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Rechtspopulistische Parteien verzeichnen bei Wählerinnen und Wählern aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung Erfolge. Gerade bei Arbeiterinnen und Arbeitern stoßen sie jedoch besonders häufig auf Zustimmung. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Gefühle verletzter sozialer Gerechtigkeit und politischer Obdachlosigkeit verbinden sich mit fremdenfeindlichen Ressentiments. Rechte Orientierungen sind auch im Denken gewerkschaftlich organisierter und aktiver Arbeiterinnen und Arbeiter, bei Betriebsräten und ehrenamtlichen Funktionären, weitverbreitet. Das Buch nimmt diese Entwicklung zum Ausgangspunkt. Es versammelt Beiträge, die sich damit beschäftigen, weshalb rechtspopulistische Formationen bei Produktionsarbeiterinnen und -arbeitern überdurchschnittlichen Anklang finden und wie sich dieser autoritären Revolte wirksam begegnen lässt. Mit Beiträgen unter anderem von Brigitte Aulenbacher, Sophie Bose, Annelie Buntenbach, Silke van Dyk, Jörg Flecker, Dora Fonseca, Stefanie Graefe, Wilhelm Heitmeyer, Gudrun Hentges, Arlie Hochschild, Dirk Jörke, Klaus Kraemer, Adam Mrozowicki, Andreas Nölke, Birgit Sauer, Dieter Sauer und Hans-Jürgen Urban
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Seitenzahl: 514
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Karina Becker, Klaus Dörre, Peter Reif-Spirek (Hg.)
Arbeiterbewegung von rechts?
Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Rechtspopulistische Parteien verzeichnen bei Wählerinnen und Wählern aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung Erfolge. Gerade bei Arbeiterinnen und Arbeitern stoßen sie jedoch besonders häufig auf Zustimmung. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Gefühle verletzter sozialer Gerechtigkeit und politischer Obdachlosigkeit verbinden sich mit fremdenfeindlichen Ressentiments. Rechte Orientierungen sind auch im Denken gewerkschaftlich organisierter und aktiver Arbeiterinnen und Arbeiter, bei Betriebsräten und ehrenamtlichen Funktionären, weitverbreitet. Das Buch nimmt diese Entwicklung zum Ausgangspunkt.
Es versammelt Beiträge, die sich damit beschäftigen, weshalb rechtspopulistische Formationen bei Produktionsarbeiterinnen und -arbeitern überdurchschnittlichen Anklang finden und wie sich dieser autoritären Revolte wirksam begegnen lässt.
Mit Beiträgen unter anderem von Brigitte Aulenbacher, Sophie Bose, Annelie Buntenbach, Silke van Dyk, Jörg Flecker, Dora Fonseca, Stefanie Graefe, Wilhelm Heitmeyer, Gudrun Hentges, Arlie Hochschild, Dirk Jörke, Klaus Kraemer, Adam Mrozowicki, Andreas Nölke, Birgit Sauer, Dieter Sauer und Hans-Jürgen Urban
Vita
Karina Becker, Dr. phil., ist wissenschaftliche Geschäftsführerin der DFG-Kollegforscher_innengruppe »Postwachstumsgesellschaften« an der Universität Jena.
Klaus Dörre ist geschäftsführender Direktor der DFG-Kollegforscher_innengruppe »Postwachstumsgesellschaften« und Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena.
Peter Reif-Spirek ist Sozialwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.
Karina Becker, Klaus Dörre und Peter Reif-Spirek: Zur Einführung: Arbeiterbewegung von rechts?
Die Bundestagswahl 2017
Der Rechtspopulismus und seine soziale Basis
Literatur
Teil I — Grundlagen: Was ist Populismus? Was macht ihn rechts? Warum ist er für die Arbeiterschaft attraktiv?
Warum Trump? Fremd in ihrem Land: Interview mit Arlie Russell Hochschild
Brigitte Aulenbacher: Die gespaltene Gesellschaft und die Transformation des Kapitalismus: Über Arlie Hochschilds »Reise ins Herz der amerikanischen Rechten« mit Blick auf die Situation in Europa
1. Einleitung
2. »Großes Paradox« und »Tiefengeschichte«: Abstiegserfahrungen in einer gespaltenen Gesellschaft
3. Die Transformation des Kapitalismus: Eine polanyische »Doppelbewegung« und der gesellschaftliche Dialog
Literatur
Klaus Dörre: In der Warteschlange. Rassismus, völkischer Populismus und die Arbeiterfrage
1. In der Warteschlange – eine etwas andere deep story
2. Rassismusdiagnosen
3. Symbolische Kämpfe und Spaltung der Mittelschicht
4. Neuer Bonapartismus, rechtspopulistischer Block und national-soziale Gefahr
5. Epilog
Literatur
Martin Kronauer: Warum und wie die Linke heute für soziale Gerechtigkeit streiten muss
1. Worum es geht
2. Warum es politisch notwendig ist, sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit auseinanderzusetzen
3. Die Doppeldeutigkeit von Gerechtigkeitsprinzipien
4. Gerechtigkeitsprinzipien und Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts
5. Politischer Sprengstoff: Auseinanderdriftende Gesellschaft und enttäuschte Gerechtigkeitserwartungen
6. Pluralität der Gerechtigkeitsprinzipien, Zwiespältigkeit der Ungerechtigkeitserfahrungen und die Notwendigkeit, politisch zu intervenieren
Literatur
Gudrun Hentges: Die populistische Lücke: Flucht, Migration und Neue Rechte
1. Rechtspopulismus in West- und Osteuropa
2. Ergebnisse der SIREN-Studie
3. Sozioökonomische Prozesse
4. Krise der politischen Repräsentation
5. Populistische Lücke
6. Fluchtmigration und soziale Frage
7. Fazit
Literatur
Wilhelm Heitmeyer: Autoritärer Nationalradikalismus: Ein neuer politischer Erfolgstypus zwischen konservativem Rechtspopulismus und gewaltförmigem Rechtsextremismus
1. Gesellschaftliche Eindunkelung
2. Charakterisierung des autoritären Nationalradikalismus
3. Politische Blindheiten etablierter Politik
4. Das Zusammenwirken von ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen zu einem Erfolgskontext
5. Entsicherte Jahrzehnte und ihre Verarbeitung in der Bevölkerung
6. Rechtspopulistische Einstellungen und Radikalisierungen vor dem Auftreten von PEGIDA und der AfD
7. Das Erfolgsinstrumentarium des autoritären Nationalradikalismus
8. Zur Attraktivität des autoritären Nationalradikalismus für verschiedene Sozialgruppen
9. Autoritärer Nationalradikalismus als politisches Wachstumsmodell?
Literatur
Teil II — Empirische Befunde: Arbeiter_innen, Autoritarismus, Gewerkschaften
Jule-Marie Lorenzen, Denis Neumann, Alexandra Seehaus und Vera Trappmann: Rechtspopulismus und Lebenslagen: Das junge Prekariat und die AfD
1. Einleitung
2. Rechtspopulismus als neue soziale Frage von rechts oder autoritärer Illiberalismus?
3. Zwei empirische Fallbeispiele
4. Jugendliche unter 30 Jahren als Klientel der AfD
Wird die soziale Frage neu verhandelt?
Kultureller Illiberalismus bei AfD-SympatisantInnen?
5. Prekarisierung – Ressentiment oder Politik?
Literatur
Harald Wolf: Arbeitsbewegung von links? Gerechtigkeit, Rationalität und Privatismus in der Arbeitswelt
1. Einleitung
2. Gerechtigkeits- und Rationalitätsansprüche in der Erwerbsarbeit
3. Arbeitsbewegung von links? Demokratische Deutungsperspektiven und Verunsicherungserfahrungen in der Erwerbsarbeit
4. Grenzen der Politisierung und Grenzen der empirischen Sozialforschung
Literatur
Annelie Buntenbach: Keine Alternative zur Arbeiterbewegung: Die Anziehungskraft der AfD für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – Eine Herausforderung für Gewerkschaften
1. Einleitung
2. Wer wählt die AfD?
3. Was tun?
Zwischen die AfD und ihr Zielpublikum treten
Gewerkschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und andere zivilgesellschaftliche Akteure stärken und unterstützen
