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Wie wurde der Marrok eigentlich zum mächtigsten Werwolf der Vereinigten Staaten? Wie begegneten sich Anna und Charles aus »Alpha & Omega« zum ersten Mal? Und natürlich ein neues aufregendes Geisterabenteuer für Mercy Thompson. Dies sind nur drei der insgesamt zehn, zum Teil auf Deutsch bisher noch unveröffentlichten Stories aus Patricia Briggs’ großartigem Universum, in dem ihre beiden erfolgreichsten Fantasy-Serien – »Mercy Thompson« und »Alpha & Omega« – angesiedelt sind.
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Seitenzahl: 755
Das Buch
Wie wurde der Marrok zum mächtigsten Werwolf der Vereinigten Staaten? Wo sind sich Anna und Charles zum ersten Mal begegnet? Wie geht Mercy mit den Geistern ihrer Vergangenheit um? Und wie begann eigentlich die Liebe von Samuel und Ariana? In zehn ebenso fesselnden wie berührenden Geschichten nimmt uns Bestsellerautorin Patricia Briggs mit auf eine Reise in die Welt von Mercy Thompson und Alpha & Omega und erzählt Geschichten, die sie schon immer erzählen wollte …
Die MERCY THOMPSON-Serie
Erster Roman:
Ruf des Mondes
Zweiter Roman:
Bann des Blutes
Dritter Roman:
Spur der Nacht
Vierter Roman:
Zeit der Jäger
Fünfter Roman:
Zeichen des Silbers
Sechster Roman:
Siegel der Nacht
Siebter Roman:
Tanz der Wölfe
Achter Roman:
Gefährtin der Dunkelheit
Neunter Roman:
Spur des Feuers
Zehnter Roman:
Stille der Nacht
Elfter Roman:
Ruf des Sturms
Die ALPHA & OMEGA-Serie
Erster Roman:
Schatten des Wolfes
Zweiter Roman:
Spiel der Wölfe
Dritter Roman:
Fluch des Wolfes
Vierter Roman:
Im Bann der Wölfe
Story-Sammlung: Jäger im Schatten
Die Autorin
Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Nach erfolgreichen und preisgekrönten Fantasy-Romanen widmet sie sich nun hauptsächlich ihren beiden beliebten Serien Mercy Thompson und Alpha & Omega. Die Autorin lebt in Washington State.
PATRICIA BRIGGS
Jäger im Schatten
Mercy Thompsons spannendste Geheimnisse
Mit einem Vorwort von Patricia Briggs
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:SHIFTING SHADOWSÜbersetzt von Vanessa Lamatsch und Regina Winter
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Deutsche Erstausgabe 07/2020
Redaktion: Anita Hirtreiter
Copyright © 2014 by Hurog, Inc.
Copyright © 2020, 2009 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-26183-2V001
www.heyne.de
Für Mercedes Athena Thompson Hauptman und den Rest meiner imaginären Freunde. Danke, dass ihr Zeit mit mir verbringt. Auf kommende Abenteuer!
Liebe Leser,
ihr haltet sämtliche Kurzgeschichten in Händen (oder habt sie auf eurem E-Reader), die ich je über Mercy Thompsons Universum geschrieben habe. Diese haben es mir erlaubt, Mercys Welt aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, Geschichten zu erzählen, für die in den Büchern kein Platz war, und an Orte zu reisen, die ich in den Romanen nicht aufsuchen konnte.
Wir haben die Geschichten in chronologischer Reihenfolge sortiert. Es gibt ein paar, die überall hingepasst hätten, und ein paar, die schwierig einzuordnen waren, weil sie auf verschiedenen Zeitebenen spielen, aber es ist uns gelungen, für jede Geschichte einen Platz zu finden. Ich hoffe, ihr habt auf dieser Fantasiereise genauso viel Spaß, wie ich beim Schreiben gehabt habe.
Patricia Briggs
Vorwort
Silber
Feengeschenke
Grau
Sehendes Auge
Alpha und Omega
Davids Stern
Rosen im Winter
In Rot, mit Perlen
Wiedergutmachung
Hollow
Entfallene Szene aus »Zeichen des Silbers«
Entfallene Szene aus »Gefährtin der Dunkelheit«
Danksagung
Dies ist der Beginn der unglücklichen Romanze zwischen Ariana und Samuel – die erste Hälfte der Geschichte, die in Zeichen des Silbers fortgesetzt wird. Sie ist in gewisser Weise auch eine Entstehungsgeschichte, weil die Art, wie Samuel Ariana kennengelernt hat, zudem mit der Geschichte der Hexe zusammenhängt – seiner Großmutter, die Samuel und seinen Vater so lange gefangen gehalten hat. Offen gestanden, hätte ich diese Erzählung bestimmt nicht geschrieben, wenn ich nicht ständig dazu aufgefordert worden wäre, denn für gewöhnlich haben meine Geschichten ein Happy End.
Als historische Anmerkung – und für diejenigen, die wissen wollen, wie alt Samuel und Bran sind: Das Christentum kam sehr früh nach Wales, vielleicht sogar schon im ersten oder zweiten Jahrhundert mit den Römern. Wann genau die Ereignisse dieser Novelle sich ereignet haben, konnte mir weder Samuelnoch Bran sagen. Bran hat nur gelächelt wie ein unbeschwerter kleiner Junge – was mir verriet, dass es ihn schmerzte, daran zurückzudenken – und gesagt: »Wir haben damals nicht auf dieselbe Art auf die Zeit geachtet. Nicht damals.« Samuel meinte: »Wenn man erst einmal so alt ist, verschwimmen diese ersten Tage.« Ich bin kein Werwolf, doch nach all dieser Zeit kann ich erkennen, wann Samuel mich anlügt.
Aber ich weiß, dass die Ereignisse in dieser Geschichte lange, lange Zeit vor Ruf des Mondes stattgefunden haben.
Genau drei Wochen nachdem ich mein jüngstes Kind beerdigt und wenige Tage nachdem ich mein ältestes Kind zur letzten Ruhe gebettet hatte – eine junge Frau, die niemals mehr älter werden würde –, klopfte jemand an meine Tür.
Ich rollte von meiner Schlafmatte auf die Beine, machte aber keine Anstalten, auf das Pochen zu reagieren. Draußen war es stockdunkel, und der einzige Grund, warum jemand mitten in der Nacht an meine Tür klopfte, war der, dass jemand krank war. Obwohl ich viel über Kräuter- und Heilkunde wusste, war es mir nicht gelungen, meine Frau oder meine Kinder zu retten. Wenn jemand tatsächlich an einer Krankheit litt, war er ohne mich besser dran.
»Ich kann dich hören«, erklang barsch die Stimme meines Dads. »Lass mich rein.«
An einem anderen Tag, vor dem Tod meiner Familie, wäre ich überrascht gewesen. Es war lange her, dass ich die Stimme meines Vaters gehört hatte. Doch mein Dad hatte immer gewusst, wann ich in Schwierigkeiten steckte. Dieses instinktive Verständnis hatte meine Kindheit überdauert.
Jetzt kümmerte mich nichts mehr, ob nun erwartet oder unerwartet. Ich war gewohnt zu tun, was er sagte, also öffnete ich die Tür und trat zurück.
Der Mann, der draußen stand, trat eilig ein, um die Hitze des abendlichen Feuers nicht verloren gehen zu lassen. Die Kochstelle in der Mitte meines Zuhauses war für die Nacht abgedeckt, und ich würde das Feuer auch vor morgen früh nicht wieder anfachen. Bei geschlossener Tür war es zu dunkel, etwas zu sehen, weil auch die Fensteröffnungen gegen die kalte Nachtluft verriegelt waren.
Ich konnte nicht sehen, wie er es anstellte, da ich keinen Feuerstein schlagen hörte, doch er zündete die große Talgkerze an. Er hatte stets eine Kerze auf dem Sims direkt neben der Tür aufbewahrt, wo einer der Steine, aus denen das Haus bestand, in den Raum ragte. Nachdem er gegangen war und die Hütte mir überlassen hatte, hatte ich es für praktisch befunden, dort ebenfalls eine Kerze zu lagern.
In diesem schwachen, aber nützlichen Licht senkte er die Kapuze seines zerfledderten Mantels, und ich erkannte sein runzeliges Gesicht, das älter und wettergegerbter wirkte als das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte – vor einem Dutzend oder mehr Jahreszeiten.
Sein Haar war inzwischen grau meliert, und sein Bart leuchtete in unvertrautem Schneeweiß. Er bewegte sich mit einem Hinken, das er bei unserer letzten Begegnung noch nicht gezeigt hatte, doch abgesehen davon sah er gut aus für einen alten Mann. Er stellte den großen Rucksack ab, den er trug, genauso wie den Lederbeutel mit seinen Flöten. Danach schüttelte er seinen Mantel ab und hängte ihn neben die Tür, wo mein Dad solche Kleidungsstücke schon immer hingehängt hatte.
»Die Krähen haben mir mitgeteilt, dass du mich brauchst«, sagte er in mein Schweigen hinein.
