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Die Gestaltwandlerin kehrt heim ... und etwas Böses wartet auf sie.
Aralorn wird unter traurigen Umständen in ihre Heimat gerufen: Ihr Vater ist gestorben. Doch als sie den Leichnam betrachtet, spürt sie, dass etwas nicht stimmt. Ihn umgibt eine dunkle Aura - anscheinend hat ein Zauber von ihm Besitz ergriffen. Wer kann eine so mächtige Magie gewirkt haben? Ist Aralorns alter Feind zurückgekehrt, der Magier Geoffrey ae' Magi? Zum Glück ist Aralorns Gefährte Wolf an ihrer Seite, der mehr ist, als das bloße Auge sieht ...
»Eine erfinderische und mitreißende Autorin.« SF Site
Sianim, ein Reich voller Magier, Drachen und Gestaltwandlern - die packend erzählte Abenteuerfantasy-Reihe der beliebten New-York-Times-Bestsellerautorin Patricia Briggs.
Band 1: Aralorn - Die Wandlerin
Band 2: Aralorn - Der Verrat
Band 3: Rialla - Die Sklavin
Band 4: Shamera - Die Diebin
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Seitenzahl: 485
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Epilog
Über die Autorin
Alle Titel der Autorin bei beHEARTBEAT
Impressum
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Aralorn wird unter traurigen Umständen in ihre Heimat gerufen: Ihr Vater ist gestorben. Doch als sie den Leichnam betrachtet, spürt sie, dass etwas nicht stimmt. Ihn umgibt eine dunkle Aura – anscheinend hat ein Zauber von ihm Besitz ergriffen. Wer kann eine so mächtige Magie gewirkt haben? Ist Aralorns alter Feind zurückgekehrt, der Magier Geoffrey ae’ Magi? Zum Glück ist Aralorns Gefährte Wolf an ihrer Seite, der mehr ist, als das bloße Auge sieht …
PATRICIA BRIGGS
ARALORN
DER VERRAT
Aus dem amerikanischen Englischvon Michael Neuhaus
Der Ruf eines Winterwills erklang zweimal.
Daran war nichts Ungewöhnliches. Der Winterwill – eine kleine, grau-goldene Lerche – war einer der wenigen Vögel, die im Winter nicht nach Süden zogen.
Aralorn wandte ihren Blick nicht von dem verschneiten Pfad vor ihr ab, aber sie sah, wie die Ohren ihres Pferds zuckten, als sie durch eine Schneewehe brach.
Winterwills waren ebenso alltäglich wie laut … doch dieser hatte genau in dem Augenblick geschrien, als sie die linke Abzweigung auf dem Weg genommen hatte. Der Schnee lag hier nicht ganz so tief, und sie lenkte Schimmer von dem Pfad herunter und den Hang hinauf. Tatsächlich ließ der Winterwill dreimal seinen Ruf ertönen, und noch zwei weitere Male, als sie wieder auf den Pfad zurückkehrte. Schimmer schnaubte, schüttelte den Kopf und rasselte mit seiner Kandare.
»Pest und Verdammnis«, murmelte Aralorn.
Der Weg wand sich durch die Bäume und flachte ein wenig ab, als der Wald sich zu beiden Seiten lichtete. Sie verlagerte ihr Gewicht, und ihr Pferd blieb stehen. Fügsam hielt hinter ihm auch ihr zweites Pferd, ein Rotschimmel, an. Schimmer indessen warf seinen Kopf hoch und stellte die Ohren auf.
»Gute Herren des Waldes«, rief Aralorn, »ich bin in dringender Angelegenheit unterwegs und bitte um Erlass des Wegzolls, damit ich unbehelligt weiterreisen kann.«
Sie konnte die Enttäuschung beinahe spüren, die sich unter den sich im Schutz der Bäume haltenden Wegelagerern breitmachte. Schließlich trat ein Mann aus seinem Versteck hervor. Seine Kleidung war ordentlich geflickt, und Aralorn fühlte sich auf seltsame Weise an die gewissenhaft reparierte Hütte erinnert, wo sie vor etwa einer halben Stunde Käse gekauft hatte. Die Kapuze seines ungefärbten Umhangs war hochgezogen und die untere Hälfte seines Gesichts durch einen Winterschal geschützt.
»Ihr seht nicht aus wie ein Händler«, erwiderte der Mann barsch. »Warum meint Ihr, von ihrem Abkommen mit uns Gebrauch machen zu können?«
Noch bevor sie den Mann überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie bereits eine Geschichte parat gehabt. Aralorn hatte immer eine Geschichte parat. Aber das Erscheinungsbild ihres Gegenübers ließ sie ihre Pläne ändern.
Obwohl seine Kleider verschlissen aussahen, waren seine Stiefel königliche Qualitätsware, und es lag ein gehöriges Maß an Selbstvertrauen in der Art und Weise, in der seine Hand an dem Kurzschwert ruhte. Mit Sicherheit ist er mal Soldat gewesen, dachte Aralorn. Und wenn er zum rethischen Heer gehört hat, wird er auch meinen Vater kennen … Höchstwahrscheinlich komme ich bei ihm mit der Wahrheit weiter als mit irgendwelchen Lügen.
»Ich bin mit etlichen Händlern eng befreundet«, entgegnete sie. »Aber wie Ihr schon sagtet, zwischen Euch und mir besteht keine Abmachung. Insofern besteht kein Grund, mir die Durchreise zu gewähren.«
»Die Existenz des Abkommens ist ein streng gehütetes Geheimnis«, sagte der Mann. »Eines, für das viele töten würden, um es zu schützen.«
Aralorn lächelte freundlich und ignorierte die Drohung. »Ich hab diese Gegend schon einmal als Händler durchquert und hätte es diesmal ebenso gekonnt. Aber als ich in Euch einen Mann der Streitkräfte erkannte, dachte ich, ich käme auch mit der Wahrheit durch – ich lüge nur, wenn ich muss.«
Er lachte, auch wenn seine Hand keinen Zentimeter von seinem Schwertheft wich. »Also gut, edle Herrin, dann lasst sie mich hören, Eure Wahrheit.«
»Ich bin Aralorn, Söldnerin von Sianim. Mein Vater ist tot«, sagte sie. Ihre Stimme geriet unvermutet ein wenig ins Schwanken – das brachte sie einen kurzen Moment aus dem Konzept. Sie war es nicht gewohnt, sich etwas sagen zu hören, das sie so eigentlich nicht geplant hatte. »Der Löwe von Lammfeste. Wenn Ihr mich länger als ein paar Stunden aufhaltet, verpasse ich sein Begräbnis.«
»Komisch, davon ist mir gar nichts zu Ohren gekommen«, erklärte der Räuber argwöhnisch. »Ich kenne den Löwen. Ihr seht ihm kein bisschen ähnlich.«
Aralorn verdrehte die Augen. »Das weiß ich. Ich bin seine älteste Tochter, geboren von einer Bauersfrau …« Schimmer vernahm die wachsende Anspannung in ihrer Stimme und reagierte unruhig.
Die Aufmerksamkeit des Räuberhauptmanns wurde auf das Pferd gelenkt; im selben Moment erstarrte er und zog die Luft ein. Mit einer Geste brachte er Aralorn zum Schweigen und ging langsam um das Reittier herum. Dann nickte er knapp. »Ich glaube Euch. Euer Hengst könnte der Doppelgänger von dem sein, der in der Schlacht am Valner-Pass tot unter dem Löwen zusammenbrach.«
Aralorn nickte. »Das Vatertier meines Pferdes starb am Valner-Pass«, sagte sie. »Vor vierzehn Jahren.«
Der Räuber zog einen verblichenen grünen Stofffetzen hervor, packte Schimmers Kandare und befestigte das dünne Band am Zaumzeug. »Damit werdet Ihr ungehindert an meinen Männern vorbeikommen. Nehmt es nicht ab, bevor Ihr die ›Herberge zum fahrenden Gesellen‹ erreicht – Ihr kennt sie?«
Aralorn nickte, wendete bereits die Pferde, hielt dann jedoch inne. »Richtet Eurer Frau aus, dass sie vorzüglichen Käse macht – und nehmt einen kleinen Rat von mir an: Lasst sie Eure Räuberkluft nicht mit dem gleichen Stoff ausbessern wie ihre Schürze. Gut möglich, dass ich nicht die Einzige bin, der so was auffällt.«
Verdutzt schaute der Räuber auf den gelb-grünen Flicken hinunter, der sein rechtes Knie bedeckte.
Sanft setzte Aralorn hinzu: »Es ist bestimmt nicht einfach für eine Frau, die Kinder allein aufzuziehen.«
Sie konnte ihm ansehen, dass er seine Entscheidung, sie nicht zu töten, überdachte. Etwas, das er nicht getan hätte, hätte sie nur die Klappe gehalten; aber sie konnte sich noch zu gut an die walnussbraunen Augen des kleinen Hosenmatzes erinnern, der an der knallbunten Schürze seiner Mutter gehangen hatte. Er hätte auf dieser Welt wahrscheinlich wenig zu lachen ohne einen Vater, der ihn vor Leid und Unheil beschützte, und Aralorn hatte nun mal eine Schwäche für Kinder.