4. Selbst die Initiative ergreifen!
Literatur
Hans-Jürgen Urban: Rechtspopulismus, Gewerkschaften und Demokratiepolitik: Soziologische Befunde und transformatorische Optionen
1. Einleitung
2. Die rechtspopulistische Rebellion
3. Vorläuferdynamiken und Treiber der rechtspopulistischen Bewegung
4. Sozialopportunismus von rechts und Welt der Arbeit
5. Inkludierender Demokratiereformismus und gewerkschaftliche Interessenpolitik
Inklusion als Essential einer Gegenbewegung
Sozialintegration und Betrieb
6. Ausblick
Literatur
Richard Detje und Dieter Sauer: Betriebliche Zustände – Ein Nährboden des Rechtspopulismus? Eine arbeitsweltliche Spurensuche
1. Einleitung
2. Enttabuisierung des Rechtspopulismus im Betrieb
3. »Die IG Metall ist ein toller Haufen, die NPD aber auch«
4. Arbeitsweltlicher Nährboden: Zuspitzung der Problemlagen
5. Abstiegs- und Zukunftsängste in einem Regime der Unsicherheit
6. Repräsentationslücke – oder: der Staat »der anderen«
7. Demokratisierung als Lernprozess – über Systemschranken hinaus
Literatur
Sophie Bose, Jakob Köster und John Lütten: Rechtspopulistische Gewerkschaftsaktive: Gesellschaftsbilder und Einstellungsmuster aktiver Gewerkschaftsmitglieder
1. Einleitung
2. Sample und Methode
3. Gefestigte rechte Gesellschaftsbilder
Völkisches und populistisches Gesellschaftsbild
Ethnisierte Sozialkritik
Identitäres Demokratieverständnis und Gewaltaffinität
»Nationale Leistungsgemeinschaft« und diffuse Systemkritik
4. Übergänge zum Alltagsbewusstsein
Repräsentationsdefizite und autoritäre Antworten
Ressourcenkonkurrenz und gespaltene Belegschaften
»Wir schaffen das nicht« – Ressourcenmangel und Sicherheitsprobleme
Verlust von Homogenität und Bedrohung der deutschen Kultur
5. Fazit – und mögliche Antworten
Sophie Bose: »Klare Kante« gegen rechts? Befunde einer qualitativen Untersuchung zum Umgang der Gewerkschaften mit dem Rechtspopulismus
1. Einleitung
2. Gewerkschaftsverständnis rechter Betriebsräte: Gewerkschaften als unpolitische Dienstleister
3. Der Wandel der Gewerkschaften von Wertegemeinschaften zu Dienstleistungsorganisationen
4. Schwierigkeit der offenen Auseinandersetzung
5. Gewerkschaftlicher Umgang mit rechten Orientierungen: Im Spannungsfeld zwischen »klarer Kante« und allmählichem demokratischem Überzeugen
»Klare Kante« gegen rechts
Allmähliches demokratisches Überzeugen
Keine gemeinsame gewerkschaftliche Strategie
6. Fazit: Handlungsmöglichkeiten und gewerkschaftspolitische Konsequenzen
Literatur
Medienbeiträge und Presseartikel
Teil III — Internationale Perspektiven: Arbeiter_innen und Rechtspopulismus in Europa
Jörg Flecker, Carina Altreiter und Saskja Schindler: Erfolg des Rechtspopulismus durch exkludierende Solidarität? Das Beispiel Österreich
1. Einleitung
2. Rechtspopulismus und die soziale Frage
3. Konzepte der Solidarität und die FPÖ
4. Zusammenfassung
Literatur
Adam Mrozowicki und Justyna Kajta: Rechtspopulismus in Polen
1. Einleitung
2. Der Begriff des Populismus und seine Anwendung auf den Fall Polens
3. Der polnische Kontext: Wer unterstützt »Recht und Gerechtigkeit«?
4. Diskussion und Schlussfolgerungen
Literatur
Elísio Estanque und Dora Fonseca: »Die fliegende Kuh«: Warum Rechtspopulisten in Portugal nicht Fuß fassen
1. Einleitung
2. Populismus: Einige Elemente einer Definition
3. Ist Portugal immun gegen Rechtspopulismus? Historische und politische Gründe für eine zweideutige Bilanz
4. Austerität, das Gespenst des Populismus und die »fliegende Kuh«: Es gibt eine Alternative
5. Fazit
Literatur
Teil IV — Kontroversen: Klassen- und/oder Identitätspolitik?
Dirk Jörke: Moralisierung und die Instrumentalisierung sozialpsychologischer Erklärungen
1. Einleitung
2. Die soziale Basis von Ressentiment und Autoritarismus
3. Moralisierung oder der lachende Dritte
Literatur
Klaus Kraemer: Symbolische Ökonomie des neuen Nationalismus
1. Einleitung
2. Kulturelle »Überfremdung«?
3. Konkurrenz um das Gleiche?
4. Politische Repräsentationskrise?
5. Ungereimtheiten der Erklärungsmodelle
6. Symbolische Ökonomie des Neonationalismus
Aufwertung von ökonomischem Kapital
Transnationalisierung von kulturellem Kapital
Transnationalisierung von sozialem Kapital
7. Fazit: Transnationalisierung und Renationalisierung
Literatur
Birgit Sauer: Radikaler Rechtspopulismus als männliche Identitätspolitik
1. Eine Geschlechterperspektive auf Rechtspopulismus: Einleitung
2. Geschlecht im populistischen Diskurs der radikalen Rechten
3. Die Entstehung der radikalen Rechten und die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen
4. Geschlecht als leerer Signifikant. Ein kurzes demokratiepolitisches Fazit
Literatur
Andreas Nölke: Politische Irrwege beim Umgang mit dem Rechtspopulismus – und eine linkspopuläre Alternative
1. Einleitung
2. Fragwürdige Strategien der Etablierten im Umgang mit der AfD
3. Anti-Rechtspopulismus als erfolgreiche liberale Hegemoniestrategie gegenüber linken Parteien
4. Große Koalitionen als Motor des weiteren AfD-Aufstiegs
5. Die Notwendigkeit der Etablierung einer linkspopulären Position
Literatur
Silke van Dyk und Stefanie Graefe: Identitätspolitik oder Klassenkampf? Über eine falsche Alternative in Zeiten des Rechtspopulismus
1. Einleitung
2. Die Rechtswende als »eine Art politische Notwehr der unteren Schichten«?
3. »Wer rechts wählt, will eigentlich soziale Gerechtigkeit«
4. Identitätspolitik und die Vernachlässigung des Rassismus
5. Fazit oder: Warum gerade jetzt?
Literatur
Anhang
Autorinnen und Autoren
Karina Becker, Klaus Dörre und Peter Reif-Spirek
Die Bundestagswahl im September 2017 markiert eine Zäsur in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik. Das traditionelle deutsche Parteiensystem, gruppiert um die zwei großen Volksparteien CDU und SPD, ist in dieser Wahl zusammengebrochen. Für die Partei Alternative für Deutschland (AfD) bedeutete sie den bundesweiten, parlamentarischen Durchbruch. Damit ist jene historische Phase der bundesdeutschen Geschichte beendet, in der Parteien rechts der CDU, zumal mit offensichtlichen Übergangsbereichen zur extremen Rechten, auf nationaler Ebene politisch nicht erfolgreich agieren konnten. »Die Imprägnierungsschicht gegen Rechtsextreme durch die NS-Geschichtsaufarbeitung ist gerissen« (Reinecke 2017), so ein Kommentar unmittelbar nach der Bundestagswahl. Schon lange sind Mentalitäten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtspopulistische Einstellungsmuster weit verbreitet, wie nicht zuletzt die Langzeit-Untersuchungen Deutsche Zustände von Wilhelm Heitmeyer zeigen. Sie fanden jedoch lange keinen eigenständigen politischen Ausdruck. Das ist nun nicht mehr so. Der Rechtspopulismus hat sich auch in Deutschland auf nationaler Ebene politisch formiert und allein darin liegt bereits ein Moment seiner Radikalisierung.
Mit dem Aufstieg einer radikalen Rechten steht Deutschland nicht allein da. In anderen europäischen Staaten hat eine Stärkung rechtspopulistischer und rechtsextremer politischer Formationen bereits deutlich früher stattgefunden. In einigen nordeuropäischen Ländern, in Italien oder in Österreich werden solche Formationen nunmehr als Koalitionspartner demokratischer Parteien akzeptiert. Das ist in Deutschland noch nicht der Fall. Aber schon jetzt gelingt es dem Rechtspopulismus auch hierzulande, das politische Klima zu beeinflussen und die Ausrichtung der anderen Parteien nach rechts zu verschieben. Das ist vor allem in den Auseinandersetzungen zur Migrations- und Flüchtlingspolitik erkennbar.
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in anderen europäischen Ländern spricht derzeit wenig für eine schnelle Rückkehr zu jener demokratischen Stabilität, die einst die Bonner Republik auszeichnete. Vielmehr haben wir uns auf eine langwierige Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus einzustellen. Die politische Agenda des nächsten Jahrzehnts wird in Europa vom Kampf gegen den Rechtspopulismus und die Re-Nationalisierung der Politik geprägt sein.
Neben der FDP war vor allem die AfD die eigentliche Gewinnerin der Bundestagswahl 2017. In den ostdeutschen Bundesländern hat sie insgesamt Ergebnisse einer Großpartei erzielt, in Sachsen ist sie mit 27 Prozent sogar die stimmenstärkste Kraft. Nach den Analysen von infratest dimap haben überdurchschnittlich viele Arbeiter_innen2 und Arbeitslose (jeweils 21 Prozent) die AfD gewählt, aber auch in anderen Berufsgruppen und bei Wähler_innen im Bereich der mittleren Bildungsabschlüsse konnte sie Stimmen im zweistelligen Bereich für sich gewinnen (infratest dimap 2017). Bei den Gewerkschaftsmitgliedern hat die AfD mit 15 Prozent leicht überdurchschnittliche Unterstützung; bei den Gewerkschaftsmitgliedern im Osten liegt sie mit 22 Prozent gleichauf mit der Linkspartei (DGB 2017). Gerade in den Kohorten, die von Erwerbstätigen geprägt werden, verzeichnet sie Zugewinne, und zwar insbesondere bei den Männern in der Altersgruppe von 25 bis 59 Jahren. Bei den Männern in Ostdeutschland ist die AfD mit 26 Prozent die stärkste Partei – hier erreichte sie 13 Prozentpunkte mehr als bei den Männern im Westen (Welt 2017). Die AfD hat im Vergleich zur vorausgegangenen Bundestagswahl über 3,8 Millionen Wähler_innen hinzugewinnen können, darunter 1,2 Millionen frühere Nichtwähler_innen. Stimmen kamen ebenfalls von der CDU (980.000), der SPD (470.000), der Linken (400.000) und sonstigen Parteien (690.000). 61 Prozent ihrer Wähler_innen geben »Protest« als Wahlmotiv an, zugleich sind aber für 76 Prozent die angebotenen Sachthemen wichtig, während das Spitzenpersonal keine Rolle spielt. Im Vergleich zu anderen Erfolgsgeschichten des europäischen Rechtspopulismus reüssiert die AfD auch ohne Führungsfiguren wie beispielsweise Jörg Haider und Heinz-Christian Strache in der österreichischen FPÖ oder Marine Le Pen im französischen Front National.
