wandspiegel.

»Hör auf, mein Leben kaputt zu machen!«, brüllte meine Mutter. Der Wind riss die Tür weit auf. Regen peitschte herein. Die Luft roch salzig.

Und dann drehte sich Mum doch noch um und sah mich, aber sie lächelte nicht oder winkte, und sie warf mir auch keinen Kuss zu. Sie starrte mich nur an wie irgendetwas Seltsames, Trauriges, mit dem sie nichts anfangen konnte.

Dann schniefte sie kurz auf, drehte sich auf dem Absatz um, trat in die Dunkelheit hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Zurück blieb Stille.

Kein Geschrei mehr.

Und auch kein Donner.

»Mummy«, flüsterte ich.

»Mummy ist gegangen, Herzchen«, sagte Nana. Sie kam die Treppe rauf, öffnete das weiße Gitter und nahm mich auf den Arm. Sie zitterte. Ihre Augen waren feucht. »Jetzt sind nur noch wir beide hier. Du und ich. Okay?«

»Mummy«, wiederholte ich.

»Lass uns schlafen gehen«, sagte Nana. »Und morgen früh schauen wir, was der Weihnachtsmann dir gebracht hat.«

Aber die Geschenke waren mir völlig egal. Alles, woran ich denken konnte, war, was ich gerade verloren hatte.

2

Ich weiß nicht, wie oft ich Nana schon nach dem Weihnachtsabend ausgefragt habe, an dem Mum gegangen ist. Ich würde so gerne verstehen, warum sie uns verlassen hat. Aber wenn Nana mir dann erzählt, was passiert ist, stellt sie es jedes Mal so dar, als sei es allein Mums Schuld gewesen. Als sei Mum nach New York abgehauen, zum Broadway, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an das Kind zu verschwenden, das sie zurückgelassen hat. An ihr Kind. Jedes Jahr an Weihnachten macht mich die Erinnerung an jene Nacht – an Mum in ihrem grünen Mantel und an den krachenden Donner draußen – fix und fertig.

»Wenn du nicht sofort kommst, gehe ich!«, ruft Nana von unten.

»Sekunde«, rufe ich zurück und ziehe meinen lila Kapuzenpulli über.

»Ich zähle bis zehn«, droht Nana.

Ich stürze aus meinem Zimmer und renne die Treppe runter. Nana bürstet gerade die Haare unseres Labradors Derry von ihrem schwarzen Mantel. Ich ziehe meinen Schal vom Garderobenständer und schlinge ihn mir ein paarmal um den Hals.

Den ganzen Vormittag über hat Nana Pastinaken und Kartoffeln fürs Abendessen geschält, Rosenkohl in Brühe eingeweicht und den Truthahn vorbereitet. Der gart jetzt bei niedriger Temperatur im Ofen. Das ganze Haus riecht nach Orangen-Cranberry-Füllung.

Anders als ich mag Nana Weihnachten immer noch. Jahr für Jahr hört sie in Dauerschleife ihre Lieblingsweihnachtslieder, und wenn In the Bleak Midwinter kommt, dreht sie richtig auf und schmettert so inbrünstig mit, dass ich mich mit Derry in mein Zimmer verkrieche. Nana ist wirklich nicht die talentierteste Sängerin.

Jetzt legt sie die Kleiderbürste auf den kleinen Flurtisch und zwängt ihre Füße in flache, marineblaue Slipper.

»Wo willst du denn mit den Dingern hin?« Sie deutet auf meine Turnschuhe. Ich antworte nicht, denn natürlich ist das eine rhetorische Frage. Das macht sie immer, wenn sie sich ärgert. »Wir gehen in die Kirche und es ist Weihnachten!«

»Die sind bequem. Und nur ein ganz kleines bisschen abgeschrammt.«

Derry schnüffelt an meinen Schuhen. Okay, wahrscheinlich riechen sie. Mit der Schuhspitze scheuche ich ihn weg.