»Ihr seid ein verständiger Mann, wie mir scheint«, fuhr sie fort. »Hätte ich gewollt, dass Ihr gefasst werdet, wäre ich zu Lord Larmund gegangen, dessen Provinz dies hier ist, und hätte ihm erzählt, was ich gesehen hab – anstatt Euch einen wohlmeinenden Ratschlag zu geben.«
Zögerlich entfernte sich seine Hand vom Knauf des kleinen Schwertes, doch Aralorn konnte in der Nähe ein Knarzen hören, das ihr verriet, dass irgendjemand eine gespannte Armbrust schussbereit hielt. »Ich werd’s ihr sagen.«
Aralorn stupste Schimmer mit den Knien an und ließ die Wegelagerer hinter sich.
Spät in dieser Nacht überquerte sie den ersten Bergpass, und am darauffolgenden Nachmittag den zweiten und letzten Pass vor Lammfeste.
Je nördlicher sie kam, desto tiefer wurde der Schnee. Aralorn wechselte ein ums andere Mal das Pferd, dennoch hatte Schimmer die meiste Arbeit, da er zum Durchbrechen der verharschten, knietiefen Verwehungen schlichtweg am besten taugte. Doch nach und nach, während über dem höchsten Punkt des Passes das Licht des neuen Tages heraufzog, neigte sich der Bergpfad wieder talwärts, und der Schnee wurde weniger. Müde schaukelte Aralorn im Sattel hin und her. Es war kein Zwei-Stunden-Ritt mehr bis Lammfeste, aber sie und die Pferde brauchten vorher auf jeden Fall noch eine Rast.
Die Straße führte an einem weiteren kleinen Dorf mit einer Herberge vorbei. Aralorn saß ab und führte ihre erschöpften Pferde zum Stallhof.
Wenn der Stallknecht sich über die Ankunft eines Gasts am frühen Morgen wunderte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er erhob keine Einwände, als Aralorn ihm die Zügel des Rotschimmels in die Hand drückte und es selbst übernahm, sich um Schimmer zu kümmern. Das treue Schlachtross war keineswegs so wild, als dass es nicht ein Fremder hätte versorgen können, aber Aralorn hatte es sich angewöhnt, diese Aufgabe persönlich zu übernehmen, wenn sie von Unruhe geplagt war. Bevor sie ihr Sattel- und Zaumzeug verstaute, löste sie das Band von Schimmers Kandare. Dann ließ sie die Pferde behaglich dösend zurück und betrat durch die Stalltür die Herberge.
Der Gastwirt, den sie in der Küche antraf, war nicht derselbe Mann, an den sie sich von ihrem letzten Besuch her erinnerte, doch das Zimmer, in das er sie führte, war anheimelnd und sauber. Als sie endlich allein war, schloss sie die Tür, zog ihre Stiefel und Reithosen aus und kroch unter die wohlriechende Bettdecke. Zu müde, zu abgestumpft, um sich wie in den letzten paar Wochen vor dem Schlafen zu fürchten, gab sie sich dem Vergessen hin.
Der Traum setzte sanft ein. Aralorn wanderte durch einen Gang in der Burg des ae’Magi. Der Korridor sah genauso aus wie beim letzten Mal – damals, in jener Nacht, als der ae’Magi gestorben war.
Die bedrohliche Treppe ragte aus der Dunkelheit empor. Aralorn legte ihre Hand an die Wand und nahm die nach unten führenden Stufen, auch wenn es hier so finster war, dass sie kaum erkennen konnte, wohin sie ihre Füße setzte. Sie schmeckte das Grauen in ihrer Kehle, klebrig und beißend wie bitterer Honig, und sie wusste, dass irgendetwas Schreckliches auf sie wartete. Sie schritt eine weitere Stufe hinab und fand sich unversehens in einer engen steinernen Kammer wieder, in der es nach Abfällen und Ammoniak roch.
Eine Frau lag auf einem Holztisch, ihr Gesicht im Tode erstarrt. Trotz ihrer Leichenblässe und den feinen Falten, die der Schmerz in ihr Gesicht gezeichnet hatte, war sie schön; ihr feuerrotes Haar wirkte im Angesicht des Todes wie Hohn. Grobe, geschärfte Metallfesseln, dicker als die bleichen Handgelenke, die sie umschlossen, hatten Narben hinterlassen. Stumme Zeugen all der Jahre, in denen die Eisen an Ort und Stelle verblieben waren.
Am Fußende des Tischs stand ein Junge mit rabenschwarzem Haar und betrachtete die Tote. Er schenkte weder Aralorn noch irgendetwas anderem die geringste Aufmerksamkeit. Sein Gesicht wies noch die ungeformten Züge der Kindheit auf, und der Blick seiner gelben Augen war seltsam weltentrückt, während er den Leichnam ansah – ein Blick aus uralten Augen, die Aralorn seine Identität verrieten.
Wolf, dachte Aralorn. Dies war ihr Wolf als Kind.
»Das war meine Mutter?«, fragte der Junge, der einmal Wolf sein würde, schließlich.
Seine Stimme überraschte sie; sie klang eher sanft als nach dem heiseren Krächzen, das sie mit Wolf in Verbindung brachte.
»Ja.«
Aralorn schaute sich nach dem Besitzer der zweiten Stimme um, konnte ihn jedoch nicht sehen. Nur seine Worte hallten in ihren Ohren wider – Worte ohne Modulation oder Färbung. Es hätte jeder sein können, der da sprach. »Ich dachte, du möchtest sie vielleicht sehen, bevor ich sie wegschaffe.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst. Kann ich jetzt wieder zu meinen Studien zurückkehren, Vater?«
Das Traumbild verblasste, und Aralorn ging eine weitere Treppenstufe hinunter.
»Sogar als Kind war er kalt. Unpersönlich. Widernatürlich. Böse …«, flüsterte irgendetwas in der Dunkelheit des Treppenschachts.
Aralorn schüttelte heftig den Kopf. Sie wusste besser als jeder andere von den Emotionen, die Wolf gleichermaßen hinter einem ausdruckslosen Gesicht wie hinter der silbernen Maske zu verbergen wusste, die er für gewöhnlich trug. Im Gegenteil, er war gefühlsbetonter als die meisten Menschen. Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, als sie von einem Schrei abgelenkt wurde. Sie ging auf das Geräusch zu, stieg weiter die Treppe und in die Finsternis hinab, die sie verschluckte.
Nackt und frierend kam sie wieder zu sich; ihr Atem stieg in einer feinen Wolke über ihr auf. Sie versuchte sich zu bewegen, um Wärme zu spüren, doch schwere Eisenketten fesselten sie dort, wo sie war. Kaltes Metall berührte ihre Kehle, und Wolf drückte die Klinge herab, bis ihr Fleisch sich unter der Schneide teilte.
Er lächelte süß, während das Messer langsam tiefer schnitt. »Still jetzt, es wird überhaupt nicht wehtun.«
Sie schrie, und paradoxerweise wurde sein Lächeln noch breiter, lenkte dadurch ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Das ist nicht Wolfs Lächeln, wurde ihr plötzlich klar. Sie kannte sein Lächeln: Es war so selten wie grüne Diamanten, nicht so routiniert wie dieses. Erbittert weigerte sie sich zu akzeptieren, was sie sah.
Unter ihrem entsetzten Blick verwandelten sich die gelben Augen ihres Peinigers in blaue. Als er zum zweiten Mal sprach, tat er es mit der wohlklingenden Stimme des ae’Magi. »Komm, mein Sohn, es ist Zeit für dich, noch mehr zu lernen.«
»Nein.«
Etwas verschob sich mit unsanfter Plötzlichkeit in Aralorns Kopf und riss sie von dem Tisch zu einem Standort irgendwo hinter dem ae’Magi. Er presste sein Messer an den Hals einer blassen Frau, die vor lauter Angst nicht einmal wagte zu wimmern.
Wahrheit, dachte Aralorn, die Richtigkeit dieses Traums spürend.
Der Junge stand etwas abseits von seinem Vater. Er war nicht mehr so jung wie beim vorherigen Traumbild. Sein Antlitz zeigte bereits Zeichen der Angleichung an das des Erzmagiers, Gesichtsmerkmal um Gesichtsmerkmal – ausgenommen die Augen.
»Komm«, wiederholte der ae’Magi. »Der Tod, den du ihr schenkst, wird viel leichter sein als der, den sie aus meinen Händen erfahren würde. Und für dich wird es auch leichter, Cain, wenn du tust, was ich verlange.«
»Nein.« Der Junge, der, bevor er ihr Wolf wurde, Cain gewesen war, sprach leise, ohne Missachtung oder Achtung.
Der ae’Magi lächelte und ging zu seinem Sohn hinüber, streichelte sein Gesicht mit der Hand, die immer noch das blutige Messer hielt. Etwas in Aralorn verkrampfte sich beim Anblick dieser Liebkosung. Details, die Wolf ihr erzählt hatte, fügten sich zusammen mit der Lüsternheit der Geste des Erzmagiers.
