Drachenzauber - Patricia Briggs - E-Book
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Drachenzauber E-Book

Patricia Briggs

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Beschreibung

Das große Epos über die schillerndsten Wesen der Fantasy

Sie sind die unergründlichsten und geheimnisvollsten Geschöpfe der Fantasy: die Drachen. Gab es sie wirklich oder sind sie nur Produkte überbordender Phantasie? Autoren aller Zeiten machten sie zu Wesen voller Weisheit und Macht, aber auch zum Ausbund des Bösen.

In Patricia Briggs’ fesselndem und wunderbar leicht erzähltem Drachen- und Heldenabenteuer wird der Zauber der Drachen auf atemberaubende Weise lebendig: Sein Leben lang galt der junge Lord Ward als einfältiger Tor. Bis sein tyrannischer Vater stirbt und Ward ihm auf den Thron folgen soll. Nun muss er beweisen, dass er seinem Volk den ersehnten Frieden bringen kann. Ein gefährliches Unterfangen, vor allem als Ward erkennt, dass in seinen Adern Drachenblut fließt ...

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Seitenzahl: 990

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Das Buch

Seit seiner Kindheit spielt der junge Lord Ward den einfältigen Narren, wohl wissend, dass sein tyrannischer Vater ihn sonst als Rivalen sehen und einkerkern oder – schlimmer noch – töten würde. Als der alte Lord stirbt, gibt Ward seine Maskerade auf. Doch sein Vater hat ihn über den Tod hinaus gestraft und sein Erbe, Burg Hurog, einem Verwandten überschrieben. Um Ruhm zu erlangen und so die alte Festung Hurog, einst Hort der Drachen, zurückzugewinnen, zieht Ward in einen Krieg gegen die Vorsag im Süden – nicht ahnend, dass in Wahrheit eine böse Intrige des Königs die feindlichen Krieger unterstützt. Trotz mächtiger Freunde gerät Ward in eine Gefangenschaft, die allein darauf abzielt, seinen Verstand zu brechen. Dann aber erkennt er, dass in seinem Blut eine Kraft schlummert, die ihn mit den mächtigen Drachen von einst verbindet. Doch die dunklen Zauberer des Königs sind ihm längst einen Schritt voraus und fordern ihn zu einem Kampf auf Leben und Tod …

»›Drachenzauber‹ ist ein kluger, phantasievoller und mitreißender Roman mit unglaublich liebenswerten Helden.«

Romantic Science Fiction & Fantasy

Die Autorin

Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Phantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Nach mehreren Umzügen lebt die erfolgreiche und preisgekrönte Autorin zahlreicher Fantasy-Romane mit ihrem Mann, drei Kindern und etlichen Haustieren in Washington State. Bei Heyne ist außerdem ihr Roman »Ruf des Mondes« erschienen.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungERSTES BUCH
Kapitel 1
Copyright

Titel der amerikanischen OriginalausgabenDRAGON BONES / DRAGON BLOODDeutsche Übersetzung von Regina Winter

Für Colin, Amanda und Jordan.Möget ihr stets von Drachen träumen.

ERSTES BUCH

Kapitel 1

WARDWICK VON HUROG

Hurog bedeutet Drache.

Noch ein wenig außer Atem vom Aufstieg, ließ ich mich oben bei den uralten Bronzetoren nieder, die einer meiner Ahnen vor langer Zeit flach in die Wand des höchsten Berges eingesetzt hatte. Die Tore waren riesig, jeder Flügel so breit, wie ich groß war, und doppelt so hoch. Wegen des schrägen Untergrunds lag die Oberseite des einen Tors mehrere Fuß höher. Auf jedem Torflügel, abgetragen von all den Jahren des harschen Wetters im Norden, wachte das Relief eines Bronzedrachens über das Tal darunter.

Unter mir hockte Burg Hurog auf ihrem von Menschen gebauten Horst. Die dunklen Steinmauern erhoben sich schützend um den Bergfried, immer noch mächtig, auch wenn jetzt wohl kaum die Gefahr eines Angriffs bestand. Nach Maßstäben der Fünf Königreiche war Hurog nur ein kleiner Besitz, mehr oder weniger imstande, sich von der mageren Ernte zu ernähren, die das nördliche Klima und der steinige Boden hergaben. Aber vom Seehafen, der im Osten zu erkennen war, bis zu dem Berg mit dem kahlen Gipfel im Westen gehörte das Land Hurog. Wie die meisten Burgen in Shavig, dem nördlichsten Königreich des Hochkönigs in Tallven, verfügte Hurog über mehr Land als Wohlstand. Es war mein Erbe; eines Tages würde es mir zufallen, so, wie ich schon das blonde Haar und die Körpergröße von meinem Vater geerbt hatte.

In der alten Sprache bedeutete Hurog Drache.

Einer Eingebung folgend, stand ich auf und öffnete meinen beschädigten Geist, sodass ich spüren konnte, wie sich die Magie um mich sammelte und durch meine Adern rauschte, als ich den Kriegsschrei von Hurog ausstieß.

Hurog.

Es würde einmal mir gehören – wenn mein Vater mich nicht vorher umbrachte.

»Er wird uns umbringen.« Ich hörte die leise Stimme meines Vetters Erdrick von der Flussseite des Weges her.

Zwischen dem Weg, dem ich folgte, und dem Fluss standen die Weiden so dicht, dass Erdrick mich ebenso wenig sehen konnte wie ich ihn. Ich war versucht weiterzugehen, denn meine Vettern und ich waren nicht gerade Freunde, aber die unangenehme Überzeugung, dass ich dieser »er« war, von dem Erdrick sprach, ließ mich innehalten.

»Es ist nicht meine Schuld, Erdrick.« Beckram, Erdricks Zwillingsbruder, versuchte, ihn zu beruhigen. »Du hast sie doch gesehen. Sie ist davongerannt wie ein verschrecktes Kaninchen.«

Die beiden hatten also wieder einmal meine Schwester geärgert. Erdrick mochte recht haben; diesmal würde ich ihn vielleicht tatsächlich umbringen.

»Das nächste Mal solltest du ein Mädchen, dessen Bruder so groß ist wie ein Ochse, lieber in Ruhe lassen.«

»Gut, dass sein Hirn zu seinem Körper passt«, stellte Beckram gelassen fest. »Komm, verschwinden wir hier. Sie wird schon wieder auftauchen.«

»Er wird wissen, dass wir es waren«, prophezeite Erdrick finster wie immer.

»Wie denn? Sie kann es ihm nicht sagen.«

Meine Schwester war seit ihrer Geburt stumm.

»Sie kann auf uns deuten, oder? Ich sage dir doch, er wird uns umbringen!«

Zeit, sie mir zu schnappen und herauszufinden, was sie getan hatten. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich darauf, wie ein dummer Ochse und nicht wie ein rachsüchtiger Bruder auszusehen, bevor ich durch das Gebüsch am Ufer brach, wo der Abwasserkanal der Burg sich in den Fluss ergoss. Bei meiner Größe und meinem Gesicht erwartete niemand Intelligenz. Das hatte ich immer ausgenutzt. Der dumme Wardwick stellte für Vater keine Gefahr dar.

Sie mochten zwanzig sein und ich erst neunzehn, aber ich war einen Kopf größer als beide und vierzig Pfund schwerer. Außerdem kam ich von der Jagd, also hing die Armbrust über meiner Schulter, und ein Jagdmesser steckte in meinem Gürtel. Sie waren unbewaffnet. Nicht, dass ich vorgehabt hätte, eine Waffe gegen sie einzusetzen. Das wäre nicht nötig gewesen.