»Mir ist egal, was du anziehst, solange es sauber ist. Und diese alten Treter sind nicht sauber. Zieh dir bitte ein paar ordentliche Schuhe an«, sagt Nana mit ihrem irischen Akzent, der ihre Stimme sanft und gleichzeitig fest klingen lässt.

Aber die einzigen »ordentlichen« Schuhe, die ich besitze, sind schwer und klobig und machen Blasen an den Fersen. Das will ich Nana gerade erklären, als sie einen Fleck auf meinem Hoodie entdeckt.

»Also wirklich, Apple, was treibst du da für ein Spielchen? Willst du mir jetzt auch noch weismachen, dass du kein sauberes Oberteil hast?«, fragt sie.

Ich kratze an der Stelle, wo mir heute Morgen Eigelb draufgetropft ist. Ich hab den Fleck völlig vergessen, doch Nana starrt ihn dermaßen angewidert an und klingt so fassungslos, dass man meinen könnte, er sei hochgiftig.

»Das ist mein Lieblingsoberteil«, verteidige ich mich. Und ich will es anbehalten. Genauso wie meine müffelnden Turnschuhe.

»Du gehst auf der Stelle nach oben und ziehst dich um, junge Dame.« Nana presst die Lippen zusammen, sodass ihr Mund aussieht wie eine schrumpelige Backpflaume. Wenn sie das macht, ist es zwecklos, mit ihr zu streiten. Dann wünsche ich mir jedes Mal, Mum wäre noch hier.

In meinem Zimmer zwänge ich mich in ein Kleid und quetsche meine Füße in viel zu enge Schnürschuhe. Zuletzt hatte ich dieses Outfit vor sechs Monaten an, zur Beerdigung von Nanas Freundin. Seitdem hat Nana das Thema Tod für sich entdeckt und sagt Dinge wie: »Oh, du wirst mich noch vermissen, wenn ich erst mal unter der Erde bin – wie die arme Marjorie.« Oder: »Zu meinem Begräbnis, Apple, sollen die Leute nicht alle in Trauerkleidung kommen. Ein paar rosa Farbtupfer sind durchaus willkommen.«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es gut für eine Vierzehnjährige ist, ständig mit einem Menschen zusammen zu sein, der glaubt, jede Sekunde tot umzufallen. Aber als ich Nana das einmal gesagt habe, hat sie nur ihren Kopf zurückgeworfen und so losgelacht, dass ich sämtliche Zahnlücken und dunklen Plomben in ihrem Mund sehen konnte. Keine Ahnung, was sie daran so lustig fand.

Als ich die Treppe runterkomme, ist Nana gerade dabei, Derry in die Küche zu sperren. Als hätte sie sich nicht eben erst abgebürstet, ist ihr Mantel schon wieder mit seinen goldenen Haaren bedeckt.

»Viel besser«, bemerkt Nana, als sie mich sieht.

Ich gehe zu Derry und küsse seine seidigen Ohren. Er dreht sich um und schlabbert mir über den Mund. Nana verzieht das Gesicht.

»Igitt, Apple, erst leckt er an seinem Pullermann herum und dann lässt du ihn dein Gesicht abschlecken. Das ist ja ekelhaft.«

Nana schließt die Haustür zu, wobei sie den Schlüssel zweimal herumdreht, und eilt den Plattenweg entlang zum Auto. Am Himmel ziehen kreischende Möwen ihre Kreise. Nebel wabert vom Strand herüber und schiebt sich den Hügel hinauf.

Ich rutsche auf die Rückbank – Nana lässt mich immer noch nicht vorne sitzen – und schnalle mich an. In dem Kleid kriege ich kaum Luft, und meine Füße fühlen sich schon ganz abgestorben an in den Schuhen.

»Glaubst du, dass sie heute vielleicht nach Hause kommt?«, frage ich.

»Wer?«

Als ich nicht antworte, mustert Nana mich im Rückspiegel. »Ich glaube nicht, Apple. Du?«

Ich schüttele den Kopf. Ich weiß ja selbst, dass Mum nicht wie durch Zauberhand heute auftauchen wird. Bloß weil sie uns an Weihnachten verlassen hat, muss sie noch lange nicht an Weihnachten zurückkommen.