»Ganz wie du willst«, sagte der Zauberer sanft. »Dann werde ich es umso mehr genießen.«
Rasende Wut wallte in ihr auf, zusammen mit dem Hass auf einen Mann, von dem sie wusste, dass er tot war. Sie machte einen Schritt nach vorn, als könnte sie tatsächlich längst vergangene Geschehnisse ändern, und die Szene wechselte erneut.
Der Junge stand nun auf der Turmbrüstung; über ihm am Himmel tobte ein heftiger Sturm. Er war jetzt noch älter, von der Größe eines Mannes, obschon seine schmalen Schultern noch immer den Jüngling verrieten. Kalter Regen prasselte auf ihn herab, und Wolf zitterte.
»Macht, Cain. Das ist Macht. Wünscht du sie dir nicht?«
Langsam hob der Junge seine Arme, den Sturm zu umfangen.
Aber da war er wieder – der Eindruck, dass hier irgendwas nicht stimmte. Aralorn nutzte ihre in der Naturordnung begründete Magie, um das Bild zurechtzurücken. Sie besaß nicht mehr Magie als eine durchschnittliche Kräuterhexe, aber sie schien ihren Zweck zu erfüllen. Wieder veränderte sich auf subtile Weise die Szene, als würde ein Fernglas auf die richtige Schärfe eingestellt.
»Macht, Cain, das ist Macht. Wünscht du sie dir nicht?«
»Sie kommt zu schnell, Vater. Ich kann sie nicht kontrollieren.« Wolf sprach die Worte ohne jede Dringlichkeit.
»Ich werde die Magie kontrollieren.« Als Wolf keine Anstalten machte, sich zu rühren, senkte sich die Stimme des ae’Magi zu einem bedrohlichen Flüstern. »Ich kann dir versichern, die Alternative würde dir nicht gefallen.«
Sogar in der sturmverdunkelten Nacht konnte Aralorn Wolfs erbleichendes Gesicht erkennen, auch wenn der Ausdruck darauf unverändert blieb. »Also gut.« Es war etwas Ruhiges und Entschlossenes in seiner Stimme, das Aralorn stutzen ließ. Etwas, das nur jemand wahrgenommen hätte, der ihn gut kannte.
Wolf neigte den Kopf, und Aralorn war sich der Magieströme bewusst, die er in diesem Moment ansaugte. Der Erzmagier schloss die Hände um die Schultern seinen Sohnes; Wolf fuhr bei der Berührung leicht zusammen, ließ dann aber seine Macht auf den Vater überströmen. Ein Blitz zuckte auf, und die Magie, die er in sich vereinte, verdoppelte, verdreifachte sich im Nu. Langsam hob Wolf seine Arme, und ein weiteres Mal flammte ein Blitz auf und traf ihn direkt in die Brust.
Er hat ihn mit voller Absicht auf sich gelenkt, dachte Aralorn fassungslos. Wäre er ganz und gar menschlich gewesen, wäre er daran gestorben, und sein Vater mit ihm. Für einen Grünmagier jedoch, in dessen Adern das Blut eines älteren Volkes floss, bargen Blitze vielmehr Magie denn den Tod – aber das konnte er nicht wissen. Er wusste nicht, was seine Mutter gewesen war, nicht damals zu jenem Zeitpunkt.
Einen Augenblick lang standen beide vollkommen unbewegt da, das Einzige, das sich regte, war die von Wolf gesammelte geräusch- und formlose Kraft; dann explodierte ein Stein zu Trümmern, gefolgt von noch einem und noch einem. Im nächsten Moment erglühten die zersprungenen Granitbrocken mit der Hitze unkontrolliert entfesselter wilder Magie. Aralorn vermochte nicht zu sagen, ob Wolf überhaupt versuchte, die Magie zu beherrschen, indessen der ae’Magi einige Schritte zurückgewichen war und in dem Bemühen, den Lauf der Dinge aufzuhalten, hektisch gestikulierte. Die flammenzüngelnde Lohe verbannte die Schatten. Aralorn sah, dass Wolf lächelte …
Direkt vor Wolf zerplatzte ein weiterer Stein unter der großen Hitze. »Nein!«, schrie der ae’Magi, als der geschmolzene Fels seinem Sohn ins Gesicht spritzte. Wolf brüllte auf, ein Geräusch, das sich in dem ohrenbetäubenden Krachen zerberstenden Gemäuers verlor.
Der ae’Magi wirkte einen Zauber, schöpfte dazu aus eben der Magie, die für diese Verwüstung verantwortlich war.
Ein Schutzzauber, dachte Aralorn, als ein Mauerstein von einer Zinne herabstürzte und von der unsichtbaren Barriere abprallte, die den über seinem bewusstlosen Sohn knienden ae’Magi umgab.
»Ich werde die Macht nicht verlieren. Du sollst mir heute nicht entkommen.«
Die Szene verblasste, und Aralorn fand sich abermals in dem Korridor wieder, doch sie war nicht allein.
Der ae’Magi trat vor sie hin und runzelte die Stirn. »Wie hast du …« Seine Stimme verstummte, und sein Gesicht wurde wie in einem Krampf von einem so starken Gefühl verzerrt, dass sie nicht einmal zu sagen vermochte, was genau es war. »Du liebst ihn?«
Auch wenn seine Stimme nicht laut war, wurde sie brüchiger und misstönender, bis sie nicht mehr die Stimme des Erzmagiers war. Obwohl sie irgendwie vertraut schien; angestrengt versuchte sich Aralorn zu erinnern, wem sie gehörte. »Wer bist du?«, fragte sie.
Doch die Gestalt des ae’Magi zerrann, ebenso wie der Korridor, schwand dahin in eine uralte Schwärze, die nach ihr zu greifen begann. Sie schrie und …
… erwachte.
Mit pochendem Herzen lauschte Aralorn auf die gedämpften Laute in der Herberge. Nachdem keine eiligen Fußtritte zu hören waren, nahm sie an, dass sie nicht laut geschrien hatte. Dies war kein Ort, an dem man ein solches Geräusch mit einem Schulterzucken abgetan hätte. Sie setzte sich auf und versuchte die Nachwirkungen des Albtraums abzuschütteln, doch das Grauen über die Furcht erregende hungrige Leere blieb. Also konnte sie auch genauso gut aufstehen.
Die Albträume hatten angefangen, als Wolf vor ein paar Wochen abgetaucht war. Albträume waren durchaus nichts Ungewöhnliches, wenn man seinen Lebensunterhalt als Söldner bestritt, aber diese hörten und hörten nicht auf. Träume, im Verlies des ae’Magi gefangen zu sein, außerstande dem Schmerz oder der Stimme zu entfliehen, die sie immer und immer wieder fragte »Wo ist Cain? Wo ist mein Sohn?«. Aber dieser letzte Traum war anders gewesen … er war mehr gewesen als ein Traum.
Nachdenklich zog sie sich an. Die Mysterien, mit denen man im Schlaf konfrontiert wurde, einfach so hinzunehmen, das war das Geschenk an jeden Träumenden. Doch jetzt, da sie wach war, kamen die Fragen.
Es hatte sich so real angefühlt. Wäre der ae’Magi noch am Leben, hätte sie das Ganze ohne zu zögern auf einen Anschlag von ihm zurückgeführt – eine kleine Boshaftigkeit, um sie an Wolf zweifeln zu lassen und ihr das Leben noch ein bisschen schwerer zu machen, als es ohnehin schon war. Ein Anschlag, der bloß deshalb daneben gegangen war, weil auch sie ein wenig Magie in der Trickkiste hatte, auf die sie im Bedarfsfall zurückgreifen konnte.
Aber der ae’Magi war tot, und sie konnte sich nicht vorstellen, wer außer ihm noch Kenntnis von den intimen Details aus Wolfs Kindheit besaß – von Dingen, die nicht einmal sie mit Sicherheit gewusst hatte.
Es war ein Traum, entschied sie, während sie sich nach draußen zu den Ställen begab. Nur ein Traum.
Der Pfad nach Lammfeste war unter dem Schnee kaum zu erkennen, aber Aralorn hätte ihm mit verbundenen Augen folgen können, auch wenn sie seit zehn Jahren nicht mehr hier gewesen war.
Als Schimmer die letzte Anhöhe erklomm, verlagerte Aralorn ihr Gewicht in dem Sattel nach hinten. Der Hengst senkte daraufhin seine gewölbte Stirn zu Boden und kam rutschend zum Stehen. Indigniert warf der rotbraune Wallach den Kopf hoch, als seine Marschroute in Schimmers Kielwasser ihn zu einem gleichermaßen abrupten Halt zwang.
Oben am Bergfried wehte auf Halbmast das schmückende Banner mit dem roten Löwen ihres Vaters, welches die Anwesenheit des Lords in der Burg signalisierte. Darüber flatterte eine kleinere rote Fahne.
Aralorn schluckte und tätschelte Schimmers mächtigen grauen Hals. »Du wirst alt, mein Guter. Vielleicht sollte ich dich für die Zucht hierlassen und sehen, ob ich jemandem einen Ersatz abschwatzen kann.«
Schimmers Ohr schwenkte herum, um ihrer Stimme zu lauschen, und sie lächelte gedankenverloren.