Meine Hände würden genügen.

»Wer wird dich umbringen?«, fragte ich und riss mein Hemd von einem Zweig los, an den es hängen geblieben war, als ich durch die Büsche brach.

Erdrick, stumm vor Schreck, starrte mich nur in wortlosem Entsetzen an. Beckram war aus zäherem Material gemacht. Er verzog das lebhafte Gesicht zu einem liebenswerten Lächeln, als freue er sich, mich zu sehen.

»Ward! Guten Tag, Vetter. Warst du auf der Jagd? Hattest du Erfolg?«

»Nein«, erwiderte ich.

Die beiden waren von dem hellen, rötlich braunen Haar über die gut geschnittenen Gesichter und die eher bräunliche Haut bis hin zu den seltsam lilablauen, Hurog-blauen Augen beinahe identisch, was das Äußere anging, aber nicht im Geiste. Beckram war verwegen und charismatisch, was Erdrick dazu verdammte, ein Leben als sein Hände ringender Schatten zu führen.

Ich schaute zum Fluss hin, zu den Bäumen und zu der Öffnung des Abflusskanals unserer Burg. Als mein Blick auf Letztere fiel, holte Erdrick tief Luft, also sah ich sie mir genauer an. Das Gitter, das dafür sorgen sollte, Tiere fernzuhalten, schloss nicht mehr richtig. Ein kleiner Fuß war im Schlamm am Eingang zum Abfluss bis zum Knöchel eingesunken.

Ich ging hinüber zu dem Gitter und starrte es eine Weile an. Erdrick bebte vor Anspannung. Ich griff nach oben und riss an dem Gitter. Es ließ sich leicht ein Stück zurückziehen  – weit genug, dass meine schlanke Schwester hätte hineinschlüpfen können.

Nach einer langen Pause wandte ich mich Beckram zu. »Ist Ciarra hier hineingegangen? Das da ist ihr Fußabdruck.«

Er ging in seinem Kopf mehrere Antworten durch, bevor er sagte: »Das dachten wir ebenfalls. Wir wollten gerade nach ihr suchen.«

»Ciarra!«, rief ich in den Gang. »Komm raus, Racker!«

Ich nannte sie bei ihrem Spitznamen, für den Fall, dass die Akustik des Ganges meine Stimme verzerrte. Ich war der Einzige, der sie Racker nannte. Mein Brüllen hallte in den Tiefen des Tunnels wider wie das eines Drachen. Es kam keine Antwort, aber das war verständlich.

Ich brauchte die schlammigen Spuren nicht, um zu wissen, dass sie irgendwo da drinnen war. Das Einzige, was mir – außer ein paar Tricks – von der magischen Begabung geblieben war, die ich als Kind gehabt hatte, war die Fähigkeit, Personen und Dinge auf magische Weise zu finden. Ciarra war irgendwo da drin, ich konnte sie spüren. Ich schaute nach dem Sonnenstand. Wenn sie zu spät zum Abendessen kam, würde der Hurogmeten, unser Vater, sie schlagen. Ich setzte den Rucksack ab, in dem ich die Armbrustbolzen und ein bisschen Proviant mitgenommen hatte.

»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, fragte ich.

»Ich habe versucht, sie zu warnen. Ich sagte ihr, dass es da drin gefährlich ist«, flehte Erdrick, bevor Beckram ihn aufhalten konnte.

»Ach?« Ich richtete mich auf und trat einen Schritt näher zu Beckram.

»Sie ist ein albernes Huhn«, stotterte Beckram, der nun doch die Nerven verlor und zurückwich. »Ich wollte ihr nicht wehtun. Es war nur eine harmlose Tändelei.«

Ich schlug ihn. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn umbringen oder zumindest seinen Kiefer brechen können. Aber ich hielt mich zurück und verpasste ihm nur ein wunderschönes blaues Auge. Es betäubte ihn lange genug, dass ich meine Aufmerksamkeit Erdrick zuwenden konnte.

»Wirklich, Ward, er hat ihr nur gesagt, wie schön ihr Haar ist«, sagte er.

Ich starrte ihn einfach nur weiterhin an.

Schließlich begann Erdrick sich zu winden und murmelte: »Aber du weißt, wie er ist – es geht nicht darum, was er sagt, sondern wie er es tut. Sie ist davongerannt wie eine verschreckte Hirschkuh und ins Freie gelaufen. Wir sind ihr gefolgt, weil es hier draußen für ein Mädchen allein gefährlich sein kann.«

Erdrick mochte ein ärgerlicher Schwächling sein, aber für gewöhnlich sagte er die Wahrheit. Dank der Magie der Zwerge gab es in den Abflusskanälen keine Ratten und Insekten. Mein Bruder Tosten hatte sie allerdings in seinen Geschichten mit allen Arten von Ungeheuern bevölkert.

Die Öffnung, durch die der Racker geschlüpft war, war nicht annähernd groß genug für mich. Ich zog fest an dem Gitter, aber es schepperte nur.

»Du wirst nicht durchpassen«, prophezeite Beckram, der sich hingesetzt hatte und vorsichtig sein Auge betastete. Er musste wirklich ein schlechtes Gewissen haben, denn sonst hätte er versucht zurückzuschlagen. »Erdrick und ich konnten es auch nicht. Sie wird schon rauskommen, wenn sie bereit ist.«

Inzwischen war es beinahe Zeit zum Abendessen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn Vater sie schlug. Ich würde es nicht noch einmal zulassen, aber es war zu früh, ich war noch nicht gut genug, um ihn zu besiegen. Also zog ich mein dickes Lederwams aus und legte es zu den Jagdutensilien.

»Bringt meine Sachen in die Burg«, sagte ich, packte das Gitter fest und zog. Es gab selbstverständlich eine einfachere Möglichkeit, aber die würde einem Idioten nicht einfallen. Ich musste mich weiterhin anstrengen, bis meine Vettern gegangen waren oder Beckram die Geduld verlor …

»Nimm den Stift heraus, dann können wir das verdammte Ding wegziehen«, murmelte Beckram. Ich hatte mich nicht getäuscht, er hatte wirklich ein sehr schlechtes Gewissen.

»Stift?«, fragte ich. Ich trat zurück, um mir das Tor noch einmal besser anzusehen, und achtete sorgfältig darauf, dabei kaum einen Blick auf das einzige und schwere Scharnier zu werfen.

»Den Bolzen, der das Scharnier zusammen hält«, seufzte Erdrick.

»Ah.« Ich starrte das Scharnier lange genug an, bis Erdrick schließlich sein Messer zog und den dicken alten Bolzen herausarbeitete. Dabei ruinierte er seine Klinge.

Nachdem der Stift weg war, ließ sich das Eisengitter leicht aus dem Gelenk befreien, und ich hob es von der Öffnung weg.

»Verdammt«, murmelte Beckram leise, als ich es nahe der Öffnung wieder absetzte.

Das Gitter war tatsächlich schwer. Wenn ich nicht darauf aus gewesen wäre, meine Vettern zu beeindrucken, hätte ich um Hilfe gebeten. Aber so würde sich Beckram vielleicht an meine Kraft erinnern, wenn er das nächste Mal daran dachte, den Racker zu erschrecken.

So nahe am Fluss war der Tunnel pilzförmig, mit einem Weg auf beiden Seiten eines tiefen, schmalen Grabens, in dem das Abwasser träge lief. Die Wege waren allerdings für Zwerge gedacht, nicht für jemanden, der die meisten Männer überragte. Seufzend ließ sich mich auf alle viere nieder und begann, durch den übel riechenden Schlamm zu kriechen.