Und wer weiß – vielleicht kommt sie ja auch überhaupt nicht wieder.

3

Nach dem Abendessen kommen Dad und Trish aus London angereist, eine Tüte voller Geschenke und ein Trifle von Marks & Spencer unterm Arm. Trish kneift mir zur Begrüßung in die Wange und Dad drückt mir einen Kuss auf den Scheitel.

»Alles okay bei dir?«, fragt er.

Ich nicke.

»Schule läuft?«

»Ja.«

»Tut mir leid, dass ich das Halbjahres-Konzert verpasst habe.«

»Ist okay«, sage ich.

»Du spielst mir nachher ein Stück aus dem Konzert vor, ja?«

Obwohl Dad nicht mal zwei Autostunden entfernt wohnt, sehe ich ihn nicht oft. Nicht, seit es Trish in seinem Leben gibt.

Dad und Trish haben vor drei Jahren geheiratet. Ich war völlig überrumpelt. Eines Tages, als ich mit Dad telefonierte, hat er den Hörer an Trish weitergereicht, damit ich sie kennenlerne, und am nächsten Tag haben sie mich gefragt, ob ich ihre Brautjunger sein wolle. Ich habe Ja gesagt, weil ich ja nicht ahnen konnte, dass sie mich zwingen würden, ein quietschgelbes Kleid zu tragen, in dem ich aussah wie eine gefüllte Zitrone. Den ganzen Tag über hat Trish kein Wort mit mir geredet, bis auf das eine Mal, als sie mir sagte, dass ich doch bitte etwas freundlicher gucken solle, um die Hochzeitsfotos nicht zu verderben. Daraufhin habe ich die Zunge rausgestreckt, die Augen verdreht und so getan, als würde ich heulen. Ich fand das urkomisch – bis die Fotos fertig entwickelt waren und Dad ausgerastet ist. Er sagte, er hätte über tausend Pfund für den Fotografen ausgegeben, und hat mich dazu verdonnert, Trish einen langen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Also habe ich mir einen abgekrampft und von vorne bis hinten geheuchelt und geschleimt, aber sie hat mir trotzdem nicht verziehen.

Nana gießt Vanillesauce über den dampfenden Christmas Pudding, den sie extra für Dads und Trishs Ankunft aufgehoben hat. Dann tut sie jedem einen großen Klacks in sein mit Rentieren verziertes Schüsselchen.

»Das Trifle können wir abends essen«, sagt sie. »Und jetzt erzählt mal: Wie ist euer neues Haus?«

»Ein absoluter Traum, oder, Chris?«, schwärmt Trish und legt ihre Hand auf Dads Arm.

»Der Garten macht ziemlich viel Arbeit, aber wir haben es in der kleinen Wohnung einfach nicht länger ausgehalten«, sagt Dad.

Nana wischt sich die Hände an der Schürze ab und setzt sich. »Oh, ich würde meinen Garten um nichts in der Welt hergeben. Wir haben jetzt sogar ein kleines Kräuterbeet, stimmt’s Apple?«

Ich schiebe mir einen Löffel Pudding in den Mund. »Um-hmmm«, mache ich. Der Pudding ist kochend heiß. Ich muss ihn zurück in mein Schälchen spucken, damit mein Zahnfleisch nicht Blasen schlägt.

Trish räuspert sich.

Dad runzelt die Stirn. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass du auf deine Manieren achten sollst.«

Wann? Vor sechs Monaten, als du dich zuletzt bequemt hast, vorbeizuschauen?, würde ich am liebsten zurückblaffen, aber ich halte den Mund.

»Sorry, aber das war kochend heiß.« Ich lege meinen Löffel auf den Tisch.

»Apple, wie ich höre, hast du beim Klarinettenunterricht inzwischen Level vier erreicht. Das ist ja wunderbar.« Trishs rot geschminkte Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, bleiben dabei aber schmal und zusammengepresst.