»Da ist der Baum, an dem ich dich gefunden hab, da unten, bei der Mauer.«
Sie war sich damals so schlau vorgekommen, als sie sich in tiefster Nacht hinausgeschlichen hatte. Sie hatte es gerade sicher über die Mauer geschafft – welch beachtliche Leistung –, und da hatte er gestanden, Schimmer, der ganze Stolz ihres Vaters, angebunden an einen Baum. Sie besaß noch immer den Zettel, den sie zusammen mit dem Reiseproviant und ein paar Münzen in den Satteltaschen gefunden hatte. In der engen Handschrift ihres Vaters hatte die Notiz sie informiert, dass ein ordentliches Reittier mitunter recht nützlich sei und dass sie, falls sie in der Welt da draußen nicht fand, wonach sie suchte, im Hause ihres Vaters stets willkommen sein würde.
Die dunklen immergrünen Bäume verschwammen ihr vor den Augen, als Aralorn an jene letzte Nacht auf Lammfeste zurückdachte. Sie musste abermals schlucken; der Gram, den sie während der Heimreise unterdrückt hatte, machte sich bemerkbar.
»Vater.« Sie flüsterte dem stillen Wald ihr Flehen zu, doch es kam keine Antwort.
Schließlich gab sie Schimmer das Zeichen weiterzugehen, und im Schritttempo ritten sie um die Mauer herum, bis sie das Burgtor erreichten.
»Heda! Tor!«, rief sie forsch.
»Wer?«, erscholl eine halb vertraute Stimme von oben.
Aralorn hob blinzelnd den Blick, aber der Mann stand mit dem Rücken zur Sonne, und sein Gesicht war nicht zu erkennen.
»Aralorn, Tochter Henricks, des Löwen von Lammfeste«, gab sie zurück.
Er gab ein Zeichen nach hinten. Im nächsten Moment öffneten sich ächzend und protestierend die Tore, und es wurde das eiserne Fallgitter hochgezogen. Schimmer schnaubte und setzte sich ohne Eile wieder in Bewegung, gefolgt von dem Rotschimmel hinter ihm. Mit gemischten Gefühlen ließ Aralorn ihren Blick durch den Innenhof schweifen, registrierte die Unterschiede, die ein Jahrzehnt ausmachte. Die »neuen« Lagerschuppen waren verwittert, und einige weitere waren während ihrer Abwesenheit hinzugekommen. Mehrere alte Gebäude standen nicht mehr. Sie erinnerte sich an Lammfeste als einen Ort, an dem es immer nur so gewimmelt hatte vor geschäftigen Menschen, doch jetzt war der Hof fast verwaist.
»Darf ich Euch Euer Pferd abnehmen, Lady?«
Vorsichtig hatte sich ihr der mit den Tücken von Schlachtrössern vertraute Stallmeister genähert.
Aralorn saß ab und nahm ihre Satteltaschen an sich, warf sie sich über die Schulter und übergab dem Stallmeister sodann die Zügel beider Pferde. »Der Rote ist ein bisschen schreckhaft.«
»Danke, Lady.«
Weder seinen Worten noch seinem Gesichtsausdruck nach schien der Stallmeister in besonderem Maße verwundert über eine »Lady« zu sein, die in abgerissenen Kleidern herumlief, welche sie offenbar eher aus praktischen denn aus optischen Gründen ausgesucht hatte. Im Übrigen haftete ihnen der Geruch der langen Reise inzwischen deutlich an.
Nachdem sie die Tiere gut versorgt wusste, lenkte sie ihre Schritte hinüber zur eigentlichen Burg.
»Aralorn, warte.«
Es war wieder die Stimme des Mannes an der Mauer. Sie wandte sich um und konnte jetzt deutlich sein Gesicht sehen.
Die Jahre hatten ihn größer und kräftiger werden lassen, bis er beinahe so stattlich war wie ihrer beider Vater. Seine Stimme klang jetzt auch tiefer und rauer, ganz so wie die eines Mannes, der andere in einer Schlacht befehligte; sie hatte sich gerade so viel verändert, dass Aralorn sie nicht auf der Stelle erkannt hatte. Falhart war einige Jahre älter als sie, der einzige illegitime Abkömmling des Löwen. Er war es gewesen, der seinerzeit damit begonnen hatte, sie im Waffenkampf auszubilden – weil die kleine Schwester, wie er ihr damals erklärt hatte, ein gutes Übungsziel darstellte.
»Falhart«, sagte sie. Abermals verschleierte sich ihre Sicht, als sie einen raschen Schritt auf ihn zumachte.
Falhart grunzte und verschränkte die Arme vor der Brust.
Gekränkt blieb Aralorn stehen, nahm die gleiche Pose ein und wartete, dass er sprach.
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit, Aralorn. Ist Sianim so weit, dass du uns nicht besuchen konntest?«
Aralorn erwiderte seinen Blick. »Ich hab fast jeden Monat geschrieben.« Sie machte eine Pause, um den entschuldigenden Ton aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich gehöre nicht hierher, Hart. Nicht mehr.«
Seine schwarzen Augenbrauen hoben sich bis knapp an sein ziegelrotes Haar. »Dies ist dein Zuhause – natürlich gehörst du hierher. Irrenna hat in deinem Zimmer alles so gelassen, wie es war, hat immer gehofft, du würdest mal vorbeischauen. Bei Allyns Leinkraut, man könnte glauben, wir wären Darraner, so wie du –« Jäh unterbrach er sich, als er ihr Gesicht näher betrachtete. Für einen Moment sackte ihm die Kinnlade herab, dann sagte er mit einer vollkommen anderen Stimme: »Das ist es, nicht wahr? Es ist wegen Nevyn, oder? Vater hatte es ja immer vermutet, aber ich hätte nicht gedacht, dass du dir die halb verrückten Vorurteile eines kleinen Darranerlords so zu Herzen nehmen würdest.«
Aralorn lächelte reumütig und nicht länger gekränkt; Wut und nicht Zurückweisung war der Grund für Falharts ablehnende Haltung gewesen. »Es ist zwar ein bisschen komplizierter, aber Nevyn ist sicherlich der Hauptgrund, warum ich nicht zurückgekommen bin.«
»Man sollte meinen, dass ein Magier toleranter wäre«, knurrte Hart, »und du ein bisschen mehr Verstand zeigen würdest.«
Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Er ist nicht allzu glücklich darüber, ein Magier zu sein – in der Sache hatte er schlichtweg keine Wahl.«
»Du hättest ihn für dich gewinnen können, wenn du nur gewollt hättest, Aralorn.« Er hatte immer noch nicht beschlossen, ihr zu vergeben. »Der Mann ist nicht so dumm, wie er sich mitunter benimmt.«
»Mag sein«, räumte sie ein. »Aber wie ich schon sagte, er war nicht der einzige Grund, warum ich fortgegangen bin. Ich war niemals für das Leben einer rethischen Adelsfrau geschaffen, genauso wenig wie Nevyn als Magier hätte in Darran leben können. Sianim ist jetzt mein Zuhause.«
»Wissen sie dort, dass du eine Gestaltwandlerin bist?«, fragte er kühl.
»Nein.« Sie grinste ihn an. »Du weißt doch, die einzigen Menschen, die solche Geschichten glauben, sind die Barbaren in den Bergen von Reth. Abgesehen davon ist es viel nützlicher, ein Gestaltwandler zu sein, wenn es außer mir niemand weiß.«
»Zuhause ist, wo man alle deine Geheimnisse kennt, Federgewicht, und dich trotzdem liebt.«
Aralorn lachte, und die Tränen, die sie, seit sie vom Tod ihres Vaters gehört hatte, zu übermannen drohten, brachen sich endlich Bahn. Als Falhart seine Arme öffnete, war sie mit zwei Schritten bei ihm und fiel ihm um den Hals, küsste ihn, als er sich zu ihr herabbeugte, auf die Wange. »Ich hab dich vermisst, Wuschelkopf.«
Er hob sie hoch und drückte sie an sich, nur um im nächsten Moment, als er über ihre Schulter sah, zu erstarren. Behutsam setzte er sie wieder ab, die Augen unverwandt auf das gerichtet, was immer er hinter ihr erblickt hatte. »Der Wolf da, hat der irgendwas mit dir zu tun?«
Sie drehte sich um und sah einen großen, tiefschwarzen Wolf, der nur ein paar Schritte entfernt in geduckter Haltung verharrte. Seine Rückenhaare und die Haarkrause um seinen Hals waren aufgestellt, und seine fletschende Schnauze mitsamt der elfenbeinfarbenen Fänge war geradewegs auf Falhart gerichtet.
»Wolf!«, rief Aralorn überrascht auf, lauter, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Wolf!«, hallte es wie ein Echo prompt von einem der Bogenschützen auf der Burgmauer wider, dessen Blick durch Aralorns unseligen Ausruf auf den Innenhof gelenkt worden war. Die Verblüffung in seiner Stimme änderte nichts an der Geschwindigkeit, mit der er seinen Bogen in der Hand hatte.
Lammfeste trug ihren Namen aufgrund der hervorragenden Schafe, die man hier züchtete, weshalb Wölfe in der Burg ihres Vaters nicht eben beliebt waren.