Er sprach selten von unheimlichen Dingen, mein Dad, und wenn, dann ausschließlich mit der Familie – wovon es nur noch mich gab, nachdem mein jüngerer Bruder vor vier Jahren an der Schwindsucht gestorben war. Aber Dad war besser darin, Dinge vorherzusagen und zu erahnen, als die Heckenhexe, die in unserem Dorf vorhersagte. Außerdem fiel es ihm leichter als jeder anderen Person, die ich kannte, Kerzen oder Feuer zu entzünden. Nasses Holz, schlechter Zunder oder ein zu kurzer Docht – für ihn spielte das keine Rolle.
»Ich weiß nicht, wie du helfen kannst«, erklärte ich ihm. Meine Stimme war barsch, weil ich sie so lange nicht mehr benutzt hatte. »Sie sind alle tot. Meine Frau, meine Kinder.«
Er senkte den Blick, und ich wusste, dass das für ihn nichts Neues war; dass die Krähen – oder welche Magie auch immer mit ihm gesprochen hatte – ihm von den Todesfällen berichtet hatten.
»Nun«, sagte er, »dann wurde es Zeit für mich zu kommen.« Er schaute auf, fing meinen Blick ein, und ich sah ihm an, dass er besorgt war. »Obwohl ich dachte, ich eile vor dem Ärger her, statt ihm hinterherzulaufen.«
Die Worte hätten mir einen kalten Schauder über den Rücken jagen sollen, doch ich ging fälschlicherweise davon aus, dass das Schlimmste, was geschehen konnte, mir bereits zugestoßen war.
»Wie lang bleibst du?«, fragte ich.
Er legte den Kopf schräg, als lausche er auf etwas, das ich nicht hörte. »Den Winter über«, erklärte er schließlich, und ich versuchte, keine Erleichterung bei dem Gedanken zu empfinden, dass ich nicht allein sein würde. Ich versuchte, nichts anderes zu empfinden als tiefen seelischen Schmerz. Meine Familie hatte meine Trauer verdient – und mir, der ich es versäumt hatte, sie zu retten, stand es nicht zu, mich erleichtert zu fühlen.
Es war ein eiskalter Winter, als trauere die Natur selbst mit mir. Mein Dad stand meiner Trauer nicht im Weg, doch er vergewisserte sich, dass ich jeden Morgen aufstand und die Dinge erledigte, die nötig waren, um durch den Tag zu kommen. Er drängte nicht, sondern beobachtete mich einfach, bis ich das Richtige tat. Ein Mann arbeitete, und er kümmerte sich um die Dinge, um die man sich eben kümmern musste – ich kannte diese Lektionen aus meiner Kindheit. Er war kein Mann, dem man sich widersetzte … und das galt genauso für mich wie für den Rest des Dorfes.
Leute kamen vorbei, um ihn zu begrüßen. Ein Teil der Aufmerksamkeit kam daher, dass er immer respektiert und geschätzt worden war, aber überwiegend kamen sie, weil er sich überreden ließ, für sie zu spielen. Musik war in unserem Dorf nichts Ungewöhnliches, die meisten Leute sangen oder spielten ein wenig Trommel oder Flöte. Doch kaum jemand sang wie mein Dad. Als meine Mutter gestorben war, hatte es niemanden überrascht, dass er wieder auf Reisen gegangen war; für Kost und Logis gesungen hatte, wie er es auch getan hatte, als er ihr das erste Mal begegnet war.
Die Leute brachten ein wenig von dem, was sie eben hatten, um für seine Musik zu zahlen. Und mit diesen Gaben und dem, was ich an Medizin eintauschte, hatten wir genug Vorräte für den Winter, obwohl ich nichts eingelagert hatte, wie ich es normalerweise tat. Ich hatte mir keine Gedanken darum gemacht, ob es genug Nahrung zu essen oder genug Holz zum Verbrennen gab.
Ich hatte mir keine Sorgen um mich selbst gemacht, weil ich mich gerne meiner kleinen Familie in ihren kalten Gräbern angeschlossen hätte. Mit meinem Dad an meiner Seite roch dieser Weg jetzt nach Feigheit – und wenn ich das ab und zu vergaß, erinnerte mich der kühle Blick meines Dads daran.
Doch es fühlte sich seltsam an, niemanden zu haben, um den ich mich kümmern musste; so lange Zeit über war ich das Oberhaupt einer Familie gewesen. Ich pflegte mich nicht um meinen Dad zu sorgen, denn vom Wesen her brauchte er niemanden, der Aufhebens um ihn machte. Er hatte seine Kindheit überlebt – nicht, dass er je mit mir darüber gesprochen hätte, abgesehen davon, dass sie hart gewesen war. Meine Ma hatte allerdings gewusst, was er durchlebt hatte. Sie war stolz auf ihn gewesen, weil er sich durchgebissen hatte, und ihm daher mit noch mehr Zärtlichkeit begegnet, aber natürlich hatte seine Vergangenheit sie auch traurig gestimmt. Ich wusste nur, dass er sein Zuhause verlassen hatte, als er noch grün hinter den Ohren gewesen war. Er war gereist und gediehen in einer Welt, die Fremden insgesamt ablehnend gegenüberstand.
Er war zäh, wodurch er selbstbewusst genug war, die Familie meiner Ma zum Rückzug zu zwingen, als sie Einspruch dagegen erhoben hatten, dass sie einen Mann von außerhalb des Dorfes heiratete. Er war klug – und noch wichtiger, er war weise. Wenn er etwas zu Dorfangelegenheiten sagte, was er nicht oft tat, hörten die Dörfler auf ihn.
Er hatte es überlebt, nach dem Tod meiner Mutter durch die Welt zu reisen – und er trug immer noch diese Freude in sich, die mein Zuhause mehr wärmte als die Scheite auf dem Herd –, obwohl die Kälte, die vom Tod meiner Kleinen und ihrer Ma zurückgelassen worden war, tief reichte.
Mein Dad, er konnte alles überleben … und sein Beispiel zwang mich dazu, dasselbe zu tun. Selbst wenn ich es gar nicht wollte.
Meine Großmutter kam in der kürzesten Nacht des Jahres zu uns, als der Vollmond am Himmel stand. Ich war zu meinen Pflichten als Dorfheiler zurückgekehrt, also dachte ich nicht mal daran, ein Klopfen mitten in der Nacht ungehört verklingen zu lassen. Dad hatte sich an meine nächtlichen Besucher gewöhnt, die nun einmal das Los eines Heilers waren. Er regte sich nicht, obwohl ich mir sicher war, dass er nicht schlief.
Ich öffnete die Tür, um eine Fremde vorzufinden. Sie war eine wild wirkende junge Frau mit Haar, das in struppigen, verknoteten Strähnen über ihren Rücken bis zu ihren Knien fiel. Ihr Gesicht war unheimlich und so schön, dass ich das Biest, das neben ihr kauerte, kaum beachtete, trotz seiner riesigen Größe.
»Der Sohn«, sagte sie zu mir. Die Magie fließt stark in dir. Ihre Stimme hallte in meinem Kopf wider.
»Nein«, sagte mein Dad, der in dem Moment auf die Beine gesprungen war, als ich die Tür öffnete. Er trat zwischen uns. »Du wirst ihn nicht bekommen.«
»Du hättest nicht weglaufen sollen«, erklärte sie ihm. »Aber ich vergebe dir, weil du ein Geschenk mitgebracht hast.«
»Ich werde dir nie willig dienen, Mutter«, sagte mein Dad in einem Ton, den ich bei ihm noch nie gehört hatte. »Ich habe dir gesagt, dass wir miteinander fertig sind.«
»Du sprichst, als ließe ich dir eine Wahl«, entgegnete sie. Sie senkte den Blick, und das Biest, das ich für einen Wolf gehalten hatte, warf sich auf meinen Dad.
Ich packte den Knüppel, den ich neben der Tür aufbewahrte, doch das Biest war schneller als ich. Ihm blieb genug Zeit, seine Zähne im Bauch meines Dads zu vergraben und ihn zwischen uns zu zerren. Ich schlug Dad nur deswegen nicht das Hirn aus dem Schädel, weil ich den Knüppel mitten im Schwung fallen ließ. Und danach gab es keine Möglichkeit mehr, mich zu wehren.
Die Hexe verwandelte uns in Monster – Werwölfe –, auch wenn ich diesen Begriff erst Jahre später hörte. Sie band uns an ihre Dienste mit Hexerei und – noch grausamer – durch ihre Fähigkeit, in unsere Köpfe einzudringen. In diesem Punkt hatte sie mit Dad mehr Probleme als mit dem Rest ihrer Wölfe. Obwohl sie auf mich komplett wie eine junge Frau wirkte, glaube ich, dass sie bereits jahrhundertealt war, als sie an meine Tür klopfte.