Verortet man die AfD auf der Landkarte der sozialen Milieus, wird deutlich, dass der Rechtspopulismus ein soziales Mitte-Unten-Bündnis repräsentiert. Im prekären Milieu der Unterklasse hat sie laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung mit 28 Prozent ihr bestes Ergebnis und ihre stärksten Zuwächse. Aber auch im Milieu der Bürgerlichen Mitte (20 Prozent AfD-Zustimmung) und im Traditionellen Milieu (16 Prozent), das Soziallagen der Unterklassen und der Mittelklassen umfasst, hat die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse und Zuwächse erzielt. »Damit ist die AfD bei der Bundestagswahl 2017 von unten in die Mitte eingedrungen und hat sich dort als rechtspopulistische Protestpartei der sozial-kulturell Abgehängten und der sich sozial-kulturell bedrängt fühlenden Mitte etabliert«, resümieren die Autor_innen Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider (Vehrkamp/Wegschaider 2017: 60) und ziehen einen interessanten Vergleich zur Bundestagswahl 1998: »Das soziale Profil und Mobilisierungsmuster dieses ›Schröder/Lafontaine-Effekts‹ […] ähnelt stark dem sozialen Profil und Mobilisierungsmuster des ›AfD-Effekts‹ bei der Bundestagswahl 2017. In beiden Fällen führten Wahl- und Mobilisierungserfolge in den sozial benachteiligten Nichtwählermilieus zu einer spürbaren Verringerung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung« (ebd.: 11).
Das Thema Flüchtlingspolitik konnte den Bundestagswahlkampf vor allem deshalb dominieren, weil es sich als ideale Projektionsfläche eignet, um es mit anderen Problemfeldern – von innerer Sicherheit bis sozialer Gerechtigkeit – zu verbinden. Zugleich steht es für das Brüchigwerden klarer Grenzziehungen: In der globalisierten Gesellschaft lösen sich die vormaligen Trennungen von Außen- und Innenpolitik und von nationalstaatlicher Politik zunehmend auf. Die Versprechen des Rechtspopulismus zielen demgegenüber auf die Wiederherstellung der Vergangenheit als Zukunftsprogramm, auf eine imaginierte alte Ordnung, in der es »uns« (verstanden als ethnisch homogenes Wir) noch gut zu gehen schien. In die gleiche Richtung weist der AfD-Wahlkampfslogan »Hol Dir Dein Land zurück«. In ihn lassen sich alle Verlustängste projizieren. Die Flüchtlinge sind – wie es Zygmunt Bauman mit Brecht formuliert – die Boten des Unglücks (Bauman 2017: 20). Sie erinnern zum einen an die eigene soziale Verwundbarkeit, die es abzuwehren gilt, sie repräsentieren zum anderen eine zerfallende Weltordnung, welche vielen im globalen Norden eine hegemoniale Lebensweise ermöglicht hat, die global nicht verallgemeinerbar ist (McCarthy 2015: 375). Diese alte Ordnung, deren sozialen Preis andere zu zahlen hatten und haben, droht wegzurutschen. Der Rechtspopulismus ist insofern der radikale Ausdruck und radikalisierender Faktor einer Politik, die vom Elend der Welt nicht berührt sein will. Die Weltpolitik rückt mit den Flüchtlingen gewissermaßen vor die eigene Haustür. Hinzu kommt: Im Osten ist der Geschichtsbruch von 1989 mit seinen Kontroll- und Traditionsverlusten sowie Entwertungserfahrungen längst nicht aufgearbeitet. Medial und politisch wird er ausschließlich mit dem Freiheitsgewinn verknüpft. Dass mit ihm auch soziale Verlusterfahrungen verbunden sind, verbleibt im Bereich des Vorpolitischen. Nun scheint gerade für die älteren Generationen ein neuer Geschichtsbruch zu drohen, gegen den »das Gestern« – ohne die »Zumutungen« ethnischer Vielfalt – wieder als heile Welt erscheint.
Die wahl- und parteiensoziologischen Befunde im internationalen Kontext bestätigen eine fortschreitende Abkoppelung sozialer Unter- und Arbeiter_innenklassen von ihren früheren politischen Repräsentationsformen. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump verdankt sein Amt nicht allein bürgerlichen Wähler_innen, sondern auch vorwiegend männlichen Produktionsarbeitern aus dem deindustrialisierten rust belt des Landes. Bei seiner Wahl konnte er 10 Millionen Wähler_innen aus dem Gewerkschaftslager für sich mobilisieren – Stimmen, welche die Demokraten in ihrer einstigen Stammwähler_innenbasis verloren haben. Auch die Brexit-Kampagne unter Federführung der rechten UKIP fand überdurchschnittliche Zustimmung in der Arbeiter_innenschaft. In Frankreich erzielt der Front National schon seit den 1990er Jahren Spitzenwahlergebnisse in den ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei (PCF). Bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl votierten 86 Prozent der Arbeiter_innen für den knapp unterlegenen FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, während der SPÖ-Kandidat noch nicht einmal in die Stichwahl kam. Mittlerweile ist die FPÖ auch dank dieser sozialen Verankerung Regierungspartei. Wegen der rechtspopulistischen Erfolge bei den »einfachen Leuten« wird international bereits eine Diskussion um eine »Arbeiterbewegung von rechts« geführt. In ihr geht es nicht zuletzt um die Konsequenzen, die – ehemalige – Arbeiterparteien auf der politischen Linken aus dieser Entwicklung zu ziehen haben.
Mit unserem Buch wollen wir in die laufende Debatte intervenieren und dabei sowohl neue Momente des (Rechts-)Populismus auf der konzeptionellen Ebene erfassen als auch deren gesellschaftlichen Ursachen nachgehen. Der im Gange befindliche Umbruch wirft eine Reihe von Fragen auf, die zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch Forscher_innen aus den Sozialwissenschaften höchst unterschiedlich beantworten. Handelt es sich bei den rechtspopulistischen Formationen tatsächlich um »Arbeiterbewegungen von rechts«? Oder haben wir es doch mit politischen Akteuren zu tun, die mehrheitlich im Bürgertum und den Mittelschichten verankert sind? Welche Ursachen und Motive sind für den Aufstieg des rechten Populismus verantwortlich? Sind soziale Deklassierung und Deprivation ausschlaggebend? Geht es den Anhänger_innen der Neuen Rechten primär um Besitzstandswahrung? Ist Wohlstandschauvinismus das Hauptmotiv? Und nicht zuletzt: Wie kann dem Aufstieg der Neuen Rechten entgegengewirkt werden? Welchen Beitrag können Gewerkschaften und demokratische Parteien leisten? Die Antwortversuche in den Beiträgen, die dieses Buch versammelt, fallen uneinheitlich und teilweise kontrovers aus. Das ist beabsichtigt. Themen und Autor_innen sind so gewählt, dass ein Debattenspektrum erkennbar wird. Die beteiligten Autor_innen führen eine – wie wir meinen konstruktive – Kontroverse. Aus diesem Grund verzichten wir darauf, den Beiträgen eine umfassende Rechtspopulismusdefinition voranzustellen und belassen es bei einigen einführenden Anmerkungen, die sich schwerpunktmäßig auf das im Buch behandelte Zusammenspiel von sozialer Frage und Aufstieg der radikalen Rechten beziehen.
Eine intensive sozialwissenschaftliche Debatte über die Entstehung eines neuen Rechtspopulismus in Europa wurde im deutschen Sprachraum bereits in den 1990er und frühen 2000er Jahren geführt. Das Gros der Autor_innen (vgl. u. a. Decker 2004; Loch/Heitmeyer 2001; Bischoff u. a. 2004; Werz 2003) ging davon aus, dass es sich beim Rechtspopulismus um Strömungen, Bewegungen und Parteien handelte, deren Triebkräfte wesentlich in Umbrüchen wurzelten, welche die wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen seit den 1980er Jahren durchliefen. Beim neuen Rechtspopulismus handelte es sich demnach um ein ideologisch, politisch und organisatorisch schwer abgrenzbares Phänomen, obwohl diese Strömungen sich – trotz mancher Kontinuitäten3 – eindeutig von tradierten Formen des Rechtsextremismus abhoben. Auf der ideologischen Ebene betonten rechtspopulistische Ideologeme die sozialen Pflichten des Einzelnen, lehnten jedoch zugleich bürokratische Bevormundung und kollektiv verordnete »Zwangssolidarität« ab. Die »Haltung der Ehrerbietung« gegenüber den Eliten war ihnen ebenso fremd wie die »Haltung des Mitleids« gegenüber benachteiligten Gruppen (Lasch 1995). Beim Versuch, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Einbindung auszubalancieren, erwiesen sich die Repräsentanten der neuen Formationen häufig als »Pioniere der Ambivalenz« (Decker 2004: 30; Kann 1983: 371), die Affinitäten zu neoliberalen Programmen programmatisch und agitatorisch mit sozialpopulistischen Elementen koppelten. Radikal rechts wurden die populistischen Strömungen durch eine ideologische Figur, die Decker (2004: 31) wie folgt skizzierte:
Die Ideologie der neuen populistischen Rechten setzt anstelle der nationalen Überlegenheitsansprüche von einst eine Position des ethnischen und kulturellen Partikularismus, die das Grundrecht auf Verschiedenheit allen Menschen oder Rassen gleichermaßen zuerkennt. Mit dieser Umdeutung, die den Hauptunterschied zum klassischen Rechtsextremismus markiert, verbindet sich eine – auf den ersten Blick – durchaus zeitgemäße Vorstellung von kultureller und politischer Autonomie. Die neue Rechte hat damit die westliche Kolonisierung der dritten Welt ebenso geißeln können wie die Bedrohung der europäischen Zivilisation durch den »Amerikanismus« oder die Unterdrückung von ethnischen und Regionalismusbestrebungen in Europa selbst. Die anti-liberale Kehrseite des Relativismus wird erst offenbar, wenn man seine innerstaatlichen Konsequenzen betrachtet. Die theoretische Neuorientierung des Nationalismus trägt dem Umstand Rechnung, dass die Identitätskrisen heute primär im Inneren der Gesellschaft – infolge von Migrationsbewegungen und einer veränderten Bevölkerungszusammensetzung – entstehen, nachdem sich die Gefahr einer Aggression von außen verflüchtigt hat. In der Abwehr solcher Tendenzen, der Absage an jegliche Form der ethnischen oder geistig-kulturellen Vermischung (und ihrer Idealisierung), liegt die eigentliche Stoßrichtung der neurechten Forderungen. Dem Festhalten an der »reinen Nation« korrespondiert dabei das Konzept eines machtbewussten Staates, der als Träger der Vergemeinschaftung gegen den herrschenden Pluralismus in Stellung gebracht wird.