Blitzschnell warf sich Aralorn auf ihn, brachte sich zwischen ihn und den Schützen und riss Wolf dabei von den Füßen.
»Aralorn«, rief Falhart hinter ihr. »Aus dem Weg!«
Sie malte sich das große Messer aus, das am Gürtel ihres Bruders steckte.
»Hart, sag ihnen, sie sollen … uff – verdammt, Wolf, hör auf damit, das tut weh! –, sag ihnen, sie sollen nicht auf ihn schießen!«
»Haltet ein! Er ist zahm und das Haustier meiner Schwester!«, brüllte Falhart über den Hof. »Glaube ich wenigstens«, fügte er leiser hinzu.
»Hast du das gehört, Wolf?«, sagte Aralorn und musste unwillkürlich grinsen. »Du bist mein Haustier. Also, vergiss das nicht.«
Mit einer geschmeidigen Drehung gelang es Wolf, wieder alle viere unter sich zu bringen und Aralorn abzuwerfen, sodass sie der Länge nach auf dem Rücken landete. Er legte eine seiner schweren Pranken auf ihre Schulter, um sie festzuhalten, und begann sodann eifrig mit der Säuberung ihres Gesichts.
»Schon gut, schon gut, ich ergebe mich – igitt … Wolf, lass das.« Sie schlug beide Arme vor das Gesicht. Manchmal trieb er es für ihren Geschmack ein bisschen zu weit damit, seiner Rolle als Wolf gerecht zu werden.
»Aralorn?«
»Irrenna.« Aralorn wandte den Kopf, um zu der Frau aufzusehen, die auf sie zukam. Wolf trat zurück und gestattete Aralorn aufzustehen, um die Gemahlin ihres Vaters zu begrüßen.
Irrenna war eher elegant als schön zu nennen, aber es bedurfte schon eines scharfen Auges, um den Unterschied festzustellen. Das Grau in ihrem Haar war mehr geworden, seit Aralorn fortgegangen war. Auch wenn Irrenna nicht so hochgewachsen war wie ihre Töchter, so war sie doch mindestens einen ganzen Kopf größer als Aralorn. Ihre lachenden Augen und ihr herrliches Lächeln waren von Kummer getrübt, aber ihre Begrüßung war herzlich, und ihre Arme schlossen sich fest um Aralorn. »Willkommen zu Hause, Tochter. Friede sei mit dir.«
»Und mit dir«, sagte Aralorn und erwiderte ihre Umarmung. »Ich wünschte, es wären freudigere Nachrichten, die mich hierherführten.«
»Das wünschte ich auch. Aber jetzt komm mit hinauf. Ich hab in deinem Zimmer ein Bad für dich einlaufen lassen. Hart, nimm deiner Schwester die Taschen ab.«
Aralorn versuchte, die Satteltaschen, die sie sich über die Schulter geworfen hatte, festzuhalten, aber Falhart wand sie ihr trotzdem aus der Hand und belehrte sie mit leicht affektiertem Tonfall: »Eine Lady trägt nie ihr Gepäck.«
Sie verdrehte die Augen und stieg sodann die Treppen zum Hauptgebäude empor.
»Hunde dürfen nicht in die Burg«, erinnerte sie Irrenna bestimmt, als Wolf Aralorn dicht auf den Fersen folgte.
»Er ist kein Hund, Irrenna«, entgegnete Aralorn. »Er ist ein Wolf. Und wenn er draußen bleibt, wird ihn irgendjemand erschießen.«
Irrenna blieb stehen und warf einen genaueren Blick auf das Tier an Aralorns Seite. Stumm starrte Wolf zurück, wedelte leicht mit dem Schwanz und versuchte einen harmlosen Eindruck zu machen. Was ihm Aralorns Ansicht nach nicht besonders gut gelang, aber offensichtlich war Irrenna nicht so kritisch, denn sie zögerte.
»Wenn du ihn jetzt aussperrst, findet er später trotzdem einen Weg hinein,«, sagte Aralorn beinahe bittend.
Irrenna schüttelte den Kopf. »Du wirst deinen Brüdern erklären müssen, warum dein Haustier reindarf und ihre in den Hundehütten bleiben müssen.«
Aralorn lächelte. »Ich werde ihnen erzählen, dass er Leute frisst, wenn ich nicht da bin, um ihn daran zu hindern.«
Irrenna schaute abermals auf Wolf, der daraufhin charmant den Kopf schief legte und mit dem Schwanz wedelte. »Du solltest dir vielleicht eine glaubwürdigere Geschichte einfallen lassen«, meinte Irrenna.
Hart runzelte die Stirn; aber andererseits hatte er Wolf auch gesehen, als dieser sich noch nicht wie ein bettelndes Schoßhündchen benommen hatte.
Als Aralorn den großen Saal betrat, schloss sie für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Sie konnte den erdigen Geruch wahrnehmen, der das alte Steingemäuer durchdrang und den noch so viele Reinigungsmaßnahmen nicht restlos zu beseitigen vermochten, spürte den Holzrauch von den Feuerstellen in der Nase und das feine Aroma getrockneter Blumen und Kräuter; und einen unbeschreiblichen Duft, wie kein anderer Ort auf der Welt ihn besaß.
»Aralorn?«, fragte ihr Bruder leise.
Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich bin bloß ein bisschen müde.«
Falhart runzelte ein weiteres Mal die Stirn, folgte jedoch Irrenna weiter durch die Haupthalle und überließ es Aralorn, sich ihnen anzuschließen.
Die cremefarbenen Steinwände waren von Wandteppichen bedeckt, um die Kälte draußen zu halten. Die meisten der Behänge hatten Generationen kommen und gehen gesehen, doch auch einige neuere schmückten ausgesuchte Stellen. Anscheinend besaß hier jemand ein Händchen für den Webstuhl – Aralorn fragte sich, ob es eine ihrer Schwestern war.
Sie versuchte die im Saal ausgestreuten roten Nelken zu ignorieren: leuchtende Farbtupfer wie frische Blutstropfen. Rote und schwarze Bänder und Stoffbahnen hingen sorgsam drapiert von der Wand und erinnerten sie wieder an den eigentlichen Grund ihrer Rückkehr nach Lammfeste. Die Freude über das Wiedersehen mit Hart und Irrenna verblasste.
Dies war nicht länger ihr Zuhause. Ihr großer, lachender, listiger, legendärer Vater war tot, und es war hier kein Platz mehr für sie. Sie spürte, wie Wolf sanft ihre Hand ins Maul nahm. Eine Geste der Zuneigung – so hatte seine Antwort gelautet, als sie ihn einmal danach gefragt hatte. Getröstet vom vertrauten Druck seiner Zähne auf ihrem Handrücken, schloss sie ihre Finger um seinen Unterkiefer.
Wie der Innenhof war auch die Halle mehr oder minder verwaist; nur eine Hand voll Bediensteter huschte schweigend umher. Am anderen Ende des Saals waren die schwarzen Vorhänge vor dem Alkoven zugezogen, in dem vermutlich der Leichnam ihres Vaters aufgebahrt war. Kurz übten Wolfs Zähne einen etwas stärkeren Druck aus, und sie entspannte ihre Hand, als ihr bewusst wurde, dass ihr Griff zu fest geworden war.
Am unteren Ende der großen Treppe blieb Irrenna stehen. »Geh ruhig nach oben, Aralorn. Ich sag inzwischen dem Rest der Familie Bescheid, dass du da bist. Deine alten Kleider sind immer noch in gutem Zustand, aber falls sie nicht mehr passen, schick einfach ein Kammermädchen zu mir und ich will sehen, was sich machen lässt. Falhart, wenn du Aralorns Taschen hochgebracht hast, komm bitte zu mir rüber in den Trauersaal.«
»Alles klar, danke«, sagte Aralorn und schritt die Treppen hinauf, als hätte sie sich nie geweigert, diejenigen Kleider zu tragen, auf die sich eine rethische Dame von Stande zu beschränken hatte – nichtsdestotrotz konnte sie es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Mach den Mund zu, Hart. Du siehst aus wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
Er lachte und holte sie mühelos ein. Im Vorbeilaufen wuschelte er ihr durchs Haar, zog seine Hand jedoch augenblicklich wieder zurück. »Igitt, Aralorn, du solltest dir dringend die Haare waschen, wenn du schon mal dabei bist.«
»Was?«, rief sie, als sie die Tür zu ihrem alten Zimmer öffnete. »Und damit die ganzen Läuse töten, die ich schon so lange züchte?«
Grinsend überreichte ihr Hart die Taschen. »Immer noch so damenhaft wie eh und je, was?« Als Aralorn ihre Taschen einfach hinter sich ins Zimmer schleuderte, setzte er hinzu: »Und genauso ordentlich.«
Sie verbeugte sich, als habe er ihr ein Kompliment gemacht.
Er lachte leise. »Irrenna wird dir wahrscheinlich was zu Essen bringen lassen, für den Fall, dass du keine Lust hast, mit der Horde zu speisen, die sich demnächst in der großen Halle versammeln wird. Ich schau mal, ob man dir nicht auch heißes Wasser raufbringen kann.«
»Falhart«, sagte Aralorn, als er Anstalten machte zu gehen. »Danke.«
Er grinste und machte eine einstudierte Handbewegung der Bestätigung (üblich bei zweiten Leutnants und niedrigeren Rängen). Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und ging wieder in die Halle hinab.