»Racker!«, rief ich, aber alle Geräusche wurden von dem moosartigen Bewuchs gedämpft, der die Wände überzog.

Der Gang bog sich, und hinter der Biegung verschwand der letzte Rest Tageslicht. Vor mir leuchteten auf beiden Seiten der Wand Zwergensteine auf, als ich näher kam, und entsandten ihr hellblaues Licht in den Gang. Die meisten Burgen hatten keine Abflusssysteme mehr, nicht einmal der neue Palast des Hochkönigs in Estian. Steinarbeiten in diesem Maßstab waren die Domäne der Zwerge gewesen, und die Zwerge waren verschwunden und hatten ihre Geheimnisse mitgenommen.

Der Gang verengte sich zu einer großen Röhre, und ich wusste, dass die Außenmauern der Burg sich nun über und direkt vor mir befanden. Nicht, dass ich das Abflusssystem zuvor schon erforscht hätte, aber es gab Kopien der alten Pläne in der Bibliothek, in einer Ecke vergraben, wo niemand sie beachtete. Wie auch immer, der Tunnel verengte sich um zwei Drittel, sodass ein eindringendes Heer ihn nicht benutzen konnte, um die Mauern zu untergraben. Nicht einmal ein Kind hätte in dieser Enge einen Pickel oder eine Schaufel schwingen können.

Schweiß trat mir auf die Stirn von der Anstrengung, Ciarra weiterhin mithilfe meiner Magie zu folgen. Ich gebrauchte Magie nur selten, denn es erinnerte mich immer daran, wie es gewesen war, als ich noch mehr hatte tun können; aber um Ciarras willen, die allein und inzwischen wahrscheinlich verängstigt war, war ich froh über das wenige, das mir noch geblieben war.

Ich kroch in den schmaleren Abschnitt und versuchte, dabei nicht daran zu denken, was sich in der Brühe befand, in die ich gerade meine Hand gesetzt hatte. An Angenehmerem war zu vermelden, dass meine Nase begonnen hatte, sich zu verteidigen, denn der Gestank kam mir nun weniger überwältigend vor.

Auch in dem engeren Gang gab es Zwergensteine. Sie leuchteten nicht hell genug, dass ich sehen konnte, wodurch ich da kroch, aber das war vielleicht auch besser so. Ciarra entfernte sich jetzt weiter von mir; sie war erheblich kleiner als ich und würde von der Enge des Ganges nicht so behindert werden.

Als Ältester hatte ich immer auf meinen Bruder und meine Schwester aufgepasst. Tosten hatte Hurog vor zwei Jahren verlassen und war in Sicherheit. Aber da Ciarra sowohl abenteuerlustig als auch stumm war, hatte ich viel zu tun gehabt, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Eigentlich hätte sie heute Mutter helfen sollen. Aber ich kannte Mutter, und ich kannte auch meine Schwester. Da mein Onkel und meine Vettern zu Besuch waren, hätte ich lieber zu Hause bleiben sollen, aber die Berge hatten mich gerufen.

Wir würden nun auf jeden Fall zu spät zum Abendessen kommen, es sei denn, Vaters Jagdgesellschaft brauchte länger als sonst. Aber wenn wir beide etwas falsch machten, konzentrierte sich Vater für gewöhnlich auf mich und nicht auf meine Schwester. Der Gang wurde noch enger und verzweigte sich dann, was mich die drei Fingerbreit Wachstum dieses Sommers bedauern ließ, als ich mich in die sauberere und engere Abzweigung zwängte. Ich konnte die Zwergensteine weiter vorn leuchten sehen, wo jemand sie aktiviert hatte, während der andere, breitere Tunnel dunkel gewesen war. Typisch Racker, den engsten Weg zu nehmen.

Ich kroch voran und kämpfte gegen das Gefühl an, dass die Mauern um mich zusammenbrächen. Als ich ein Stück weiter gekommen war, bog sich der Gang um ein paar Körperlängen steil nach oben, bevor er beinahe ebenso abrupt wieder abwärts verlief. Ich stieß mir den Kopf an einer niedrigen Stelle und hielt inne, um kurz nachzudenken. Man brauchte kein Zwerg zu sein, um zu wissen, dass Abflusskanäle deshalb funktionierten, weil Wasser nach unten floss.

Dieser Gang war also eher dazu angelegt zu verhindern, dass Wasser hindurchfloss, und nicht, um weiteren Unrat zum Fluss zu leiten. Ich schloss die Augen und versuchte mir den Plan vorzustellen, aber es war Monate her, dass ich ihn gefunden hatte. Damals hatte ich mir ein paar interessante Einzelheiten angesehen, mich aber dann nicht weiter darum gekümmert. Wie hätte ich wissen sollen, dass meine Schwester sich einmal hier herumtreiben würde?

Ich rieb mir den Kopf und kam zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Gang um einen Fluchttunnel handeln musste. Alle alten Burgen hatten welche, ein Erbe aus Zeiten, als Hurog noch wohlhabend vom Zwergenhandel war und eine Belagerung lohnte. Ich dachte immer noch darüber nach, als ich Ciarra plötzlich nicht mehr halbwegs in meiner Nähe wahrnahm, sondern erheblich weiter unten. Mir stockte der Atem.

Sie musste gefallen sein, dachte ich, während ich hektisch weiterkrabbelte. Vielleicht durch eine Falltür, die Belagerer davon abhalten sollte, einem unserer Ahnen zu folgen, wenn er durch diesen Gang vor seinen Angreifern floh … Ihr Götter, meine kleine Schwester!

Ich bewegte mich weiter wie ein Frosch, schob mit den Beinen und zog mich auf die ungeschickte Weise vorwärts, mit der ich in dem kleinen Gang begonnen hatte, und dabei dachte ich die ganze Zeit: Es ist zu weit unten. Sie ist zu tief gefallen.

Einen Augenblick kroch ich noch weiter, und im nächsten konnte ich nicht einmal mehr blinzeln. Mein Gesicht wurde taub, und Magie breitete sich rings um mich herum aus. Unter meinem Kopf begannen die glatten Steine des Ganges rot und grün zu leuchten, bei Weitem heller als das schwache Licht der Zwergensteine. Es war so hell, dass ich meine tränenden Augen schließen musste. Deshalb überraschte es mich vollkommen, als der Boden des Ganges unter mir verschwand und ich stürzte.

Sobald die Magie nachließ, lag ich in vollkommener Dunkelheit flach auf dem Boden. Ich stützte mich auf, aber die Decke hatte sich über mir geschlossen, und mir blieb kaum genug Platz, um den Kopf vom Boden zu heben. Meine Hände steckten unter mir fest, und so sehr ich mich auch wand, ich konnte sie nicht befreien. Ich geriet in Panik und kämpfte wild gegen die Steinmauern an, die mich umschlossen. Ich schrie wie ein albernes Mädchen, aber es war niemand da, der mich hätte hören können.

Dieser Gedanke brachte mich schließlich dazu, mit meinem nutzlosen Gezappel aufzuhören. Falls jemand mich gehört haben sollte, würde mein Vater bestimmt dafür sorgen, dass ich noch erheblich länger hier im Dunkeln festsaß. Männer gerieten nicht in Panik, sie weinten nicht und trauerten auch nicht.

Ich tat es dennoch. Ich blinzelte die Tränen weg, aber meine Nase tropfte. Ich hatte den Kontakt zu Ciarra verloren, als der Zauber mich getroffen hatte. Erneut suchte ich mithilfe meiner Magie nach ihr und hoffte, dass sie im gleichen Zauber festsaß wie ich, aber sie befand sich immer noch tief unter mir. Sie bewegte sich nicht. Ich musste zu ihr gelangen.

