Pfad der Wölfe – Alpha & Omega 6 - Patricia Briggs - E-Book

Pfad der Wölfe – Alpha & Omega 6 E-Book

Patricia Briggs

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Beschreibung

Als die Bewohner eines kleinen kalifornischen Bergdorfes von einem Tag auf den anderen spurlos verschwinden, überlässt das FBI die Ermittlungen dem Eigentümer, auf dessen Land das Dorf liegt – einer Firma namens Aspen Creek Inc. Dahinter verbirgt sich niemand Geringerer als der Marrok selbst. Der mächtigste Werwolf der Welt schickt kurzerhand seinen Sohn Charles und dessen Gefährtin Anna nach Kalifornien. Sie sollen herausfinden, was es mit dem mysteriösen Fall auf sich hat. Doch das Wesen, das in der Wildnis Kaliforniens auf das Werwolfpaar wartet, übertrifft ihre schlimmsten Befürchtungen ...

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Seitenzahl: 520

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Das Buch

Eigentlich wollen Anna und Charles Cornick einen gemütlichen Abend miteinander verbringen, als das FBI vor ihrer Tür steht: Die Bewohner des kleinen Dorfes Wild Sign in den kalifornischen Bergen sind spurlos verschwunden. Die Aussteiger hatten die Siedlung illegal auf einem Gebiet errichtet, dass Charles’ Familie gehört, und deshalb übergeben die Behörden die Ermittlungen nur zu gerne in die Hände der Werwölfe. Als Anna und Charles gemeinsam mit ihrem Rudelgefährten, dem erfahrenen Werwolf Tag, am Ort des Geschehens ankommen, ist ihnen sofort klar, dass hier Magie im Spiel ist. Alte Magie. Mächtig und böse. Können die Werwölfe die Bewohner von Wild Sign noch retten oder sind sie für immer verloren?

Die Autorin

Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Nach mehreren Umzügen lebt die Bestsellerautorin mit ihrer Familie in Washington State.

Eine Übersicht der von Patricia Briggs im Heyne Verlag veröffentlichten Romane finden Sie am Ende des Bandes.

Patricia Briggs

Pfad der Wölfe

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

WILD SIGN

Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 01/2022

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2021 by Hurog, Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Umschlagillustration: Dan dos Santos

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28012-3V001

www.heyne.de

Für Collin, Amanda und Jordan.

Möge das Leben wieder langweiliger werden.

Vorspiel

Sommer, Nordkalifornien

Dr. Sissy Connors kontrollierte ihr GPS-Gerät, rückte ihren Rucksack zurecht und wanderte tiefer in die Berge hinein. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass es einen einfacheren Weg zu ihrem Ziel geben musste, aber keiner der Wege auf der offiziellen Karte schien in die von ihr anvisierte Richtung zu führen.

Sie hatte ausreichend Wandererfahrung – ihr Doktor in Botanik und die vielen Exkursionen während des Studiums hatten sie in die entferntesten Ecken der Welt geführt, auf der Suche nach seltenen Pflanzen, die vielleicht dabei halfen, Ebola, multiresistente Keime oder eine andere Geißel der Menschheit zu besiegen. Elvis – halb Schäferhund, halb irgendeine andere große Rasse – trottete neben ihr her. Auch er hatte viel Erfahrung mit solchen Ausflügen. Gewöhnlich lief er hin und her, um alles zu beschnüffeln, was sein Interesse weckte, suchte dann für einen Moment bei seiner Besitzerin Anschluss und ging wieder auf Entdeckungstour. Doch auf den letzten fünf Kilometern hatte er an ihrer Seite geklebt wie Kaugummi. Er wirkte nicht unbedingt nervös, doch als er sich das letzte Mal so benommen hatte, waren sie von einem Puma verfolgt worden.

Und in diesem Gebiet gab es Pumas. Elvis’ Verhalten sorgte dafür, dass Sissy die Äste der Bäume musterte, unter denen sie entlangwanderte. Aber abgesehen von ein paar Stachelschweinspuren hatte sie bisher keinen Hinweis darauf entdeckt, dass sie und Elvis nicht allein waren.

Sissy glaubte nicht, dass der Hund wegen eines Pumas beunruhigt war … weil auch sie etwas spürte. Die Luft fühlte sich … seltsam an. Auf ihren Wanderungen hatte sie über die Jahre heilige Orte erkundet, die zu betreten sich wie ein Sakrileg angefühlt hatte. Sie war auf verborgene Lichtungen oder Höhlen gestoßen, die ihre Gegenwart zu begrüßen schienen. Sie war durch Gegenden gekommen, in denen sich ihr der Magen umgedreht hatte – obwohl sie mit ihren fünf Sinnen nichts Außergewöhnliches wahrgenommen hatte.

Der heutige Tag wirkte, als könnte es eine dieser Wanderungen werden. Sissy fand Trost darin, das Nackenfell ihres großen Hundes zu streicheln, als sie gemeinsam höher stiegen.

Es war heiß, und der Weg führte schon seit ein paar Kilometern bergauf. Sissy machte an einer schattigen Stelle Rast und gab Elvis etwas Wasser. Im Anschluss trank auch sie einen tiefen Schluck. Ihr Ziel war nicht mehr fern; sie umkreiste es schon seit einer Weile, auf der Suche nach einem begehbaren Pfad durch die Wildnis.

»Dad«, sagte sie ins Leere. »Ich weiß, dass du gerne als Einsiedler unter dem Radar fliegen willst, aber das hier ist lächerlich.«

Eine Stunde später fand sie endlich einen Weg – fünfzehn Minuten nachdem sie sich geschworen hatte, umzudrehen und zu ihrem Auto zurückzukehren. Sie kam an einer Felswand vorbei … und blieb stehen.

Eine Zeichnung.

Selbst müde, verschwitzt und frustriert zauberte der Anblick ein staunendes Lächeln auf Sissys Lippen. Sie hob die Hand, berührte das Zeichen aber nicht. Die Petroglyphe war vielleicht fünfzig Zentimeter im Quadrat und formte ein Symbol, das sie bisher noch nie gesehen hatte. Zwei Striche führten von unten nach oben, um sich am Scheitelpunkt zu treffen. Jeder der Schenkel wurde von drei kurzen, nach oben führenden Strichen gekreuzt.

Sie trat einen Schritt näher an den Felsen heran – und bemerkte dadurch einen steilen Pfad, der an der Klippe nach oben führte, versteckt in einem Felsspalt, den sie von ihrem bisherigen Standpunkt aus nicht hatte sehen können. Es gab keinen Hinweis darauf, dass dieser Weg zum Lager ihres Vaters führte, aber immerhin verlief er in die richtige Richtung.

Sie kletterte nach oben – und schob Elvis mit einer Hand am Hintern vor sich her, wann immer seine Krallen auf dem glatten Stein keinen Halt fanden. Der Aufstieg war steil, aber nicht so steil, dass es nötig gewesen wäre, ihre Ausrüstung herauszuholen. Bevor sie oben ankam, musste sie noch durch ein Loch zwischen einem Baum und einem Felsbrocken von der Größe eines kleinen Hauses kriechen. Sie hätte vielleicht aufgegeben, wäre der Gedanke, Elvis wieder über die Felsen nach unten schaffen zu müssen, nicht so beängstigend gewesen. Sie hoffte, dass sie oben einen ungefährlicheren Abstieg entdecken würde.

Endlich überwand sie die besonders herausfordernde Passage und fand sich auf einer kleinen Lichtung wieder, die von einem dichten Wald umgeben war.

Die Bewohner hatten ihre Siedlung so geschickt unter den Bäumen errichtet, dass Sissy einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Doch kaum hatte sie das erste Haus bemerkt, konnte sie auch die Umrisse der anderen Gebäude ausmachen.

Es gab ein paar Zelte, aber überwiegend bestand die Siedlung aus richtigen Hütten oder Jurten. Es war mehr als ein Feldlager – beinahe ein kleines Dorf, komplett mit einer ordentlichen Hütte, an der ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift United States Postal Service – Wild Sign hing.

Sissy wunderte sich, dass ihr Vater dieses Maß an Zivilisation ertrug. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass auf der Lichtung eine unheimliche Stille herrschte.

»Hey!«, rief sie. »Dad?«

Sie wartete. Dann versuchte sie es mit: »Dr. Connors, hier ist deine Tochter – ebenfalls Dr. Connors!«

Doch die einzige Antwort, die sie erhielt, war das Rauschen des Windes in den Bäumen.

Sommer, Missoula, Montana Vor den Ereignissen in Die Stunde der Wölfe

Ich gehe nie wieder shoppen«, verkündete Rachel ernst, bevor sie ihren Whiskey hinunterkippte. Sie war eine kleine Frau mit lockigem, braunem Haar und rundlichem Körperbau. Irgendwie war es ihr gelungen, den superfitten Look zu vermeiden, den die meisten Werwölfe automatisch aufwiesen. Anna war davon ausgegangen, dass Rachel den Whiskey nur bestellt hatte, weil Leah dasselbe Getränk gewählt hatte, doch so wie Rachel den Alkohol hinunterstürzte, musste Anna ihre Einschätzung wohl noch einmal überdenken.

Anna nippte wenig begeistert an ihrem Drink. Sie hätte ebenfalls Whiskey nehmen sollen. Egal, ob dies der Cocktail der Woche war oder nicht … er schmeckte wie Farbverdünner. Zweifellos sollten die darin enthaltenen Promille für den Geschmack entschädigen, doch als Werwölfin blieb ihr dieser Vorteil verwehrt.