Ich zucke die Achseln. »Ja, aber so rasend viel Spaß macht es nicht.«

»Wieso? Es ist doch ein großer Pluspunkt, wenn man ein Instrument spielen kann«, wirft Nana ein.

»Und ich habe dreihundert Pfund für die Klarinette hingeblättert, von den Kosten für den Unterricht mal ganz zu schweigen«, bemerkt Dad.

»Dreihundert Pfund? Das ist ja mehr als der neue Couchtisch gekostet hat!«, entfährt es Trish.

Ich gehe nicht auf ihre Bemerkung ein. »Ich hab ja nicht gesagt, dass ich aufhören will. Es macht mir nur keinen Spaß, das ist alles.« Was mir hingegen großen Spaß macht, sind die Orchesterproben – weil ich da nämlich Egan Winters sehe. Egan Winters kann Flöte spielen und gleichzeitig mit einem Fußball dribbeln. Eigentlich sieht er eher wie ein Schlagzeuger oder Bassist aus. Er trägt Lederarmbänder und zerrissene Jeans und überhaupt ist er der bestaussehende Typ an unserer Schule, mit Abstand. Außerdem ist er schon in der Oberstufe, also nicht mehr so unreif wie die Jungs aus meiner Klasse. Natürlich weiß ich, dass ich für ihn nur die »Achtklässlerin mit der Klarinette« bin und ihm ansonsten nicht weiter auffalle, aber trotzdem: Ich kriege jedes Mal Herzklopfen, wenn ich ihn sehe.

»Teenager haben einfach kein Durchhaltevermögen mehr. Das liegt an all den neuen Handys, den ganzen Apps und diesem Zeug«, bemerkt Trish, als hätte sie nicht gehört, was ich gerade gesagt habe: dass ich das Klarinettespielen nicht aufgeben werde. Sie klemmt sich ihre dünnen blonden Haare hinter die Ohren und tupft sich den Mund mit Nanas Leinenserviette ab. »Was kosten diese Schlaumeier-Handys eigentlich?«

Mir ist klar, dass es nicht der Handypreis ist, der Trish interessiert, sondern dass sie Dad unter die Nase reiben will, wie teuer ich sie zu stehen komme. Eigentlich will sie sagen: Dein Kind kostet zu viel!

Mir ist der Appetit vergangen. Ich hasse Weihnachten. Und ich hasse Trish. »Ich fühle mich nicht gut. Darf ich aufstehen?«

Dad seufzt. »Du siehst nicht so aus, als würde es dir schlecht gehen«, sagt er. Er versucht streng auszusehen, aber ich muss trotzdem grinsen, denn er trägt ein Goldpapier-Hütchen auf dem Kopf, das er aus einer der Crackerpackungen gebastelt hat. »Apollinia, du musst ein bisschen Ausdauer und Disziplin entwickeln, das ist wichtig im Leben. Du kannst eine Sache nicht einfach hinschmeißen, sobald sie anfängt dich zu langweilen oder anzustrengen. So eine willst du doch wohl nicht werden, oder?«

Seine Stimme klingt gepresst, und ich frage mich, ob er auf Mum anspielt: darauf, wie sie sich von ihm getrennt hat, als sie festgestellt hat, dass sie schwanger ist. Wie sie abgehauen ist, als ihr klar wurde, dass man ein Baby nicht einfach in die Handtasche stopfen kann wie einen Chihuahua. In seinen schlimmsten Albträumen malt Dad sich wahrscheinlich aus, dass ich so werde wie meine Mutter.

Nana steht auf und schenkt Dad Rotwein nach. »Wie wär’s, wenn wir das ein andermal besprechen und jetzt erst mal die Geschenke auspacken?«, fragt sie. Sie hasst es, wenn wir uns an Weihnachten streiten. An Weihnachten will sie es friedlich und harmonisch haben.

Dad starrt mich an, schweigend. Irgendetwas in meinem Gesicht scheint ihn zu hypnotisieren.