Ethnopluralistische Ideologeme waren das Konstrukt einer intellektuellen Neuen Rechten, die sich im Laufe der Zeit anschickte, mit ihrem Kulturbegriff auch die soziale Frage zu besetzen. Dabei konnte sie an alltagsweltlichen Erfahrungen anknüpfen, die sich aus der Diskrepanz zwischen offiziellem Flexibilisierungsdiskurs und realen oder antizipierten Desintegrations- und Prekarisierungserfahrungen speiste. Arbeiter_innen und Angestellte fühlten sich häufig als Objekt einer marktgetriebenen Flexibilisierung, die sie selbst als Entzug von sozialer und öffentlicher Sicherheit erlebten (Sennett 1998). Für viele schien es nur um den Preis des »sozialen Todes« möglich, sich fremdbestimmten Anforderungen wie der permanenten Flexibilität und Mobilität, der ständigen Anpassung und Umschulungen zu entziehen (Castel 2005: 71). Es war der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel, der den Aufstieg des Front National (FN) ursächlich mit der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft in Verbindung brachte. Für Castel war die »Wiederkehr der Unsicherheit« eine mächtige Triebkraft für »poujadistische Reaktionen«. Der neue Rechtspopulismus habe seine Ursachen wesentlich in Statuskonkurrenzen abstiegsbedrohter Gruppen, die mit dem Mittel des Ressentiments ausgetragen würden:
Das Ressentiment als soziale Reaktion auf soziales Leid zielt auf Gruppen im direkten Statuswettbewerb. Es handelt sich um eine Reaktion von Gruppen am unteren Ende der sozialen Leiter, die sich selbst in einer Situation der Deprivation und in Konkurrenz mit anderen, ebenso oder stärker deprivierten Gruppen befinden […]. Sie suchen nach Gründen, um ihre Lage zu begreifen, und maßen sich durch Ausländerhass und rassistische Verachtung Überlegenheit an (Castel 2005: 73).
Castels Hypothese wurde überaus kontrovers diskutiert und in Deutschland zeigte sich, dass rechtspopulistische Orientierungen in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft existierten und sich keineswegs auf prekarisierte Gruppen beschränkten (Brinkmann u. a. 2006; Dörre u. a. 2006). Ungeachtet dessen handelte es sich beim neuen Rechtspopulismus schon damals um politische Versuche, in einer globalisierten Welt die soziale Frage als nationale zu rethematisieren und sie gegen die etablierte, vermeintlich problemlösungsunfähige politische Elite zu wenden. Dabei konnten rechtspopulistische Formationen an Deutungsmuster, Wertorientierungen und Interessenkonfigurationen anknüpfen, die erhebliche Schnittmengen mit dem Sozialstaatsbewusstsein sozialdemokratischer und gewerkschaftlich orientierter Arbeitnehmer_innen aufwiesen.
Umformungen politischer Orientierungen werden immer dann wahrscheinlich, wenn sich im politischen System gravierende Repräsentationsdefizite bemerkbar machen. Populistische Strömungen sind – in diesem Punkt gleich ob mit rechtem oder linkem Selbstverständnis – immer auch ein Produkt von Krisen des politischen Systems (Priester 2005; 2012). Das Aufkommen populistischer Formationen resultiert aus einem Verschleiß anderer politischer Optionen, das heißt, populistische Strömungen besitzen immer etwas Prozessartiges. Es ist keineswegs ausgemacht, dass sie sich organisatorisch in Parteiform verselbstständigen. Über längere Zeiträume können sie sich in einem Stadium der Latenz innerhalb etablierter demokratischer Parteien und Gewerkschaften entfalten. Offenbar ist in Deutschland ein Zeitpunkt erreicht, an dem eine rechtspopulistische Unterströmung ihre Latenz endgültig abstreift, um als eigenständiger Faktor in das politische Geschehen zu intervenieren. Das nicht nur, weil der Rechtspopulismus sich in Gestalt der AfD als Partei auf dem nationalen Level etabliert hat. Mit Pegida und ihren Ablegern ist er außerparlamentarisch mobilisierungsfähig geworden. Seine Repräsentant_innen verfügen über Geld, Einfluss und allmählich auch über institutionelle Verankerung. Vor allem jedoch durchläuft er in der Parteiform AfD im Schnellverfahren eine programmatische Entwicklung, für die andere rechtspopulistische Parteien in Europa viele Jahre gebraucht haben (Bieling 2017). Von einer ursprünglich marktradikalen, neoliberalen Partei hat die AfD sich mehr und mehr zu einer Formation gemausert, die der politischen Linken und den Gewerkschaften die soziale Frage abspenstig machen will. Der sozialpopulistische Flügel ist vor allem in den ostdeutschen Landesverbänden verankert, die zugleich die innerparteiliche Rechtsentwicklung forciert haben.
Die soziale, globalisierungs-, europa- und teilweise kapitalismuskritische Wende des Rechtspopulismus hat eine sozialwissenschaftliche Debatte über deren Ursachen ausgelöst. Wiederum kommt der Anstoß für diese Diskussion aus Frankreich. In seiner autobiografischen Studie »Rückkehr nach Reims« (Eribon 2016) schildert der französischen Soziologe Didier Eribon, wie er sich als junger Mann von seiner Familie und dem Milieu ungelernter Arbeiter_innen mit Bindung an die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) löste, um den Aufstieg durch Bildung zu schaffen. Von Autoritarismus und Homophobie abgestoßen, hatte der junge Homosexuelle mit dem Elternhaus gebrochen. Erst nach dem Tod des Vaters kehrte er zurück und musste feststellen, dass die gesamte Familie, statt links zu wählen, nun für den Front National stimmte.
Eribons Studie hat in Deutschland außergewöhnliche Aufmerksamkeit erregt, weil sie zumindest implizit sowohl am wissenschaftlichen als auch am politischen Grundkonsens des Landes rüttelt. Wissenschaftlich macht Eribon die Klassenvergessenheit von Soziologie und Sozialwissenschaften dafür mitverantwortlich, dass es an angemessenen Interpretationen der sozialen Frage fehlt. Seine Kritik zielt auch auf einen Prekarisierungsdiskurs, der unsichere Arbeits- und Lebensformen als Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts diskutiert, ohne dessen Klassenbezug ausreichend zu thematisieren. Entferne man »›Klassen‹ und Klassenverhältnisse« aus »den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs«, verhindere man aber noch lange nicht, »dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben« (Eribon 2016: 122). Politisch behauptet der französische Soziologe eine Mitverantwortung der sozialistischen und sozialdemokratischen Linken am Aufstieg des Rechtspopulismus: »Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von ›notwendigen Reformen‹ und einer ›Umgestaltung‹ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen und sozialem Schicksal, sondern von ›Zusammenleben‹ und ›Eigenverantwortung‹. Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten, verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des ›Gesellschaftsvertrages‹ ersetzt« (ebd.: 120). Von den linken Parteien verlassen, wurde die Wahl des Front National für Teile der Arbeiterschaft zu einer »Art politischer Notwehr« (ebd.: 124), provoziert Eribon.
Die Behauptung, hinter den Voten für eine rechtspopulistische Formation verberge sich vor allem der Wunsch, das Establishment zu attackieren, was mit Stimmen für die politische Linke nicht mehr möglich sei, hat auch in Deutschland heftige wissenschaftliche und politische Kontroversen ausgelöst. Weitgehend Einigkeit besteht allenfalls darin, dass die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 jenes Ereignis darstellt, das Goodwyn in seiner klassischen Studie zur »Agrarian Revolt in America« (1978) als »populist moment« bezeichnet hat. Eine Repräsentationslücke des politischen Systems, die sich lange vorbereitet hat, ist gewissermaßen akut geworden und hat so den Aufstieg einer populistischen Kraft ermöglicht. Hinsichtlich tiefer liegender Ursachen gehen die Meinungen weit auseinander. Rechtspopulistische Formationen repräsentierten einen Bürgerprotest, der auf Repräsentationsdefizite im politischen System reagiere, eine überfällige Normalisierung des Parteiensystems darstelle und mit der »Funktionslogik pluralistischer Demokratie« (Patzelt 2016: 80) zu befrieden sei, behaupten die einen. Es handele sich um einen Bruch in der politischen Kultur, ja um den »Saatboden für einen neuen Faschismus« (Habermas 2016: 39), entgegnen andere. Wo manche einen kulturellen Konflikt ausmachen, der von den Mittelschichten ausgeht (Koppetsch 2017: 212; Lengfeld 2017), erkennen kontrastierende Deutungen bereits eine Tendenz zu »neuen Arbeiterparteien« (Jörke/Nachtwey 2017: 174), durch die den Habenichtsen ein wirksamer Protest gegen den »progressiven Neoliberalismus« (Fraser 2017) ermöglicht werde. Spaltungslinien seien »weniger in den ökonomischen als in der kulturell-identitären Sphäre« zu verorten (Merkel 2017: 56), lautet die Essenz wichtiger Erklärungsversuche. Es gehe um Spannungen zwischen »kulturellen Klassen«, fügen kundige Expert_innen hinzu (Reckwitz 2017: 273ff.).