Hätte sie sich mit ihrem Gefährten in diesem intimen Hinterzimmer des Restaurants befunden, hätte Anna gelacht, ihren Drink zur Seite geschoben und etwas anderes bestellt. Auch wenn sie sich nicht unbedingt unter Feinden befand, dann doch zumindest in gefährlicher Gesellschaft. Deswegen musste sie kompetent wirken. Kompetente Personen – dessen war Anna sich sicher – bestellten keine Getränke, die sie nicht mochten, nur um andere Leute mit ihrer nicht vorhandenen Kultiviertheit zu beeindrucken.

Rachel setzte ihr Glas ab und verkündete: »Keine Umkleidekabinen mehr für mich.«

Anna brummte mitfühlend.

»Das«, sagte Sage anklagend und wies mit dem Rand ihres Glases auf Anna, »war ein Charlie-Brummen. Keine Männer auf diesem Ausflug bedeutet auch kein Brummen.«

Sage, schön wie ein Model, war die einzige Person, der es gestattet war, Annas Gefährten Charlie zu nennen – Anna selbst eingeschlossen. Sage behandelte Charles wie einen großen Bruder. Und Charles, dachte Anna reumütig, behandelte Sage, als wäre sie nur ein weiteres Mitglied im Rudel seines Vaters: schützenswert, aber auch auf Abstand zu halten. Nur in Gesellschaft seines Bruders und seines Vaters senkte er die Schutzmauer aus Gleichgültigkeit ein wenig, die er gewöhnlich um sich herum errichtete. Bei Anna gab es keine Schutzmauer – Charles gehörte ihr, von seiner komplizierten Seele bis hin zu seinem unkomplizierten Herzen.

Anna hätte im Moment lieber mit ihrem Gefährten vor dem Kaminfeuer gekuschelt … oder etwas gegessen, das einer von ihnen gekocht hatte. Stattdessen nippte sie gute zweihundert Kilometer von ihrem Zuhause entfernt in einem Restaurant in Missoula an ihrem Farbverdünner – der Höhepunkt des von Leah geplanten Mädelsausflugs. Anna war sich ziemlich sicher, dass sie jedem Klamottenladen, Schuhladen und sogar jeder Make-up-Theke der Stadt einen Besuch abgestattet hatten.

Ihre Füße taten weh. Sie bemerkte, dass Rachel – als sie glaubte, niemand würde etwas bemerken – ihre Schuhe abstreifte und unter dem Tisch mit den Zehen wackelte. Selbst Sage, die Shoppingqueen, rieb sich den linken Unterschenkel. Nur Leah, mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen, wirkte vollkommen entspannt. Stirnrunzelnd musterte Anna Leahs Füße – vielleicht war es doch nicht verrückt, Unsummen für Schuhe auszugeben.

Leah, die Gefährtin des Marrok, organisierte diese Shoppingtrips nach Missoula oder Kalispell, damit die Frauen des Rudels sich besser kennenlernen konnten. Gewöhnlich durfte jede Person ohne Y-Chromosom daran teilnehmen. Doch diesmal hatte Leah klare Vorgaben gemacht: Anna, Sage, Leah und Rachel. Sonst niemand. Der Ausflug sollte Rachel – die erst vor einem Monat zum Rudel gestoßen war – das nötige Vertrauen schenken, sich zu öffnen.

Rachel war kein ständiges Rudelmitglied; sie würde nur bleiben, bis der Marrok einen Ort gefunden hatte, an dem sie sich wohlfühlte. Einen sicheren Ort. Wie Anna nur zu gut wusste, half selbst die Stärke, die mit der Existenz als Werwolf einherging, nichts, wenn die, die einen misshandelten, ebenfalls Werwölfe waren. Rachel war nach einer umfassenden Neustrukturierung ihres alten Rudels zu ihnen gekommen. Es hatte keine Toten gegeben, aber das Rudel hatte einen neuen Alpha bekommen. Der alte war in ein anderes Rudel abgeschoben worden, in dem er nicht an der Spitze stand. Bis auf den Alpha war Rachel die Einzige, die umgesiedelt worden war.

Rachel hatte in den zwei Wochen seit ihrer Ankunft kaum ein Wort gesprochen, und wenn doch, dann nur flüsternd. Also hatten Leah oder der Marrok (oder beide) beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.

Und das bedeutete offenbar Shopping.

Anna hob das Glas an die Lippen und gab vor zu trinken, um ihr Lächeln zu verbergen. Nach zwei Stunden Einkaufsmarathon hatte Rachel ihre Angst vergessen und in den Chor aus Stöhnen eingestimmt, als Sage endlich ein Kleid gefunden hatte, in dem sie fett aussah.

Groß und schlank – mit braunem Haar, das von goldenen Strähnen durchzogen wurde, und tiefblauen Augen –, konnte Sage mühelos mit den meisten Models mithalten. Es war eine echte Leistung, ein Kleidungsstück zu finden, das ihr nicht stand. Die Ablenkung und das gemeinsame Schimpfen über hässliche Klamotten hatten Rachels Abwehrmechanismen durchbrochen und eine ruhige, aber von Natur aus fröhliche Person enthüllt.

Welche Fehler Leah sonst auch haben mochte, sie war gut in ihrem Job. Und die halbherzige Rivalität zwischen Leah und Sage (Anna war überzeugt, dass die beiden die ständigen Sticheleien insgeheim genossen) erinnerte sie immer daran, dass sich in diesem Rudel niemand Sorgen machen musste, ein dominanterer Wolf könnte wegen einer bissigen Bemerkung überreagieren. Die Kabbeleien riefen einem ständig ins Gedächtnis, dass das Rudel des Marrok ein sicherer Hafen war.

Anna war wahrscheinlich zu dem Ausflug eingeladen worden, weil sie eine Omega war. Alleine ihre Anwesenheit verhinderte viele Spannungen und sorgte dafür, dass sich die Leute in ihrer Nähe wohlfühlten, ohne dass sie selbst etwas dafür tun musste. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie zu Hilfe gerufen wurde, um einem beeinträchtigten Werwolf zur Seite zu stehen. Jetzt, wo Rachel endlich redete, konnte Bran einen guten Platz für sie finden – ob in seinem eigenen Rudel oder in einem anderen, in dem Gewalt weniger allgegenwärtig war. Der Großteil von Brans Rudel bestand aus Wölfen, die ein Alpha mit weniger Macht niemals hätte kontrollieren können.

Schließlich wurde das Essen serviert. Als sie ungefähr die Hälfte ihres Steaks verschlungen hatte, meldete sich Rachel plötzlich zu Wort: »Ich fühle mich wie eine Versagerin.«

Sage umfasste ihre Hand. »Wieso das denn?«

»Ich bin eine Werwölfin«, sagte Rachel. »Und ich musste vor meinen Problemen davonlaufen, weil ich mich nicht selbst schützen konnte.«

»Ich auch«, entgegnete Sage sofort.

Rachel starrte sie mit offenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen an. Anna hatte im Verlauf des Tages immer wieder bemerkt, dass Rachel Sage quasi wie eine Heldin verehrte. Was Anna gut verstand. Sage hatte auch Anna als Erste im Rudel willkommen geheißen. Sie achtete darauf, Neuankömmlinge zu schützen, bis sie auf den eigenen zwei Beinen (oder vier Pfoten) stehen konnten. Sie war eine sehr effektive Wächterin; ihr Ruf als erbarmungslose Kämpferin sorgte dafür, dass sich die meisten Wölfe im Rudel lieber nicht mit ihr anlegten.

Insgeheim vermutete Anna, dass auch die Tatsache, dass Sage Charles »Charlie« nannte, dabei half, Mobbing zu verhindern. Die meisten Wölfe im Rudel fürchteten sich ein wenig vor Annas Gefährten. Keiner von ihnen hätte es jemals gewagt, Charles einen Spitznamen zu verpassen, der ihm nicht gefiel.

Sage nickte Rachel zu und sagte: »Keine Wölfin kann allein gegen ein ganzes Rudel bestehen.« Sie warf einen verschmitzten Blick in Annas Richtung. »Ausgenommen Wölfe mit dem Nachnamen Cornick.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Rachel. »Selbst Charlie musste Asil mitnehmen, um das Chaos wieder in Ordnung zu bringen, das dein alter Alpha in seinem Rudel angerichtet hatte, Rachel.«

Das war nicht der Grund, warum Asil Charles begleitet hatte. Er war mitgekommen, damit es nicht zu Trotzreaktionen kam, die Charles gezwungen hätten, jemanden zu töten, der sonst hätte gerettet werden können. Charles war Furcht einflößend. Asil war eine Legende. Kein normaler Wolf hätte sich jemals widersetzt, wenn die beiden zusammen auftauchten.

Sage stieß Anna unter dem Tisch an. Zumindest glaubte Anna, dass Sage sie berührt hatte. Vielleicht war es auch Leah gewesen. Anna sollte ihre Geschichte erzählen, damit sich Rachel nicht so allein fühlte. Oh, wie wunderbar.