Die erste Transformation von Mensch zu Werwolf ist selbst unter den besten Umständen harsch. Ich weiß jetzt, dass die meisten Leute sterben, die brutal genug angegriffen werden, um verwandelt zu werden. Die Hexe hatte einen Weg gefunden einzugreifen – ihre Opfer am Leben zu halten, bis sie zu den Biestern wurden, die sie sich wünschte. Trotzdem wäre ich gestorben, wenn mein Dad mich nicht zurückgehalten hätte. Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf, kühl und befehlend, und ich musste ihm gehorchen, musste leben. Dass er fähig war, das zu tun, während er ein ähnliches Schicksal durchlitt wie ich, liefert einen guten Blick auf den Mann, der mein Dad ist. Ich brauchte lange Jahre, ihm zu verzeihen, dass er mein Überleben ermöglicht hat.
Ich weiß weder, noch will ich es wissen, wie lange ich als Werwolf in den Diensten meiner Großmutter lebte. Es konnte eine Dekade gewesen sein oder Jahrhunderte – auch wenn ich annahm, dass es Letzterem am nächsten kam. Es verging genug Zeit, um meinen Taufnamen zu vergessen. Ich ließ ihn absichtlich hinter mir, weil ich nicht länger diese Person war … aber eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, ihn ganz abzugeben. Mein Name war nicht die einzige Erinnerung, die ich verlor.
Ich konnte mich nicht länger an das Gesicht meiner ersten Frau oder die Gesichter meiner Kinder erinnern. Obwohl ich manchmal in Träumen – selbst all diese Jahrhunderte später – den Ruf »Taid! Taid!« höre, wie ein Kind nach seinem Vater ruft. Ich glaube, die Stimme gehört meinem erstgeborenen Sohn. In dem Traum hat er sich verlaufen, und ich kann ihn nicht finden, egal, wo ich auch suche.
Mein Dad sagt manchmal, dass Vergessen ein Geschenk ist. Wenn ich mich klar an sie erinnerte hätte – mich daran erinnert hätte, was ich einst besessen hatte –, hätte ich meine Zeit in den Diensten der Hexe vielleicht nicht überlebt. Ich lernte, im Augenblick zu leben. Und der Wolf, der meinen Körper und meine Seele teilte, machte mir das einfach: Ein Biest fühlt keinerlei Reue für die Vergangenheit oder Hoffnung für die Zukunft.
Es war einmal eine schöne Jungfer des Feenhofes, die sich von einer Jagdgesellschaft entfernte, um etwas zu jagen, worauf sie in der Ferne einen Blick erhaschte. Irgendwann erreichte sie eine grasbewachsene Lichtung, wo ein fremder, gut aussehender Mann sie mit Speis und Trank erwartete. Sie stärkte sich und blieb bei dem Herrn des Waldes, selbst als der Rest ihrer Gesellschaft sie fand. Sie schickte sie ohne sie an den Hof zurück.
Zeit verging, und sie gebar ein Mädchen, das zu einer talentierten, weisen jungen Frau heranwuchs. In einer menschlichen Erzählung hätte das Paar seine Zeit glücklich bis an sein Lebensende verbracht. Doch die Fae sind nicht menschlich, und sie leben sehr, sehr lange. Glück hält selten bis zum Lebensende, und das galt auch für diese beiden Geliebten. Aber für eine Weile waren sie so glücklich wie andere auch.
Sie nannten ihre Tochter Ariana, was Silber bedeutet, und das Mädchen hatte schon früh eine Begabung für Metall. Als sie heranwuchs, wurde offensichtlich, dass ihre Macht an die höchste Pracht der Feenwelt erinnerte. Als sie das Erwachsenenalter erreichte, überstrahlte ihre Macht sogar die des Herrn des Waldes – und er war jahrhundertealt und durchdrungen von der Magie des Waldes.
Es ist wahr, dass die hochrangigen Fae notorisch launisch sind. Es ist ebenso wahr, dass ein Herr des Waldes zwei Aspekte besitzt: Der erste ist zivilisiert und schön wie jeder der Tuatha Dé Danann, der zweite ist so wild wie der Wald, über den er herrscht. Der Dame des Hohen Hofes wurde irgendwann langweilig, oder vielleicht wurde die Abneigung gegen die ungezähmtere Hälfte ihres Liebhabers zu stark. Wie auch immer der Grund lauten mochte, sie verließ ihre erwachsene Tochter und ihren Geliebten, ohne sich zu verabschieden oder sonst ein Wort zu sagen, und kehrte an den Hof zurück.
Der Herr des Waldes betrauerte seine Geliebte nur kurz, denn auch seine Art ist so oberflächlich in ihrer Zuneigung wie schrecklich in ihrem Hass. Eine Zeit lang liebte er auch nach dem Verschwinden der Frau seine Tochter und erfreute sich an ihr. Doch als ihre Macht seine eigene in den Schatten stellte, wurde er eifersüchtig und gehässig. Als die anderen Fae Arianas Gaben bemerkten und mit Gold und Juwelen an sie herantraten, um an ihrer Magie teilzuhaben, überkam seine Eifersucht seine Liebe und ließ sie zu nichts zerfallen.
Das Rudel legte sich für gewöhnlich im Wald hinter der Hütte der Hexe zur Ruhe. Die Gegend war bergig, aber es war dort nicht besonders kalt, auch wenn der Winter trotzdem Schnee brachte und der Herbst hin und wieder Frost. Wir trugen dicken Pelz, und im Inneren der Hütte war es verraucht und zu warm. Und es roch unangenehm nach verrottenden Dingen, sowohl physisch als auch spirituell.
Ich weiß nicht, wie es meinem Dad und den anderen ging, doch ich war glücklich, die Gegenwart der Hexe so weit wie möglich zu meiden. Sie versteckte uns vor jenen, die ihre Dienste suchten, sowohl als unsichtbarer Schutz – weil sie mit mächtigen und schrecklichen Dingen in Kontakt stand – und auch als Vorsichtsmaßnahme, weil sie uns nur überwiegend kontrollierte. Meinen Dad ließ sie niemals zu nah an sich heran, wenn sie nicht einige der anderen, gehorsameren Wölfe in ihrer Nähe hatte.
Mein Vater, der zusammengerollt etwas abseits lag, hob den Kopf, als ich von der Jagd zurückkehrte. Er stand auf und warf mir einen Blick zu, bevor er sich umdrehte und in den Wald trottete, wo die Blätter sich rötlich und golden verfärbt hatten. Ich zögerte, aber selbst zu dieser Zeit gehörte Gehorsam zu unserer Beziehung. Statt mich hinzulegen und bis zum Morgen zu schlafen, wie ich es vorgehabt hatte, streckte ich mich zweimal und folgte dann seiner Spur, bis ich ihn eingeholt hatte. Obwohl ich nicht hinter mich sah, wusste ich, dass die anderen folgten – wie sie es immer taten.
Zuerst dachte ich, die anderen Wölfe würden uns folgen, um für die Hexe zu spionieren, aber mit der Zeit hatte sich das als Irrtum erwiesen. Es gab sechs von uns Werwölfen … eigentlich sieben, doch wir wussten alle, dass Adda starb. Er hatte Probleme, den Weg entlang bis in die Senke zu stolpern, und bei unserer Rückkehr würde ich ihm helfen müssen, den leichten Abhang zu bewältigen.
Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater einige der Wölfe in seiner Kindheit gekannt hatte, was er allerdings nie bestätigte oder leugnete. Er sprach niemals mit ihnen oder von ihnen, wenn wir in menschlicher Form waren – und sie gaben ihre Wolfsform niemals auf.
Dad hatte eine kleine, geschützte Senke im Windschatten einer umgestürzten Eiche gefunden, kurz nachdem die Hexe uns hierhergebracht hatte. Sie diente dazu, uns zu verstecken, und bot unseren nackten Körpern ein wenig Schutz vor dem Wetter. Obwohl meine menschliche Haut nicht mehr so kalt wurde, wie es der Fall gewesen war, bevor der Wolf in meine Seele gedrungen war, schützte Haut doch nicht so gut wie Pelz. Es war noch nicht Winter, aber die Blätter hatten bereits begonnen, sich in herbstliche Töne zu verfärben, und die Luft war kühl.
Dad begann sich zu verwandeln, sobald wir uns im Schutz der Eiche befanden, doch statt seinem Beispiel zu folgen, wie ich es normalerweise tat, zögerte ich. Das Leben war einfacher, wenn ich den Wolf den Mann beherrschen ließ. Der Wolf tötete und tötete, und es drehte ihm nicht den Magen um und ließ ihn auch nicht um die Kreatur trauern, die er einmal gewesen war.
Dad sah, dass ich zögerte, und knurrte mich an – eine Forderung, die der Wolf nicht missachten konnte, selbst wenn ich das gewollt hätte.
Es tat weh. Ich weiß nicht, wie mein Vater überhaupt herausgefunden hatte, dass wir uns in Menschen zurückverwandeln konnten. Ich konnte mich an das erste Mal nicht erinnern – wenn ich zu lange darüber nachdachte, gab es zu viele Dinge, an die ich mich nicht gut erinnern konnte. Es hatte mich eine Weile gekostet, zu verstehen, dass meine Großmutter – wann immer sie sich entschied, meinen Schmerz zu verwenden, um ihre Magie zu nähren – mir manchmal mehr stahl als Blut und Fleisch.