Wie die wissenschaftlichen Diagnosen zum Aufstieg des Rechtspopulismus, so fallen auch die politischen Schlussfolgerungen unterschiedlich, ja mitunter gegensätzlich aus. Klassen- versus Identitätspolitik lautet vordergründig eine Alternative, die sich zahlreiche Stimmen indes keineswegs zu eigen machen möchten. Wissenschaftlicher wie politischer Disput wird, so hoffen wir jedenfalls, auch in den im Buch versammelten Beiträgen sichtbar. Ungeachtet aller Kontroversen taucht in vielen Beiträgen zumindest unterschwellig, mitunter aber auch explizit, eine Frage auf, die wohl nicht abschließend zu beantworten ist. Die Wahlerfolge der AfD waren möglich, obwohl führende Repräsentanten der Partei immer wieder mit einer Relativierung des Faschismus und der Nähe zu extrem rechten Formationen kokettieren. Bei Anhängern der Partei ist die Ablehnung gewaltsamer Systemveränderung, die als latente Option freilich schon vor einem Vierteljahrhundert bei jungen Arbeitern präsent war (Dörre 1994: 181f.), ebenfalls ins Rutschen gekommen (Dörre u. a. 2018). Kann man unter diesen Bedingungen überhaupt noch von Rechtspopulismus im alten Sinne sprechen? Haben wir es nicht vielmehr mit einer Selbstradikalisierung zu tun, die, um sie angemessen zu bezeichnen, nach neuen Begriffen verlangt? Und schließlich: Wirft diese Selbstradikalisierung nicht auch die dringliche Frage nach angemessenen Gegenstrategien in neuer Weise auf?
Die hier in konstruktiver Kontroverse vereinten Autor_innen bearbeiten diese und andere Themen aus unterschiedlichen Perspektiven. Im ersten von vier thematischen Blöcken finden sich Artikel, die den Rechtspopulismus eher konzeptuell und über die Verdichtung empirischer Forschungen angehen. Im Zentrum der Beiträge steht die Frage, wie der Aufstieg der Neuen Rechten und die überdurchschnittliche Sympathie von Arbeiter_innen zu erklären sind. Als Ursachenkomplexe werden unter anderem Gerechtigkeitsprobleme, Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie Haltungen zu Flucht und Migration diskutiert. Schwerpunkt ist die bundesdeutsche Konstellation, die jedoch im Kontext von europäischer Rechter und dem US-amerikanischen Milieu der Tea-Party-Anhänger_innen verortet wird. Im zweiten Teil des Buches sind Studien versammelt, die sich mit völkisch-populistischen Orientierungen in der Arbeitswelt und der Rolle von Gewerkschaften befassen. Diskutiert wird auch, wie eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem radikalisierten Populismus aussehen könnte. Im dritten Teil wird der Blick nunmehr systematisch über den deutschen Tellerrand hinaus auf verschiedene europäische Länder gerichtet. Als kontrastierende Fälle werden rechtspopulistische oder rechtsextreme Formationen in Österreich, Polen und Portugal beleuchtet. Während sie in Polen und Österreich einen Teil der Regierung bildet, ist die äußerste Rechte in Portugal ohne nennenswerte Bedeutung. Die Länderbeispiele geben Aufschluss über politische, soziale und kulturelle Kontextbedingungen, die den Rechtspopulismus befördern oder hemmen können. Im vierten Teil des Buches wird die Kontroverse um Klassen- und/oder Identitätspolitik wieder aufgenommen und ein Überblick über markante Positionierungen im öffentlichen Streit gegeben.
Das Buch ist aus der Tagung »Arbeiterbewegungen von rechts?« hervorgegangen (Platzdasch 2017; Blättler 2018), die die DFG-Kollegforscher_innengruppe »Postwachstumsgesellschaften« im Juni 2017 gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen durchgeführt hat. Für ihre Unterstützung und wichtigen Anregungen bedanken wir uns besonders herzlich bei Henri Band, Sophie Bose, Felix Gnisa, Jan-Peter Herrmann, Anna Mehlis, Cora Puk, Ilka Scheibe und Christine Schickert, ohne deren tatkräftige Mitwirkung weder Konferenz noch Buch zustande gekommen wären. Wir vermuten, dass uns die Thematik des Bandes noch lange erhalten bleibt und hoffen deshalb sehr, zur Versachlichung einer Diskussion beitragen zu können, die in Wissenschaft und Gesellschaft mit Recht hohe Wellen schlägt.
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Grundlagen: Was ist Populismus? Was macht ihn rechts? Warum ist er für die Arbeiterschaft attraktiv?
Interviewerinnen: In zahlreichen Ländern erleben wir derzeit den Aufstieg autoritärer PolitikerInnen und rechtspopulistischer Formationen. Was macht die Situation in den Vereinigten Staaten aus?
Arlie Hochschild: Ich bin mir nicht sicher, ob das nur auf den US-amerikanischen Kontext zutrifft, aber seit den 1970er-Jahren haben die Unterschiede zwischen Arm und Reich in den USA zugenommen. Während im Rest der Welt generell eine Bewegung hin zu mehr staatlicher Gleichheit stattfand, verschärften sich in den USA Strukturen der Ungleichheit. In gewisser Hinsicht handelt es sich dabei um das Auseinanderdriften von GlobalisierungsgewinnerInnen und -verliererInnen. Die GewinnerInnen konzentrieren sich eher an der Ost- und Westküste, also in den »globalen« amerikanischen Städten, die von Innovation, Hightech, Kultur und Finanzindustrie geprägt sind. Diese Städte bilden sozusagen die kulturelle Arena des Landes – über sie ist viel bekannt, man ist vertraut mit dem jeweiligen Lebensstil usw. Dagegen wird der Rest des Landes, also die Provinz, wie eine Kulisse behandelt; die dort lebenden GlobalisierungsverliererInnen geraten aus dem Blick. Ich beziehe mich vor allem auf drei regionenspezifische Gruppen: Die erste Gruppe lebt im sogenannten Rustbelt (Rostgürtel), also in Städten, die einst florierende Industriezentren waren und deren Industrie heute am Boden liegt; dann gibt es das ländlich geprägte Amerika; die dort lebenden FarmerInnen leiden besonders unter den Auswirkungen globaler Handelsabkommen. Die dritte chronisch vernachlässigte Region sind die Südstaaten. Die Kulisse, die ich meine, besteht aus diesen drei Gruppen. Sie sind nicht viel mehr als die amerikanischen Überfluggebiete. Durch ihre Unterstützung für Donald Trump sind diese Regionen nun näher zusammengerückt. Trump stellt für sie einen Retter dar, jemanden, der ihnen und ihren Problemen Sichtbarkeit verleihen und von der wirtschaftlichen Marginalisierung erlösen kann. In anderen Ländern gibt es sicherlich ähnliche Entwicklungen, aber das ist eben unsere spezifische Ausprägung des Phänomens.
I: Wie würden Sie die Trumpwähler und -wählerinnen beschreiben?
AH: Sie leben hauptsächlich in diesen drei Regionen. Diejenigen, die aus den Rustbelt-Staaten wie Michigan, Wisconsin, Ohio usw. kommen, sind weiße ArbeiterInnen, die einst gutbezahlte, gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze in der Industrie hatten. Im Zuge der Automatisierung und Produktionsverlagerungen nach Mexiko oder China haben sie ihre Stellen verloren. Die zweite Gruppe, die sich vernachlässigt fühlt, kommt aus den ländlichen Staaten im Landesinneren; schaut man es sich auf einer Karte an, dann sticht das gebietsstarke, rotgefärbte Zentrum des Landes besonders hervor (rot steht für die Republikaner). All die roten Staaten wie Iowa, Tennessee, Utah – der gesamte Mittlere Westen – gingen an Trump. Und auch der Süden, die dritte Gruppe, stimmte geschlossen für ihn. Meine Forschung bezog sich auf den »Super-South«, also das Zentrum der Südstaaten: Louisiana und Mississippi sind hier ausschlaggebend, und in beiden bekam Trump gut 78 Prozent der Stimmen. Wenn die Frage also lautet, wer nun eigentlich Trump gewählt hat, dann ist die Antwort: Es waren hauptsächlich Weiße, überwiegend Arbeiter – aber auch AkademikerInnen – aus diesen drei Regionen.
I: Spielt die Klassenfrage in diesem Zusammenhang eine Rolle?
AH: Klasse ist in diesem Kontext sehr bedeutsam. Ich denke, dass – obwohl Trump mit seinen Attacken auf moralische Grundsätze jedes Maß gesprengt hat – die ArbeiterInnen eher im Hinblick auf Klasse denn auf Gender abgestimmt haben. Diese Kategorie scheint mir die Hauptmotivation bei den Wahlen gewesen zu sein. Während Gender und »race« lange Zeit sehr bedeutsam waren, steht mittlerweile die Klassenfrage wieder auf der Tagesordnung. Damit einher geht, dass identitätspolitische Strategien zunehmend infrage gestellt werden.
I: Wie lässt es sich erklären, dass der Klassenfrage eine so zentrale Bedeutung zukommt? Gibt es eine Art Revolte gegen die Identitätspolitik? Themen wie Gender und »race« waren ja lange Zeit sehr wichtig. Welche Rolle spielen sie noch, wenn es diese starke (Rück-)Besinnung auf die Klassenfrage gibt?