»Ich auch«, murmelte Anna wenig begeistert. »Ich hatte meine eigene Zeit im Fegefeuer.«

»Aber du bist eine Omega«, rief Rachel. »Niemand misshandelt einen Omega-Wolf.«

Anna hätte das am liebsten so stehen lassen, aber Sage sagte: »Und doch haben sie genau das getan. Sie haben Anna die Verwandlung aufgezwungen. Und dann folgten mehrere Jahre voller Vergewaltigungen, Misshandlungen und Schläge.«

Anna schob ihren Teller zur Seite, weil ihr der Appetit vergangen war. »Ja«, sagte sie. »Auch ich musste gerettet werden, Rachel. Aber das hier ist kein ›Mein Leben ist schlimmer als deines‹-Wettbewerb.«

Anna vermied es, Rachel anzusehen, und fing dabei aus Versehen Sages Blick auf. Die andere Wölfin senkte sofort die Lider, und Anna bemerkte eine leichte Röte auf ihren Wangen. Hatte Sage das Gefühl, es sei ein Wettbewerb? Anna verzog das Gesicht.

»Sieht so das Leben als Werwölfin aus?«, fragte Rachel niedergeschlagen. »Misshandlungen? Die Suche nach einem Beschützer? Einem Retter?« Rachel war nicht groß, vielleicht fünf Zentimeter kleiner als Anna. Neben Sage und Leah, die beide hochgewachsene Frauen waren, wirkte sie zerbrechlich und hilflos.

»Das hängt von dem Rudel ab, in dem du lebst«, sagte Anna. »Es gibt Hunderte von Werwölfinnen dort draußen – und der Marrok holt jährlich nur eine oder zwei Frauen in sein Rudel, die Hilfe brauchen.«

»Vergiss nicht, dass Werwölfe sehr lange leben«, meinte Sage. Sie zog Annas verschmähtes Steak zu sich heran und stellte ihren leeren Teller vor Anna ab. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir alle … ob nun Mann oder Frau … irgendwann einem schlechten Alpha begegnen oder in eine Situation geraten, in der wir misshandelt werden. Wichtig ist nur, dass du nicht auf die andere Seite überwechselst und dich den Bösen anschließt.«

Leah schob ihren leeren Teller nach hinten und kippte ihren vierten Whiskey hinunter. »Ich denke, es hängt alles von der Wahl des richtigen Gefährten ab.«

Manchmal merkte man den älteren Wölfen an, dass sie in einer anderen Epoche aufgewachsen waren – wie Leah, die selbstverständlich davon ausging, dass ein guter Gefährte die Lösung aller Probleme war. Anna hätte darauf gewettet, dass niemand sonst am Tisch das kühle Verhältnis zwischen Bran und Leah als erstrebenswert betrachtete. Die Beziehung war nicht missbräuchlich. Oder zumindest beinhaltete sie keine körperliche Gewalt. Aber Anna hätte es höchstens einen Monat mit einem Gefährten ausgehalten, der zwar alle ihre Bedürfnisse befriedigte – ihr aber keine echte Zuneigung entgegenbrachte.

Doch das sprach natürlich niemand laut aus. Auch wenn Leahs Gesichtsausdruck in Anna die Frage aufwarf, ob Leah nicht wusste, was sie alle dachten.

»Wie hast du Bran gefunden?«, fragte Sage.

Wow! Anna war davon ausgegangen, dass zumindest Sage die Geschichte kannte. Es gab eine Menge Dinge, über die quasi jeder außer Anna Bescheid wusste. Sie hatte geglaubt, die Details von Brans Brautwerbung um Leah gehörten dazu. Anna war klug genug, keine Fragen über die Vergangenheit der älteren Wölfe zu stellen. Wenn diese wollten, dass man etwas erfuhr, erzählten sie es. Anna wusste über die erste Begegnung von Bran und Leah nicht mehr, als dass Bran losgezogen war, um eine Gefährtin zu finden … und mit Leah zurückgekehrt war.

Leah spielte an ihrer Serviette herum. Ihre frisch lackierten Nägel glitzerten im schummrigen Licht des Restaurants. Leah sah sich um, als hielte sie nach Zeugen Ausschau. Doch sie hatte einen eigenen Nebenraum im Restaurant reserviert. Die beiden anderen Tische waren leer, die Tür war geschlossen und weit und breit war kein Personal zu sehen.

»Darüber rede ich nicht«, sagte sie kurz angebunden, ihr Tonfall darauf angelegt, jede Nachfrage zu verhindern.

Doch Sage war aus härterem Holz geschnitzt. Sie schnaubte nur. »Das ist mir bewusst, Süße. Sonst hätte ich die Geschichte schon mal gehört. Aber jetzt musst du es uns erzählen. Also, wie bist du in die Fänge …« Leah zog warnend eine elegante Augenbraue hoch. Sage grinste und änderte mitten im Satz ihre Formulierung. »Ähm, wie bist du unserem furchtlosen Anführer begegnet?«

Für einen Moment glaubte Anna, Leah würde sich weigern zu antworten, doch schließlich sagte sie: »Meine Eltern waren Missionare, die von Gott dazu berufen worden waren, die heidnischen Wilden zu bekehren.« Sie griff nach ihrer unbenutzten Salatgabel und spähte auf das Besteck hinunter, als erkenne sie ihr eigenes Spiegelbild darin.

Viele der alten Wölfe akzeptierten Dinge als Selbstverständlichkeit, die von Annas Generation durchaus genauer hinterfragt wurden. Trotzdem hätte Anna es nie für möglich gehalten, dass die Leah, die sie kannte, vollkommen ernsthaft so eine Aussage traf. Falls sie die Worte ironisch gemeint hatte, konnte Anna es nicht aus ihrer Stimme hören.

»Ich war fünfzehn – das älteste von sechs Kindern«, fuhr Leah fort. Die Worte klangen wahr, doch der beiläufige Tonfall deutete an, dass unter der Oberfläche mehr Ungesagtes lauerte als bei einem Eisberg Masse unter der Wasserlinie. »Papa hat uns alle in einen Wagen geladen und ist mit uns Richtung Westen aufgebrochen.«

»Wann war das?«, fragte Anna. Sie mochte Leahs Geschichte nicht kennen, aber sie kannte die ihres Ehemannes. Er war noch ein Kind gewesen, als Bran Leah mit nach Hause gebracht hatte. »Späte 1820er- oder frühe 1830er-Jahre?«

Anna hatte sich nie für Geschichte begeistert, doch das Leben in einem Wolfsrudel – mit Mitgliedern, die bereits vor der Ankunft der Mayflower auf Erden gewandelt waren – hatte Annas Wissensstand um einiges verbessert. Die Expedition von Leahs Vater nach Westen schien relativ früh erfolgt zu sein. Der Bürgerkrieg und der Goldrausch in Kalifornien hatten Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden. Die Expansion nach Westen war hauptsächlich von diesen beiden Ereignissen vorangetrieben worden.

Leah zuckte die Achseln. »Vielleicht? Ich erinnere mich nicht. Die Kirche hat uns finanziell unterstützt, um die Rettung der heidnischen Seelen voranzutreiben.« Da war er, der Hauch von Sarkasmus, auf den Anna gewartet hatte. »Papa hat uns alle in den Planwagen gesteckt – abgesehen von meinem jüngsten Bruder, der erst ein paar Monate alt war. Er blieb bei meiner Tante und ihrer Familie zurück. Wir wollten uns irgendwo niederlassen. Meine Tante und ihr Mann sollten uns später folgen.«

Sie stieß ein wenig amüsiertes Lachen aus. Gleichzeitig begann sie, mit dem Fuß einen Rhythmus auf den Boden zu trommeln. »Er hatte wirklich keine Ahnung, was er tat, mein Papa. Hatte große Träume, aber keinen gesunden Menschenverstand. Zuerst wurde das Essen knapp. Dann brach sich mein kleiner Bruder James ein Bein und starb an den Folgen einer Infektion.«

Leah sprach schnell und monoton – als wollte sie um keinen Preis über die Worte nachdenken, die über ihre Lippen kamen.

»Zwei Tage später begann eines unserer Pferde, heftig zu lahmen, und das andere konnte den Wagen nicht allein über das raue Terrain ziehen. Nachdem meinen Eltern nichts Besseres einfiel, lagerten wir eine Woche lang neben einem Bach, um zu sehen, ob sich das lahmende Pferd erholen würde. Die Pferde waren Haustiere, und Papa ertrug den Gedanken nicht, sie zu erschießen, nur damit wir etwas zu essen hatten. Er konnte nicht mal angeln, und Mama hat die ganze Zeit nur geweint. Mein Bruder Tally und ich fingen schließlich ein paar Forellen. Aber nicht genug. Wir waren am Verhungern, als er kam.«

Die Tür hinter ihr schwang auf, und ein Kellner trat ein, um die Teller abzuräumen. Leah kleisterte sich ein höfliches Lächeln ins Gesicht und bestellte mit ein wenig zu lauter Stimme einen weiteren Whiskey.

Zögernd nahm Rachel ein Glas Rotwein. Gerade, als Sage sich für Wasser entschied, fing Leah leise an zu summen.

Anna bat ebenfalls um Wasser, doch ihre Aufmerksamkeit war von Leahs Musik gefesselt. Der volle Ton ließ vermuten, dass Leah wahrscheinlich eine wunderschöne Singstimme hatte. Anna hatte sie allerdings noch nie singen gehört. Im Rudel des Marrok war Musik allgegenwärtig. Anna war immer davon ausgegangen, dass Leah nicht besonders musikalisch war; dass sie nicht singen konnte … nicht, dass sie es einfach nicht tat.

Die Tür fiel ins Schloss, und sie waren wieder allein. Niemand sagte etwas, um Leah nicht zu unterbrechen. Die Melodie, die sie summte, war fesselnd – so wie »Bohemian Rhapsody«, »Stairway to Heaven« oder »In the Hall of the Mountain King« jeden Zuhörer fesselten. Anna ertappte sich dabei, wie sie sich nach vorne beugte, um besser zuhören zu können, und im selben synkopischen Rhythmus mit dem Fuß wippte wie Leah.