Haare, die in Haut verschwanden, fühlten sich an wie Bienenstiche. Das Knacken von Knochen war nicht weniger schmerzhaft als ein richtiger Bruch. Die Hexe wollte nicht, dass ihre Wölfe sich in Menschen verwandelten, aber das war mir damals nicht bewusst. Ich verstand nicht, dass ihre Magie gegen die Verwandlung kämpfte – ich wusste nur, dass es schmerzte. Sie musste gewusst haben, dass wir in unsere menschliche Haut wechselten. Ich weiß nicht, warum sie uns nicht unterbrach. Vielleicht fürchtete sie meinen Vater mehr, als sie sich anmerken ließ.
»Wieso tun wir das immer noch?«, fragte ich Dad, während ich nach wie vor auf Händen und Knien lag und vor Anstrengung zitterte. »Was hilft es uns, außer uns daran zu erinnern, wer wir einst waren?«
Er sah mich stirnrunzelnd an. »Ich habe deiner Mutter ein Versprechen gegeben, Junge. Als ich ihr erzählt habe, welches Blut ich trage, habe ich ihr versprochen, niemals zu erlauben, dass du in den Händen meiner Mutter verbleibst. Wenn du deine Menschlichkeit an den Wolf verlierst – dann hat meine Mutter gewonnen.«
Ich stand auf, wartete, bis ich fest auf den Beinen stand, anschließend hob ich die Hände und drehte mich langsam, damit er mich in meiner Gesamtheit betrachten konnte, nackt und dreckig. »Es ist mehr daran, ein Mensch zu sein, als die Ähnlichkeit in der Gestalt, Dad. Ich habe die Menschlichkeit so weit hinter mir gelassen …«
»Nein«, knurrte er. Er deutete mit dem Kinn auf die anderen Wölfe. »Nicht so wie sie. Du kennst den Unterschied zwischen Richtig und Falsch. Gut und Böse.«
»Es wäre einfacher, wenn ich das vergessen könnte.« Ich wusste, was er sagen würde, noch bevor er es aussprach; er mochte kein Selbstmitleid, mein Dad.
»Einfacher heißt nicht besser.« Sonst sagte er nichts. Wir sprachen niemals viel in solchen Momenten, wenn er von mir verlangte, die menschliche Gestalt anzunehmen. Was gab es schon zu sagen? Keiner von uns wollte von Menschen reden, die bereits lange tot waren, und auch nicht vom letzten Tag oder dem, der morgen kam.
Dad glaubte, dass seine Mutter selbstgefällig werden und einen Fehler machen würde. Ich hatte angenommen, er hätte solche falschen Hoffnungen längst hinter sich gelassen. Jahre und Jahrzehnte und dann unzählige Jahrzehnte mehr hatten meinen Glauben abgetragen, wie der Fluss Gestein erodiert. Aber ich liebte meinen Dad und wollte ihn mit meinem Unglauben nicht verletzen – sollte er doch an ein besseres Ende glauben, als ich es mir ausmalen konnte. Das Ende würde kommen, egal, was wir auch glaubten. Und er fand Trost in der Zukunft, die er für uns erträumte. Ich erzählte ihm nicht, dass wir, selbst wenn wir uns befreien sollten, immer noch die Monster wären, zu denen sie uns gemacht hatte. Mein Dad war ein kluger Mann, also wusste er das genauso gut wie ich.
Die anderen Wölfe warteten, die Blicke unverwandt auf meinen Dad gerichtet. Doch es war das leise Wimmern von Adda, dem mein Vater nachgab. Er setzte sich auf den Boden, warf den Kopf in den Nacken und sang. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Eiche und lauschte.
Seine Stimme hatte das Zittern des Alters verloren, das ich im letzten Winter bemerkt hatte, den wir gemeinsam als Menschen verbracht hatten, genau wie wir beide kein graues Haar und tiefe Falten mehr hatten. Wieder verjüngt durch die Magie meiner Großmutter oder den Biss des Wolfes – ich hatte keinen Grund, nachzuforschen oder mich dafür zu interessieren.
Mein Vater hatte kein Instrument außer dem, mit dem er geboren worden war, doch das war in der Tat ausgezeichnet. Wenn er sang, drängten sich die anderen nah heran, aber er sah nur den sterbenden Wolf an, der seine Schnauze schwer atmend auf den nackten Schenkel meines Vaters legte. Die Musik und die Berührung der Hand meines Dads schienen ihn zu laben.
Hexen nutzten das Leid anderer für ihre Macht … und ein Werwolf konnte sehr lange leiden, bevor er starb. Das erste Anzeichen dafür, dass Adda dem Tod anheimfiel, war der Moment, als seine Ohren nicht mehr richtig nachwuchsen. Wenn wir gesund waren, konnten wir verlorene Teile nachwachsen lassen. Statt ihn in Ruhe zu lassen, ihn wieder Kraft sammeln zu lassen, wie sie es ein oder zwei Mal mit den anderen getan hatte, hatte die Hexe ihm seine linke Vorderpfote genommen, als sie seinen Schmerz für ihre Macht ernten wollte. Wir alle taten für ihn, was wir konnten. Wenn er starb, würde sie wieder mehr Zeit mit uns verbringen, bis jemand anderes anfing, an Kraft zu verlieren. Dann würde sie ihn auswählen und Stück für Stück töten.
Es hatte zwei andere Wölfe gegeben, die diesen langsamen Tod gestorben waren, doch für sie hatte mein Vater nicht gesungen. Er hatte in all den Jahren unserer Gefangenschaft nicht gesungen, bis dieser Wolf sich ohne Worte an ihn gewandt hatte. Ich wusste nicht, wieso dieser Wolf anders war – und ich fragte ihn nicht danach.
Nach einer Weile schloss ich mich Dads Gesang an. Unsere Stimmen ergänzten sich so gut, wie sie es immer getan hatten. Die Musik schmerzte mich mehr als die Verwandlung in einen Menschen, weil die Musik an bessere Tage erinnerte; Tage, an denen ich geliebt hatte und im Gegenzug geliebt worden war; Tage, in denen der Wechsel der Jahreszeiten eine Bedeutung gehabt hatte. Doch es schmerzte noch mehr, nicht zu singen. Überdies … wie konnte ich nicht singen, wenn es meinem Vater ein wenig Freude brachte, selbst an den finstersten Tagen.
Als die Veränderung kam, schlich sie sich an mich heran. Als sie Einzug hielt, erkannte ich sie nicht als das, was sie war. Es war noch Herbst, die Nächte waren allerdings schon länger, und ich roch den stechenden Duft von Schnee in der Luft. Nicht heute oder morgen, aber irgendwann in der nächsten Woche würde es einen Schneesturm geben.
Ich hielt mich nicht weit von der Hütte auf, als ich einen vom leuchtenden Volk entdeckte, der die Hexe besuchte. Das war ungewöhnlich, weil das leuchtende Volk, die Tylwyth Teg, ihre eigenen Kräfte und nichts mit Hexerei zu schaffen hatten. Er war, wie sie alle, schön: groß, mit Augen so dunkelblau wie die See im Winter unter dunklem Himmel. Seine Haut schien silbrig, mit dunklen Rissen darin, wie die Rinde der Bedwyn.
Bevor meine Großmutter mich in dieses Biest verwandelt hatte, hatte ich nie einen Fae gesehen – auch wenn ich Geschichten von ihnen gehört hatte. Ihr Anblick war immer noch selten genug, um Interesse zu erregen. Nach einem kurzen Zögern verließ ich die Spur des Kaninchens, die ich verfolgt hatte, um stattdessen dem Fae nachzuschleichen.
Wie er durch die Reste der Herbstblätter im Wald der Hexe stampfte, ohne eine Waffe in der Hand und ohne sich auch nur einmal umzusehen, sah er aus, als wäre er einfache Beute.
Ich wusste es besser.
Die Fae waren zäh, brutal und tödlich – besonders diejenigen, die durch den Wald schritten, als gehöre er ihnen. Die unbedeutenderen Fae hielten sich überwiegend in den Schatten auf, fern von Wesen mit großen, scharfen Zähnen. Dieser hier gehörte nicht zu den Tuatha Dé Danann, den hochrangigen Lords, die meine Großmutter vor allem fürchtete, also verpflichteten mich ihre magischen Fesseln nicht, ihr sein Eindringen zur Kenntnis zu bringen. Doch er war eine Macht; ich konnte die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit des Waldes spüren.
Ich schlich näher heran, um meiner Nase eine bessere Einschätzung dieses Fae zu erlauben. Seine Fährte roch nach Bitterkeit und Eifersucht – kleinen, jämmerlichen Gefühlen, obwohl seine Körpersprache und die Aufmerksamkeit des Waldes von Macht sprachen. Ich hielt mich außer Sicht, als er direkt zu der Lichtung ging, welche die Hexe sich als ihr Zuhause erwählt hatte.