Dieser Gang war erheblich enger als der, durch den ich zuvor gekrochen war. In meiner wilden Panik stellte ich fest, dass die Decke inzwischen wieder so fest war, wie sie sich anfühlte, ganz gleich, ob ich gerade hindurchgefallen war oder nicht. Etwas blockierte den Weg nach hinten, aber kühle, frische Luft traf mein erhitztes Gesicht, und deshalb würde ich nach vorn kriechen, falls es mir gelang, meine Hände unter dem Körper hervorzuziehen.

Ich hatte mir bereits bewiesen, dass ich nicht beide gleichzeitig frei bekommen konnte, also begann ich nun mit dem linken Arm, der ein Stück weiter vorn festsaß als der rechte. Das Entsetzen über den Gedanken, mit beiden Armen an den Seiten im Tunnel festzustecken, ließ mich einen oder zwei weitere Panikanfälle erleiden. Als ich damit fertig war und schwitzend und bebend im Dunkeln lag, blieb mir jedoch noch immer nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Arm hochzuziehen. Der schwierigste Teil bestand darin, den Ellbogen an meiner Brust und den Schultern vorbeizubringen, und ich kämpfte lange, bevor ich mir eingestand, dass es so nicht ging.

Einen Augenblick blieb ich schwitzend und entspannt liegen. Dann verlagerte ich hoffnungslos mein Gewicht nach rechts und versuchte es noch einmal.

Der linke Arm kam frei.

Ich streckte ihn nach vorn und bewegte ihn. Als die Erleichterung mich wieder klar denken ließ, erkannte ich, was geschehen war. In entspanntem Zustand nahmen meine Schultern weniger Raum ein, als wenn ich mich anstrengte. Der rechte Arm kam leichter heraus als der linke, aber als ich fertig war, war die Kälte des Steins tief in meine Knochen gedrungen, und ich zitterte.

Mit beiden Händen ziehend und den Rest meines Körpers so gut es ging schiebend, konnte ich mich nun vorwärtsbewegen. Meine Unterarme schmerzten, weil ich sie gegen den rauen Stein pressen musste, wenn ich zog, und meine Schultern waren wund gerieben, weil sie breiter waren als der Gang; wenn ich hier herauskäme, würden sie wohl ein paar Zoll schmaler sein.

Ich schob auch mit den Füßen, oder zumindest mit den Zehen. Da sie solch seltsame Übungen nicht gewohnt waren, verkrampften sie sich nach einer Weile. Ich streckte sie, so gut ich konnte, aber es war zum Verrücktwerden, sich nicht einfach bücken und sie mit den Händen reiben zu können.

Mir kam es so vor, als wäre ich eine Ewigkeit auf diese Weise gekrochen, bevor die vollkommene Dunkelheit nachließ. Irgendwo vor mir gab es Licht.

Widersinnigerweise fiel es mir jetzt fast schwerer, weiterzukriechen, so als mache das Wissen, dass es Hoffnung gab, plötzlich alles schwieriger. Nach einer Weile wurde es noch heller. Selbstverständlich ging ich bei meinem Glück davon aus, dass das Licht von einem Zwergenstein kam, der den Gang versiegelte. Aber mein Pessimismus erwies sich als unberechtigt. Der Gang bog sich, und ich erkannte, dass das Licht aus einem Loch im Boden kam.

Ich schob den Kopf über den Rand und sah weit unter mir den Boden einer großen natürlichen Höhle. Zu den Seiten hin wurde mein Blick von den gedrehten Stalaktiten blockiert, die die Öffnung umgaben. Ich konnte nicht erkennen, ob Ciarra irgendwo da unten war, aber meine Magie flüsterte mir zu, dass sie sich wahrscheinlich in dieser Höhle befand.

Rechts von dem Loch hatte man zwei Metalldornen in den Stein getrieben. Am Ende jedes Dorns war ein Seil angebunden. Eines war etwa einen Fuß lang und am Ende ausgefranst, das andere baumelte durch das Stalaktitendickicht, bis ich es aus den Augen verlor. Es war sehr alt, und ich war kein Leichtgewicht. Aber dort unten wartete Ciarra auf mich, also packte ich es und hielt mich daran fest, während ich den Rest meines Körpers aus dem Tunnel in das Loch zog. Die Erleichterung, die feste Umarmung des Steins hinter mir zu haben, war so gewaltig, dass es mich einen Augenblick beinahe von Ciarra abgelenkt hätte.

Das Seil war keine Leiter – obwohl es vielleicht einmal zu einer gehört hatte –, aber immer noch besser als nichts. Nachdem ich die Höhlendecke hinter mir hatte, sah ich, dass es nur zwei Drittel des Wegs bis zum Boden reichte. Ich fragte mich, was ich die letzten zehn Fuß tun sollte, aber das hätte ich nicht zu tun brauchen. Das Seil riss bereits, bevor ich sein Ende erreichte.

Als ich auf dem Boden aufkam, rollte ich mich ab, wie es mir die Waffenmeisterin meines Vaters so lange eingebläut hatte, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen war. Es tat trotzdem weh. Nachdem ich mich ein- oder zweimal überschlagen hatte, hielt mich eine Art Vorsprung auf. Ich lag einen Augenblick halb betäubt da und war zu sehr damit beschäftigt, zu Atem zu kommen, um mich zu fragen, wo ich sein mochte. Schließlich bekam ich wieder Luft und stand mühsam auf.

Ich war gegen die Überreste einer zerbrochenen Säule gerollt, die in vergangenen Zeitaltern wohl vom Boden bis zur Decke gereicht hatte. Die Höhle war riesig, sie maß mindestens das Doppelte der großen Halle in der Burg. Die Öffnung des Tunnels, aus dem ich gefallen war, befand sich nahe dem Rand, wo die Decke noch verhältnismäßig niedrig war. In der Mitte der Höhle zog sie sich erheblich höher, vielleicht so hoch wie die Mauern von Hurog, obwohl sich so etwas hier unten schwer abschätzen ließ. Überall gab es Zwergensteine, heller als die im Abflusssystem, und man konnte in der Höhle besser sehen als selbst bei Tag in der Burg.

Keine zerschmetterte Leiche lag am Boden. Ciarra war nirgendwo zu sehen. Aber sie musste in der Nähe sein.

»Hallo!«, rief ich laut. »Racker?«

Eine kleine Gestalt warf sich auf mich und stieß dabei mit dem Kopf gegen meine Rippen. Ich packte Ciarra um die Taille und schwenkte sie zweimal um mich herum, bevor ich sie fest auf den Boden absetzte und schüttelte.

»Du hast mich zu Tode erschreckt, Racker! Wie bist du auf die dumme Idee gekommen, ins Abflusssystem zu rennen?«

Ciarras langes blondes Haar, das heller war als meins, hing ihr wirr bis auf den Rücken. Sie trug ebenso wie ich eine Tunika und eine Hose, und ihre Füße waren nackt. Sie schaute jämmerlich drein, aber mir machte sie nichts vor: Reue war das nicht.

»Also komm«, sagte ich resigniert, »lass uns einen Weg nach draußen finden.«

So erleichtert ich zunächst auch gewesen war, sie zu finden: Wenn wir nicht mehr hier herauskämen, wäre das kaum besser, als bei dem Sturz zu sterben. Den Weg, auf dem ich hereingekommen war, würden wir ganz bestimmt nicht nehmen können. Die Zwergensteine ließen jedoch vermuten, dass diese Höhle einmal benutzt worden war; es musste einen besseren Weg nach draußen geben.

