Arbeit und das gute Leben - Esther Konieczny - E-Book

Arbeit und das gute Leben E-Book

Esther Konieczny

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Beschreibung

Die Zukunft der Arbeit liegt in der Sorge füreinander Arbeit ist das halbe Leben, sagt uns ein Sprichwort. Doch was trägt Arbeit eigentlich zu einem guten Leben bei? Und wo liegt der Schlüssel zu Glück und gesellschaftlichem Wohlstand? Esther Konieczny und Lena Stoßberger wollen im Angesicht von individueller Erschöpfung, gesellschaftlicher Spaltung und Klimakrise Arbeit radikal neu denken. Um echten Wohlstand zu erreichen, sollten wir die Fürsorge für Mensch, Gesellschaft und Planeten zum Ausgangspunkt unternehmerischer Tätigkeit machen. Wie dies möglich ist, zeigen die Autorinnen am Beispiel der sogenannten Caring Companies, die den Verführungen eines wachstumshungrigen Kapitalismus widerstehen – und neue Standards für Zeit- und Beziehungswohlstand setzen.

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Seitenzahl: 123

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Esther Konieczny / Lena Stoßberger

Arbeit und das gute Leben

Wie wir Wohlstand neu erfinden

Originalausgabe

© Atrium AG, Zürich, 2024

Copyright © 2024 Esther Konieczny, Lena Stoßberger

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Monika Kempf Literaturagentur.

Covergestaltung: Annemike Werth, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-235-4

 

www.atrium-verlag.com

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Unseren Töchtern

Hannah

Maria

Liv

Care-sensible Wende, die; <Sprachmischung Deutsch/Englisch>; [keə(r) zɛn'ziːblə 'vɛndə]; beschreibt den Übergang von einer patriarchalen Ordnung von Arbeit und Wirtschaft hin zu einer partnerschaftlichen Kultur, in der das Prinzip der Fürsorge für Mensch, Gesellschaft und Welt zum Ausgangspunkt allen wirtschaftlichen Handelns wird. Im Ergebnis erzeugt die care-sensible Wende eine Form von Wohlstand, die nicht nur auf wirtschaftlicher Leistung beruht, sondern auch das Wohlergehen von Mensch und Planeten abbildet.

Kapitel 1Die Leistungsgesellschaft schafft sich selber ab

Während wir dieses Buch schreiben und uns mit den Zusammenhängen von Arbeit, Leistungsgesellschaft, Erschöpfung und Fürsorge beschäftigen, blockieren aufgebrachte Bäuerinnen und Bauern das Berliner Regierungsviertel und ziehen vor das Brandenburger Tor. Die Kundgebung ist der Höhepunkt einer bundesweiten Protestwoche der Landwirt:innen. Viele Medien begleiten die Proteste mit Hysterie und Häme, der Stern titelt etwa polemisch, ob Wirtschaftsminister Robert Habeck in Anbetracht der enormen Wut, die sich hier offenbart, wohl um sein Leben fürchte. Erst am Tag zuvor war das Brandenburger Tor noch Schauplatz einer der ersten großen Demonstrationen gegen die AfD geworden. Wenige Tage vorher hatte ein investigatives Journalist:innen-Team aufgedeckt, dass die rechtspopulistische, bisweilen rechtsradikale Partei in konspirativen Kreisen eine Wiederholung des düstersten Kapitels deutscher Geschichte plant.[1] Ein Weckruf, der in den nächsten Wochen deutschlandweit für Demonstrationen Hunderttausender Menschen sorgt. Zu dieser ganz realen Angst vor dem Rechtsruck in der Gesellschaft und der hitzigen bis gewaltvollen Debatte um Subventionsabbau in der Landwirtschaft gesellt sich das Dauerbrennthema Klimapolitik. In jenen Tagen laufen die deutschen Umweltverbände und NGOs Sturm gegen die Entscheidung der Bundesregierung, das geplante Klimageld in dieser Legislaturperiode nicht mehr umzusetzen. Das Klimageld sollte ein zentraler Hebel sein, um den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft gerechter zu gestalten, der vor dem Hintergrund der wachsenden Bedrohung durch die Klimakatastrophe immer dringlicher wird.