Er klopfte energisch an die Tür, und meine Großmutter öffnete. Sie trug ein dünnes Hemdkleid, das nichts der Vorstellungskraft überließ, und ihr dichtes, sandfarbenes Haar glänzte in der Sonne wie Honig, der über ihre Schultern und Hüften floss. Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie einen Blick auf ihren Gast erhaschte, doch sie trat aus der Tür zurück und ließ ihn ohne Protest eintreten.
Neugier brachte mich dazu, um die Seite des Gebäudes zu schleichen und mein Ohr an die Wand zu pressen. Sie wusste nicht, dass wir hören konnten, was in der Hütte vor sich ging, und wir verrieten es ihr auch nicht.
»Ich bin überrascht«, sagte meine Großmutter kokett, »Euresgleichen zu sehen, der einer wie mir seine Aufwartung macht.«
Sie war hübsch, meine Großmutter, aber nicht so schön wie das leuchtende Volk; und sie war auch nicht dumm. Wenn sie kokett klang, dann um den Fae dazu zu bringen, sie als weniger zu sehen, als sie war. Mächtige Dinge in dieser Welt verbeugten sich nicht, machten keine Kratzfüße und krochen nicht; sie griffen an, mit jeder Menge Vorwarnzeit.
»Ich bin der Herr dieses Waldes«, erklärte er ihr.
Sie glaubte, der Wald gehöre ihr; tatsächlich nannten die Einheimischen ihn den Hexenwald.
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete sie ohne Zögern, ihre Verachtung hinterhältig versteckt. »Die Vögel flüstern mir das zu, und der Wind vibriert von Eurer Macht. Aber vor zwei Nächten kamen zwei Fae-Windhunde zu mir. Sie trugen Pelze in Weiß und Rost, und daran habe ich die Furchthunde erkannt, die Hiobshunde von einst. Sie waren so Angst einflößend, dass sie drohten, mir das Herz im Leib einfrieren zu lassen. Sie kamen in meine Träume und sagten mir, sie wären gegangen und dass Ihr sie nicht länger in Gehorsam halten könnt. Sie haben sich von Eurer Leine losgerissen. Solche Kreaturen geben keine guten Sklaven ab, so haben sie es mir berichtet.« Ihre Stimme klang unschuldig und leicht – doch ich konnte die Häme darin hören.
»Gib acht, Hexe!«, sagte er.
»Sie haben ein Versprechen und eine Warnung für Euch hinterlassen«, sagte sie mit weicherer Stimme. »Sie sagten, die Macht, die Ihr weggeworfen habt, um Eure Eitelkeit zu fördern, wird nicht zu Euch zurückkehren, weil die Gefolgsleute des geopferten Gottes Eure Küsten erreicht haben. Schon jetzt windet sich das Land unter dem Feenhügel unter ihrem kalten Eisen und noch kälteren Gebeten. In ein paar Jahrhunderten werden sie die Magie in diesem Land binden, und all die Fae werden machtlos vor ihnen stehen.«
Ich hörte etwas – das Geräusch einer flachen Hand, die auf die Haut einer Wange trifft – und grinste innerlich, da mir keiner von beiden auch nur das Geringste bedeutete. Er hatte sie geschlagen und würde teuer dafür bezahlen.
»Du überspannst den Bogen, Hexe«, knurrte er. »Du bist hier bloß geduldet. Deine Gegenwart entwürdigt meinen Wald mit Schmutz, und du ziehst die Sterblichen, die dich aufsuchen, durch meine Ländereien.«
Es folgte ein kurzer Moment der Stille.
Ich fragte mich, ob wir uns heute Abend wohl an einem Herrn des Waldes gütlich tun würden. Ich leckte mir die Lefzen. Die Jagd war schlechter geworden in dem Bereich um die Hütte, den wir ohne Erlaubnis der Hexe durchstreifen durften … und sie war nicht geneigt gewesen, uns zu erlauben, auf der Jagd weitere Kreise zu ziehen.
»Ich wollte nicht respektlos sein, Sir«, sagte sie in einem kriecherischen Tonfall, dem es gelang, Angst und Respekt zu vermitteln. O ja, dachte ich, wir würden uns von diesem hier nähren. »Ich leite nur Informationen weiter, die mir gegeben wurden. Ich dachte, Ihr wärt gekommen, weil Ihr etwas von mir bräuchtet. Seid Ihr gekommen, um mich zu vertreiben?«
Ich konnte das Rascheln von Stoff hören, als er auf und ab ging.
»Ich muss meine Hunde erneut rufen«, sagte der Fae-Lord, seine Stimme tief und bösartig. »Sie haben eine Aufgabe für mich zu erfüllen. Du wirst das ermöglichen … oder du wirst dir keine Sorgen mehr darum machen müssen, wo du vielleicht lebst.«
»Ja, ja, natürlich. Ich verstehe, Sir.« Ihre Stimme war süßlich und weich wie Honig. »Geht es bei Eurem Bedürfnis um Leben und Tod? Oder nur um einen Wunsch?«
Es folgte eine lange Stille.
»Ich kann Euch nicht helfen, wenn Ihr es mir nicht sagt«, flehte sie. »Meine Magie reagiert auf Bedarf. Ich muss wissen, was Ihr wollt und wie sehr Ihr es wollt.« Ich fragte mich, wieso der Fae die Lüge nicht so deutlich hören konnte wie ich – doch er kannte sie nicht, und sie log sehr gut. Die Fae logen gar nicht, also waren sie nicht immer gut darin, Unwahrheiten zu erkennen, wenn sie geäußert wurden.
»Ja.« Seine Antwort kam zögerlich. »Leben und Tod. Ich habe jemandem mein Wort gegeben, der mich zerstören wird, wenn ich mein Versprechen nicht halten kann.«
»Dann kann ich etwas tun«, sagte meine Großmutter entschlossen, als hätte sich dieser kriecherische Tonfall niemals in ihre Stimme geschlichen. »Ich kann Euch die Macht geben, Hunde zu rufen. Aber, wie Ihr sicherlich wisst, meine Macht beruht auf Opfern. Diese Aufgabe werdet Ihr teuer erkaufen müssen.«
»Nicht einfach irgendwelche Hunde«, sagte er scharf, weil er glaubte, ihre Falle erkannt zu haben. Die Fae logen nicht, doch Irreführung war für sie eine Kunstform. »Die magischen Biester.«
Ich musste die Hexe nicht lächeln sehen, um ihre Befriedigung zu spüren, als er in ihre Falle tappte, ohne sie auch bloß zu erkennen. Er war Beute, egal, wie mächtig er auch sein mochte. Er war nicht klug genug, ihr zu entkommen – und sie würde ihm weder den Schlag noch die Drohung verzeihen.
»Magische Biester in hundeähnlicher Form«, stellte sie klar. Er hatte ihr nicht zugehört. Sie hatte ihm erklärt, dass er nicht fähig sein würde, die Fae-Hunde erneut zu rufen. Aber meine Großmutter war nicht Fae. Sie konnte ständig lügen – und sie tat es auch, wann immer es ihr gefiel. Doch ich konnte erkennen, dass sie in diesem Punkt nicht gelogen hatte. Magische Biester in hundeähnlicher Gestalt – das waren wohl wir.
Sie hatte vor, ihn Wölfe rufen zu lassen, wenn er damit rechnete, dass seine eigenen Hunde seinem Ruf folgten. Vielleicht konnte er uns ja wirklich kontrollieren, wenn er die Fae-Hiobshunde kontrolliert hatte, die Furcht einflößende Biester waren. Für eine Weile.
»Ja«, sagte der Herr des Waldes, ohne ihre Formulierung infrage zu stellen. Schließlich reagierte sie nur auf sein Verlangen, die Forderung klarzustellen. Er kam nicht auf die Idee, sie zu fragen, was für andere magische, hundeähnliche Biester sich in der Nähe aufhielten.
Ich wusste nicht, ob er wahrhaft dumm war oder ob er die Bedrohung nicht erkannte, die sie darstellte. Die Fae waren stolz, damals noch schlimmer als heute; als sie herrschten und die Menschen sie fürchteten. Sie nahmen Bedrohungen, die nicht den Kreisen der Fae entsprangen, selten wahr.
»Das kann ich tun«, sagte sie langsam, als hätte sie darüber nachdenken müssen. »Ihr werdet mir ein Pfund Silber bezahlen.«
»Schön«, sagte er unbeschwert, obwohl das mehr war, als sie sonst in zehn Jahren Arbeit gesehen hätte.
»Das sind die Kosten, die Ihr mir schuldet«, erklärte sie ihm. »Doch die Magie wird Euch Eure Hand kosten – alle Hexenmagie hat einen Preis, und den kann ich nicht für Euch tragen. Ihr könnt entscheiden, ob es die Rechte oder die Linke wird.«
Schweigen breitete sich in der Hütte aus. Ich zog mich zurück, bevor sich das änderte. Wenn sie bemerkte, dass ich dort war, würde sie mich dazu bringen, die Hand zu nehmen – einfach, weil sie wusste, dass es mich verletzen würde. Es bestand die geringe Möglichkeit, dass sie es selbst tun würde; sie genoss es, Schmerz zuzufügen. Aber Knochen sind schwer zu durchtrennen – und die Wut dieses Lords würde sich gegen denjenigen richten, der ihm seine Hand nahm. Wahrscheinlich würde es Dafydd sein, der unser Rudel anführte. Sollte Dafydd dem Fae doch die Hand abkauen; er würde es mehr genießen als ich.