Die Höhle schien einmal ziemlich offen gewesen sein, aber ihre ursprüngliche Form und das Geröll, wo große Stalaktiten vor Urzeiten abgebrochen und geborsten waren, machten sie jetzt unübersichtlich. Es war schwer zu sagen, was sich alles hier einst befunden hatte. Vielleicht hatte sie einmal als Schatzkammer gedient, aber davon gab es nun keine Spur mehr. In der Mitte der Höhle, wo die Decke höher war, mehrten sich die Stalagmiten und das Geröll. Ciarras Füße mussten so fest wie Hufe sein, da sie selten Schuhe trug, aber ich hob sie trotzdem über die größten Schutthaufen hinweg. Als ich über einen abgebrochenen Felsstumpf kletterte, sah ich, was sich hinter dem Durcheinander befand.

Es hatte immer Gerüchte darüber gegeben, dass in Hurog Schätze verborgen lagen, aus der Zeit, als die Zwerge noch zur Burg kamen und Handel mit Edelsteinen und Metallen trieben. Und tatsächlich gab es hier einen Schatz, aber von einer Art, die ich lieber nicht gesehen hätte. Ich vergaß Ciarra für einen Augenblick, rutschte den Steinhaufen hinunter und ging näher heran.

Der Drachenschädel, immer noch mit einem eisernen Maulkorb versehen, war so lang wie ich groß war. Eiserne Fesseln banden die Füße, und vier weitere Fesseln umgaben die zarten Knochen der Flügel. Mein unseliger Vorfahre, der dieses Verbrechen begangen hatte, musste das Fleisch des Drachen durchbohrt haben, um die Flügel mit Eisen zu sichern.

»Wie konnte er so etwas tun!«, rief ich empört, obwohl die Tat lange zuvor geschehen war und jene, die es getan hatten, mich nicht mehr hören konnten. Meine Stimme hallte von den Höhlenwänden wider und kehrte zu mir zurück. Ich blinzelte die Tränen weg.

Zart besaitet – so nannte mein Vater mich, wenn er am wütendsten war. Er hasste diese Eigenschaft noch mehr als meine Dummheit. Ein Mann mit empfindsamem Herzen konnte hier nicht überleben, pflegte er zu sagen, und was noch schlimmer war, auch die in seiner Nähe würden sterben. Ich glaubte ihm. Dennoch konnte ich mir die Tränen nicht verbeißen, obwohl ich die Augen weit aufriss, damit sie mir nicht übers Gesicht liefen.

Es gab keine Drachen mehr. Keinen einzigen. Und es waren die Drachen in unseren Bergen gewesen, um derentwillen die Zwerge gekommen waren. Sie hatten mit Handelsgütern für das Privileg ihres Anblicks gezahlt und damit eine Zeit eingeläutet, in der Hurog die reichste Burg in den Fünf Königreichen gewesen war.

In Hurog hatten die letzten Drachen gelebt. Nach ihrem Verschwinden kehrten auch die Zwerge nicht mehr zurück, und das Land, das zu Hurog gehörte, begann zu sterben, wie die Drachen gestorben waren. Sie waren vor Kummer dahingegangen, erzählten die alten Geschichten, und hatten nichts als Erinnerungen zurückgelassen und das Wappen meiner Familie, um die Welt daran zu erinnern, dass es sie einmal gegeben hatte – und was Hurog einst gewesen war.

Meine Familie hatte zu den Beschützern der Drachen gezählt; einige hatten ihr Leben gegeben, um für ihre Sicherheit zu sorgen, nachdem der erste Hochkönig oder, wie ein paar alte Geschichten es wollten, die Götter selbst ihnen diese Aufgabe übertragen hatten. Hurogmeten hieß in der alten, beinahe vergessenen Sprache von Shavig Hüter der Drachen.

Mein Leben lang hatte ich mich an den Ruhm geklammert, der Hurog einmal zuteil geworden war. Bei meinen Kinderspielen war ich Seleg gewesen, der berühmteste aller Hurogmeten, und hatte Hurog gegen Eindringlinge verteidigt, die vom Meer her kamen. Wenn ich mit dem Racker und Tosten allein gewesen war, hatte ich die zerschlagene alte Schoßharfe herausgeholt und die Lieder gesungen, in denen es um Drachen ging und um zwergische Edelsteine, so groß wie Pferdeköpfe.

Und nun fand ich hier, begraben im Herzen von Hurog, den Beweis dafür, dass meine Ahnen alles verraten hatten, wofür Hurog stand. Ich streichelte den Schädel unter dem schwarzen eisernen Maulkorb, kniend, wie es dem Geschöpf angemessen war, dem die Hurogs so lange gedient hatten.

»Sie war wunderschön«, sagte eine leise Tenorstimme hinter mir.

Ich riss den Kopf herum und sah einen Jungen, der ein oder zwei Jahre jünger zu sein schien als ich. Es war niemand, den ich kannte – ein Fremder im Herzen von Hurog.

Er hätte mir bis zur Schulter gereicht, wenn ich gestanden hätte, aber das ging vielen ausgewachsenen Männern nicht anders. In Hurog überragte mich nur mein Vater. Das Haar des Jungen war sehr dunkel, vielleicht sogar schwarz, und seine Augen funkelten hell und blauviolett. Er hatte scharfe, beinahe raubvogelhafte aristokratische Züge – das Aussehen, an dem es mir so mangelte.

Er starrte mich an, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Seine Haltung erinnerte mich an ein Vollblutpferd, das kurz davor stand, beim ersten lauten Geräusch oder barschen Wort davonzustürmen. Ciarra hockte neben mir und ließ sich von dem seltsamen Jungen nicht stören; sie streichelte weiter den Drachenschädel, als wäre es der Kopf eines Burghunds. Ich bewegte mich, bis ich mich zwischen ihr und dem Fremden befand.

»Sie hatte silberne Augen«, sagte der Junge. »Und wenn sie sang, schlugen die Herzen vieler Männer schneller. Er hätte sie in Ruhe lassen sollen. Das habe ich ihm auch gesagt.« Seine Stimme war atemlos und zitterte ein wenig.

Ich beobachtete ihn, zweifellos mit diesem geistlosen Gesichtsausdruck, der meinen Vater stets um den Verstand brachte. Aber ich dachte nach. Ich war tief unter der Burg, und ein Junge, den ich nie zuvor gesehen hatte, befand sich ebenfalls hier. Die letzten Drachen waren vor sieben oder acht Generationen verschwunden, und dennoch behauptete dieser Junge, mit dem Mann gesprochen zu haben, der den Drachen in Ketten legen ließ.

Ich wusste, wer er war.

Der Junge, der mich mit großen, gekränkten Augen ansah, war das Familiengespenst. Oh, wir wussten alle von ihm, obwohl wir es anderen gegenüber nie erwähnten. Es gab niemanden in der Familie, dem nicht schon einmal etwas Unerklärliches zugestoßen war.

Mochte einen das Gespenst, so konnte es sehr hilfreich sein. Die Stricknadeln der Zofe meiner Mutter fanden sich immer in ihrem Handarbeitsbeutel, wenn sie sie suchte, obwohl ich sie bei mehreren Gelegenheiten gerade erst anderswo gesehen hatte. Wenn es einen nicht mochte … nun, meine Tante war nicht wieder zu Besuch gekommen, seit sie dem Racker eine Ohrfeige verpasst hatte.