Aralorn trat in das Zimmer und forderte Wolf mit großer Geste auf, ihr zu folgen. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute sie sich in dem Schlafgemach um und stellte fest, dass Falhart dichter an der Wahrheit gewesen war als erwartet. Ihr Zimmer war zwar nicht haargenau so, wie sie es verlassen hatte – die Tagesdecke auf dem Bett war Kante auf Kante strammgezogen worden, und der Kaminvorleger war neu –, aber es schien, als hätte man alles weitestgehend so belassen, wie es gewesen war, als sie zum letzten Mal hier geschlafen hatte. Angesichts der Größe von Lammfeste und der zahlreichen Familienmitglieder, die es zu versorgen galt, sagte das einiges aus.
»Also«, meldete sich die unverwechselbare Kies-auf-Samt-Stimme, die Wolf seit jener Nacht begleitete, da er einen Burgturm des ae’Magi zerstört hatte, »raus damit. Warum bist du in zehn Jahren nicht ein einziges Mal hier gewesen?«
Aralorn drehte sich um und sah, dass Wolf seine menschliche Gestalt angenommen hatte. Er war größer als der Durchschnitt, wenn auch nicht so groß wie Falhart. Sein natürliches Erscheinungsbild hatte etwas von der Magerkeit des Wolfs, doch sein Wesen spiegelte sich eher in den sparsam bemessenen Bewegungen wider. Er war in schwarzen Samt und Leinenstoff gekleidet – seine bevorzugte Farbe, da es eine war, die sein Vater nie getragen hatte. Die gelben Augen bildeten einen erstaunlichen Kontrast zu der silbernen Schauspielermaske auf seinem vernarbten Gesicht.
Natürlich war es nicht wirklich eine Schauspielermaske: Keine Gauklertruppe würde jemals ein so kostbares Material wie Silber benutzen. Die fein gearbeiteten Lippen inmitten der übertriebenen, formschönen Gesichtszüge waren grimmig verzogen.
Sie runzelte die Stirn; die Maske war kein gutes Zeichen. Aralorn war sich nicht sicher, ob Wolf sie der Ironie wegen gewählt hatte oder ob irgendein tieferer Sinn darin lag, doch sie hatte es nie für wichtig genug erachtet, ihn danach zu fragen. Er trug sie, um die Narben zu verbergen, die er sich zugezogen hatte, als auch seine Stimme in Mitleidenschaft gezogen worden war – und um eine Art Barriere zwischen sich und der realen Welt zu errichten.
Nicht der Unwille, seine Frage zu beantworten, sondern eher ihr Ärger über seine Maskierung veranlasste sie dazu, ihm eine Gegenfrage zu stellen: »Warum hast du mich wieder allein gelassen?«
Sie wusste, warum; sie fragte sich nur, ob er es auch tat. Seit er sich ihr das erste Mal angeschlossen hatte – selbst damals, als sie noch glaubte, er sei wirklich ein Wolf –, war er jedes Mal, nachdem sie sich ein wenig nahe gekommen waren, sang- und klanglos verschwunden. Manchmal für ein oder zwei Tage, manchmal für einen Monat oder eine Saison. Doch diesmal hatte es mehr wehgetan, weil sie angenommen hatte, sie wären inzwischen über dieses Stadium hinaus – bis sie eines Morgens allein in dem Bett aufgewacht war, das sie mit ihm teilte.
Sie musste die Gründe für sein Verschwinden zwar nicht aus seinem Mund hören, aber sie wollte mit ihm darüber reden. Und ihm erklären, falls er es nicht schon wusste, dass die Wende in ihrer Beziehung bedeutete, dass sich auch ein paar andere Dinge ändern mussten. Kein Verschwinden mehr ohne ein Wo r t.
Das Gefühl der Wut würde sie von dem düsteren Wissen ablenken, dass ihr Vater nicht mehr war, also wartete sie darauf, dass Wolf sich rechtfertigte. Dann würde sie ihn anschreien.
Mit einer geschmeidigen Bewegung hob er ihre Taschen auf und verstaute sie im Schrank. Dann sagte er leise und mit ihr zugewandtem Rücken: »Ich –«
Durch ein lautes Klopfen an der Tür wurde er jäh unterbrochen.
»Später«, sagte er und zerfloss mit einem Flimmern von Farbe und Form wieder in seine wölfische Gestalt. Sie hatte den Eindruck, er klang irgendwie erleichtert.
Aralorn öffnete die Tür. Auf der Schwelle standen vier kräftige Männer, beladen mit je einem dampfenden Wassereimer, sowie eine Frau, die ein Tablett mit Essen hereintrug.
Während sie zusah, wie die Männer das Wasser in die alte Kupferwanne in einer Ecke des Zimmers schütteten, überdachte sie noch einmal, ob es wirklich so klug war, Wolf zu bedrängen. Er war ein verschlossener Mensch, und sie wollte ihn nicht vergraulen oder ihm das Gefühl geben, dass er einen Preis dafür zu zahlen hatte, wenn er bei ihr blieb. Sie wollte ihn nicht verlieren, nur weil sie jemanden zum Anbrüllen brauchte, damit sie nicht in einer Lache des Kummers zusammenbrach. Sie schluckte ihren Ärger wie ihre Trauer bis auf weiteres herunter. Dem Kloß in ihrem Hals nach zu schließen, gelang ihr das nicht ganz – aber sie hatte ja noch ihre alte Kupferwanne; ein heißes Bad wirkte manchmal Wunder.
Nachdem die vier Männer den schweren Paravent vor der Wanne aufgestellt hatten, um die kühlen Luftzüge abzuhalten, entließ sie die Bediensteten.
Sodann trat sie hinter die Abschirmung und zog sich rasch ihre verdreckten Kleider aus. Vielleicht war es am besten, wenn sie seine Frage beantwortete; auf die Weise käme er elegant darum herum, die ihre zu beantworten. Nun gut, was hatte er noch gleich gefragt?
»Es schien mir das Beste«, meinte sie, während sie in die Badewanne stieg.
»Was schien dir das Beste?« Dem Klang seiner Stimme nach hatte Wolf sich von dort fortbewegt, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte: zusammengerollt vor dem Kamin und mit geschlossenen Augen – eine Haltung, welche die Diener, die mit sichtlichem Unbehagen immer wieder zu ihm herübergeschaut hatten, offenbar beruhigte.
»Dass ich von hier fortgegangen und nicht zurückgekommen bin.«
»Das Beste für wen?« Jetzt ist er wieder näher, dachte sie, still in sich hineinlächelnd.
Sie ließ sich tiefer in die luxuriös große Badewanne sinken und legte den Kopf auf den breiten Rand. Sollte sie ihm die kurze Antwort liefern oder lieber die lange? Sie lachte tonlos, dann sagte sie ruhig: »Lass mich dir eine Geschichte erzählen.«
»Natürlich«, erwiderte er trocken.
Diesmal lachte Aralorn laut. Ein Großteil ihrer üblichen Gelassenheit war durch das heiße Wasser zurückgekehrt, und die makabre Stimme ihres Liebsten tat das Ihrige dazu. Sie beschloss, den Grund für ihre Anwesenheit in ihrem alten Schlafgemach zu vergessen, und sei es auch nur für eine Weile. »Es war einmal«, hob sie in ihrer besten Geschichtenerzählermanier an, »vor nicht allzu langer Zeit, der Sohn eines Lords. Er genoss, trotzdem er noch jung an Jahren war, bereits den Ruf, im Kriege ungewöhnlich listenreich zu sein. Zusätzliche Bekanntheit erlangte er aufgrund eines Umstands, mit dem niemand gerechnet hatte.«
Sie wartete.
Schließlich, mit einem leichten Anflug von Belustigung, fragte er: »Nämlich welcher?«
»Es war in einer Nacht im kältesten Winter. Der Vollmond tauchte die Welt in seinen fahl schimmernden Schein, da hörte ein Diener ein donnerndes Klopfen an der Türe zur Burg. Als er sie öffnete, stand ein Mann in dickem Wollumhang vor ihm; er trug einen geschlossenen Korb. ›Überbringe dies dem Sohn des Lords‹, sagte er und drückte dem Diener den Korb an die Brust. Als der Diener seine Hand um die Griffe schloss, trat der Mann mit dem Umhang von der Tür zurück, verwandelte sich in einen Bussard und erhob sich in die Lüfte.« Sie planschte vergnügt mit ihren Zehen und genoss das Gefühl des warmen Wassers, das ihren getrockneten Schweiß fortwusch. Das Bad in einer Wanne war zwar nicht mit den Freuden in den Badehäusern von Sianim zu vergleichen, dafür aber auf jeden Fall privater. »Der Diener brachte den Korb zu dem Sohn des Lords und beschrieb diesem den ungewöhnlichen Boten, der ihn abgegeben hatte. Der junge Mann hob den Deckel. In dem Korb lag ein kleines Mädchen; es besaß die seltsam graugrünen Augen, wie sie dem Volk der Gestaltwandler zu eigen waren. Neben dem Kind steckte zwischen der Decke und dem rauen Korbgeflecht ein Zettel. Er las ihn und warf ihn anschließend ins Feuer.