Sage starrte Leah aus großen Augen an. Anna, die neben ihr saß, konnte ihre Besorgnis – fast schon Angst – wittern.

Doch es war Rachel, nicht Sage, die den seltsamen Zauber brach, der von ihnen allen Besitz ergriffen hatte. »Was singst du da?«, fragte sie. »Ich glaube, ich habe das schon mal gehört – kann mich aber nicht erinnern, wo.«

Leah verstummte. Sie blinzelte heftig, als hätte auch sie sich in der Musik verloren.

»Wo bleibt denn dieser verdammte Whiskey?«, murmelte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Es ist nichts, Rachel. Nur ein Lied, das ich mal gehört habe.«

Leah schien überrascht, als sie die Lüge aus ihrem eigenen Mund hörte. Doch sie korrigierte ihre Aussage nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern und sagte knapp: »Auf jeden Fall ist Bran aufgetaucht. Sie haben mich gerettet, indem sie mich in einen Werwolf verwandelt haben.«

Das war seltsam. Die Verwandlung war nicht der richtige Weg, um jemanden zu retten, der kurz vor dem Verhungern stand. Und wer waren »sie«? Charles hatte ihr erzählt, dass Bran allein aufgebrochen war, bevor er Leah zurückgebracht hatte.

Doch Anna war klug genug, ihre Fragen nicht laut zu stellen. Leah hasste Charles … was ihre Beziehung zu Anna manchmal verkomplizierte. Wenn Anna Leah über eine Situation ausfragte, über die sie offensichtlich nicht reden wollte, würde Leah dichtmachen.

»Du warst fünfzehn?«, fragte Sage schockiert, weil sie, wie Anna, in den letzten hundert Jahren geboren worden war. »Du warst fünfzehn Jahre alt, als er dich zu seiner Gefährtin genommen hat?«

Das war ein berechtigter Einwand. Doch er stand nicht ganz oben auf Annas Liste – ihrer sehr langen Liste – von Fragen. Und sie war sich ziemlich sicher, dass die Aussage so nicht stimmte. Jemand – Charles auf jeden Fall – hätte Anna erzählt, wenn Leah erst fünfzehn gewesen wäre, als Bran sie mit nach Montana gebracht hatte.

Leah schüttelte den Kopf und antwortete schnell: »Fünfzehn? Gute Güte, nein. Zwanzig oder älter, glaube ich. Ihr wisst doch, wie die Zeit nach einer Weile verschwimmt.«

Dieser »er«, der Leah und ihre hungernde Familie gefunden hatte, war also nicht Bran gewesen. Fünf Jahre oder länger hatten zwischen diesem Tag und dem Tag gelegen, an dem Bran sie »gerettet« hatte, indem er sie in eine Werwölfin verwandelt hatte. Leah hatte ihnen nur den Anfang und das Ende ihrer Geschichte erzählt – aber die gesamte Mitte ausgelassen. Wieso hatte sie damit begonnen, wenn sie nicht wollte, dass sie alles hörten?

Anna wartete darauf, dass Sage eine dieser Fragen stellte, doch offensichtlich hatte die andere Wölfin beschlossen, das Thema ruhen zu lassen.

Es folgte ein langer Moment der Stille, in dem Rachel austrank, Sage ihr Make-up in Ordnung brachte und Leah in ihr leeres Whiskeyglas starrte. Anna versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie vor Neugier fast platzte. Fünf Jahre, in denen etwas so Wichtiges geschehen war, dass Leah nicht darüber reden wollte. Anna würde Charles in die Mangel nehmen müssen.

Sie holte ihr Handy hervor und schickte ihm eine Nachricht: Fast fertig. Weißt du, wie und warum Bran Leah verwandelt hat?

Sie hatte ihrem Gefährten im Laufe des Tages immer wieder geschrieben. Hatte ihm ein Foto von Sage in dem unvorteilhaften Kleid geschickt – aber nicht von den fünfhundert Kleidern/Blusen/Röcken, in denen sie atemberaubend ausgesehen hatte. Anna war nicht dumm. Charles hatte auf keine ihrer Nachrichten geantwortet. Er musste unterwegs sein. Bran überredete ihn in Annas Abwesenheit gerne zur Jagd.

Doch diesmal schrieb er zurück: Keine Ahnung. Da redet nicht darüber. Aber er spricht generell kaum über die Vergangenheit. Tut mir leid, dass ich bisher nicht reagiert habe. War mit Da laufen.

Leah summte wieder. Als Anna die Melodie erneut hörte … konnte sie sich gut vorstellen, wie sie klingen würde, wenn ein großes Orchester sie spielte, während die Pauken denselben Rhythmus trommelten wie Leahs Fuß. Anna spürte die Macht der Musik als Brummen in ihrer Brust.

Sie sah von ihrem Handy auf und musterte Leah stirnrunzelnd. Die Fähigkeit, sich vorzustellen, wie ein Musikstück mit einer anderen Instrumentierung klingen würde, gehörte zu den Dingen, die Anna ein Stipendium an der Northwestern University ermöglicht hatten. Aber dieses Gefühl ging tiefer als alles, was sie bisher empfunden hatte.

Sie wusste, dass sie die Melodie unterbrechen musste, also fragte sie: »Was ist das für ein Lied, Leah? Rachel hat recht. Es klingt vertraut, aber ich kann es nicht benennen.« Das Lied sorgte dafür, dass sie losziehen wollte, um … irgendetwas zu tun.

Leah hörte auf zu summen, wirkte aber, als wäre sie vollkommen in Gedanken versunken.

»Anna hat Musik studiert«, erklärte Sage Rachel. »Bevor die bösen Wölfe sie erwischt haben.«

Sages Worte lenkten Anna von dem musikalischen Rätsel ab. Sie bemühte sich, keine finstere Miene zu ziehen. Anna hatte ihre Zeit in der Hölle auf keinen Fall in allen Details schildern wollen. Warum also stellten sich ihr die Nackenhaare auf, wenn Sage ihre Geschichte auf etwas reduzierte, das direkt aus Grimms Märchen hätte stammen können? Sie starrte stirnrunzelnd in ihren fast vollen Cocktail. Sie wusste, dass sie überreagierte. Vielleicht sollte sie nichts trinken, was nach Farbverdünner schmeckte.

Leah berührte kurz Annas Hand und schenkte ihr ein Lächeln, das für einen Moment dafür sorgte, dass sie noch schöner aussah als Sage. Und niemand war schöner als Sage. Es war ein Lächeln, wie Anna es noch nie auf Leahs Gesicht gesehen hatte – und sie vermutete, dass die Musik dafür verantwortlich war.

»Ich weiß nicht, wie das Lied heißt«, sagte Leah, ihre Stimme ein wenig heiser, als hätte sie eine trockene Kehle. Sie starrte an die Wand, doch Anna hätte darauf gewettet, dass sie etwas anderes sah. »Ich kannte den Titel nie – oder zumindest glaube ich das nicht. Dieses Lied verfolgt mich in letzter Zeit. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.«

In diesem Moment kehrte der Kellner mit ihren Getränken zurück. Und im Anschluss sprachen sie über weniger schwierige Themen. Doch die Melodie, die Leah gesummt hatte, hallte in Annas Kopf nach. Gleichzeitig empfand sie wegen der unvollständigen Geschichte ein leichtes Unwohlsein. Sie hatte das Gefühl, dass Leahs Erzählung wichtig war. Zwischen dem Moment, als jemand Leahs verhungernde Familie gefunden hatte, und dem Tag, an dem Bran und jemand anderes Leah gerettet hatten, waren fünf Jahre vergangen.

Und wovor gerettet?

1

Herbst, Aspen Creek, Montana

Anna entlockte den Elfenbeintasten des alten Klaviers die ersten Akkorde und genoss den vollen Klang des Instruments. Für sie war Musik nicht nur ein akustisches Erlebnis – sie liebte auch das Gefühl der Schwingungen an ihren Fingern. Die Bassnoten hallten in ihrem Innersten wider, füllten sie mit Energie und dem Wunsch zu spielen. Im wahrsten Sinn des Wortes.

Sie sah über die Schulter zurück und in das Gesicht ihres Ehemannes. Sie war sich nicht sicher, ob je jemand anders mit ihm spielte. Auf jeden Fall niemand aus ihrem Rudel, Bran eingeschlossen. Oh, sie musizierten mit ihm, aber sie spielten nicht mit ihm.

Das Klavier war nicht Annas Instrument, aber wie die meisten Leute, die Musik studiert hatten, besaß sie eine gewisse Kompetenz. In diesem speziellen Fall bot ihr das Klavier mehr Möglichkeiten als das Cello, auf dem sie höchstens zwei Töne gleichzeitig spielen konnte … mit den Obertönen auch ein paar mehr.

»Bereit?«, fragte sie Charles, bevor sie das Lied anstimmte, ohne seine Antwort abzuwarten.

Sie summte, als die Melodie einsetzte – und es war sein Job, die Worte zu finden. Diesmal brauchte er nicht lange. Charles, der so dicht hinter ihr stand, dass sie auch ohne direkte Berührung seine Körperwärme spüren konnte, begann schon nach zwei Takten, den Text von »Walk on the Ocean« zu singen.