Im Angesicht all dieser Nachrichten scheint es, als kämen wir nicht mehr zur Ruhe. Spätestens seit der Jahrhundertkrise Corona wirkt es, als hätte jemand am Lautstärkeregler gedreht. Die Krisen und krisenhaften Phänomene, die schon vor Ausbruch der Pandemie Realität waren – die gesellschaftlichen Spaltungstendenzen, die wachsende Ungerechtigkeit, der erstarkende Rechtspopulismus, die Verrohung in der öffentlichen Debatte und natürlich die Klimakatastrophe –, haben eine dröhnende Allgegenwart entwickelt: Sie sind da, sie sind immer dichter, und sie sind nicht mehr zu überhören. Gesellschaft im Dauerstress. Die Krise hat offenbar ihren Singular verloren. Polykrise, Mehrfach- oder multiple Krisen sind die Schlagworte, die das Phänomen beschreiben sollen, das die meisten von uns entweder in eine dauerhafte Aufgeregtheit versetzt oder in die innere Resignation abdriften lässt.

Dabei werden sprachliche Mauern hochgezogen, an denen jede Auseinandersetzung nur noch abprallen kann. Die Folge: Kommunikation endet immer häufiger und Verständigung wird unmöglich. Statt Verständigung, statt einander zuzuhören haben Beleidigungen, Schmähungen, sogar Gewaltandrohungen Hochkonjunktur. Die Wut, die in sozialen Medien zum guten Ton gehört, wird bedrohlicher und rückt erschreckend nahe: Während des Europawahlkampfs im Frühjahr 2024 kommt es gleich zu mehreren gewaltvollen Übergriffen auf politische Mandatsträger:innen und Wahlkampfhelfer:innen.

Hinter diesen Angriffen und der Gereiztheit der gegenwärtigen Debatten lässt sich ein Mangel erkennen, der sich wie ein Virus durch die Gesellschaft frisst: Es ist der Mangel an Anerkennung und Wertschätzung, der sich hinter der lauten Wut versteckt.[2]

Schauen wir uns um, gehen wir wachen Auges durchs Leben, können wir deutlich beobachten: Anerkennung und Wertschätzung sind heute aufs Engste an Erfolg gekoppelt. Was Erfolg ist, wie er schmeckt, riecht und aussieht, erzählen uns die zahlreichen und ständig wechselnden Insignien einer durch und durch ökonomisierten Gegenwart: Bilder, Storys und Konsumtrophäen.

Leistung und Wettbewerb, die normativen Grundpfeiler der kapitalistischen Marktwirtschaft, haben längst sämtliche Lebensbereiche kolonisiert. Als Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft gehen wir der Mär auf den Leim, Erfolg sei ausschließlich das Ergebnis individueller Leistung – und nicht etwa eine glückliche Fügung aus Herkunft, Hautfarbe, Erbschaft oder Zufall. Wer hier nicht mithalten kann, verliert Anerkennung, dem wird Wertschätzung entzogen. Wer versagt, gehört nicht mehr dazu.

In einem solchen Hochdrucksystem aus Wettbewerb und Konkurrenz fällt es schwer, sich auf andere Menschen und Perspektiven einzulassen, genauso wie auf Veränderungen. Subventionsabbau? Einwanderung? Energie- und Mobilitätswende? Jeder Wandel, jede Transformation muss unter diesen Bedingungen an der individuellen Sorge scheitern, aus dem System katapultiert zu werden, zu verlieren. Abstiegsangst, überall.

Ein solches System, so stellte es Erich Fromm in seiner kapitalismuskritischen Schrift Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft bereits 1976 fest, muss zu »notorisch unglücklichen Menschen führen«. Überfluss, die »Liebe zum Konsum«[3] und eine Wachstumsobsession sind Indizien dafür, dass das »Haben« dem »Sein« in den westlichen Wohlstandsgesellschaften deutlich überlegen ist.

Es steht außer Frage und ist ausreichend empirisch belegt, dass zu einem zufriedenen Leben die materielle Befriedigung von Grundbedürfnissen – also immer auch ein gewisses Maß an »Haben« – dazugehört. Bekannt ist allerdings auch, dass zwischen Einkommen und subjektivem Glücksgefühl eine Schwelle besteht: Ab einem bestimmten Punkt führen Einkommenszuwächse nicht mehr zu einer Zunahme von Zufriedenheit und Glück.