AH: Neben den eben skizzierten wirtschaftlichen Entwicklungen hat das vermutlich damit zu tun, dass die weiße Arbeiterklasse nach acht Jahren Barack Obama und der Möglichkeit von acht Jahren Hillary Clinton das Gefühl hatte, erst wollten Schwarze und nun Frauen sie zu Fremden im eigenen Land machen. Ich nenne das deep story. Diese Tiefengeschichte hat gravierende Auswirkungen – und spielt in den USA vielleicht eine größere Rolle als in Deutschland. In meinem Buch argumentiere ich, dass unter der Oberfläche all der energisch vertretenen, politischen Überzeugungen noch eine tieferliegende Geschichte abläuft und dass jeder und jede – egal, ob rechts oder links – solch eine Geschichte in sich trägt. Was also ist eine Tiefengeschichte? Es handelt sich dabei um ein Narrativ, das sich für viele Menschen wie die eigentliche Wahrheit anfühlt. In der rechten Tiefengeschichte stehen Menschen wie bei einer Pilgerfahrt in einer langen Schlange am Fuße eines Berges, der für sie den amerikanischen Traum symbolisiert. Ihre Füße sind müde, es geht nicht vorwärts. Doch in ihren Augen haben sie sich den amerikanischen Traum verdient. Wenn ich sage, es ging nicht vorwärts, dann spreche ich von jenen Leuten, die ich während meiner fünfjährigen Forschungen kennengelernt habe. Sie waren im Südwesten Louisianas in der petrochemischen Industrie beschäftigt, viele von ihnen haben seit zwei Jahrzehnten keine Lohnerhöhung bekommen und hatten zudem sehr wenig Urlaub. Ein Mann erzählte mir, dass er in seinem letzten Job in den ersten fünf Jahren eine Woche und für die nächsten fünf Jahre zwei Wochen Jahresurlaub bekommen habe. Der Mann angelte gern, hatte aber nie Zeit, seiner Leidenschaft nachzugehen.
Er, der immer hart gearbeitet hat, wartet also in dieser Schlange und hält den Blick fest auf sein Ziel gerichtet, wenngleich er mittlerweile etwas älter geworden ist. Im nächsten Moment sieht er, wie Leute sich in der Schlange vordrängeln, sich weit vor ihm einreihen. Und wer sind diese Leute? In manchen Fällen sind es Schwarze, die durch gezielte, von der Bundesregierung initiierte Förderprogramme nun endlich Zugang zu jenen Jobs erhalten, die historisch den Weißen vorbehalten waren. Außerdem sind es Frauen, die auf derselben Grundlage Zugang zu Arbeitsplätzen erhalten, die historisch den Männern vorbehalten waren. Anschließend kommen illegale MigrantInnen. All diese Menschen sind in seiner Tiefengeschichte – die sich für die Rechte, wie gesagt, wahr anfühlt – Leute, die sich vordrängeln. Auch Barack Obama hat einen Auftritt in seiner Geschichte: Sollte er eigentlich als strenger Wächter dieser Schlange agieren, winkt er nun die Vordrängler scheinbar auch noch durch. Menschen mit dieser Tiefengeschichte denken, Obama sei der Präsident der anderen, der Vordrängler, aber eben nicht ihr eigener. Er würde, so ihre Überzeugung, weißen Männern nie helfen – also weder Weißen noch Männern. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt und denken, dass Obama selbst auch ein Vordrängler ist. Viele, mit denen ich sprach, fragten mich, wie seine Mutter, eine alleinerziehende Frau, denn bitte ein Harvard-Studium finanzieren konnte, das 45.000 Dollar pro Jahr kostet. Die ganze Geschichte ist ihnen suspekt. Und dann – so geht ihre Tiefengeschichte weiter – dreht sich jemand, der vor ihnen in der Schlange steht, jemand mit mehr Bildung, der aus einer der Küstenstädte kommt, zu ihnen um und sagt, sie seien ungebildete, rassistische, homophobe, sexistische »Rednecks« – wobei »Redneck« in den Südstaaten eine ziemlich derbe Beleidigung für arme Weiße ist. Hier entsteht also das Gefühl des Fremdseins im eigenen Land und zugleich auch das Bedürfnis nach einem neuen Führer, da Clinton und Obama – die Frau und der Schwarze – sie sicher nicht in ein System aufnehmen werden, das lediglich Minderheiten fördert. Diese Tiefengeschichte ist zumindest ein Erklärungsansatz dafür, wie sich die Situation den rechtsorientierten BürgerInnen, den Trump-UnterstützerInnen darstellt und was sich für sie hinter dem Begriff der »Identitätspolitik« verbirgt. Was ist der Grund dafür? Nochmal, ich denke, es ist der chronische wirtschaftliche Niedergang, der insbesondere die Menschen im Landesinneren der USA betraf, gemischt mit der Wahrnehmung, dass andere in dieser Situation des stagnierenden Wachstums und potenziellen Abstiegs bevorzugt wurden.
I: Irritierend ist, dass nicht mehr Menschen den amerikanischen Traum kritisch sehen – aber vielleicht ist genau das Teil des Problems. Wie erklären Sie sich das?
AH: Kehren wir noch einmal zur Tiefengeschichte zurück. Eigentlich sind es ja die vielen Roboter, die sich scheinbar vor den brav wartenden Weißen in die Schlange drängeln. Diese Angst bezieht sich auf die Unternehmensstrategie, ausländische ArbeitnehmerInnen zu niedrigeren Löhnen de facto zu importieren. Die Firma Sasol in Lake Charles, Louisiana, lässt philippinische RohrleitungsbauerInnen einfliegen, die ohnehin schon seit langem auf den Ölbohrplattformen im Golf von Mexiko arbeiten. Das sind also die von den Unternehmen gesponserten VordränglerInnen. In der Wahrnehmung der Menschen bleibt das jedoch gar nicht als etwas Außergewöhnliches haften. Es ist, als ob sie unbedingt in diesen Firmen arbeiten wollen, die Jobs dort allerdings immer rarer werden, da es sich um hochgradig automatisierte Betriebe handelt. Wer hier eine Festanstellung findet, ist vermutlich eine hochgebildete Person aus einem anderen Staat, zum Beispiel ein Chemiker mit einem MIT-Abschluss. Daneben werden im Grunde nur LeiharbeiterInnen und eine überschaubare Zahl an Bedienungspersonal eingestellt. Während meiner Forschungen fand ich heraus, dass im sogenannten »Ölstaat« Louisiana nur etwa 15 Prozent der ArbeiterInnen tatsächlich in der Petrochemie beschäftigt sind. Der Rest sind KrankenpflegerInnen, LehrerInnen, VerkäuferInnen in den Malls und Kaufhäusern oder MitarbeiterInnen in einem Callcenter; sie haben also ganz andere Jobs. Das Entscheidende ist meiner Ansicht nach, dass sie diese Elite-Jobs, die am besten bezahlten Tätigkeiten in jenen Unternehmen, gar nicht kritisieren wollen.
I: Hier in Deutschland, aber auch in Großbritannien sind sowohl die Austeritätspolitik als auch die Kritik daran ein großes Thema. Die Verantwortung wird dabei natürlich oft den Regierungen zugeschrieben. Im US-amerikanischen Kontext scheint nicht der Markt, sondern der Staat kritisiert zu werden. Wie schätzen Sie das ein?
AH: Ich habe in Louisiana etwas Wichtiges gelernt, und zwar wie die Regierung eines Bundesstaates von der Industrie vereinnahmt werden kann, indem sie deren Drecksarbeit erledigt und somit den Hass ganz auf sich zieht. In Louisiana gibt es beispielsweise große, multinationale Konzerne, von denen im Grunde keiner seine Hauptniederlassung in Lake Charles hat – ein Ort, der eigentlich als Zentrum des »Energy Belt« gilt. Ihre Firmenzentralen befinden sich stattdessen in Johannesburg (Sasol), Den Haag (Royal Dutch Shell) und so weiter. Diese Unternehmen sind sehr mächtig, die Bundesstaaten konkurrieren untereinander um die Ansiedlung und den Ausbau dieser Firmen auf ihrem Territorium. Im Falle Louisianas verschenkte der Gouverneur, Bobby Jindal, insgesamt 1,6 Milliarden Dollar aus der Staatskasse – also Steuergelder – an viele dieser Unternehmen, um sie zu überzeugen, sich nicht in Texas, sondern in Louisiana anzusiedeln. Das ist eine erhebliche Summe, und viele sind sich sicher, dass diese Firmen ohnehin nach Louisiana gekommen wären. Wie zieht der Staat den Hass der Menschen auf sich, wenn er diesen Unternehmen 1,67 Milliarden Dollar überreicht, die sie eigentlich gar nicht brauchen? Meiner Meinung nach lautet die Antwort: Diese Unternehmen sind in diesem Staat – dem zweitärmsten im ganzen Land – so übermächtig, dass sie ihn im Grunde bereits aufgekauft haben. Sie haben ihn vollkommen eingenommen, sodass die Abgeordneten in Baton Rouge letztlich nur noch die Wünsche der Ölindustrie umsetzen. Was die ohnehin extrem konservativen Medien dort angeht, so ist es so, dass die Ölfirmen horrende Summen für Werbung bezahlen.
Mit einem Teil dieser 1,6 Milliarden Dollar an »Anreiz-Geldern« aus Steuermitteln können die Ölfirmen dann Geschenke und größere Spenden verteilen, beispielsweise an die National Audubon Society, eine Vogelschutzorganisation, oder der Football-Mannschaft der Louisiana State University neue Trikots kaufen. Sie selbst stehen letzten Endes gut da, weil sie Geschenke verteilen und hochdotierte Positionen für Bedienungspersonal ausschreiben, für die man keinen Universitätsabschluss braucht, aber ein Jahresgehalt von 75.000 Dollar bekommt. Es gibt zwar wenige von diesen Jobs, aber immerhin gibt es sie. Das einzelne Unternehmen kann also trotz unglaublicher Umweltverschmutzung am Ende gut dastehen. Im Anschluss daran – und das ist der wichtigste Punkt – sagt dieses Unternehmen dem gekauften Staat dann, dass er gefälligst die Drecksarbeit erledigen soll. Als Folge schuf die Staatsregierung beispielsweise das Louisiana Department of Environmental Quality und stellte tausend Beschäftigte zum »Schutz« der Menschen vor Umweltverschmutzung ein. Schutz versprechen und dann nicht liefern, lautet die Devise. Es werden Lizenzen ausgegeben, die es Unternehmen relativ leicht machen, umliegende Gewässer zu verschmutzen, Kontrollen finden nicht statt. Mit anderen Worten: Sie versprechen den Menschen, dass man sie vor Umweltverschmutzung schützt, ohne Taten folgen zu lassen. Tatsächlich hat Louisiana die zweithöchste Krebssterberate unter Männern. Schlussendlich schätzen die Menschen das Unternehmen dafür, dass es so hervorragende Markenwerbung und Öffentlichkeitsarbeit geleistet hat; es hat seinen Ruf poliert, indem es gute Jobs anbietet und nebenbei noch Süßigkeiten verteilt. Unterdessen schafft es der Staat nicht, die Menschen zu warnen, wenn es ein Ölleck gegeben hat, ebenso wenig wie er in der Lage ist, die notwendigen Aufräumarbeiten zu bewerkstelligen. Die Menschen fühlen sich aus einem einfachen Grund nicht vom Staat geschützt: Er lässt sie tatsächlich im Stich. Viele zahlen deshalb auch ungern Steuern, denn letztlich kommen sie damit für all die Verschleierungsmaßnahmen auf.