Dafydd war nicht der Name, mit dem der Anführer unseres Wolfsrudels geboren worden war, genauso wenig, wie mein Vater Selyf oder ich Sawyl war – David, Solomon und Samuel. Die Hexe änderte unsere Namen jedes Mal, wenn sie umzog – was sie tat, wenn sie die Stimmung überkam. Manchmal zogen wir jeden Monat in einem Jahr um. Manchmal blieben wir an einem Ort, wie hier, für Dekaden. In dieser Zeit und an diesem Ort gefiel es meiner Großmutter, Namen zu benutzen, die sie in den Geschichten der Gefolgsleute des geopferten Gottes gefunden hatte. Ich wusste nicht warum, und es war mir auch egal.
Ich hatte meine eigenen Namen vergessen. Sawyl oder Samuel würde ausreichen. Wie auch immer sie ihn allerdings nannte, mein Dad, er war Bran – und das konnte sie mir nicht wegnehmen.
Die kleine Kobold-Frau tat ihr Bestes, Befehle zu befolgen, egal, wie sehr ihr Herz auch schmerzte. Haida säuberte das zitternde, verängstigte Ding, das einst ihre Lady war, ohne darauf zu achten, wie es zuckte oder brabbelte oder weinte – genau, wie man sie angewiesen hatte. Sie ignorierte auch, wie die Magie um das Wesen waberte, unbeständig, elend und … tödlich.
Haida bedeckte die offenen Wunden mit einer Salbe, die sie am Morgen aus Pflanzen, die sie im Draußen gesammelt hatte, selbst angefertigt hatte. Weder sie noch ihre Lady vertrauten irgendetwas in ihrem Zuhause: Es war instabil und spiegelte den Wahnsinn seines Herrn. In einer früheren Zeit wäre das nicht gefährlich gewesen: Das Land unter dem Feenhügel war riesig und robust genug gewesen, um sich von spirituellen Wunden zu heilen. Doch Annwnn verlor die Verbindung zur gewöhnlichen Welt und wurde launisch. Die Klugen unter denjenigen, die im Haus des Herrn des Waldes im Land unter dem Feenhügel wohnten, aßen und tranken nichts, was über Nacht in den Schränken gestanden, oder irgendetwas, was länger als einen Tag in diesem Heim verweilt hatte.
Als die Kobold-Frau für die Wunden getan hatte, was mit ihren Salben eben möglich war, bedeckte sie die zitternde Form mit Kleidung und Juwelen an silbernen Ketten, dann begann sie damit, der Kreatur auf einen Stuhl zu helfen, wo sie sitzen und essen konnte.
»Sieh mich nicht als Person, wenn ich so bin«, hatte ihre Lady zu ihr gesagt. »Ich weiß, dass ich aussehe wie ich selbst, aber ich bin es nicht. Es ist ein Biest. Ein gefährliches Biest. Sei wachsam und vorsichtig. Du allein kannst mir helfen, meinen Vater zu schlagen.«
Ihre Lady war klug, viel klüger als Haida, also befolgte sie ihre Anweisungen genau. Nahrung.
»Esst«, drängte der Kobold das Ding, das einmal ihre Lady gewesen war. Bald wieder sein würde. Es war schon früher gelungen, also würde es das auch diesmal. »Es ist nur ein wenig Brot und eine Honigwabe. Es wird Euch guttun.«
Haida nahm einen Bissen, um dem Ding sowohl zu zeigen, dass es essbar war, als auch, dass Haida vielleicht alles aufessen würde, wenn das Biest nicht bald zugriff. Welche Logik es auch immer anwandte, das vernarbte und zerstörte Ding aß, sobald Haida geschluckt hatte. Während es das alles zu sich nahm, verbanden sich die äußerlich zerstörten Teile – Knochen und Sehnen – wieder zu einer angenehmeren Form, bis das Biest wieder Haidas Lady ähnelte – zumindest äußerlich.
Haidas Lady, Ariana, war von beiden Seiten ihrer Blutlinie mit starker Magie beschenkt. Die Magie erlaubte ihr, sich von Verletzungen zu erholen, die einen Kobold getötet hätten. Ihr Vater war ein Herr des Waldes, ein unabhängiger, aber mächtiger Fae, ihre Mutter eine hochrangige Dame der höchsten Höfe – oh, wäre sie nur hier. Doch es war Jahre her, dass Arianas Mutter verschwunden war, und sie hatte auf keine Botschaft und kein Flehen geantwortet, die von der Kobold-Frau gesandt worden waren, die ihr einst so treu gedient hatte und jetzt ihrer Tochter diente.
Gerade in dem Moment, in dem Haida über ihre Klagen an die Mutter ihrer Lady nachdachte, begann das Gebäude um sie herum zu stöhnen und sich zu bewegen. Gestört von ihren Sorgen oder, wahrscheinlicher, dem Aufruhr des Biests. So viel Macht in den Händen des wütenden, traumatisierten Biests, das Arianas Körper erfüllte, bedeutete nichts Gutes. Und Haidas Wut verstärkte noch den Zustand ihres Heims. In Bezug auf beide Probleme konnte sie etwas unternehmen … und hoffentlich würde sich dann ihr Stück von Annwnn ein wenig beruhigen.
Haida konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und trug ein weiteres Tablett mit Essen an den Tisch; Essen, das sie heute Morgen aus drei verschiedenen Dörfern gestohlen hatte, um zu verhindern, dass die Menschen dem Abhandenkommen zu viel Aufmerksamkeit schenkten. Das Essen diente dem doppelten Zweck, das Biest von dem abzulenken, was den Boden instabil gemacht hatte, und ihre Lady zusätzlich zu stärken.
Das Biest aß alles, was Haida bereitstellen konnte, dann sah es sie aus Augen an, die vollkommen schwarz waren. In allen anderen Aspekten sah das Biest jetzt aus wie ihre Lady, wenn auch verletzt und angeschlagen – aber die Augen zeigten immer ein unendlich tiefes Schwarz.
»Eines ist noch notwendig«, erklärte das Biest mit einer Stimme, die heiser war vom Schreien und verzerrt durch Terror und Erschöpfung. Dass es sprach, bedeutete, dass ihre Lady nahe war.
»Ja«, stimmte Haida ihm zu und bereitete sich vor, einen Nebel über die neuesten Erinnerungen des Biests zu legen.
Wie die meisten unbedeutenderen Fae konnte auch Haida ein paar Dinge sehr gut. Doch ihre Magie war wilder und ließ sich nicht leicht in kleine Zauber oder Bindungen zwingen. Die Erinnerungen des Biests zu vernebeln fiel ihr schwer, und wenn es sich gegen die Magie wehrte, war sie gar nicht dazu fähig. Haida musste allerdings die Erinnerungen nicht lange in Schach halten, nur lange genug.
Haida berührte die Stirn des Biests. Das Biest packte Haidas Hand und knurrte. »Sawyl. Samuel. Samuel Weißwolf«, sagte es.
Haida wartete. Die Magie des Biests war zäh und floss an dem Kobold vorbei wie ein Winterwind, beißend und unangenehm.
»Samuel«, murmelte das Biest sanfter, klang dabei zu sehr wie ihre Lady. Es gab Haida frei und rieb sich die Augen, während es flüsterte: »Sie kommen, die Wölfe. Tod kommt mit ihnen. Erinnere dich daran.«
Das Biest verfügte über Kräfte, die ihre Lady nicht befehligte; Mächte, die eher an Haidas eigene erinnerten, wenn auch viel mächtiger. Der Kobold bezweifelte keinen Moment, dass die Worte etwas bedeuteten. Wahrscheinlich war das Prophezeite schlimm, weil nichts Gutes der Hässlichkeit des Biestes entspringen konnte – das hatte ihre Lady Haida erklärt, und davon war Haida überzeugt.
Als das Biest keine Anstalten machte, noch etwas zu sagen, berührte der Kobold erneut sanft die Kreatur und vollendete die Aufgabe, die das Gerede über Wölfe unterbrochen hatte. Sobald sie die korrekte Form von Magie in sich fühlte, ließ sie den Zauber auf das Biest übergehen. Sie tätschelte seine Stirn und sagte: »Vergiss. Lass den Nebel das Schlimmste verbergen und das Beste verweilen.«
Ihre Magie verließ sie und kleidete die Erinnerungen des Biests in Freundlichkeit; etwas, was nur möglich war, weil das Biest es erlaubte. Die Veränderung folgte sofort – das schreckliche Biest verblasste.