Die Glücksforschung bestätigt, was Fromm vorausahnte. In einer Langzeitstudie haben Wissenschaftler:innen der Harvard University herausgefunden, dass es einen generalisierbaren Faktor gibt, der sich als der wichtigste für ein glückliches Leben herausstellt: Es sind gute Beziehungen. Es sind die Beziehungen zu unserer Familie und unseren Freund:innen, zu Kolleg:innen und Nachbar:innen, selbst Zufallsbegegnungen können unser Wohlbefinden und Glücksgefühl steigern. Es ist also das Sein, weniger das Haben, das uns zu dauerhaft glücklichen Menschen macht.

Dieses Ergebnis aus mehr als achtzig Jahren Forschung könnte man auch so beschreiben: Was der Mensch braucht, ist die Gewissheit, in Beziehung zu sein. Als soziale Wesen brauchen wir einander – das beginnt etwa mit einem unverbindlichen Gespräch in der Tram und endet in der gegenseitigen Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen der jeweils anderen Person. Der Begriff, der dieses menschliche Urbedürfnis auf den Punkt bringt, ist Fürsorge.

Während wir also unser Buch schreiben und auf all die gesellschaftlichen Spannungen und die aktuellen Krisen – allen voran die Klimakrise – schauen, drängt sich der Gedanke auf, dass sie Ausdruck einer Seins-Krise sind: Der Mangel an Beziehung und Fürsorge zugunsten der Dominanz wachstums- und leistungsorientierter Werte hat uns als Gesellschaft in diesen instabilen, prekären Zustand katapultiert.[4]

Uns ist die Fürsorge abhandengekommen – und hiermit meinen wir nicht die Fürsorge in ihrer »tätigen« Form als Fürsorgearbeit, sondern als Wert, an dem sich alles Handeln, auch das wirtschaftliche, ausrichtet.

Die Werte, an denen wir heute Wirtschaft ausrichten, und die Prinzipien, die wir hieraus für die Gestaltung von Arbeit ableiten – Konkurrenz, Machtstreben, Gier –, sind mitverantwortlich für die großen Krisen und gesellschaftlichen Spannungen der Gegenwart. Die Ökonomisierung besetzt teils schleichend, teils breitschultrig alle Lebensbereiche und verdrängt damit alternative Entwürfe und Wertvorstellungen.

Wenn wir als Gesellschaft den Krisen unserer Gegenwart etwas entgegenhalten wollen, müssen wir genau hier ansetzen: Wir müssen Fürsorge, oder Care, zu einem Leitstern wirtschaftlichen Handelns machen. Das Ergebnis ist eine fürsorgende Wirtschaft, die nicht länger fragt: »Was ist gut für das Wachstum des Systems?«, sie fragt: »Was ist gut für den Menschen?«[5] Eine solche Wirtschaft kann es uns ermöglichen, den Zustand der Mehrfachkrisen zu überwinden, wieder zueinander zu finden und gemeinsam Lösungswege auszuhandeln.

 

Im Zentrum des Buches steht die Frage, wie wir Arbeit und Wirtschaft so gestalten können, dass sie dem Menschen, der Gesellschaft und dem Planeten dienen und das »gute Leben« ermöglichen. Wir verfolgen die These, dass die Anerkennung und Aufwertung von »Fürsorge« zentrale Hebel für diese Neugestaltung sind. Im ersten Teil des Buches erläutern wir den Zusammenhang von Arbeit und Wirtschaft und der Bedeutung des menschlichen Bedürfnisses nach Fürsorge. Im zweiten Teil widmen wir uns der Frage, wie eine »fürsorgende Wirtschaft« gelingen kann. Wir stellen sieben Unternehmen vor, die einen neuen Weg einschlagen und den Wert der Fürsorge zum Orientierungspunkt allen wirtschaftlichen Handelns und der Gestaltung von (Zusammen-)Arbeit machen. Abschließend formulieren wir in Kapitel 3 verschiedene Handlungsfelder, die für Unternehmen, die einen neuen, lebensdienlichen Weg suchen, das Anfangen ermöglichen.

1 Wie die Fürsorge verschwand

Der Philosoph Jean-Pierre Wils schreibt in seinem Essay Der große Riss über die Corona-Pandemie: »Das Virus mutierte zur eigenwilligen Aufklärungsinstanz: Covid-19 zeigte wie unter einer Lupe auf den instabilen Zustand unseres Zusammenlebens.« Aufklärerisch wirkte das Virus, weil es einem Begriff, der bis zu diesem Zeitpunkt vor allem in feministischen und pädagogischen Kreisen verhandelt wurde, eine steile Karriere ermöglichte: In Anbetracht von geschlossenen Schulen und Kindergärten, überlastetem Pflegepersonal, vereinsamten Menschen in Altenheimen und gelockdownten Eltern fiel das Scheinwerferlicht auf all die fürsorgenden, pflegenden und kümmernden Tätigkeiten, die wir als Care oder Fürsorgearbeit bezeichnen.