Niemand, den ich kannte, hatte den Jungen je gesehen, obwohl es Familiengeschichten über Leute gab, die ihn sehen konnten. Ich hatte etwas Furchterregenderes erwartet, nicht einen Jungen mit der Haltung eines Hundes, der zu oft geschlagen worden war – auch wenn es ein Hurog-Hund war. Seine Züge mochten feiner sein als meine, aber in der Form der Wangenknochen gab es immer noch eine gewisse Ähnlichkeit. Von den Farben einmal abgesehen, sah er ganz ähnlich aus wie mein jüngerer Bruder Tosten, und seine Augen waren wie die von Tosten und Ciarra Hurog-blau.

Er beobachtete mich mit der ruhigen Aufmerksamkeit eines Falken, dem man die Haube abgenommen hatte, und wartete meine Reaktion auf seine Worte ab.

»Das hier ist Blasphemie«, sagte ich entschlossen und berührte die zerbrechlich aussehenden weißen Knochen. Magie drang durch meine Fingerspitzen auf mich ein, und ich zischte unwillkürlich.

»Es ist Macht«, erwiderte der Junge mit leiser Stimme, die bewirkte, dass sich meine Nackenhaare sträubten. »Hättest du der Versuchung widerstehen können, sie zu nutzen? Du bist ein Magier, Ward, selbst wenn deine Magie so gut wie verschwunden ist. Du weißt, was diese Macht bedeutet. Sie bedeutet Essen für das Volk und Reichtum und Macht für Hurog. Was hättest du getan, wenn dein Volk Hunger gelitten hätte und du dir diese Macht nur hättest aneignen müssen?«

Gebannt von der Kraft der pulsierenden Magie, starrte ich ihm in die Augen und brachte kein Wort hervor; ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ciarra packte mich am Unterarm, aber ich sah sie nicht an. Im Blick des Jungen standen Verzweiflung und Schrecken – die Art von Angst, die bewirkt, dass ein Kaninchen reglos vor dem Fuchs sitzen bleibt. Ich hatte so etwas noch nie im Gesicht eines Menschen gesehen.

Er wartete.

Schließlich sagte ich: »Nein, so etwas hätte ich nicht tun können.«

Er wandte sich ab, und meine Finger berührten den Schädel nicht länger. Ich wusste nicht, welche Antwort er gesucht hatte, aber es war offenbar nicht die, die ich ihm gegeben hatte. »Eine sehr glattzüngige Antwort für einen einfältigen Mann«, sagte er, aber in seiner Stimme lag mehr Kummer als Spott.

»Es ist leicht zu erkennen, wie dumm es war, so etwas zu tun.« Ich griff zu und hob die Kette auf, die von dem dicken eisernen Maulkorb zu einer in den Boden geschraubten Öse führte, die größer war als meine Faust. »Aber wenn Menschen verzweifelt sind, tun sie oft dumme Dinge.«

Ich sah ihn wieder an und erwartete beinahe, dass er verschwand oder zurückwich, aber er blieb, wo er war, obwohl die Angst immer noch in seinem Blick stand. Trotz der Magie, die er gebraucht hatte – wenn es denn tatsächlich seine Magie gewesen war und nicht die der Drachenknochen – und obwohl ich wusste, dass er Hunderte von Jahren älter war als ich, tat er mir leid. Ich wusste, was es bedeutete, Angst zu haben.

Als ich jünger gewesen war, hatte ich Angst vor meinem Vater gehabt.

»Ich habe etwas für Euch, Lord Wardwick«, sagte er förmlich und streckte die geschlossene Hand aus. Die Knöchel seiner Faust waren weiß, seine Züge angespannt.

Immer noch kniend, weil ich ihn nicht verschrecken wollte, hielt ich meine Hand unter seine, und er ließ einen Ring hineinfallen. Der Ring war schlicht und so abgewetzt, dass man von den Verzierungen nur noch ein paar Wölbungen ertasten konnte, obwohl er aus Platin bestand, einem viel härteren Metall als Gold. Ich wusste, dass es Platin war und nicht Silber, denn dieser Ring gehörte meinem Vater.

»Ich bin Oreg«, sagte er, als der Ring in meiner Hand landete. »Ich gehöre dir, ebenso, wie du Hurog gehörst.«

So wie er sich gab, hätte ich beinahe Blitze erwartet, wie der Zauberer meines Vaters sie aufflammen ließ, wenn er spektakulärere Leistungen zustande brachte; aber ich spürte nur das kalte Metall des Rings in meiner Hand. »Das ist der Ring meines Vaters.«

»Er gehört jetzt dir«, sagte er. »Von seiner Hand in deine.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum hat er ihn mir nicht selbst gegeben?«

»So wird es nicht gemacht«, sagte er. Dann blickte er einmal kurz nach oben. »Komm jetzt, sie suchen schon nach dir. Wenn du mir folgen würdest?«

Den Ring in der Hand, folgte ich ihm zu einer Öffnung in der Höhlenwand, die mir zuvor entgangen war; Ciarra blieb dicht bei mir. Hinter der Öffnung begann ein schmaler Gang, der sich so häufig mal hierhin und dahin wand, dass ich am Ende nicht mehr wusste, ob wir nach Norden oder nach Süden unterwegs waren. Irgendwann gingen die Wände von Felsen zu bearbeitetem Stein über, aber das fiel mir erst auf, nachdem es geschehen war.

Schließlich blieb der Junge stehen und drückte gegen einen Stein, der für mich genauso aussah wie alle anderen. Ein Teil der Wand, so breit, dass ein Mensch hindurchschlüpfen konnte, schwang auf, und ich verließ den Gang mit einem ungläubigen Ausruf. Der Teil des Abflusssystems, in den ich gekrochen war, hatte sich unter der Erde befunden, und ich war noch ein Stück tiefer in die Höhle mit den Drachenknochen gefallen. Ich hätte beim Grab meines Großvaters geschworen, dass die Gänge, durch die der Geist uns geführt hatte, absolut eben verliefen. Aber wie war es dann möglich, dass wir nun in meinem Schlafzimmer im zweiten Stock der Burg standen?

Die Tür zu dem Gang schloss sich hinter Ciarra und mir, und als ich mich umdrehte, war Oreg nicht mehr zu sehen und würde demnach das Rätsel unseres Weges nicht für mich lösen. Magie? Ich hatte nichts weiter gespürt als die üblichen Strömungen, die stets in der Burg präsent waren.

Die Tür zu meinem Zimmer wurde aufgerissen. Ciarra schoss mit ihrer typischen Schnelligkeit unter mein Bett.

»Ward!«, rief Duraugh, mein Onkel und der Vater der Zwillinge, und kam herein, ohne um Erlaubnis zu bitten. Wie mein Vater war er ein großer und kräftiger Mann, wenn auch nicht so groß wie ich. In seiner Jugend hatte er Ruhm erworben, und die Dankbarkeit des Königs hatte ihm eine tallvenische Erbin als Braut und einen Titel verschafft, der ihn höher stellte als meinen Vater, seinen älteren Bruder. Aber obwohl Iftahar, sein Besitz, größer und reicher war als Hurog, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit hier. Mein Vater sagte oft: »Es ist das Blut, das da spricht. Hurogs sind an dieses Land gebunden.«

Mein Onkel ging mir für gewöhnlich aus dem Weg; ich wunderte mich, dass er überhaupt wusste, wo mein Zimmer war.

»Onkel Duraugh?«, fragte ich und versuchte, gefasst und angemessen geistlos zu wirken. Geistlos war nicht sonderlich anstrengend für mich. Ich hatte nie dazu geneigt, viel zu reden, und ich nehme an, viele hätten mich selbst dann für dumm gehalten, wenn ich nicht versucht hätte, so zu tun.

Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß und wieder zurück und registrierte den Schlamm und das Blut. Er hob die Hand an die Nase; ich selbst hatte mich an den Gestank gewöhnt.