Dann nahm er das Baby mit beiden Händen aus dem Korb und hob es hoch bis auf die Höhe seiner Augen. ›Dies‹, verkündete er alsdann, ›ist meine Tochter.‹
Er stellte das kleine Mädchen ihrem drei Jahre alten Bruder und ihrem Großvater vor. Der Großvater des Mädchens war wenig erfreut zu erfahren, dass sein Sohn sich in den Wäldern mit einer Frau eingelassen hatte. Andererseits war der Alte im Allgemeinen nur durch wenig zu erfreuen und hatte das Pech, einem Schlaganfall zu erliegen, als ihm wenige Monate später während des Banketts eines Nachbarn verwässerter Wein kredenzt wurde. Alles in allem war sein Einfluss auf das Leben seiner Enkeltochter also vergleichsweise gering.
Der junge Mann, nun seinerseits Lord, gelangte zu dem Schluss, dass er eine Gemahlin brauchte, die ihm legitime Erben gebar und sich um die Kinder kümmerte. Schon bald war eine solche gefunden, etliche Jahre jünger noch als er. Als sie die ängstlichen, mutterlosen Kinder erblickte, nahm sie sie umgehend unter ihre Fittiche. Die Kinder waren entzückt, ebenso der Lord – so sehr, dass binnen gegebener Zeit zwölf weitere Geschwisterchen auf der Welt waren, um mit ihnen zu spielen.«
Aralorn ignorierte Wolfs unterdrücktes Lachen und erklärte mit ausdrucksloser Stimme: »In den meisten Hausständen ist das Leben für einen Bastard im besten Falle miserabel. Ich konnte nie vergessen, dass ich unehelich war, aber ich hab mir nicht sonderlich viel daraus gemacht. Und was den Umstand betrifft, zur Hälfte Gestaltwandlerin zu sein … ich erzählte dir ja schon, dass mein Vater sein Bestes tat, um dafür zu sorgen, dass ich mir des Volkes meiner Mutter stets bewusst war. Ansonsten war es einfach bloß dieses außergewöhnliche Talent, das ich besaß. Für die Menschen in den Bergen von Reth ist Magie nichts Ungewöhnliches – die meisten von ihnen können zumindest ein paar der einfacheren Zauber wirken. Seit den Magierkriegen sind sieben ae’Magi aus diesen Bergen gekommen. Falls irgendwelche Leute das Gefühl hatten, ich sei merkwürdig, so hatten sie sich, als ich erwachsen war, daran gewöhnt. Mein größtes Problem bestand hingegen darin, Irrenna klarzumachen, dass ich keine Lady sein wollte. Falhart hat mir den Schwertkampf und das Reiten beigebracht, richtiges Reiten, und als meine Eltern dies mitgekriegt hatten, war es schon zu spät. Vater meinte daraufhin, dass man auf einem Bein nur schlecht stehen könne, und hat den Waffenmeister mich ebenfalls unterrichten lassen.«
»Idiot«, bemerkte Wolf in seiner altbekannten spöttischen Art. »Er hätte dich übers Knie legen und ohne Abendessen ins Bett schicken sollen. Zehn Jahre in Sianim, und du kannst immer noch nicht mit einem Schwert umgehen.«
»Nicht seine Schuld«, erwiderte Aralorn leichthin. »Ein Schwert hat sich in meinen Händen noch nie richtig angefühlt, nicht einmal Ambris, und das ist immerhin eine verzauberte Klinge. Hmm … das wäre eventuell eine Erklärung.«
»Was?«
»Ich frage mich, ob es möglicherweise was mit dem Eisen in dem Stahl zu tun hat. Grüne Magie funktioniert mit Eisen nicht so gut, wohingegen es sich bei Dingen aus Holz ganz gegenteilig verhält … vielleicht bin ich ja deshalb so geschickt mit dem Stab. Allerdings scheint das meine Fähigkeiten mit dem Messer nicht zu beeinträchtigen.«
»Bescheidenheit ist eine Zier, insbesondere der wahren Dame.«
»Und wenn schon. Beste aller Stabkämpfer oder -kämpferinnen in Sianim«, entgegnete sie gelassen. »Einschließlich Langstab, Kampfstock und Doppelstäben. Und jetzt Ruhe, du hast mich unterbrochen.«
»Ich werde in mich gehen und über meine Verfehlungen nachdenken«, erwiderte er.
»Das dürfte eine Weile dauern.« Aralorn ließ sich tiefer sinken, bis das warme Wasser ihr Kinn berührte. Der Vorteil daran, hoch gewachsene Mitmenschen in der Familie zu haben, war, dass sämtliche Wannen groß genug waren, um sich der Länge nach in ihnen auszustrecken. »Ich schätze, ich kann so lange warten – aber das Wasser wird kalt.«
Es entstand eine längere Pause. Aralorn unterdrückte ein Kichern.
»Deine Geschichte?«
»Was denn, schon fertig?«, fragte sie. »Hätte gedacht, dass eine so schwere Aufgabe viel länger dauern würde.«
»Aralorn«, sagte er sanft, »bitte fahr fort. Du warst dabei, mir von deiner wunderbaren Kindheit zu erzählen, die darin gipfelte, dass du dich bei deiner Familie jahrelang nicht hast blicken lassen.«
»Ach ja, meine Geschichte«, nahm sie den Faden gnädig wieder auf. »Wo war ich stehengeblieben? Na egal, nicht so wichtig. Jedenfalls wurde, als ich achtzehn war, meine älteste eheliche Schwester Freya – die wohlgemerkt noch jünger war als ich – verlobt. Es ging wie üblich um einen dieser in monatelanger Kleinarbeit aufgesetzten und dann binnen Stunden nach der Unterzeichnung gebrochenen Verträge zwischen Darran und Reth. Wie es schien, hatte ein ziemlich einflussreicher darranischer Adeliger einen dubioserweise magiebegabten zweiten Sohn, der eine Braut benötigte.«
Aralorn nahm sich einen Moment Zeit, um sich ihr mausbraunes Haar einzuseifen, in der Hoffnung, damit die Flöhe, die sich während ihrer Reisen dort niedergelassen hatten, zu vertreiben. Dass sie Läuse hatte, glaubte sie ungeachtet ihrer Flachserei mit Falhart nicht. »Und so kam es, dass Nevyn seinen Weg nach Lammfeste fand. Zuerst war er eher distanziert, aber bald schon stellte sich heraus, dass er und Freya Seelenverwandte waren, und einige Monate nachdem ihre Ehe arrangiert worden war, verliebten sie sich in aller Stille tatsächlich ineinander.«
Sie tauchte unter, um die Seife aus ihren Haaren zu spülen. Sie verspürte eigentlich keine große Lust, noch weiter zu erzählen, aber einige Dinge würden ohnehin ans Tageslicht gelangen – und es war im Allgemeinen nicht gut, Wolf mit Überraschungen zu konfrontieren. Sobald sie wieder über Wasser war, fuhr sie fort: »Ich mochte ihn auch. Er war ein ruhiger Zeitgenosse und hörte sich außerdem bereitwillig meine Geschichten an. Ihn umgab ein Hauch von … Traurigkeit, schätze ich, was dazu führte, dass wir ihn alle mit Samthandschuhen anfassten. Und er war der Einzige, der sich über Irrennas Verbot von Tieren in der Burg hinwegsetzte. Er hielt zwar keine Haustiere, aber jeder, der irgendwo eine verletzte Kreatur fand, brachte sie zu ihm. Zeitweise ging es in seiner Zimmerflucht lebhafter zu als im Scheunenhof.« Aralorn zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Damals hatte ich die Befürchtung, dass ich ihn vielleicht zu sehr mögen könnte. Heute, wo ich älter und klüger bin, denke ich, dass ich mir wohl eher das wünschte, was Freya und Nevyn zusammen hatten – und weniger Nevyn als Person.«
Sie begann sich mit einem eingeseiften Lappen den hartnäckigen Dreck von den Händen zu schrubben. »Wie auch immer, ich hatte die Angewohnheit, meine Gestaltwandlerfähigkeiten auf Lammfeste zu benutzen, zu der Zeit längst abgelegt. Vater war ziemlich gut darin, kleine Mäuse dort auszumachen, wo sie nicht hingehörten. Und Irrenna hatte eine äußerst klare Vorstellung davon, was höflich war und was nicht: sich in der Öffentlichkeit in Tiere zu verwandeln war nicht höflich. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass Nevyn nicht wusste, was ich war.«
Sie betrachtete ihre Hände und befand, dass sie sauberer wohl nicht mehr werden würden. »Dass er es allerdings für wenig angebracht hielt, dass sich eine Lady im Kampf ausbilden ließ, war mir vollkommen klar. Also habe ich Falhart überredet, mit mir im Wald weiterzuüben. Das war nicht allzu schwer, denn der Umstand, dass ich ihn immer häufiger besiegte, nagte an seinem Ego.«
Ihr Haar fühlte sich immer noch seifig an, und sie tauchte ein weiteres Mal mit dem Kopf unter. Als sie wieder hochkam, wischte sie sich mit den Händen das Wasser aus dem Gesicht und fuhr fort: »Nevyn hatte wenig übrig für Mädchen, die in Jungenkleidern herumliefen, und wäre schier entsetzt gewesen, wenn er erfahren hätte, dass die Schwester seiner Gemahlin imstande war, ihn in einem fairen Kampf zu schlagen – sogar mit dem Schwert. Egal, wie du meine Fähigkeiten in dieser Disziplin auch einschätzen magst …« Sie ließ ihre Stimme vielsagend verstummen.