Statt des schrecklichen, verwundeten Dings blinzelte ihre Lady zu Haida auf. Die Schwärze zog sich zurück, bis sie bloß noch in den Pupillen verweilte und ihre großen Augen smaragdgrün leuchteten. Offene Wunden wurden von tiefbrauner Haut verdrängt, Narben von einem Glamour versteckt, bis sie nicht anders aussah als immer.
»Kobold?«, sagte sie, ein wenig verwirrt, aber nicht verzweifelt.
Ihre Lady sah sich in der Küche um, in Haidas Reich. Es war so aufgeräumt und ordentlich wie immer, wenn auch nicht so prachtvoll wie der Rest des Hauses. Der Kobold fühlte, wie die moosbedeckten Wände der Küche, die sich verängstigt vor dem Biest zurückgezogen hatten, wieder ihren ursprünglichen Platz einnahmen – doch die Stille vermittelte eher ein abwartendes Gefühl als die Aura eines friedvollen Heims, und sie machte sich Sorgen.
»Ja, Milady«, sagte der Kobold traurig, weil die Verwirrung in der Miene ihrer Lady von schlimmeren Dingen verdrängt wurde, als die Magie, die Haida gewirkt hatte, sich auflöste und die Erinnerungen wieder ihren Platz forderten. Ihre Lady musste nur für diesen kurzen Augenblick vergessen … damit sie den Mut aufbrachte, ihre Macht und ihren Körper vom Biest zurückzufordern.
Arianas Vater, der Herr des Waldes, besaß eine doppelte Natur. Er hatte einmal die Gestalt der Elfen und zum zweiten die der Wald-Fae. Arianas Biest entsprang diesem Erbe – aber hätte ihr Vater sie nicht mit dem Schmerz und dem Terror der Hunde gefoltert, die er befehligte, wäre es nie in Erscheinung getreten. Das Biest, eine Kreatur des Waldes, konnte sich – anders als Ariana – keinem direkten Befehl des Herrn des Waldes widersetzen –, und was als Bestrafung begonnen hatte, hatte nützliche Frucht für Arianas Vater getragen.
Haidas Lady atmete tief durch und sah auf ihre Hände herab, bewegte sanft die Finger, bevor sie sie zu Fäusten ballte.
»Ich erinnere mich diesmal nicht an alles, was das Biest getan hat«, sagte sie angespannt. »Hat es vollendet, was er von uns will?«
Haida schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mistress. Eure Magie reicht über meinen Horizont. Ihr werdet Euch selbst ansehen müssen, was ihr geschaffen habt.«
Die kleine Kobold-Frau, grünlich-grau und von Kopf bis Fuß mit drahtigem Haar bedeckt, stand dem Herz der Magie näher als die Tylwyth Teg, die hochrangigeren Fae wie Ariana. Haida war wie eine Schäferin, die sich um die Herden kümmerte, und Ariana die Weberin, die aus ihrer Wolle Teppiche webte. Keiner von beiden war kunstfertiger oder mächtiger als der andere, sondern sie hatten lediglich verschiedene Begabungen. Andere Fae als Ariana, Haida eingeschlossen, sahen das anders. Für sie waren die unbedeutenderen Fae schwach. Doch für ihren Vater zitterte und stöhnte ihr Zuhause, während nur Haida ihm Trost spenden konnte. Ariana wusste: Hätte es Haida nicht gegeben, hätte sie sich schon vor langer Zeit an das Biest verloren.
Ariana schüttelte die Reste des schattenhaften Schleiers ab, den der Kobold gewirkt hatte, bereit, sich den Folgen der Befehle ihres Vaters und des Gehorsams des Biests zu stellen. Die ersten paar Male war sie fähig gewesen, sich zu erinnern, was sie getan hatte, nachdem ihr Vater sie auf ihren anderen Aspekt reduziert hatte. Doch nach und nach hatten die Erinnerungen an Klarheit verloren. Dieses Mal, wie bereits das letzte Mal, konnte sie sich an nichts mehr erinnern, nachdem sie unter der Welle des Terrors zusammengebrochen war, welche der Magie der Hiobshunde entsprang.
Es würde ihrem Vater gelingen, sie zu zerstören. Sie konnte nur hoffen, dass er daraus keinen Gewinn zog. Sie fürchtete sich so sehr davor, auch dabei zu versagen.
Ariana stand vorsichtig auf, aber obwohl sie noch schwach war und die Welt sich um sie drehte, verschwand der Schmerz der Verletzungen schnell.
»Wie lange diesmal?«, fragte Ariana Haida, als sie die Küche verließ und in der aufrechten Haltung, die ihre Mutter ihr vor ihrem Verschwinden eingebläut hatte, durch den Flur schritt. Der Vorteil eleganter Bewegung lag darin, sich darauf konzentrieren zu müssen, sodass man nicht umfiel. Jedes Mal, wenn ihre nackten Füße den Boden berührten, zog sie Magie aus der Erde, um sich zu stärken – so wie die Nahrung, die sie gegessen hatte, sie gekräftigt hatte.
»Vier Tage«, erklärte ihr Haida. »Er ist verschwunden, sobald die Hunde ihr Werk vollendet hatten.«
Das war ungewöhnlich. Er überwachte ihre Arbeit gerne – auch wenn das, was sie tat, so weit außerhalb seiner Waldmagie lag, dass er dem Wirken nicht folgen konnte. Da war etwas, woran sie sich in Bezug auf die Hunde erinnern sollte …
Die Farbe von altem Blut und Schnee, mit Zähnen, die an ihrem Fleisch rissen, brachten die Hunde genug Schmerz und Entsetzen, um sie für immer erstarren zu lassen. Das war die Gabe der weiß-roten Hunde des Herrn des Waldes – Terror, der den Atem und das Herz zum Stillstand brachte.
»Milady?«
Nicht das. Daran durfte sie nicht zurückdenken, sonst konnte sie die Kontrolle nicht halten. Wenn sie auf ihren anderen Aspekt reduziert wurde – denjenigen, der lediglich den Befehlen der Macht folgen konnte, die einem Herrn des Waldes die Herrschaft über die Biester in seinem Forst verlieh –, wäre alles verloren.
Inzwischen war nichts mehr übrig von dem Vater, der sie geliebt hatte. Von demjenigen, der mit ihr lange Spaziergänge im Wald gemacht und ihr beigebracht hatte, mit den zitternden Weiden und den Eichen mit ihren tiefen Stimmen zu sprechen. So wie nichts übrig war von der Tochter, die ihn geliebt hatte – und geglaubt, er könne nichts falsch machen.
Er hatte ihr erklärt, dass er einen Auftrag für sie hatte, für den er gut bezahlt worden war, in Gefallen und in Macht – die Macht war es, nach der er sich verzehrte, fast so sehr, wie er sie auf etwas reduziert sehen wollte, was ihm nur gehorchen konnte; etwas, worauf er nicht eifersüchtig sein musste. Sie sollte eine Waffe anfertigen, die eingesetzt werden konnte, um den Fae, den Tuatha Dé Danann, den Kobolden und allem dazwischen die Macht zu entziehen.
Ihr Vater konnte oder wollte nicht über sein eigentliches Ziel hinaussehen, um zu begreifen, was ein solches Artefakt bedeutete.
Er war nicht der einzige Fae, der unter der wachsenden Flut von Eisen im Land an Macht verloren hatte; noch gehörte er zu den korruptesten. Der Tuatha Dé Danann, der den Auftrag für das Artefakt gegeben hatte, war mächtig – doch es gab andere, die noch stärker waren. Die reine Existenz des Artefakts würde einen Krieg auslösen, der nicht enden konnte, bis es niemanden mehr gab, der seinen Besitz erstrebte. Letztendlich würde das Ding, das sie schaffen sollte, das Ende der Fae und von allem herbeiführen, was sie in ihrem Kampf zerstörten.
Ihr Vater, geblendet von Gier, war entschlossen, sie dazu zu zwingen, ihre Magie einzusetzen, um das Artefakt zu schaffen. Sie war noch entschlossener, dass ihm das nicht gelingen sollte.
Ariana bog in ihr Arbeitszimmer ab und sah den faustgroßen Silberklumpen an, der auf dem Tisch lag. Sobald sie ihn hochhob, verstand sie, dass sie versagt hatte.
»Der hauptsächliche Zauber ist gelegt«, erklärte sie Haida heiser. Sie hielt die Zerstörung der Welt in Händen. »Wir sind ruiniert.«
»Könnt Ihr es einsetzen, um ihn zu zerstören?«, fragte die Kobold-Dienerin, immer praktisch veranlagt.
»Wenn allein sein Anblick meine Knie weich werden lässt?«, fragte Ariana verbittert. »Er hat mich verändert. Hat mich zu einer verängstigten, machtlosen Kreatur gemacht, die seinen Befehlen gehorcht wie seine Hunde. Ich kann in seiner Gegenwart nicht gegen ihn vorgehen.« Früher einmal war sie starken Willens und mächtig gewesen. Doch jetzt war sie nichts, ein bloßer Schatten dessen, was sie gewesen war – dem Willen ihres Vaters untertan außer in diesen gestohlenen Momenten.