»Als die Zwillinge sagten, du seiest im Abflusssystem, hielt ich das für einen Witz. So etwas würde ich von einem Jungen erwarten, der halb so alt ist wie du. Deine Anwesenheit wird in der großen Halle verlangt – aber es wäre wohl besser, wenn du dich vorher umziehst.«

Ich bemerkte zum ersten Mal, dass er immer noch seine Reitkleidung trug, die dunkle Flecke von frischem Blut hatte. Er war an diesem Morgen mit Vater und seiner Jagdgesellschaft losgezogen.

Ich steckte den Ring, den Oreg mir gegeben hatte, lässig an den Ringfinger meiner rechten Hand und fragte: »Hattet ihr eine gute Jagd?«, während ich die Überreste meines Hemds auszog. Das Blut von den Kratzern, die ich mir in dem engen Gang an den Schultern zugezogen hatte, war getrocknet, und das Hemd ließ sich nicht so leicht lösen.

Ich griff nach dem Tuch, das neben der Schale mit sauberem Wasser auf dem Nachttisch lag.

»Elendes Pech«, erwiderte er. »Dein Vater wurde abgeworfen. Der Hurogmeten liegt im Sterben.«

Ich ließ das Handtuch fallen und starrte ihn an.

Er schaute mir ins Gesicht, von dem ich wusste, dass es bleich vor Schrecken war – eine ehrlichere Reaktion, als ich andere für gewöhnlich sehen ließ. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ciarra kam unter dem Bett hervor und umarmte mich fest. Sie wirkte nicht traurig, nur besorgt. Ich weiß nicht, warum sie sich um mich Sorgen machte. Ich hasste ihn.

»Es geht mir gut, Racker«, sagte ich, aber ich erwiderte die Umarmung. »Komm, lass uns deine Zofe finden; du musst dich ebenfalls säubern.«

Zum Glück befand sich die Zofe und Hüterin meiner Schwester in Ciarras Zimmer, wo sie Flickarbeiten erledigte. Sie verzog das Gesicht, als ich Ciarra in den Raum schob.

Ich eilte zurück in mein Zimmer, wo ich den Rest meiner Kleidung auszog, mich rasch wusch und dann die Hofkleidung anlegte, die ich bei förmlicheren Anlässen trug. Die Ärmel des Hemds waren zu kurz, und es spannte über den Schultern, aber es würde genügen müssen.

Als ich die Tür öffnete, wartete Ciarra schon draußen. Sie hatte genug Zeit gehabt, sich ebenfall zu waschen, und trug respektable Kleidung. Nun hätte man ihr das tatsächliche Alter von sechzehn Jahren schon eher abgenommen, statt sie für zwölf zu halten. Sie sah Mutter sehr ähnlich, zierlich und schön. Aber es war die wilde Leidenschaft meines Vaters, die in Ciarra glühte, geläutert von ihrem guten Herzen.

»Schon gut«, sagte ich, und ich bezog aus ihrer Umarmung ebenso viel Trost wie sie aus der meinen. »Ich verstehe. Komm mit mir nach unten, Racker.«

Sie nickte, löste sich von mir und wischte sich rasch mit dem Ärmel über die Augen. Dann holte sie tief Luft, zog ein wenig die Nase kraus, weil sie sich offenbar besser gewaschen hatte als ich, und streckte herrisch die Hand aus. Ich lächelte trotz der Ereignisse, die sich zweifellos gerade in der großen Halle unter uns abspielten, und bot ihr meinen Arm. Sie nahm ihn und schritt mit der königlichen Haltung, die sie gegenüber Fremden und jenen Leuten an den Tag legte, die sie nicht leiden konnte, neben mir die Treppe hinab.

Sie hatten vor der Feuerstelle ein behelfsmäßiges Bett aufgebaut. Mutter kniete daneben, das Gesicht blass und gefasst, obwohl ich sehen konnte, dass sie geweint hatte. Vater mochte Tränen nicht.

Stala, die Waffenmeisterin, trug immer noch ihre Jagdkleidung. Sie hielt den Helm in einer Hand und hatte die andere auf die Schulter meiner Mutter gelegt. Stala war Mutters Halbschwester. Sie stellte, wie Vater gern prahlte, den größten Teil der Mitgift meiner Mutter und den Hauptgrund dafür dar, dass die Blaue Garde während der Herrschaftszeit meines Vaters ihren Ruf bewahrt hatte.

Stala war im Heer des Königs ausgebildet worden und hatte dort zwei Dienstzeiten absolviert, bevor jemand auch nur bemerkt hatte, dass sie kein Mann war. Danach war sie zu ihrer Familie zurückgekehrt und Mutter schließlich nach Hurog gefolgt, wo Vater ihr die Stelle einer Waffenmeisterin angeboten hatte, obwohl kein anderer Kriegsherr im Land ihr auch nur einen zweiten Blick gegönnt hatte. Ihr Haar war inzwischen silbergrau, aber ich konnte mich erinnern, dass es einmal kastanienbraun gewesen war wie das von Mutter. Stala konnte meinen Vater bei allem außer im Ringkampf besiegen.

Sie sah bekümmert aus, als sie meinem Blick begegnete, aber in ihren Augen stand auch eine deutliche Warnung. Als sie entdeckte, dass ich es bemerkt hatte, warf sie einen vorsichtigen Blick zum Zauberer meines Vaters, der dabei war, hektisch etwas auf ein Stück Schafshaut zu kritzeln.

Ich zog meine Schwester mit mir zu einer Stelle, wo Vater uns sehen konnte. Er war blass, und er lag regloser unter den blutfleckigen Decken, als ich ihn je gesehen hatte. Wie Ciarra hatte auch er immer über grenzenlose Energie verfügt. Jetzt waren das einzig Lebendige an ihm die Augen, die mich in vergeblichem Zorn anstarrten, einem Zorn, der wuchs, als er den silberfarbenen Ring an meiner Hand bemerkte. Ich fragte mich, ob er ihn wirklich dem Familiengespenst überlassen hatte, um ihn mir zu geben, oder ob Oreg ihm den Ring einfach abgenommen hatte.

Ich berührte Stalas Schulter. »Was ist geschehen?« Anders als alle anderen in der Familie behandelte Stala mich stets, als wäre ich vollkommen normal. Das lag vermutlich zum Teil daran, dass ich ein Schwert ebenso gut führen konnte wie jeder andere.

»Bestie war wilder als sonst«, sagte Stala mit einem Blick zu mir. Ihre Stimme drückte deutlich aus, wie sehr sie das Pferd meines Vaters ablehnte. Der Hengst mochte temperamentvoll sein, verfügte aber über solche Kraft und Geschwindigkeit, dass ich der Ansicht war, er sei es wert, sich mit seinen Problemen abzugeben. Meine Tante war anderer Ansicht; sie sagte, ein Pferd wie Bestie zu reiten sei, als kämpfe man mit einem fehlerhaften Schwert – es brach immer gerade dann, wann man es am meisten brauchte. »Er hat den Hurogmeten auf einen abgestorbenen Baum geworfen. Die meisten Wunden sind nicht ernst, aber etwas in ihm ist gebrochen. Ich bin erstaunt, dass er so lange überlebt hat.«

»… zu Hause sterben, wie mein Vater«, keuchte der Hurogmeten und starrte mich an.

Ich hatte ihn nie so alt gesehen. Vater hatte immer zwanzig Jahre jünger als Mutter gewirkt, obwohl er tatsächlich der ältere von beiden war. An diesem Tag jedoch schien er uralt zu sein, und meine Mutter sah nicht älter aus als Ciarra.