I: Oft ist die Rede von einer post-faktischen Politik und auch davon, dass Menschen auf der Grundlage ihrer Gefühle wählen. Ausgehend von Ihrer Analyse insbesondere der Tiefengeschichte scheint es, als ob die Leute etwas wahrnehmen, was überhaupt nicht der Wahrheit entspricht.
AH: Es ist eine Mischung. Zum Teil geht es um das, was ich eben anhand der durch den Staat erledigten moralischen Drecksarbeit für Unternehmen ausgeführt habe. Damit werden gute Gründe geliefert, den Staat zu verabscheuen; man zahlt an den Staat, doch der Staat handelt nicht, wie er sollte. Das vermengt sich dann mit der Wahrnehmung, dass man selbst an den Rand gedrängt wird. Mit den Förderprogrammen, den »affirmative action«-Programmen liegen sie zwar nicht falsch – dies sind in der Tat zielgerichtete Programme für Menschen, die historisch marginalisiert und ausgeschlossen wurden. Allerdings trifft das von ihnen wahrgenommene Ausmaß nicht zu. In der Realität sind diese Programme sogar recht überschaubar. Aber ich glaube, die Tatsache, dass Obama schwarz und Hillary eine Frau ist, legt für diese Menschen die Schlussfolgerung nahe, dass die »affirmative action« aus dem Ruder gelaufen sei. In ihren Augen werden sie von diesen »MinderheitenschützerInnen« beherrscht und ausgeschlossen.
I: Die Situation hat sich insofern verändert, als dass Donald Trump inzwischen zum Präsidenten gewählt worden ist. Seitdem sind verschiedene Bewegungen entstanden. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein, und welche Entwicklung deutet sich Ihrer Meinung nach an?
AH: Ich bin besorgt. Es scheint mir, als hätte sich die Spaltung der US-Gesellschaft noch verstärkt. Zum einen sind wir in geografische Enklaven gespalten; es gibt ein gebietsabhängiges Wirtschaftsgefälle. Zum anderen leben wir in Mediennischen, schauen jeweils unterschiedliche Fernsehsender und lesen unterschiedliche Zeitungen; auch ein Blick auf unseren Compuer zeigt nur ein Spiegelbild unserer selbst. Auf all diese Arten sind wir gespalten, und derzeit, denke ich, spalten uns Präsident Trump wie auch die Medien noch weiter. In der New York Times gab es vor nicht allzu langer Zeit einen Artikel darüber, wie der beliebte Radiokommentator aus dem Mittagsprogramm, Rush Limbaugh – der politisch sehr weit rechts steht – sich mittlerweile einen Spaß daraus macht, die Sorgen unter Links-Progressiven (den Liberalen und Demokraten) darüber, was Trump alles machen könnte, ins Lächerliche zu ziehen. Es ist eine Zeit, in der die Rechten sich über die abgehobene liberale Elite, die völlig von der Rolle ist, lustig machen kann – sie erfüllen zum Teil eben auch das Klischee der Rechten über deren Gegenpole. Die Lage hat sich verschlechtert, und ich vermute, das wird so weitergehen. Gleichzeitig entwickelt sich relativ unbemerkt eine egalitäre und oppositionelle Bewegung, in der Menschen zusammenkommen, um sich gegen diese enorme Spaltung zur Wehr zu setzen und die gesellschaftlichen Wunden zu heilen. Es gibt eine Organisation, die Bridge Alliance (Brückenallianz – eine Dachorganisation, die etwa 70 Basisinitiativen oder Mensch-zu-Mensch-Initiativen koordiniert, mit Namen wie Common Ground Committee, Big Tent Nation, Better Angels, American Public Square, Hi from the Other Side und Living Room Conversations), die versucht, Menschen von links und rechts zusammenzubringen, um gemeinsam Brot zu brechen und miteinander zu sprechen. So lässt sich ausloten, ob man bei bestimmten Themen Gemeinsamkeiten finden kann. Ich habe ein solches Treffen in meinem Wohnzimmer veranstaltet. Es wurde von Joan Blades initiiert, einem Gründungsmitglied von moveon.org, einer – wenn nicht der wichtigsten – fortschrittlichen Organisation in den Vereinigten Staaten. Sie ist Mediatorin und Anwältin, und ihr Anliegen ist es, solche Gespräche zu fördern, von denen quer übers Land bereits hunderte stattgefunden haben. Das Gespräch, das ich in meinem Wohnzimmer veranstaltete, war mit einer Person, über die ich in der Einführung zu Fremd in ihrem Land geschrieben habe, Sharon Galicia, eine Trump-Wählerin. Sie kam mit ihren zwei Kindern nach Berkeley, Kalifornien, und wir hatten ein solches Wohnzimmergespräch. Als sie aufbrach, sagte sie, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Lake Charles dort auch eines veranstalten wolle. Ich denke, es gibt einen Impuls zur Heilung, so können wir die polarisierende Presse und den polarisierenden Präsidenten umgehen. Wenn wir nach vorne blicken auf das, was geschehen wird, so glaube ich, dass die rechte Presse – und die Linke vielleicht auch – diese Polarisierung vorantreiben und die Spaltung vertiefen wird. Doch gleichzeitig gibt es auch diese Mensch-zu-Mensch-Bewegung, die sich davon nicht beirren lässt und weiter voranschreitet.
I: Welche Aufgabe kommt angesichts dieser gesellschaftlichen Situation kritischen WissenschaftlerInnen zu?
AH: Ich denke, die Rolle kritischer WissenschaftlerInnen ist es derzeit, sich für die Überwindung von Gegensätzen einzusetzen, indem man Menschen zusammenbringt. Es ist sehr wichtig, dass die BewohnerInnen der Großstädte und der Küstenstädte herauskommen und ihre Brüder und Schwestern auf dem Land kennenlernen, diejenigen also, die in Kleinstädten leben und vielleicht auch in den Arbeitervorstädten dieser Großstädte, wo es viele MigrantInnen gibt. Sie müssen verstehen, was außerhalb ihrer Blase vor sich geht. Wir sollten uns selbst und unseren Studierenden klarmachen, was diese Blasen sind und wie man aus ihnen herauskommt. Einer meiner Studenten hat vorgeschlagen, dass die University of California ein Austauschprogramm mit der University of Mississippi starten könnte, was doch ein wunderbares Beispiel für ein solches Zusammenkommen wäre. Wir müssen viel mehr dafür tun, unsere Erfahrungen auszuweiten, uns selbst zu bilden. Letztlich geht es um Prävention. Ich glaube, dass rechte PolitikerInnen relativ einfach große Wut heraufbeschwören können. Verrückte auf beiden Seiten können sehr schnell handgreiflich werden, zu Waffen greifen und Milizen aufbauen. Nichts davon will ich, aber ich denke, es ist möglich. Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzulehnen und zu lachen – oder zu verzweifeln. Jetzt ist die Zeit gekommen, sich endlich einer Gruppe anzuschließen. Die größte davon in den USA ist derzeit Indivisible, ein Zusammenschluss, der landesweit agiert und sehr gute Arbeit leistet. Er ist zwar eher im liberalen, progressiven Segment anzusiedeln, dabei aber zugleich auch sehr offen und respektvoll anderen gegenüber.
I: Wollen Sie uns noch etwas mit auf den Weg geben?
AH: Nicht aufgeben! Gerade in dieser Zeit sollte man sich im eigenen Land zivilgesellschaftlich beziehungsweise bürgerschaftlich engagieren. Für all die Menschen, die schon lange in sozialen Bewegungen aktiv sind – für »race«-bezogene Gerechtigkeit, Gendergerechtigkeit und freie sexuelle Identität – gilt es nun nicht, sich aus den Bewegungen zurückzuziehen und den Aktivismus aufzugeben. Doch das Engagement an sich muss sich verändern; es muss sich denjenigen öffnen, die zwischen den Stühlen sitzen oder andere Überzeugungen haben. Der Aktivismus muss eine bürgerschaftliche Wende vollziehen. Das bedeutet, zu lokalen Versammlungen, zum Beispiel Stadtratssitzungen oder Schulausschüssen, zu gehen und sich einzubringen, für Ämter zu kandidieren und sich zu engagieren. Ich denke, die Linke in den Vereinigten Staaten ist lange Zeit sehr bewegungsorientiert gewesen und hat das zivilgesellschaftliche Leben jenseits davon gemieden, insbesondere auf lokaler Ebene. Das muss sich ändern, wir müssen uns stärker einbringen.