Dieses spezielle Spiel hatte sich entwickelt, nachdem Anna herausgefunden hatte, dass Charles noch nie von P. D. Q. Bach gehört hatte. Ihre Musiklehrer hatten diesen Komponisten geliebt. Sie hatte Charles’ Wissenslücke mithilfe des Internets gefüllt … und im Gegenzug hatte Charles ihr ein paar Interpreten gezeigt, die er mochte. Einige Sänger hatten Anna kaltgelassen. Andere waren wunderbar gewesen. Natürlich hatte sie auch schon vorher von Johnny Cash gehört, aber Charles hatte sie in einen echten Fan verwandelt – auch wenn sie seine Lieder noch lieber mochte, wenn Charles sie sang. Sie passten zu seiner Stimme.

Anna hätte Charles auch geliebt, wenn er keinen Ton hätte halten können, aber Charles’ Begabung und seine Liebe zur Musik gehörten zu den vielen unerwarteten Geschenken, die ihr Gefährte mit in ihre Verbindung eingebracht hatte. Sie konnte sich so unglaublich glücklich schätzen, ihn gefunden zu haben.

Irgendwann hatten Anna und Charles angefangen, sich gegenseitig herauszufordern, indem sie Sänger, Musikgruppen oder Songs fanden, die der andere nicht kannte. Das war die beste Art von Spiel: die Art, bei der es keine Verlierer gab. Entweder sie identifizierten das Stück, das der andere aus seinem Vorrat obskurer oder geliebter Songs (oder obskurer Lieblingssongs) gezogen hatte, oder eben nicht.

Manchmal spielten sie um Punkte – der Verlierer musste den Abwasch oder das Kochen oder eine andere, angenehmere Aufgabe übernehmen. Aber überwiegend genoss das Paar es, gemeinsam zu musizieren, und das Spiel sorgte für mehr Variabilität, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Toad the Wet Sprocket war für Charles offensichtlich keine Herausforderung gewesen.

Anna lachte, dann sang sie den Rest von »Walk on the Ocean« gemeinsam mit Charles. Sie überließ es ihm, die Melodie zu halten, während sie eine Oktave höher die Oberstimme sang – womit sie ihre Altstimme in Höhen trieb, die eigentlich einem Sopran vorbehalten waren. Manchmal ging spontanes Harmonisieren schrecklich schief, aber heute klang es gut. Ihre Stimmen ergänzten sich gegenseitig, was selbst bei guten Sängern nicht immer der Fall war.

»Das ist eines von Samuels Lieblingsliedern«, sagte Charles, als die letzten Akkorde verklungen waren.

Anna hatte nie viel Zeit mit Charles’ Bruder verbracht; er hatte das Rudel verlassen, bevor sie Teil davon geworden war. Doch sie wusste, dass auch Samuel Musiker war. Charles, Samuel und ihrem Vater Bran auf einer Beerdigung zu lauschen, wie sie den alten Shaker-Song »Simple Gifts« spielten, hatte Anna den ersten Hinweis darauf geliefert, dass sie in eine sehr musikalische Familie eingeheiratet hatte.

Anna hatte geglaubt, ihre Musik in der Nacht verloren zu haben, in der sie angegriffen und in eine Werwölfin verwandelt worden war. Charles hatte sie ihr zurückgegeben. Sie hoffte, dass sie ihrem Gefährten im Gegenzug Unbeschwertheit geschenkt hatte.

Er beugte sich vor, bis sein Mund neben ihrem Ohr schwebte, und sagte in aufgesetzt knurrendem Tonfall: »Du wirst dich mehr anstrengen müssen, um mich zu besiegen.«

Das Rumpeln seiner Stimme jagte ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken. Sie liebte es, wenn er glücklich war. Anna war leicht zu erfreuen – zumindest, wenn es um Charles ging. Sie lehnte sich gegen ihren Gefährten, dann legte sie den Kopf in den Nacken. Er beugte sich vor und küsste sie.

Charles hob den Kopf, zögerte und gönnte sich einen zweiten Kuss. Seine Lippen waren weicher, als sie aussahen, als sie in einer zärtlichen Berührung über ihre Mundwinkel glitten, bevor er ihre Lippen öffnete.

Er keuchte leicht. Seine Muskeln, die ihr immer noch den Rücken wärmten, spannten sich an, bis Anna das Gefühl hatte, an einer Wand zu lehnen statt an einem lebenden Wesen. Sie konnte sich nichts vorstellen, das erregender war, als von Charles begehrt zu werden.

Ihr Körper schien sich mit dem Kuss zu verflüssigen. Sie nahm das Geschenk seines Verlangens an und gab es ihm zurück. Seine Hand senkte sich kurz auf ihr Brustbein, direkt über ihrem Busen, die Berührung sanft. Dann glitten seine Finger höher, bis sie ihr Kinn umfassten, um ihren Kopf im richtigen Winkel für den Kuss zu halten. Als wäre das nötig gewesen!

Schließlich gab er ihren Mund frei und ließ die Lippen über ihre Wangenknochen zu ihrem Ohr wandern, um an ihrer Ohrmuschel zu knabbern. Der leise Schmerz nach den zärtlichen Berührungen jagte einen Stich des Verlangens durch ihren Körper.

»Mmmh«, murmelte sie.

Schwer atmend trat Charles zurück und lächelte verlegen. »Das ging ein bisschen weiter, als ich beabsichtigt hatte.«

Anna zuckte mit den Schultern, in dem Wissen, dass ihre geröteten Lippen und die Erregung, die er wahrscheinlich auch gerochen hätte, wäre er kein Werwolf gewesen, ihre Geste Lüge straften. »Ich übernehme keinerlei Verantwortung, Sir.«

Er lachte, leise und sanft. Erregt. Trotzdem entfernte er sich weiter von ihr – machte einen Schritt rückwärts, als könne er sich nicht dazu bringen, sich ganz von ihr abzuwenden.

»Ich habe ein Lied für dich«, sagte er. »Ich arbeite schon seit einer Weile daran.«

Charles griff nach einem der Koffer, die an den Wänden ihres Musikzimmers aufgereiht standen, und zog eine Flöte heraus. Er warf Anna einen prüfenden Blick zu, dann nahm er ihre Gitarre von der Wand, wo sie neben seinen Instrumenten hing.

Anna war mit leeren Händen zu ihm gekommen … doch angesichts der Tatsache, wie gern Charles sie beschenkte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Instrumentensammlung seine schon bald übertreffen würde. Sie nahm die Gitarre entgegen.

»Was genau soll ich damit anfangen?«, fragte sie schelmisch, drehte sich aber gleichzeitig auf dem Klavierhocker um, sodass das Klavier in ihrem Rücken stand. Sie ließ die Finger einmal über die Saiten gleiten und stimmte das hohe E, bis es richtig klang. Sie hatte vor Kurzem neue Saiten aufgezogen, und die E-Saite verlor gerne ein wenig an Spannung.

Charles antwortete nicht, sondern holte einen Stuhl und stellte ihn vor sie. Dann arrangierte er einen kleinen Tisch neben dem Stuhl, um die Flöte daraufzulegen. Er durchsuchte die Koffer und zog ein Instrument hervor, das er bisher noch nie benutzt hatte – eine Bratsche.

»Ooooooh«, sagte Anna. »Kann ich die mal sehen?«

Charles zog eine Augenbraue hoch, doch gleichzeitig reichte er ihr das Instrument. »Sie gehört Da«, erklärte er.

Anna spähte in das F-Loch und entdeckte die Signatur des Instrumentenbauers und das Datum 1872. Das sagte ihr nicht viel. Blind streckte sie die Hand aus, und Charles reichte ihr den Bogen. Sie testete das Instrument, justierte einen der Wirbel mit einer Achteldrehung und ließ den Bogen über die Saiten gleiten. Der volle Klang zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Bran hat einen hervorragenden Geschmack«, sagte sie, als sie Charles das Instrument zurückgab.

Charles gab sich mehr Mühe beim Stimmen, als sie es bei der Gitarre getan hatte. Wie es nun mal so ist, dachte Anna amüsiert. Bratschen waren – wie ihre kleinen Schwestern, die Violinen – temperamentvoll. Als Charles zufrieden war, setzte er sich, um die Bratsche wie ein Cello vor sich zu halten, statt sie sich unters Kinn zu klemmen.

»Bereit?«, fragte er.

Anna verdrehte nur die Augen. »Nein! Was spielen wir? Oder darf ich mir etwas ausdenken? Wie wäre es, wenn du mir wenigstens die Tonart verrätst?«

Er grinste. »Ich vertraue dir. Schließ dich an, wenn du so weit bist.«

Er griff nach der Flöte und … er hatte recht, sie erkannte die Melodie.

Anna hatte sich in letzter Zeit bemüht, den Kontakt zu ihren wenigen Freunden von der Northwestern wieder aufzunehmen. Vor ein paar Monaten hatte einer von ihnen ihr einen Link einer selbst ernannten mongolischen Folk-Band geschickt. Sie nannten sich The Hu und spielten traditionelle mongolische Instrumente, angepasst an die Neuzeit … zusätzlich zu Instrumenten, die man gewöhnlich bei Rockbands fand. Außerdem praktizierten sie eine Art Kehlgesang, mit dem ein einzelner Sänger mehr als eine Note gleichzeitig formen konnte.

The Hu klangen genauso, wie in Annas Kopf die Musiker in Dschingis Khans Truppen geklungen hätten, wenn man ihnen moderne Instrumente zur Verfügung gestellt hätte. Sie fand es wunderbar.