»Chris?« Trish stupst ihn an und Dad zuckt zusammen.

»Okay, aber wir werden noch mal auf das Thema zurückkommen«, sagt er zu mir.

»Geschenke!«, ruft Nana, und wir folgen ihr zu der Plastiktanne im Wohnzimmer, unter der ein paar kleine, kümmerliche Päckchen darauf warten, ausgepackt zu werden.

Ich bekomme ein neues Stiftemäppchen und einen Büchergutschein von Nana und einen Argos-Einkaufsgutschein von Dad und Trish. Keine Ahnung, was ich mir bei Argos kaufen soll, aber ich bedanke mich trotzdem und setze mich dann vor den Fernseher, die Beine über Derry geschlagen, und warte darauf, dass Weihnachten endlich vorbei ist.

Irgendwann merkt Nana, dass EastEnders läuft, und wechselt schnell den Sender.

»Guckst du keine Soaps, Bernie?«, fragt Trish. Nana heißt eigentlich Bernadette, aber Trish nennt sie immer Bernie, als Einzige.

»Nicht ganz passend für das Alter«, antwortet Nana mit einem Fingerzeig auf mich.

»Ich bin kein Baby mehr«, protestiere ich.

»Aber auch noch nicht erwachsen. Wenn du volljährig bist, kannst du gucken, was du willst«, sagt Nana.

»Ups, ich hoffe, ich hab jetzt nicht ins Wespennest gestochen.« Trish tut so, als würde sie verlegen auf ihrem Daumen herumkauen.

Hätte ich doch nur den Mumm, ihr eine zu scheuern.

»Jetzt läuft Tschitty Tschitty Bäng Bäng«, sagt Nana und kramt wieder nach der Fernbedienung.

Trish hilft ihr beim Suchen, dann atmet sie bewusst und deutlich hörbar ein. »Oh, das hätte ich fast vergessen. Hier ist noch ein Geschenk für dich.« Sie reicht mir ein Päckchen. Dad kaut auf der Innenseite seiner Wange herum.

Ich wickele das Papier ab und ziehe den Zipfel eines weißen T-Shirts hervor.

»Danke«, murmele ich, ohne das Shirt ganz auszupacken.

»Nimm es doch mal aus dem Papier«, sagt Nana.

»Du hast den Aufdruck noch gar nicht gelesen«, bemerkt Trish.

Ich falte das T-Shirt auseinander. Große Schwester, steht da in geschwungenen Buchstaben. Ich drehe mich zu Dad um, der knallrot angelaufen ist. Nana starrt Trish mit offenem Mund an.

»Ihr kriegt ein Baby?«, frage ich.

»Was für schöne Neuigkeiten!« Nana stürzt zu Dad und küsst ihn, als wäre er ihr Sohn – was im Übrigen jeder denkt, der die beiden zusammen sieht. Dabei hatte Dad einfach nur das Pech, zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens mit Mum angebändelt zu haben, was Nana immer noch leidtut. Als wäre es nicht genauso seine Schuld, dass Mum schwanger geworden ist. Während Mum dann in Brampton-on-Sea festsaß und die Uni knicken konnte, hat Dad einen Monat vor meiner Geburt den Zug nach Liverpool genommen, dort drei Jahre lang Wirtschaft studiert, gefeiert und sich betrunken. Als er endlich zurückkam, war Mum weg. Sie hatte die Nase voll davon, Windeln zu wechseln und darauf zu warten, dass Dad sie vielleicht doch noch unterstützt.

Und von mir hatte sie, glaube ich, auch die Nase voll.

Ich falte das T-Shirt zusammen und klemme es unter Derrys Vorderpfoten.

»Wir wissen es schon seit ein paar Wochen.« Trishs Gesicht leuchtet vor Stolz.

Dad sieht ein bisschen traurig aus.

»Ihr müsst überglücklich sein«, sagt Nana. Sie lächelt so angestrengt, dass es wehtun muss.

»Ja, wir freuen uns wahnsinnig!« Trish knallt Dad einen Kuss auf die Lippen, direkt vor Nanas und meiner Nase.