»Schwertkämpfer oder nicht, Nevyn war für mich der Inbegriff dessen, wie ein junger Held zu sein hatte.« Sie lächelte still in sich hinein. »Ich bewunderte seine Art, die Dinge kategorisch in schwarz und weiß einzuteilen – was im krassen Gegensatz dazu stand, wie mein Vater das Leben betrachtete.«
Aralorn machte eine Pause. »Etwa ein halbes Jahr nach Nevyns Ankunft«, fuhr sie schließlich fort, »nahm Vater mich beiseite und ließ mich wissen, dass Freya sich Sorgen machte wegen der vielen Zeit, die ihr Ehemann mit mir verbrachte. Wer Freya einmal gesehen hat, wird verstehen, warum ich die Warnung nicht allzu ernst nahm. Selbst wenn ich übermäßig für Nevyn geschwärmt hätte, wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass er sich, wo er doch Freya hatte, für mich als Frau interessieren könnte. Aber meine jüngere Schwester ist eine kluge Frau.«
Aralorn wedelte mit der Hand in dem sich allmählich abkühlenden Wasser und beobachtete, wie die kleinen Wellen gegen ihre Knie spülten. »Wie es schien lag Freya mit ihren Ahnungen richtig. Nevyn fühlte sich geschmeichelt durch meine Verehrung aus der Ferne, etwas, das er bei seiner eher nüchtern denkenden Freya niemals finden würde. Ich glaube, Freya schüchterte ihn fast ein wenig ein.«
»Er probierte es bei dir?«
Aralorn schnaubte. »Bei dir klingt das, als wäre ich ein Pferd. Aber im Grunde lief es darauf hinaus. Er gab mir in Vaters Bibliothek Unterricht in Darranisch. Ich war zu doof …«
»Zu jung«, korrigierte Wolf sie sanft.
»… zu jung und zu doof, um sein bisheriges Verhalten richtig zu deuten. Erst als ich später genauer über den Vorfall nachdachte, wurde mir klar, dass er meine Reaktionen auf gewisse Dinge, die er gesagt hatte, fehlinterpretiert haben könnte. Er mochte durchaus in dem Glauben gewesen sein, dass ich mehr von ihm wollte.«
Wolf knurrte, und sie erzählte rasch weiter. »Jedenfalls hat er versucht, mich zu küssen. Ich hab ihm auf den Fuß getreten und ihm den Ellbogen in den Magen gerammt. Ungefähr im selben Moment hörte ich auf dem Flur die Stimme meiner Schwester. Es konnte nichts Gutes daraus erwachsen, wenn Freya mich mit Nevyn ertappte – auch wenn nichts passiert war –, und deshalb verwandelte ich mich kurzerhand in eine Maus und flüchtete durch das Fenster hinaus in den Garten.«
»Und wie hat dein Darraner das aufgenommen?«, fragte Wolf.
»Nicht sehr gut offensichtlich«, gab Aralorn mit schiefem Grinsen zu. »Seinen ersten Schreck hab ich nicht mitgekriegt, aber als ich später beim Abendessen erschien, hat Nevyn die Tafel verlassen. Freya hat sich bei mir für sein Benehmen entschuldigt – und zwar für alles. Ich entnahm ihren Worten, dass er ihr alles gebeichtet haben musste, was immerhin anerkennenswert ist. Allerdings hat er im gleichen Atemzug behauptet, dass es meine böse Natur gewesen sei, die ihn zu seinem ›abnormalen‹ Verhalten verleitet habe. Sie glaubte das natürlich nicht – obwohl Nevyn es vermutlich tatsächlich tat –, aber dessen ungeachtet war Freya fortan nicht gut zu sprechen auf mich.« Sie lächelte humorlos. »Aber meine Schwester war nicht der Grund, warum ich fortgegangen bin. Ich hab in Nevyns Gesicht gesehen, als er mich bei Tisch erblickte: Er hatte Angst vor mir.«
Wolf kam um den Paravent herum. Er hatte seine menschliche Gestalt angenommen, aber seine Maske war verschwunden, und mit ihr seine Narben. Es konnte ein Illusionszauber sein – Menschenmagie –, doch manchmal dachte Aralorn, dass er sich, wenn er so aussehen wollte wie vor dem Tag, an dem er sich die Verbrennungen zugezogen hatte, die grüne Magie zunutze machte, über die er gebot. Ein Trugbild hätte niemals so echt ausgesehen; aber vielleicht war sie auch nur zu voreingenommen gegenüber Menschenmagie.
Das narbenlose Gesicht, das er zur Schau trug, war für einen Mann fast zu schön, ohne dabei jedoch im Mindesten unmännlich zu wirken. Hohe Wangenknochen, ein kantiges Kinn, nachtschwarzes Haar: Der Vater hatte seine Zeichen so unverkennbar im Gesicht seines Sohnes hinterlassen wie in dessen Seele.
Sie hätte sich ihm gegenüber den Anflug von Abscheu, den sie für dieses Gesicht empfand, das dem seines Vaters so sehr glich, niemals anmerken lassen. Sie wusste, er wollte ihr auf diese Weise ermöglichen, seine Emotionen besser abzulesen, da die Narben, die normalerweise sein Gesicht bedeckten, zu großflächig waren, um viel Ausdruck zuzulassen.
»Ich wollte keine schmerzhaften Erinnerungen wecken«, sagte er. »Es tut mir leid.«
Aralorn schüttelte den Kopf. »Ich bin inzwischen erwachsen und hab mit den Jahren das ein oder andere begriffen. Ich bin meiner Schwester zuliebe nicht mehr nach Lammfeste zurückgekommen, und auch, denke ich, um meines Vaters willen. Er liebt – liebte – Nevyn wie einen leiblichen Sohn. Meine Anwesenheit hätte diese Familie nur entzweit. Und Nevyn … Nevyn kam schon gebrochen bei uns an. Einer von uns beiden musste gehen, und für mich war es leichter.« Sie dachte einen Augenblick nach. »So im Nachhinein betrachtet finde ich den Gedanken, dass jemand mich für eine gefährliche Verführerin gehalten hat, eigentlich recht amüsant. Leuten, die so aussehen wie ich, gesteht man eine solche Rolle nicht oft zu.«
Auch wenn seine Lippen sich nicht einen Millimeter bewegten, so erwärmte doch ein Lächeln die gewohnt kalten Augen. »Gefährlich, nein«, bemerkte er und wandte seinen Blick von ihrem Gesicht ab.
»Willst du damit irgendwas andeuten?«, fragte sie neckisch. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie keine Schönheit war, und ihre weiblichen Reize wurden durch die Muskeln und Narben, die das Söldnerleben mit sich brachte, nicht eben unterstrichen – doch das schien Wolf nicht zu stören.
»Wer? Ich?«, säuselte er und kniete sich neben die Wanne. Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann gestattete er es seinen Lippen, sich einen Weg über ihre Augenbraue und ihren Wangenknochen zu ihrem Mundwinkel hinab zu suchen und knabbernd dort zu verweilen.
»Du könntest einen Gletscher verführen«, flüsterte Aralorn. Sie erschauerte, als der Atem, den er bei seinem leisen Lachen ausstieß, über ihre lustempfänglichen Lippen strich.
»Oh, vielen Dank«, erwiderte er. »Das hab ich allerdings noch nie versucht.«
»Ich hab dich vermisst«, sagte sie sanft.
Er legte seine Stirn an ihre und schloss die Augen. Sie spürte, wie sich sein Nacken unter ihrer Hand anspannte, etwas, das nichts mit der Leidenschaft zu tun hatte, wie sie vermutete.
»Hilf mir, Liebster«, sagte sie und schob sich in der Wanne in eine aufrechte Sitzhaltung empor. »Was ist los?«
Er zog sich von ihr zurück, seine Augen zwei goldene Juwelen, die im Licht der Kerzen funkelten, die den Raum erhellten. Sie vermochte die hinter dem glitzernden Bernsteingelb glimmende Emotion nicht zu deuten und bezweifelte, dass Wolf ihr überhaupt hätte erklären können, was es war. Er reagierte auf alles Unbekannte in gleicher Weise, wie es ein wildes Tier tat – Sicherheit erfolgte allein aus Kenntnis und Kontrolle; das Unbekannte barg nur Zerstörung. Sich zu verlieben hatte ihm weit mehr zu schaffen gemacht als ihr.
»Ich wollte dich eigentlich nicht noch einmal fragen«, begann sie, »aber … warum bist du fort?«