Sie hatte die Musik Charles vorgespielt. Er hatte sich ein paar Lieder angehört, mit dem Kopf genickt … und Anna war davon ausgegangen, dass das Thema damit für ihn erledigt war. Anscheinend hatte sie sich geirrt.

Charles begann, wie es im Original auch der Fall war, mit der Flöte, um dann nahtlos zur Bratsche überzuwechseln, die er benutzte, um die traditionelle Pferdekopfgeige zu imitieren. Als er anfing zu singen, war es Kehlgesang – und die Worte klangen, soweit sie es sagen konnte, tatsächlich wie echtes Mongolisch.

Was für ein Geschenk! Er hatte sich sehr viel Zeit genommen – und Charles war ein beschäftigter Mann –, um dieses Lied für sie vorzubereiten. Für jemanden, der so wortkarg war, war ihr Gefährte sehr gut darin, »Ich liebe dich« zu sagen.

Als das Lied zu Ende ging, applaudierte Anna begeistert, ihre Wangen gerötet vor Freude und Vergnügen. »Heiliger Strohsack! Einfach nur wow! Ich wusste nicht, dass du Mongolisch sprichst. Du steckst wirklich voller Überraschungen.«

Er legte die Bratsche zur Seite und schenkte ihr ein Lächeln, das sein gesamtes Gesicht zum Leuchten brachte. »Ich ahme es nur nach. Zweifellos würde jeder Muttersprachler sich bei meinem Mongolisch ratlos am Kopf kratzen. Und ich kriege den Kehlgesang noch nicht richtig hin. Da ist noch diese Vibrationstechnik, die ich bisher nicht ganz verstanden habe. Den Teil musste ich mit der Bratsche ergänzen.«

Anna hängte ihre Gitarre an die Wand und schüttelte in gespieltem Tadel den Kopf. »Das war’s. Du kannst die Musik genauso gut ganz aufgeben und dich auf die Spitze eines Berges zurückziehen, um dich dort in deiner Scham zu suhlen.«

Charles schlang seine kräftigen Arme um sie und zog sie an sich. Sie stöhnte übertrieben, als er ihr die Luft aus dem Körper presste.

»Nur, wenn du mich begleitest«, flüsterte er. »Dann wird mir beim Suhlen nicht langweilig.«

»Wie kommst du darauf, ich könnte deine Langeweile mindern?«, fragte sie unschuldig, wobei sie gleichzeitig ihren Po anzüglich gegen ihn presste. Seine Hand glitt nach unten, auf ihren Bauch, während er die andere hob, um den Vorhang ihrer Haare zur Seite zu schieben und ihren Hals freizulegen. »Was denkst du denn, was wir ganz alleine …«

Oben klingelte es an der Haustür.

Sie erstarrten. Es war zu spät für einen zwanglosen Besuch.

»Die Tür ist nicht verschlossen«, knurrte Charles.

»Und jeder, der zum Rudel gehört, wäre wahrscheinlich einfach reingekommen«, stimmte sie zu.

Er gab sie nicht frei.

»Charles?«, fragte sie.

Er schnüffelte an ihrem Hals. »Ich bin der Zweite im Rudel«, erklärte er mit offensichtlichem Widerwillen. »Wenn jemand an unserer Tür klingelt, muss ich öffnen.«

Sie drehte sich in seinen Armen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss aufs Kinn zu drücken. Anna gefiel der Gedanke, dass sie noch eine Weile nach ihm riechen würde. Himmel, ihre Existenz als Werwölfin hatte ihre Sichtweise auf viele Dinge fundamental verändert, grübelte sie, als sie sich umdrehte, um die Treppe nach oben zu steigen. Charles folgte ihr.

Das Telefon klingelte – das Festnetz, das nie klingelte, aber über dem Lichtschalter an der Wand hing wie eine Erinnerung an die Vergangenheit. Charles blieb neben dem Gerät stehen.

»Es ist Da«, erklärte er Anna, bevor er abhob.

Bran konnte seine Stimme in den Köpfen seiner Wölfe erklingen lassen (und wahrscheinlich auch in den Köpfen anderer, wenn ihm der Sinn danach stand). Er behauptete immer noch, er könnte keine Antworten hören – und Anna vermutete, dass er sich deshalb für das Telefon entschieden hatte.

»Sag Anna, sie soll zur Tür gehen«, sagte Bran. »Dein Wolf sollte sie begrüßen.« Damit legte er auf.

Huh, dachte Anna, als sie Charles’ Blick suchte.

Er zuckte mit den Schultern. Er wusste auch nicht, warum Bran sich die Mühe eines Anrufes gemacht hatte. Vielleicht nur, damit die Person, die vor der Tür stand, ein wenig länger warten musste. Jeder Versuch, die Beweggründe von Brans Handeln zu verstehen, ließ Anna gewöhnlich mit Kopfschmerzen zurück, ohne dass sie hinterher schlauer war als vorher.

Anna folgte Brans Anweisung, ging die vier Meter bis zur Tür und öffnete sie. In Gedanken war sie noch mit der Frage beschäftigt, was Brans Anruf zu bedeuten hatte, also blinzelte sie überrascht, als sie die Besucher erkannte.

Direkt vor ihr – vom Licht der Veranda beleuchtet – eine schwarze Frau in den Vierzigern. Sie war durchtrainiert und schick in ihrer dunkelblauen Hose und dem weißen Polo-Shirt mit dem FBI-Logo auf der Schulter. Neben ihr wartete ein klein gewachsener, zierlicher weißer Mann, der genauso gut Mitte dreißig hätte sein können wie Mitte siebzig. Er hatte sich sein eigentlich dunkles Haar vollkommen abrasiert. Seine hellbraune Jacke und die blaue Stoffhose passten ihm gut und wiesen keinerlei Falten auf. Trotzdem wirkte er zerbrechlicher als bei ihrer letzten Begegnung, und Anna fragte sich, ob er krank war. Er roch nicht krank.

Im ersten Moment fühlte Anna, wie ein freundliches Lächeln ihr Gesicht vereinnahmen wollte, ausgelöst durch ihre echte Sympathie für Special Agent Leslie Fisher und ihre überwiegend positive Einschätzung von Special Agent Craig Goldstein.

Doch die Agenten sollten eigentlich nicht wissen, wer Anna jetzt war oder wo sie und Charles lebten. Gespannte Wachsamkeit hielt das Lächeln zurück, als sie die beiden FBI-Beamten betrachtete und sich fragte, wie sehr dieser Besuch ihre Welt verändern würde.

»Was für eine Überraschung«, sagte Anna.

Als Tochter eines Anwalts verspürte sie die grundsätzliche Neigung, Recht und Ordnung zu respektieren. Doch das FBI hatte keine Macht über sie. Ohne viel Ärger wäre es den Beamten nicht erlaubt, sie zu befragen oder zu verhaften oder vor Gericht zu bringen – und vielleicht nicht einmal dann. Im Moment hielten sie sich im Revier des Rudels auf.

Anna fragte sich, ob den beiden bewusst war, wie gefährlich dieser Umstand für sie sein konnte. Anna selbst war jedenfalls klar, welche Gefahr die Anwesenheit des FBI für die Werwölfe darstellte. Dieser Situation war sie nicht gewachsen, davon war sie überzeugt. Doch es würde nichts helfen, Charles übernehmen zu lassen.

Leslie sah Goldstein an. Anna fiel ein, dass er bei ihrem ersten Treffen einen höheren Dienstgrad bekleidet hatte als sie. Anscheinend war das immer noch so.

»Wir haben gewisse Informationen für Sie, Miss Smith«, sagte Agent Goldstein abrupt. »Wir hielten es für das Beste, sie persönlich zu überbringen. Außerdem waren wir der Meinung, Sie wären die richtige Empfängerin.«

Goldstein wusste genau, dass sie nicht Smith hieß – und es gefiel Anna nicht, dass er diesen Namen verwendete. Sie und Charles hatten absolut klargestellt, dass es sich um einen nom de nécessité handelte, nicht um ihren richtigen Namen – um Himmels willen, warum hätte sie sich sonst »Smith« nennen sollen, der sowohl im wahren Leben als auch in Büchern der typische Tarnname war?

Goldsteins Worte rochen nach Machtspielchen – und das konnte Anna nicht ausstehen. Zu dumm, dass ihr Gefährte ungefähr so diplomatisch war wie ein gewisser axtschwingender Wikinger aus ihrem Bekanntenkreis. Womit ihr die Rolle der Vermittlerin überlassen blieb.

Das hier, dachte sie kläglich, droht, eine Katastrophe zu werden.

Mehrere Jahre als Gefangene in einem Rudel, in dem Gewalt zum Alltag gehörte, hatten Anna allerdings ein paar Dinge über die Verhandlungen mit Terroristen gelehrt. Sie war noch nicht bereit, Leslie Fisher in diese Kategorie einzuordnen, aber wahrscheinlich war es besser, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.

Erstens: keine Angst zeigen. Das fiel ihr mit Charles im Rücken um einiges leichter als damals, als sie allein gewesen war – besonders, nachdem das FBI Leute geschickt hatte, die sie kannte und mochte. Wahrscheinlich wollten sie nicht feindselig auftreten. Zumindest noch nicht.

»Mein Name«, sagte Anna, ihre Stimme eiskalt, »ist Anna Cornick.« Nachdem die Agenten auf ihrer Veranda standen, kannten sie ihren echten Namen bereits.