Brigitte Aulenbacher
Arlie Hochschilds Buch Fremd in ihrem Land (2017) fasziniert methodisch. Es ist eine Erzählung des alltäglichen Erlebens und des biografischen Verarbeitens von Enttäuschungen derjenigen Menschen, die vom amerikanischen Traum, vom Versprechen auf Aufstieg und Wohlstand durch Leistung abgehängt worden sind. Die Erzählung beruht auf einer fünfjährigen ethnografischen Exploration, die Hochschild zu den BewohnerInnen der alten Industrieregionen, des »Energiegürtels«, und der ländlichen Regionen im Süden der USA, vor allem Mississippi und Louisiana, geführt hatte, somit in denjenigen Gegenden, die von den ökonomischen und kulturellen Zentren des Landes abgespalten und vergleichsweise arm sind. In teilnehmenden Beobachtungen, Fokusgruppen und Interviews hat sie ihre Erfahrungen eingeholt, beschreibt das Leben der Menschen und lässt sie in ausführlichen Zitaten zu Wort kommen (Hochschild 2017: 339ff.). Sie erzählt die individuellen Geschichten der Menschen als gesellschaftliche Geschichte der Zerstörung ihres Lebensraums, ihrer Arbeitsmöglichkeiten, ihrer sozialen Bindungen und als Geschichte der Anstrengungen, die sie bei der Aufrechterhaltung ihres alltäglichen Lebens auf sich nehmen, und ihrer Unterstützungsbereitschaft der rechten und rechtspopulistischen Politik von Tea Party, Republikanern und Donald Trump. Beides, die Geschichten der Menschen und die Geschichte der Regionen, in denen sie leben, spannt die Autorin zwischen zwei Motiven auf, die ihr Buch durchziehen: das »große Paradox« und die »Tiefengeschichte« (ebd.: 17ff., 187ff.). Damit bringt sie zum Vorschein, was für das bürgerlich-intellektuelle und -liberale Amerika bzw. für progressive Kräfte schwer fassbar ist: warum die Rechte und der Rechtspopulismus für viele die wählbare und gewählte politische Alternative sind.
Hochschilds Buch erreicht den deutschsprachigen Diskurs zu einem Zeitpunkt, in dem rechtspopulistische und -extreme Bewegungen und Parteien auch in Europa schnell erstarkt sind, wie die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien, und an die Regierung gelangt sind, wie in Ungarn, Polen und Österreich. Die Situation in den USA und im hiesigen Raum ist nicht vergleichbar. Der Kern ihres Buches, eine Abstiegserzählung, in der neue soziale Spaltungen zum Vorschein kommen, ist jedoch auch mit Blick auf die hiesige Entwicklung interessant und wirft einige Fragen auf.
Schwer fassbar ist das politische Votum für rechtspopulistische und -extreme Bewegungen und Parteien aus dem Blickwinkel des intellektuellen und progressiven Amerika nicht zuletzt deshalb, weil es ein »großes Paradox« zu sein scheint. Das lässt sich in mindestens zweifacher Hinsicht konkretisieren:
Zum einen wählen die Menschen mit der Tea Party, den Republikanern und Donald Trump diejenigen Kräfte, die die wirtschaftsliberale Entwicklung mit vorangetrieben haben und vorantreiben und damit die wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Probleme, unter denen sie alltäglich leiden, mit verursacht haben und mit verursachen (ebd.: 17ff., 141ff.). So haben vor allem diejenigen, die vormals in den fordistischen Schlüsselsektoren in vergleichsweise stabilen Beschäftigungsverhältnissen zu einigem Wohlstand gekommen waren, im »Energiegürtel« und weiteren Regionen in den letzten Jahrzehnten drastische soziale Abstiege erfahren (ebd.: 187ff.). Mehr noch: Die Luft- und Wasserverschmutzung durch Ölförderung und -verarbeitung, Erdabsenkungen durch Fracking zur Erdgasgewinnung und vieles mehr haben weitgehend unkontrolliert von politischen Regulierungen oder sogar dadurch befördert ökologische Probleme verursacht, die sich in Krebserkrankungen und anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Schädigungen niederschlagen. Alles zusammen zerstört das Leben der Einzelnen und ihr Zusammenleben (ebd.: 123ff.). Arlie Hochschild lässt Mike Schaff nach einem Erdbeben, das ein halbes Jahr zurückliegt, zu Wort kommen:
»Das waren die längsten sechs Monate meines Lebens. Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin deprimiert«, erzählt er. »Vor fünf Jahren bin ich aus Baton Rouge hierher gezogen, um mit meiner neuen Frau zu leben.« […] »Aber mit den Methangasemissionen um uns herum ist es jetzt nicht mehr sicher. Darum ist meine Frau nach Alexandria zurückgegangen und pendelt von da zur Arbeit. Ich sehe sie an den Wochenenden. Die Enkelkinder kommen auch nicht mehr, denn was wäre, wenn jemand ein Streichholz anzündet. Das Haus könnte in die Luft fliegen.« (ebd.: 148)
Seine Familie ist zerrissen, er spricht von Schlafstörungen und Ängsten angesichts von Erdabsenkungen und -beben, und die gelebte Nachbarschaft – »›Wir sind eine enge Gemeinschaft‹« (ebd.: 149) – ist mit Landaufkäufen durch einen Großkonzern konfrontiert.
Zum anderen wählen die von Arlie Hochschild interviewten Menschen mit der Tea Party, den Republikanern und Donald Trump aber nicht nur im Kern wirtschaftsliberale Politiken, sondern sie lassen auch einigen Staatsskeptizismus erkennen – der in den USA ausgeprägter ist als in Europa mit seiner doch ganz anderen wohlfahrtsstaatlichen Tradition. Ein Moment des Staatsskeptizismus spricht Hochschild in dem Interview im vorliegenden Band an: Wo staatliche Interventionen im Standortwettbewerb der Regionen um Unternehmensansiedlungen wirtschaftsliberale Politiken befördern, werden sie zum Teil des Problems. Oppositionelle, darunter rechtspopulistische Bewegungen können genau dagegen agitieren und ProtestwählerInnen anziehen. Ein weiteres Motiv scheint in den Erzählungen der von ihr Befragten immer wieder auf, wenn es darum geht, die – in den USA ohnehin rudimentären staatlichen – Sozialleistungen zu beanspruchen: Das ist die Scham, es nicht (mehr) aus eigener Kraft zu schaffen (ebd.: 301ff.). Sie lässt Menschen beispielsweise Schutz, Halt und Kraft in anderen, etwa kirchlich-religiösen Gemeinschaften suchen und finden (ebd.: 230ff.). Ferner stehen staatliche Regulierungen, die mit der Regierung Barack Obamas verbunden waren, wie die Autorin mit Blick auf die Umweltverschmutzung bzw. den Umweltschutz anspricht, unter dem Verdacht, Arbeitsplätze abzubauen (ebd.: 106). Das führt dazu, dass das Versprechen auf »Jobs« wie ein »psychologisches Programm« wirken kann: »Erdöl brachte Arbeitsplätze, die wiederum Geld brachten. Geld sorgte für ein besseres Leben – Schule, Haus, Gesundheit, ein Stück vom amerikanischen Traum« (ebd.). Zu diesem »psychologischen Programm« gehöre »der Glaube, dass man die furchtbare Wahl zwischen Arbeitsplätzen auf der einen Seite, sauberem Wasser und sauberer Luft auf der anderen Seite treffen müsse« (ebd.). Donald Trump hat das Versprechen auf Wiederaufstieg auch nach seinem Regierungsantritt (also nach Arlie Hochschilds Untersuchung) in den Medien mit seiner Rede von »Jobs, Jobs, Jobs« ständig wiederholt, um sich dann beispielsweise bei seinem Staatsbesuch in Saudi-Arabien als »Deal Maker« zu präsentieren, dessen milliardenschweres, die Rüstungsindustrie beförderndes Wirtschaftsabkommen mit dem menschenrechtsverletzenden und demokratiefeindlichen Regime der US-amerikanischen Arbeiterschaft eben diese Arbeitsplätze bringen werde.
Das »große Paradox«, dass politische Kräfte gewählt werden, deren Wirken die Probleme verursacht hat, die zu lösen sie vorgeben, ist aber nur die eine Perspektive, in gewisser Weise die Außensicht. Arlie Hochschilds Untersuchung zielt jedoch vorrangig auf die Innensicht, die Erschließung der »Tiefengeschichte« (ebd.: 187ff.):
Ich wollte wissen, was die Menschen fühlen wollen, was sie ihrer Ansicht nach fühlen sollten oder nicht fühlen dürfen, und wie ihre emotionale Einstellung zu einer ganzen Reihe von Themen aussieht. […] Mir wurde klar, dass wir uns diesem Kern über eine Tiefengeschichte, wie ich es nenne, nähern können, eine Darstellung, die sich wahr anfühlt. […] Die Tiefengeschichte sollte mich zu den gefühlsmäßigen Geboten und Verboten, zum Gefühlsmanagement und den Kerngefühlen führen, die charismatische Führer schüren. Wie sich zeigen wird, hat jeder eine Tiefengeschichte (ebd.: 34f., Herv. i. O.).
Wenngleich die »Tiefengeschichte« damit, was als richtig empfunden wird, immer an die individuelle Erfahrung gebunden ist, spiegeln sich in ihr aber doch auch gesellschaftliche Erfahrungen wider, die allerdings individuell auch ganz anders bewertet werden können. Drei Erfahrungen möchte ich hervorheben, da sie mir mit Blick auf die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg über die USA hinaus bemerkenswert erscheinen, wenngleich sie in der nachfolgend skizzierten Weise an deren nationale Geschichte gebunden sind. Erstens erzählen die Autorin und die Menschen, die sie zu Wort kommen lässt, eine Auf- und Abstiegsgeschichte. Dreh- und Angelpunkt ist das leistungsbasierte Aufstiegsversprechen:
Im amerikanischen Traum geht es um Fortschritt – um die Vorstellung, dass es dir besser geht als deinen Vorfahren, so wie es auch bei deinen Eltern war – und um mehr als nur um Geld und Materielles. Du hast lange Arbeitszeiten, Entlassungen und Belastungen durch gefährliche Chemikalien ausgehalten und Rentenkürzungen erlebt. Du hast in der Feuerprobe Charakterstärke bewiesen; für das alles ist der amerikanische Traum der Lohn, der beweist, wer du warst und bist – eine Auszeichnung (ebd.: 188).