Übelkeit steigt in mir auf. Übelkeit, die nach Vanillesauce schmeckt.

Nana lacht nervös. »Oh, dann muss ich wohl bald mein Strickzeug hervorholen«, sagt sie.

»Warte noch, bis wir wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, Bernie. Es gibt nichts Grässlicheres als gelb gekleidete Babys«, sagt Trish, als hätte sie uns Brautjungfern bei ihrer dämlichen Hochzeit nicht den ganzen Tag in Gelb rumrennen lassen.

Ich greife mir Derrys Halsband und führe ihn aus dem Zimmer. »Ich glaube, wir müssen mal Gassi gehen«, sage ich, aber niemand hört zu.

Nachdem Derry sein Geschäft erledigt hat, lasse ich ihn durch die Küchentür rein, schließe die Tür hinter ihm und setze mich auf die Hintertreppe. Die Stufen sind eisig. Die Luft ist schwer und feucht vom Nebel.

»So kriegst du Hämorrhoiden«, höre ich plötzlich eine Stimme.

Ich blicke auf, aber es ist zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Schnell stehe ich auf. Ich finde es total gruselig, beobachtet zu werden. Am hinteren Zaun steht ein Junge.

»Hämorrhoiden sind was total Fieses. Also, nicht dass ich schon mal welche gehabt hätte. Aber ich hab’s gehört.«

»Was machst du in unserem Garten?«, frage ich.

»Ich spreche mit dir. Da ist übrigens ein Riesenloch im Zaun, das solltet ihr mal reparieren.«

»Ich kenne das Loch, aber bis jetzt hat es noch keiner als Gartentor benutzt.« Verdammt, ich bin rausgegangen, um alleine zu sein. Ich habe keine Lust, zu reden. »Das ist Hausfriedensbruch, was du da machst«, füge ich hinzu.

»Stimmt. Sollen wir die Polizei holen?«, ruft er.

Und dann springt er über Nanas Blumenbeet und stapft durch unseren Garten. Er trägt einen Pullover mit einem riesigen Frosch vorne drauf und viel zu große grüne Gummistiefel. Seine Wangen und seine Stirn sind schwarz verschmiert, als hätte er Kriegsbemalung aufgelegt.

»Bist du gerade auf dem Schlachtfeld?«, frage ich.

»Kann man so sagen. Dad hat vergessen einzukaufen. Ich schätze, bei uns gibt’s Nudeln und Milchreis zu Weihnachten. Mum tobt vor Wut, und ich hab mich lieber verkrümelt, bis der Sturm vorbei ist.«

Ich habe mitbekommen, dass vor einigen Wochen eine neue Familie in das Haus hinter unserem eingezogen ist. Das war so lange unbewohnt, dass ich dachte, es würde für immer leer stehen und Spinnen, Mäuse und Obdachlose beherbergen.

»Würde mich nicht wundern, wenn’s in eurem Haus spukt«, sage ich gehässig. Keine Ahnung, was ich mit dieser blöden Bemerkung bezwecke.

»Ja, absolut, es spukt wie verrückt. Nachts höre ich immer ein schauriges Flüstern. Aber das macht mir keine Angst. Ist ein guter Einbrecherschutz.«

Ich blicke hoch zum Mond.

»Und warum hockst du hier draußen? Müsstest du dich nicht eigentlich durch eine Schachtel After Eight futtern?«, fragt er.

»Nicht dass dich das irgendwas angeht, aber mein Vater und meine Stiefmutter haben mir gerade verkündet, dass sie ein Baby bekommen, und meine Oma hätte gerne, dass ich vor Begeisterung ausflippe. Es wäre also wirklich nett, wenn du mich jetzt alleine lassen würdest, damit ich in Ruhe deprimiert sein kann.«

»Puh, Babys sind so was von langweilig. Keine Ahnung, warum alle Welt immer in Verzückung gerät, sobald von Babys die Rede ist.«

Ich zucke die Achseln und spähe durchs Küchenfenster ins Wohnzimmer, wo Trish gerade lachend in die Hände klatscht. »Ich geh mal besser wieder rein.«

»Okay.« Er dreht sich um. »Wie heißt du?«, fragt er, schon im Gehen.