Zweitens: Kooperationsbereitschaft vortäuschen – ohne dem Gegenüber mehr zu geben, als unbedingt nötig war.

»Er wollte nur taktvoll sein«, sagte Leslie, auch wenn sie die Worte offensichtlich selbst nicht glaubte.

Anna hob eine Augenbraue. »Werwölfe können Lügen wittern.« Auch das wussten die Beamten bereits.

Leslie zuckte fast unmerklich zusammen und warf ihrem Partner einen finsteren Blick zu. Der nächste Satz, der über Leslies Lippen kam, entsprach der Wahrheit. Auch wenn sie dabei mehr wie eine FBI-Agentin klang als wie eine Freundin. »Der Überfall tut mir leid, aber wir müssen mit Ihnen reden. Dürfen wir reinkommen, statt allgemein bekannt zu machen, dass das FBI Sie besucht?«

Anna verschränkte mit einem Schnauben die Arme vor der Brust. »Das ist eine kleine Stadt. Hier weiß bereits jeder, dass Sie hier sind. Innerhalb der nächsten zehn Minuten werden sie Ihre Nummernschilder kontrollieren.«

»Das ist ein Mietwagen.«

Herausforderung angenommen, dachte Anna. »Helen Oxfords Schwester arbeitet am Flughafen von Missoula bei einer Mietwagenfirma. Es dürfte ihr keine Schwierigkeiten bereiten, herauszufinden, wer das Auto gemietet hat.«

»Wir sind aus Spokane gekommen, nicht aus Missoula«, entgegnete Leslie.

»Mietwagenfirmen operieren landesweit«, sagte Goldstein zu niemand Bestimmtem. Dann fuhr er fort: »Wir haben es begriffen, Mrs. Cornick. Wenn Sie die Angelegenheit auf Ihrer Türschwelle diskutieren wollen …« Er sah sich um.

Sie waren umgeben von Bergen und Wald. Es gab keine Häuser in der Nähe. Der nächste Nachbar lebte fast einen Kilometer entfernt.

Bitte sie herein, sagte Bruder Wolf.

Anna drehte den Kopf, um den roten Wolf anzusehen, der fast den gesamten verfügbaren Platz in ihrer kleinen Küche ausfüllte. Und fragte sich erneut, wieso Bran beschlossen hatte, dem FBI den Anblick eines Werwolfes zu präsentieren.

Vermutlich war es keine schlechte Idee, den Feind daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte. Auch wenn sie das FBI bisher nicht als Feind betrachtet hatte. Leslie hatte sie sogar als Freundin gesehen. Aber im Moment konnte sich Anna diese Freundschaft nicht leisten.

»Wir haben heute zwei Punkte mit Ihnen zu besprechen«, sagte Goldstein. »Wir wissen ein paar Dinge, von denen Sie erfahren sollten. Und wir würden gerne den Grundstein für eine formellere Beziehung legen, die beiden Seiten zum Vorteil gereicht.«

Bruder Wolf hatte sie angewiesen, die Menschen einzulassen, aber Anna war keineswegs davon überzeugt, dass das eine gute Idee war. Sie glaubte nicht, dass Charles die FBI-Agenten anfallen würde, solange er nicht provoziert wurde. Und aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit den Beamten war sie relativ sicher, dass keiner der beiden auf Gewalt aus war. Bruder Wolf hingegen war eine andere Sache.

Wir werden uns benehmen, versicherte ihr Bruder Wolf. Du kannst sie hereinbitten.

»Ich verstehe«, sagte Anna. »Vielleicht sollten Sie tatsächlich ins Haus kommen.«

Sie trat zurück und öffnete in einer Einladung die Tür ganz, sodass ihre Besucher durch den Türrahmen einen guten Blick auf Bruder Wolf erhaschen konnten. Falls der Werwolf die beiden beunruhigte, ließen sie es sich nicht anmerken. Sie waren ihm schon früher begegnet.

Anna dirigierte die Beamten durch das Wohnzimmer in den Essbereich dahinter. Leslie ließ Agent Goldstein den Vortritt. Anna folgte ihnen.

Leslie blieb kurz vor dem großen Gemälde, das über dem Kamin hing, stehen. Abgesehen von den verschiedenen Instrumenten, die im Raum verteilt lagen, war das Bild das einzige Kunstwerk.

Es war ein neues Gemälde, das für Annas empfindliche Nase immer noch nach Ölfarbe roch. Sie hatten das kleinere Bild, das vorher dort gehangen hatte, ins Schlafzimmer verfrachtet – beides Werke desselben Künstlers.

Auf den ersten Blick zeigte das Gemälde einen grauen Wolf – keinen Werwolf –, der in einem Winterwald stand. Doch der bleibende Eindruck war ein anderer. Wann immer Anna das Bild ansah, spürte sie, wie ihr Körper sich entspannte und Zuversicht in ihr aufstieg. Anna hatte das Gemälde schon stundenlang angestarrt, wusste aber immer noch nicht, wie Wellesley diesen Effekt erzeugt hatte. Seine Arbeiten waren schon immer spektakulär gewesen – doch dieses Bild, entstanden, nachdem der Fluch gebrochen worden war, beinhaltete … mehr.

Asil hatte es vorbeigebracht, nachdem Wellesley aufgebrochen war, zusammen mit einem Zettel, auf dem nur stand: Für Anna. Wellesley hatte weder das Bild signiert noch den Zettel unterschrieben.

»Wunderschön«, sagte Leslie und streckte die Hand aus, ohne die Leinwand zu berühren. »Wer ist der Künstler?«

»Ein Freund«, antwortete Anna. Sie hatte keine Ahnung, ob Wellesley weiter als Künstler arbeiten oder welchen Namen er wählen würde, falls und wann immer er das tun sollte. Aber eines wusste sie: Hätte er gewollt, dass die Leute erfuhren, wer das Bild gemalt hatte, hätte er es signiert. Wären sie und Leslie befreundet gewesen, hätte Anna ihr das auch gesagt. Doch so ließ sie ihre vage Antwort in der Luft hängen.

Leslie sah Anna stirnrunzelnd an, dann ging sie weiter ins Esszimmer, um sich neben Goldstein zu setzen. Kaum hatte sie Platz genommen, sah sie erneut über die Schulter zu dem Gemälde.

Anna zog einen Stuhl heraus und setzte sich den Agenten gegenüber. Charles stellte sich neben sie und starrte die beiden an. Keiner von ihnen erwiderte den Blick des Werwolfes, was klug war. Charles war nicht glücklich.

»Wir würden gerne wissen«, begann Anna sanft, »wer Ihnen verraten hat, wo wir leben.«

Goldstein nickte, stellte seine Aktentasche – ein verkratztes Teil aus Leder, das definitiv schon bessere Tage gesehen hatte – auf den Tisch und öffnete sie. Er zog eine dicke Aktenmappe heraus und streckte sie Anna entgegen. Vorne auf dem Pappdeckel war ein USB-Stick festgeklebt. Als Anna keine Anstalten machte, die Mappe zu ergreifen, legte Goldstein sie zwischen ihnen auf den Tisch.

»Das meiste, was wir über Werwölfe wissen, wurde über einen Zeitraum von Jahrzehnten, wenn nicht sogar länger, Stückchen für Stückchen zusammengetragen.« Goldstein sprach mit einem leichten New Yorker Akzent, den Anna früher nicht bei ihm wahrgenommen hatte. »Eine Notiz hier, ein Zettel dort. Ein Kollege von mir hat die gesamten vierzig Jahre seiner Karriere Überlieferungen zu Werwölfen gesammelt. Sie werden feststellen, dass die meisten allgemeinen Angaben von den Streitkräften stammen – anscheinend gab es über die Jahre viele Werwölfe, die ihrem Land gedient haben.«

Er zog eine weitere Akte mit USB-Stick heraus. »Das hier stammt aus den Cantrip-Archiven.« Er erklärte nicht, wie er an die Unterlagen gekommen war. »Die Informationen über Sie wurden Cantrip von den verschiedensten Quellen zugetragen – Teile davon von Hassgruppierungen wie der Leuchtenden Zukunft oder der John-Lauren-Society. Manche Infos stammen auch von anderen übernatürlichen Gruppen. Eine Informantin war eine Hexe – sie hat Cantrip eine Art Grundlagenbuch der Biologie zur Verfügung gestellt. Die Informationen dieser Frau waren streng geheim und allein der obersten Riege von Cantrip zugänglich. Es gab auch mal einen Vampir. Aber er hat zwei ihrer Agenten umgebracht, also haben sie ihn getötet.«

Leslie räusperte sich. »Darin befinden sich Informationen, von denen Sie gewiss nicht möchten, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen.«

Anna machte keine Anstalten, nach den Gaben auf dem Tisch zu greifen – jemand anders würde die Akten durcharbeiten müssen. Goldstein ging nicht auf Annas Frage ein, wer ihnen verraten hatte, wo sie und Charles lebten … was sie sehr viel mehr interessiert hätte.

Charles hatte sich schon vor langer Zeit in die Cantrip-Datenbank gehackt. Wahrscheinlich war er auch in die FBI-Computer eingedrungen. Den Wölfen war klar, dass es in der Regierung Leute gab, die genau wussten, was die Wölfe waren. Und überwiegend auch, wer sie waren. Es war nicht die Regierung, um die Bran sich Sorgen machte – zumindest noch nicht. Er sorgte sich um die Meinung der Öffentlichkeit – und darum, in welche Richtung sie ihre Regierung drängen könnte.