Das Fürsorgende und die damit verbundene Arbeit fristeten bis zum Ausbruch der Pandemie ein eher stilles, schattenhaftes Dasein in unserer umtriebigen Gegenwart. Erst der pandemische Stillstand, das Erleben von Vereinzelung, Einsamkeit und radikaler Verunsicherung lehrten uns den eigentlichen Wert von Fürsorge. Fürsorge ist dabei nicht nur eine Tätigkeit, die man abarbeitet wie die Punkte einer To-do-Liste. Fürsorge ist emotionale Arbeit, Fürsorge braucht Zeit, ist Beziehung und als solche ein menschliches Grundbedürfnis. In seiner gebenden wie nehmenden Form ist Fürsorge überlebenswichtig, allgegenwärtig und nicht auf Lebensphasen wie Kindheit oder Alter begrenzt. In unserem Verständnis ist Fürsorge auch weit mehr als fürsorgliche Tätigkeiten im familiären Kontext. Wir können sagen: Die Sorge füreinander ist das, was uns im Kern als Menschen ausmacht und uns im gesellschaftlichen Zusammenhang ein friedliches Miteinander erst ermöglicht. Einer anderen Person aus einer schwierigen Lage zu helfen, so wird die bedeutende US-amerikanische Kulturanthropologin Margaret Mead häufig zitiert, sei der eigentliche Beginn der Zivilisation.

Wenn die Pandemie den »instabilen Zustand unseres Zusammenlebens« so deutlich zeigte, wie Wils schreibt, dann wohl genau deshalb: weil sie wie keine andere Krise zuvor offenbarte, dass wir Fürsorge als gesellschaftlichen Wert aus dem Blick verloren haben.

Die Vernachlässigung von Fürsorge ist folgenreich für die Art, wie wir unser gesellschaftliches Miteinander gestalten, für unseren Begriff von Wohlstand und für unser Verständnis dessen, was wir als das »gute Leben« bezeichnen.

Wenn wir verstehen wollen, wie die Fürsorge aus unserem Wertekanon verschwand, müssen wir zurückblicken.

It’s for free! … oder doch nicht?

Der Entwertung von Fürsorge geht eine Geschichte der Trennung voraus, die mit der Industrialisierung ihren Anfang nahm: Mit der Entstehung von Städten und Fabriken im industriellen Zeitalter war die Idee der Lohnarbeit geboren, die die Menschen von Haus und Hof weglockte, um in den Fabriken die eigene Arbeitskraft gegen Geld einzutauschen. Die noch in der Agrargesellschaft so relevante wirtschaftliche Einheit »Haushalt« – eine Gemeinschaft, die sich auch unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen dem Ziel der gemeinsamen Versorgung verschrieb – zerfiel in zwei Teile. Der private Haushalt war geboren, dem von nun an der öffentliche Markt gegenüberstand.

Die Trennung war folgenreich, denn mit ihr wurde das System Wirtschaft aus der Idee einer fürsorgenden Gemeinschaft entlassen. Arbeit wurde von nun an zweigeteilt, in einen sogenannten produktiven Teil, der als Erwerbsarbeit in der Sphäre des Marktes stattfindet, und einen reproduktiven, der als sorgende Tätigkeiten im Privaten erfolgt.

Die kapitalistische Industriegesellschaft hat also eine Ordnung geschaffen, die uns bis heute glauben macht, dass nur in einer der beiden Sphären von Tätigkeiten, nämlich in der Sphäre des Marktes, durch Arbeit »Mehr-Wert« geschaffen werde und so »Wertschöpfung« entstehe.

Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch sprachlich wider: Wer heute von »Arbeit« spricht, meint in aller Regel Erwerbsarbeit. Zahlreiche andere Tätigkeiten, die dem (für-)sorgenden, privaten Bereich zugeordnet sind wie Haus- und Familienarbeit, aber auch Formen der Freiwilligenarbeit wie etwa politisches oder gemeinnütziges Engagement, tauchen in unserer Bedeutungswelt von Arbeit kaum auf. Der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List spöttelte schon vor mehr als 170 Jahren über diese unterkomplexe Zweiteilung von Arbeit und die marktverliebte Überbetonung von Erwerbsarbeit, als er schrieb: »Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.«[6]

Was die Erzählung der Zweiteilung von Arbeit verschleiert: Jede marktseitige Wertschöpfung ist immer erst möglich, weil andere fürsorgende Arbeiten im Privaten erledigt werden. Auf diese vermeintlich kostenlose Ressource greifen Markt und Unternehmen immer wieder »maßlos und sorglos«[7] zurück. Der private Raum, den die Marktökonomie geschaffen hat, ist ein sozialer Raum, in dem Kinder aufwachsen und umsorgt werden, in dem Kranke genesen und Alte gepflegt werden, in dem Leistungsfähigkeit überhaupt erst hergestellt und erhalten wird. Und zugleich ist dieser Raum ein Krisenpuffer für die emotionalen, physischen wie psychischen Kollateralschäden, die der Markt erst erzeugt.

Jede Form von Care ist damit zwar eine unentbehrliche Ressource und Voraussetzung für den Markt – und so selbst ein produktiver Akt –, doch ihr Wert für die Geld- und Marktwirtschaft bleibt bis heute und trotz Corona weitestgehend unsichtbar: Weder in ökonomischen Modellen noch in Wirtschaftsrechnungen oder volkswirtschaftlichen Kennzahlen findet sie Niederschlag. Zwölf Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit werden laut der OXFAM-Studie »Im Schatten der Profite«[8] täglich weltweit in der privaten »Schattenwirtschaft« geleistet. Und sie werden größtenteils von Frauen und Mädchen geleistet. Denn mit der kapitalistischen Marktökonomie wurde Sorgearbeit nicht nur zur Ausbeutungsressource; mit ihrer Entwertung wurde zugleich eine Geschlechterhierarchie festgeschrieben: Die (sorgende) Frau wurde zur heimlichen Dienerklasse des (erwerbstätigen) Mannes, wie es John Kenneth Galbraith, einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, beschrieb. Er bezeichnete diese (Unter-)Ordnung sarkastisch als eine ökonomische Leistung ersten Ranges.[9]

Der faktischen Trennung von Haushalt und Wirtschaft folgte also ein normatives Über- und Unterordnungsverhältnis, das einerseits den »Wert« von Arbeit bestimmt und andererseits diese Wertzuschreibung mit einer geschlechtlichen Diskriminierung verknüpft. Die Vorstellung, dass Frauen für das Sorgen und Umsorgen von Menschen, für solche »Akte aus Liebe«, besser geeignet seien als Männer und dass diese Arbeit, eben weil sie »aus Liebe« erfolge, nicht wirtschaftlich bewertet werden solle, hält sich bis heute hartnäckig und kann von feministischen Bewegungen nur unter großer Anstrengung Stück für Stück abgetragen werden.

In der Lebensrealität von Frauen wiegt dieses Über- und Unterordnungsverhältnis, das wir auch als eine patriarchale Ordnung von Arbeit beschreiben können, bis heute schwer bis existenziell bedrohlich. Die unterschiedlichen Gender-Gaps bringen den Einfluss deutlich zum Ausdruck: Angefangen bei der nach wie vor bestehenden Lohnlücke von rund zwanzig Prozent zwischen den Geschlechtern (Gender Pay Gap) über die Lebenseinkommenslücke, die Frauen mit der Geburt des ersten Kindes meilenweit hinter das Lebenseinkommen von Männern zurückwirft (Gender Lifetime Earning Gap), bis hin zur Sorgearbeitslücke (Gender Care Gap) – Frauen bleiben in der patriarchalen Ordnung wirtschaftlich auf der Strecke. Auch das heutige Nebeneinander von Erwerbs- und Care-Arbeit hat den wenigsten Frauen eine Absicherung beschert, die mit den Standards von Männern vergleichbar ist. Die Geringschätzung von lebensgebenden und lebenserhaltenden Leistungen zeigt sich für viele Frauen im Rentenalter: In Deutschland erhalten sie durchschnittlich 46 Prozent weniger Rente als Männer, in der Schweiz 37 Prozent (2020)[10] und in Österreich beträgt die Lücke zwischen Männern und Frauen 42 Prozent (2019) – zulasten der Frauen, versteht sich.[11] Damit ist Deutschland im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern Spitzenreiter bei einer weiteren geschlechtsspezifischen Lücke, dem Gender Pension Gap. Im Jahr 2021