»Apple«, antworte ich zögernd.

»Apple? Wie Apfelblüte?«

Ich blinzele erstaunt. Normalerweise kriege ich, sobald ich meinen Namen sage, jede Menge blöde Witze zu hören – über Holzäpfel, faule Äpfel, Apfelmus und sogar über iPads.

Dabei ist Apple nicht mal mein richtiger Name. Eigentlich heiße ich Apollinia Apostolopoulou, was natürlich niemand aussprechen kann. Damit sich die Leute nicht jedes Mal einen abbrechen, wenn sie meinen Namen hören, sage ich einfach, dass ich Apple heiße. Wobei der ultralange Nachname natürlich bleibt, den werde ich nicht los. Ich hab mich schon oft gefragt, warum Mum mir Dads Nachnamen gegeben hat. Sie war ja gar nicht mehr ernsthaft mit ihm zusammen, als ich geboren wurde. Und richtig geliebt hat sie ihn, glaube ich, auch nie. Trotzdem hat sie mir nicht nur seinen griechischen Nachnamen gegeben, sondern mir obendrein auch noch einen griechischen Vornamen verpasst. Irgendeinen Grund wird es wohl dafür gegeben haben. Wenn sie wiederkommt, werde ich sie mal fragen.

Ach, ich wünschte, sie wäre jetzt schon hier. Na ja, eigentlich wünschte ich, sie hätte mich nie verlassen.

»Mein wirklicher Name ist Apollinia«, erkläre ich dem Jungen. »Aber seit ich denken kann, werde ich Apple genannt.«

»Ah, okay, cool. Na, war auf jeden Fall nett, dich kennenzulernen. Ich bin Del.« Er hüpft über Nanas Gartenzwerg – den mit der abgebrochenen Angelrute. »Ach ja, frohe Weihnachten übrigens.« Mit diesen Worten verschwindet er durch das Loch im Zaun.

»Frohe Weihnachten«, murmele ich, obwohl mir das Wort »froh« ziemlich unpassend vorkommt.

Die Hintertür öffnet sich. »Was machst du denn hier?«, fragt Nana.

»Nichts.«

»Du holst dir ja den Tod. Um Himmels willen, komm rein.«

»Dann hol ich mir eben den Tod«, knurre ich.

»Red keinen Unsinn!« Nana schnalzt gereizt mit der Zunge.

Ich zupfe an meiner Nagelhaut herum. »Nana, hat Mum sich irgendwie gemeldet? Hat sie dir gemailt?«

»Hätte ich dir das nicht längst gesagt? Nein, hat sie nicht. Ich hab seit ungefähr einem Jahr nichts von ihr gehört, Apple, das weißt du genau.«

»Es kann doch nicht so schwer sein, eine Karte zu schreiben«, sage ich. Mum könnte doch wenigstens so tun, als würde sie sich an uns erinnern. Einen winzigen Zipfel Hoffnung könnte sie uns doch lassen.

»Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Wir haben Weihnachten. Und du hast eine freudige Nachricht bekommen: Du kriegst ein kleines Geschwisterchen, Apple, das hast du dir doch immer gewünscht. So, und jetzt lass uns reingehen und die Dose Quality Street öffnen.«

»Du hast eine Dose Quality Street gekauft?«

»Natürlich«, antwortet Nana. Kurz habe ich das Gefühl, dass sie mich gleich umarmt, aber das tut sie nicht. Sie nickt schnell und schiebt mich nach drinnen.

»Sei ein braves Mädchen und mach die Tür zu, ja? Es ist bitterkalt draußen.«

4

Unsere erste Stunde nach den Ferien ist Englisch. Ich sitze neben Pilar und erzähle ihr von Dads und Trishs Neuigkeiten.