»Sie scheinen sich schon eine Weile im Besitz dieser Informationen zu befinden«, sagte Anna. »Wieso also diese plötzliche Freimütigkeit? Was hoffen Sie damit zu erreichen?« Sie deutete auf die Akten auf dem Tisch.

Goldstein lächelte grimmig. »Meine Vorgesetzten haben sich auf Hauptman eingeschossen. Es hat mich einige Überzeugungsarbeit gekostet, stattdessen hierherkommen zu dürfen.«

Anna wusste nicht, welche Reaktion von ihr erwartet wurde, nachdem das Columbia Basin Rudel und Adam Hauptman, dessen reizbarer und extrem attraktiver Alpha, die berühmtesten Werwölfe des Planeten waren – zumindest was die menschliche Öffentlichkeit anging.

»Okay«, sagte sie. Leslie ließ sich nichts anmerken, doch Goldsteins Miene verriet Anna, dass ihre Reaktion nicht dem entsprach, was er sich erhofft hatte.

»Wir glauben, dass die verschiedenen übernatürlichen Gruppen eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Wir sind davon überzeugt, dass wir, sollte wirklich die Hölle losbrechen, durch unsere zahlenmäßige Übermacht und unsere Waffen überleben werden. Aber am Ende würden wir alle verlieren.«

»Ja«, stimmte Anna zu, die Varianten dieser Einschätzung seit Jahren hörte – wenn auch vonseiten der Werwölfe.

»Wir glauben, dass wir mit schlagkräftigen Verbündeten, die uns ihr Wissen zur Verfügung stellen, einen solchen Pyrrhussieg verhindern können. Doch dafür brauchen wir eine große Gruppe, der wir vertrauen können – und die uns vertrauen kann.«

Anna musste ein abschätziges Geräusch von sich gegeben haben, weil Goldstein anerkennend grinste.

»Es geht um ein gewisses Maß an Vertrauen«, stimmte er zu. »Das FBI ist eine große Organisation – und unsere Führungsebene wird von Politikern einberufen. Wir haben … diese Leute bisher nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden. Wir verstehen durchaus, dass Sie von dem Gedanken, sich mit uns zu verbünden, nicht begeistert sind. Deshalb habe ich Ihnen unsere Akten gebracht … als Geste des guten Willens.«

»Kein großes Risiko«, stellte Anna fest. »Nachdem es sich nur um Informationen über Werwölfe handelt – und wir bereits alles über Werwölfe wissen.«

»Richtig«, sagte Goldstein. »Aber so können Sie herausfinden, wie viel wir über Sie wissen.«

Anna war sich nicht sicher, ob sie dieser letzten Aussage Glauben schenken sollte … auch wenn Goldstein vom Wahrheitsgehalt seiner Worte überzeugt war. Doch sie sah keinen Nutzen darin, das Gespräch in diese Richtung zu lenken.

Sie zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Also, warum kommen Sie damit zu uns?«

Goldstein musterte sie einen Moment stirnrunzelnd. Er klopfte mit einem Finger auf den Tisch und sagte: »Ich glaube, die Chance, uns mit den Fae zu verbünden, ist in dem Moment gestorben, als dieses dreimal verdammte Gericht Heuter freigesprochen hat. Jeder in diesem Gerichtssaal – ob nun Richter oder Geschworene – wusste, dass er übernatürliche Wesen vergewaltigt und getötet hat. Jeder wusste, dass er die Tochter eines Grauen Lords vergewaltigt hat und vorgehabt hatte, auch sie zu töten – und trotzdem haben sie ihn laufen lassen. Weil er ein Mensch war und seine Opfer nicht. Erinnern Sie sich an den Beifall im Gericht?«

Natürlich tat sie das. Sie alle waren dabei gewesen.

Goldstein schätzte die Situation richtig ein, davon war Anna überzeugt. Gwyp ap Lugh, der sich Beauclaire nannte, war das bekannteste Mitglied der Fraktion der Grauen Lords gewesen, die den Menschen freundlich gegenüberstand. Und es war seine Tochter gewesen, die Heuter misshandelt und fürs Leben gezeichnet hatte.

»Charles sagte, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn er Heuter einfach umgebracht hätte, als er die Gelegenheit dazu hatte«, stimmte Anna zu. »Es wäre zwar nicht gerecht gewesen, einen Mann zu töten, der sich ergeben hatte – doch die Entscheidung des Gerichts hatte ebenfalls nichts mit Gerechtigkeit zu tun.«

»Auch ich hätte ihn erschießen können«, sagte Leslie reumütig. »Ich habe lange darüber nachgedacht.«

Goldstein brummte. »Dieser Zug ist abgefahren. Auch wenn wir auf einen Waffenstillstand mit den Fae hoffen, sind wir uns bewusst, dass sie uns niemals vertrauen werden. Wenn meine Knochen schon längst zu Staub zerfallen sind, wird Beauclaire sich immer noch daran erinnern, dass ein menschliches Gericht beschlossen hat, ein Monster aus den eigenen Reihen zu schützen, statt der Tochter eines Grauen Lords Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Das ist das Problem, wenn man es mit unsterblichen Wesen zu tun hat«, murmelte Anna.

»Die Vampire sind die einzige andere große und organisierte Gruppe, von der wir wissen. Doch für ein Huhn ist es schwer, ein Bündnis mit dem Fuchs zu schließen – weil man nie weiß, wann man als Frühstück endet«, sagte Goldstein.

Und die Vampire ließen die Welt immer noch in dem Glauben, es gäbe sie nicht. Das war besser für alle Beteiligten. Ein Bündnis würde bedeuten, dass die Vampire aus dem Schatten treten mussten.

»Damit bleiben nur die Werwölfe«, sagte Leslie. »Aber wir wussten nicht, wie wir an die Sache herangehen sollten. Wir wussten, dass es Rudel gibt, die von Alphas geführt werden. Einige der Alphas kannten wir sogar sehr gut – Hauptman, zum Beispiel. Und dann kamen Sie und Charles nach Boston.«

Die Beamten hatten die Hexen nicht erwähnt, fiel Anna auf. Vielleicht betrachteten sie diese nicht als organisierte Gruppe.

»Davor«, sagte Goldstein, »gingen wir immer davon aus, dass die einzelnen Rudel von unabhängigen Alphas geführt werden. Sobald wir bereit waren, diese Annahme infrage zu stellen, fiel es uns leichter, gewisse Ereignisse neu einzuschätzen. Wir stellten fest, dass die Wölfe in Wirklichkeit sehr gut vernetzt sind. Dass sie nötigenfalls als Einheit agieren können.«

Anna unterdrückte ein Schnauben. Bei Goldstein klang das wie eine Geschäftsvereinbarung. Brans Kontrolle über die Werwölfe war eher so, als würde jemand Tiger mit einem Viehtreiber hüten. Ansatzweise effektiv, aber eventuell tödlich für alle Beteiligten.

»Diese Person … die Person, die das Sagen hat … sind das Sie, Mrs. Cornick?«, fragte Goldstein.

Anna war in Gedanken noch mit der Tiger-Metapher beschäftigt, daher musste sie heftig blinzeln, um Goldsteins Worte zu verarbeiten. Sie entschied, das als Vorteil zu betrachten, weil es ihr so leichtfiel, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten, während sie darüber nachdachte, was sie mit dieser Frage anfangen sollte.

»Wieso wollen Sie das wissen?«, fragte sie mit monotoner Stimme, sodass weder ihre Miene noch ihr Tonfall etwas verrieten. Ihre Jahre in einem brutalen Rudel hatten ihr ein perfektes Pokerface beschert. »Sie wissen, wer ich bin. Anna Latham, sechsundzwanzig Jahre alt, Studienabbrecherin.«

»Anna Latham, musikalisches Wunderkind«, entgegnete Goldstein düster. »Das eines Abends nach der Arbeit verschwand und nie wieder gesehen wurde. Oh, ihr Vater und ihr Bruder behaupten, Anna Latham sei am Leben. Aber niemand sonst, der sie kannte, hat je wieder etwas von ihr gehört. Sie gibt keine Konzerte mehr, obwohl sie früher regelmäßig aufgetreten ist.«

Anna hatte sich bemüht, wieder Kontakt zu ihren alten Freunden aufzunehmen. Entweder das FBI hatte mit den falschen Leuten gesprochen, oder ihre Freunde glaubten, sie stecke in Schwierigkeiten und bräuchte Schutz. Die Konzerte allerdings würde es wahrscheinlich nicht mehr geben. Anna vermisste es, vor großem Publikum aufzutreten.

»Werwölfe sind unsterblich«, sagte Leslie sehr leise. Und Anna erinnerte sich daran, wie besorgt Leslie bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, weil eine so junge Frau wie Anna mit einem Mann wie Charles verheiratet war – der nicht jung aussah, auch wenn er keine Falten oder grauen Haare hatte. Niemand, der so alte Augen hatte wie Charles, würde jemals jung aussehen.

»Isaac, der Alpha des Boston Rudels …«, setzte Goldstein an.

»Olde Towne Rudel«, korrigierte Anna.

»Olde Towne Rudel«, wiederholte Goldstein, und Anna hätte darauf gewettet, dass ihm dieser Fehler nicht noch mal unterlaufen würde. »Isaac hatte keine Probleme damit, Ihren Befehlen zu folgen.«

Zumindest, soweit die FBI-Agenten es gesehen hatten.

»Zuerst dachte ich, Sie wären Charles’ Strohfrau«, sagte Leslie. »Aber auch er tanzt nach Ihrer Pfeife.«