»Schlimm genug, das hier alles einem Idioten hinterlassen zu müssen«, sagte er zu mir, »aber noch schlimmer wäre es zu sterben, ohne ihm die entsprechenden Eide abverlangt zu haben. Wenn du stirbst, wirst du deinem Erben geben, was ich dir gegeben habe – schwöre es.« Seine Stimme brach, aber es fehlte seinen Worten nicht an Nachdruck.

Er konnte nur den Ring meinen. »Ja«, sagte ich und rieb ihn.

Er nickte, wirkte aber nicht erleichtert. »Gut. Bist du fertig, Licleng?«

»Ja, Herr«, erwiderte der Zauberer und streute Sand über das, was er geschrieben hatte. Dann schüttelte er das Pergament und reichte es meinem Vater.

Vater, der sich selbst auf dem Totenbett nichts vormachen ließ, las das Geschriebene. Dann winkte er nach der Feder und unterschrieb mit einer blutigen Hand, die so sehr zitterte, dass seine Unterschrift beinahe nur Gekrakel war.

»Du bist zu jung, um Hurog zu übernehmen. Zu weich. Zu dumm«, sagte er zu mir. »Kann nicht viel gegen die Weichheit tun – obwohl die Götter wissen, dass ich es versucht habe – und auch nicht gegen die Dummheit.«

Die Dummheit ist deine Schuld, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Als ich zwölf gewesen war, hatte er mich halbtot geschlagen. Nachdem ich mich erholt hatte, hatte ich mich verändert, wenn auch nicht ganz so, wie die meisten Leute glaubten.

Nach ein paar weiteren schmerzerfüllten Atemzügen fuhr er fort: »Hätte statt Muellen Stala heiraten sollen, aber ein junger Mann ist stolz.« Mutter ließ sich nicht anmerken, ob seine Worte sie kränkten; sie hörte ohnehin nur, was sie hören wollte. »Der Hurogmeten kann nicht die Tochter einer Bäuerin heiraten, ganz gleich, wer der Vater des Mädchens ist. Aber ein Kind von Stala wäre nicht so weich gewesen wie du. Mein Bruder wird über Hurog herrschen, bis du einundzwanzig bist – dann mögen Sipherns Wölfe dem armen Hurog gnädig sein.«

Mein Vater, der Hurogmeten, schob dem alten Zauberer das Pergament zu. Die Feder zerdrückte er, getrieben von Schmerz oder von Zorn über die Ungerechtigkeit des Lebens, das ihm einen Weichling und Idioten als älteren Sohn gegeben hatte, einen jüngeren, der davongelaufen war, und eine stumme Tochter. Zu besorgt über die Gegenwart, um mir wegen der Zukunft Gedanken zu machen, nickte ich einfach nur.

Der Hurogmeten grinste mich trotz der Schmerzen, die er offensichtlich hatte, boshaft an. »Das Einzige, was ich dir direkt hinterlassen habe, ist Bestie. Ich kenne Duraugh, er würde das Tier umbringen lassen. Wenn du ihn nicht reiten kannst, benutze ihn für die Zucht.«

Stala schnaubte. »Damit all seine Nachkommen ebenfalls sein Temperament haben – obwohl keiner von deinen das deine geerbt hat.« Ich war nie sicher gewesen, ob Stala meinen Vater wirklich nicht leiden konnte oder ihm nur seine Bosheit mit gleicher Münze zurückzahlte. Sie hatten jahrelang miteinander geschlafen, aber vermutlich war ich der Einzige, der das wusste.

Der Hurogmeten machte eine abfällige Geste mit der rechten Hand. »Duraugh?«

Mein Onkel kam näher und wollte sich an die Stelle bewegen, wo meine Schwester stand. Ich trat vor ihn und verstellte ihm den Weg, bevor er sie einfach wegschieben konnte. Mit etwas mehr als hundertachtzig Pfund war ich erheblich schlechter wegzuschubsen als sie.

Onkel Duraugh zog eine Braue hoch, dann ging er zur anderen Seite des Betts und schob sich vor Mutter. »Ja, Fen?«

»Du wirst dich um Hurog kümmern.«

»Selbstverständlich.«

»Gut.« Mein Vater seufzte. »Duraugh, Tosten wird Wards Erbe sein. Finde ihn, wo immer er sein mag.«

»Ich weiß, wo er ist«, erwiderte ich unklugerweise. Aber ich hatte einfach nicht widerstehen können. Es war die einzige Gelegenheit, die ich je haben würde, meinem Vater gegenüber anzudeuten, dass er sich in mir geirrt hatte.

Der Hurogmeten sah mich überrascht an. Er hatte mich blutig geschlagen, als mein jüngerer Bruder vor zwei Jahren verschwunden war. Danach hatte er angenommen, ich hätte es ihm gesagt, wenn ich irgendetwas über Tosten wusste; alle gingen davon aus, dass ich zum Lügen zu dumm war.

»Wo?«, fragte er, aber ich schüttelte den Kopf.

Wenn mein Onkel erfuhr, wo Tosten war, würde man meinen Bruder hierher zurückholen, und das wollte ich nicht. Ich hatte ihn eines Herbstabends kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag dabei erwischt, wie er versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, und ihn überzeugt, dass es bessere Möglichkeiten gab, Hurog zu verlassen.

»Er ist in Sicherheit.« Ich hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.

Mein Vater seufzte erneut und schloss die Augen. Dann riss er sie sofort wieder auf und rang verzweifelt nach Luft. Zum ersten Mal in seinem Leben verlor er einen Kampf.

Mutter stand auf. Eine gespenstische kleine Melodie summend, starrte sie Vater noch kurz an, dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

Ich kam mir verloren und verraten vor, so als hätte ich schließlich nach gewaltigem Aufwand von Zeit und immenser Anstrengung ein Spiel gewonnen; aber der Gegner war bereits vom Feld geflohen, ehe ihm auch nur aufgefallen war, dass ich gesiegt hatte. Und genau das war selbstverständlich auch geschehen.

Ciarra packte mich fester und lehnte die Wange gegen meinen Oberarm, ihr Gesicht eine ausdruckslose Maske. Ich selbst sah, wie ich aus langer Übung wusste, vage kuhähnlich aus; die dunkelbraunen Augen, die Mutter mir vererbt hatte, trugen sehr zu der allgemeinen Ochsenhaftigkeit meiner Miene bei.

Mein Onkel sah mich forschend an. »Hast du verstanden, was gerade geschehen ist?«

»Der Hurogmeten ist tot«, antwortete ich.

»Und du bist der neue Hurogmeten, aber ich werde zwei Jahre lang an deiner Stelle herrschen.« Duraugh senkte den Blick, und unter der strengen Miene war nicht nur Trauer, sondern auch Erregung zu erkennen. Duraugh wollte Hurog unbedingt haben.

»Ich bekomme Vaters Pferd«, sagte ich, nachdem ich längere Zeit überlegt hatte, was wohl die dümmste Bemerkung war, die ich machen könnte. »Ich werde gleich zu ihm gehen.«

»Zieh dich lieber erst um«, riet mein Onkel. »Wenn du zurückkehrst, werden deine Mutter und ich beschlossen haben, wie wir deinen Vater ehren können. Wir werden deinen Bruder zur Beisetzung zurückrufen müssen.«

Über meine Leiche, dachte ich, nickte aber dennoch. »In Ordnung.«

Deutsche Erstausgabe 07/2007Redaktion: Angela KuepperCopyright © 2002 und 2003 by Patricia BriggsCopyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbHwww.heyne.de

Karte: Andreas Hancock

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: C. Schaber Datentechnik,Wels

eISBN: 978-3-641-08432-5

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