»Aber Babys sind doch total niedlich«, sagt Pilar.

»Okay, kann sein, aber vor allem machen sie total viel Arbeit. Und das ist eher nichts für Dad, würde ich sagen.«

Pilar starrt auf ihr Handgelenk. »Ms Savage kommt doch sonst nie zu spät. Ob sie krank ist? Vor den Ferien hat sie ziemlich viel gehustet.«

»Ihr Husten kommt vom Rauchen«, antworte ich. »Hast du eine neue Uhr?«

»Ja, zu Weihnachten bekommen. Die Zeiger sind aus echtem Gold. Was hast du gekriegt?«

»Einen Einkaufsgutschein von Argos.«

»Was, echt? Was willst du denn da kaufen?«

»Eine elektrische Zahnbürste.« Ich hab schon auf der Website gestöbert. Die elektrische Zahnbürste ist das Einzige, was mich interessiert. »Sie schreiben, dass man damit schon nach einer Minute mit Zähneputzen fertig ist. Pro Putzen spare ich also drei Minuten. Macht sechs Minuten am Tag. Und sechsunddreißigeinhalb Stunden im Jahr.«

Pilar sieht unbeeindruckt aus. »Und wenn Geld übrig bleibt, kannst du dir ja noch ein Nachtschränkchen kaufen.« Sie kichert, und nach einer Weile lachen wir und witzeln herum, was man sich alles Tolles bei Argos kaufen könnte, bis plötzlich ein großer Mann mit Koteletten und einem grünen Seidenschal ins Klassenzimmer gerauscht kommt. Augenblicklich wird es ruhig. Der Mann lässt einen Stapel Papiere auf Ms Savages Pult plumpsen.

»Guten Morgen, achte Klasse. Ich bin Mr Gaydon.«

Ein paar Jungs am Nebentisch kichern, wahrscheinlich wegen dem »gay«. Aber außer ihnen scheint das niemand witzig zu finden. Alle warten darauf, dass Mr Gaydon die Katze aus dem Sack lässt. Hat Ms Savage die Schule verlassen? Ist sie tot? Sonderlich beliebt war sie nicht. Aber immerhin kannten wir sie.

»Eure Lehrerin hat sich bei einem Skiunfall das Bein gebrochen und fällt leider für einige Wochen aus.«

Ein paar Schüler murren, andere jubeln, aber Mr Gaydon tut so, als würde er nichts hören.

»Ich vertrete Ms Savage so lange. Aber keine Angst, ich werde jetzt keine Vorstellungsrunde machen und euch bitten, mir etwas Interessantes über euch zu erzählen. Um ehrlich zu sein: Ich hasse Aufwärmrunden. Die sind immer ziemlich peinlich, finde ich. Ich hoffe einfach, ihr beteiligt euch alle so rege am Unterricht, dass ich eure Namen wie nebenbei lerne. Wenn ich eure Namen allerdings zu schnell kenne, ist das auch kein gutes Zeichen.« Mr Gaydons Stimme ist weich und souverän, ganz anders als die von Ms Savage, die immer so klang, als würde sie hinter jeder Bemerkung einen Angriff wittern.

Er setzt sich aufs Pult. »Der Fachleiter hat mich darüber informiert, dass dieses Halbjahr eine Lyrik-Einheit auf dem Stundenplan steht.« Einige Schüler stöhnen auf und Mr Gaydon hebt beschwichtigend die Hände. »Ich kann euch versichern, dass ich Lyrik früher auch gehasst habe, aber nur, weil ich keine Ahnung hatte, was sie alles bewirken kann. Weiß jemand von euch zufällig, wozu Gedichte in der Lage sind?«

Die ganze Klasse gafft Mr Gaydon an. Hat die Stunde schon begonnen? Werden wir gerade abgefragt? Nach einem kurzen, peinlichen Schweigen meldet sich Jim Joyce. Mit einem Nicken fordert Mr Gaydon ihn auf zu sprechen. Er kann ja nicht wissen, dass Jim eine unglaubliche Nervensäge ist.