Allerdings war da etwas in Bezug auf die Hunde ihres Vaters, etwas, woran sie sich erinnern sollte.
»Dann sind wir erledigt«, sagte Haida einfach, bevor sie taktvoll die Hand leckte, um im Anschluss die Haare auf ihrer Wange zu glätten. »Wenn Ihr vollendet habt, was er wollte, sollten wir gehen. Er wird uns folgen – er kann nicht sein, was er ist, und uns nicht jagen. Aber zuerst wird er mit seinem neuen Spielzeug spielen. Das wird uns die Möglichkeit eröffnen, uns in der Welt zu verlieren. Ich kann uns viele Tage vor den Hunden verborgen halten. Meine Magie ist nicht mächtig, aber subtil.«
Mutiger Kobold. Haida betrachtete immer das Problem und fand den besten Weg aus ihrer Situation zu einer, in der sie vielleicht überleben konnte.
Ariana nahm sich ein Beispiel an ihr und musterte, was bereits getan und innerhalb des Silbers versiegelt war. Bis zu diesem Erwachen in der Abwesenheit ihres Vaters war es ihr immer möglich gewesen, die Arbeit zu zerstören, die sie geleistet hatte, ehe er es bemerkte. Sobald ein Zauber im Silber versiegelt war, konnte sie ihn nicht mehr auflösen – genauso wenig wie irgendjemand anderes. Sie hob die Hand und beobachtete, wie das Silber ihre Magie rief.
»Wie ich sagte«, erklärte sie Haida langsam, »dies hier wird die Magie jedes Fae fressen, der in seine Nähe kommt.« Sie hielt inne und beobachtete den Lauf der Magie im Silber, weil sie etwas Unerwartetes erkannte, was sie noch verstehen musste. »Vielleicht kann ich den Zufluss verengen, bis es nur noch ein Rinnsal aufnimmt. Wenn es bloß ein wenig Magie frisst, wie viel Schaden kann es da schon anrichten?«
Die Kobold-Frau sank in die Hocke und lächelte, sodass scharfe, grüne Zähne sichtbar wurden. »Ich habe es Euch gesagt. Habe Euch gesagt, dass Ihr ihn überlisten würdet.«
»Wenn er nur seine Hunde rufen muss, um mich mit Entsetzen zu betäuben und seinen Befehlen folgen zu lassen?«, fragte Ariana. »Du bist übermäßig positiv gestimmt. Solange er die Hunde hat …« Und für einen Moment wusste sie, warum er verschwunden war; wusste, dass es wichtig war. Doch sie kam nicht an dem Gedanken an die Hunde vorbei, sodass der Grund für das Verschwinden ihres Vaters ihr einfach entglitt.
Überleben bedeutete, dass sie dem entstehenden Artefakt in ihren Händen Aufmerksamkeit schenken musste – und nicht das Biest in sich rief, indem sie sich in Gedanken mit den Hunden beschäftigte. Sie wandte sich an Haida. »Selbst wenn ich den Sog auf kaum mehr als nichts reduziere, wird das Artefakt nach und nach Macht ansammeln. Ich kann dafür sorgen, dass es Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte dauert. Doch irgendwann wird es genug Magie enthalten, um wertvoll zu sein.«
»Was es enthält, kann jemand nehmen«, stimmte ihr der Kobold zu. »Könnt Ihr das aufhalten?«
»Nein.« Sie war mächtig, aber nicht so mächtig wie andere. Beschränkungen auf das Artefakt zu legen, die niemand brechen könnte, überstieg ihre Macht. Und es wäre nicht weise, das zu tun, selbst wenn sie es könnte. Wenn das Artefakt nichts tat, als herumzuliegen und Magie von den Fae zu stehlen, die an ihm vorbeikamen – irgendwann hätte es alle Magie gefressen und in dem Klumpen Silber konzentriert, der in ihre Handfläche passte. Sie wusste nicht, wie viel das Metall aufnehmen konnte – doch eine explosive Freigabe, wenn das Silber keine zusätzliche Macht mehr aufnehmen konnte, würde eine Zerstörung in einem Ausmaß nach sich ziehen, die sie sich fast nicht vorstellen konnte. Nicht so schrecklich wie das, was passieren würde, wenn das Artefakt fähig wäre, all diese Magie für immer zu halten – denn ohne Magie würde das Leben an sich enden.
»Aber ich kann dafür sorgen, dass die Macht, die es sammelt, sich wieder ins Herz der Magie verflüchtigt.« Das Herz der Magie war der Mittelpunkt der Welt. Magie, die im Herzen gehalten wurde, ergab sich nicht bereitwillig der Hand eines Wirkenden, sondern sorgte dafür, dass der Wind blies und der Regen fiel. Ariana lächelte ihre kleine Freundin fast wild an. »Und so … erfülle ich den Auftrag und hintertreibe doch die Pläne meines Vaters.« Sie dachte darüber nach, wie sie es anstellen sollte. »Ich brauche dich dafür, Haida, und wahrscheinlich wird es nicht einfach.«
Haida verbeugte sich tief. »Es ist mir eine Freude, Euch auf jede Weise zu helfen, die mir möglich ist. Aber er selbst wird bald zurückkommen – es sieht ihm nicht ähnlich, so lange abwesend zu sein. Haben wir Zeit?«
»Ja«, sagte das Biest, das jetzt in Ariana hauste. »Die Hunde sind geflohen, und er sucht nach Wegen, sie zurückzuholen.«
Ariana schloss die Augen und atmete zitternd ein, während sie darauf wartete, dass das Biest sich zurückzog. Das war es, woran sie sich hatte erinnern müssen. Die Hunde waren verschwunden.
Sie hätte Erleichterung verspüren sollen, doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ihr Vater gefährlicher war als jemals. Sie konnte ihre Angst vor ihm nicht beruhigen, und diese Angst sorgte dafür, dass das Biest sich erneut regte. Ariana konnte es sich nicht leisten, ihr Biest die Kontrolle übernehmen zu lassen – nicht, wenn sie so feine Magie zu wirken hatte. Sie sammelte sich und sah den Kobold an, der sie wachsam beobachtete.
»Haida, wir können das tun«, sagte sie mit mehr Überzeugung, als sie tatsächlich empfand. »Die Hunde haben seine Leine zerrissen und ihn verlassen. Deswegen ist er gegangen – um die Hunde zurückzuholen. Wir könnten genug Zeit haben, es zu vollbringen.«
Unter Verwendung von Haidas Gefühl für die wilde Magie, die in den kleinsten Dingen verweilte und dem Herz der Magie näherstand, arbeitete Ariana, bis der Kobold sie dazu brachte, innezuhalten und zu essen. Dann arbeitete sie noch ein wenig, wobei sie der ständige Sog des entstehenden Artefaktes nur leicht behinderte.
Die reine Langsamkeit seiner Wirkung war der Beweis, dass ihr anderes Selbst ebenfalls am Versuch teilhatte, den Schaden zu minimieren, den das Artefakt anrichten konnte – etwas, dessen sie sich keineswegs sicher gewesen war. Das Biest hatte die Möglichkeit gesehen, dieses Artefakt fast harmlos werden zu lassen – genau, wie Ariana es getan hatte –, und sich in gewisser Weise als Verbündeter erwiesen.
Ein Fae mit durchschnittlicher Macht würde das Artefakt, welches das Biest geschaffen hatte, wochenlang in seinem Besitz haben können, bevor es einen relevanten Einfluss auf seine Macht ausübte. So viel war dem Biest gelungen.
Ariana verlor jedes Zeitgefühl; sie war todmüde, weshalb sie gar nicht bemerkt hatte, dass das Biest ihr zu Hilfe gekommen war. Als sie wieder zu sich kam, hielt sie einen silbernen Vogel in der Hand und hatte gerade noch genug Magie in ihrem Körper, um zu erkennen, dass es ein fertiges Artefakt war, versiegelt und vollkommen. Doch sie konnte nicht erkennen, ob sie ihren Zweck erreicht hatte oder nicht.
Sie umfasste den kleinen Silbervogel mit den Händen, die vor Erschöpfung zitterten, so wie es auch die Wände um sie herum taten. Dies war das Haus ihres Vaters, und er war nicht erfreut über diejenigen, die gegen ihn arbeiteten.
»Es ist vollbracht«, erklärte sie Haida, die sich ganz in der Nähe aufhielt. »Kannst du sagen, ob es zum Guten oder zum Schlechten ist? Ich habe bei seiner Erschaffung meine Magie ausgebrannt.«
»Lasst den Silbervogel zurück«, sagte Haida. »Er wird ihn ablenken … und möge er ihm viel Gutes bringen. Ich bin nicht wie Ihr, besitze nicht die Gaben, um ein Artefakt zu lesen. Ihr habt getan, was Ihr tun konntet. Kommt, lasst uns diesen Ort verlassen, bevor er in voller Absicht zusammenbricht. Das Land unter dem Feenhügel ist nicht länger stabil und wütend auf uns.«