Argentiniens Mythos der »Großen Spaltung« - Tobias Renghart - E-Book

Argentiniens Mythos der »Großen Spaltung« E-Book

Tobias Renghart

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Beschreibung

1983 kehrte Argentinien nach den traumatischen Jahren der Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Trotz der anfangs in der Bevölkerung weit verbreiteten Aufbruchsstimmung unter Präsident Raúl Alfonsín gilt es seither als chronischer Krisenstaat. Neben sozialen, ökonomischen und politischen Spannungen ist das Land bis heute durch eine tiefe Zerrissenheit über die Bewertung der nationalen Vergangenheit geprägt. Tobias Renghart analysiert, wie Regierungen und politische Führungsfiguren unter Rückgriff auf die Geschichte emotionale Narrative schufen, um sich selbst zu legitimieren und dabei die Spaltungstendenzen innerhalb der Bevölkerung verschärften. Er eröffnet so neue Perspektiven auf die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung Argentiniens.

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Tobias Renghart

Argentiniens Mythos der »Großen Spaltung«

Herrschaftslegitimation und Deutungskämpfe nach der Militärdiktatur (1983–2015)

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

1983 kehrte Argentinien nach den traumatischen Jahren der Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Trotz der anfangs in der Bevölkerung weit verbreiteten Aufbruchsstimmung unter Präsident Raúl Alfonsín gilt es seither als chronischer Krisenstaat. Neben sozialen, ökonomischen und politischen Spannungen ist das Land bis heute durch eine tiefe Zerrissenheit über die Bewertung der nationalen Vergangenheit geprägt. Tobias Renghart analysiert, wie Regierungen und politische Führungsfiguren unter Rückgriff auf die Geschichte emotionale Narrative schufen, um sich selbst zu legitimieren und dabei die Spaltungstendenzen innerhalb der Bevölkerung verschärften. Er eröffnet so neue Perspektiven auf die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung Argentiniens.

Vita

Tobias Renghart forscht zur lateinamerikanischen und südeuropäischen Ideengeschichte.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

1.

Einleitung

1.1

Hinführung: Der argentinische Ideenkampf und die Diskussion um La Grieta

1.2

Theoretische Vorüberlegungen

1.2.1

Ordnungsvorstellungen und Deutungskämpfe: Der Streit um das Narrativ

1.2.2

Die Transformation von Staats– und Gesellschaftsvorstellungen nach den 1970er Jahren

1.3

Historischer Hintergrund: Argentinische Rechtfertigungsnarrative und ihre Krisen

1.4

Forschungsfragen, Quellenkorpus, Vorgehen und Aufbau der Arbeit

1.5

Forschungsstand und Ziele der Arbeit

2

Die demokratisch-moralische Erneuerung einer autoritären Gesellschaft: Die Regierungszeit Raúl Alfonsíns (1983–1989)

2.1

Die Präsidentschaft Alfonsíns: Momente und Akteure

2.2

Die Auseinandersetzung um das Gründungsnarrativ des demokratischen Neubeginns

2.3

Wider dem autoritären Geist: Alfonsíns Projekt einer moralischen Erneuerung

2.3.1

Kampf gegen die autoritären Strukturen: Der Umgang mit den Militärs

2.3.2

Kampf gegen die autoritären Strukturen: Debatten um eine Gewerkschaftsreform

2.3.3

Die Konstruktion eines neuen Argentinienbildes

2.3.4

Alfonsíns Vision einer demokratischen Kulturwende

2.4

Die schwierige Konstruktion eines peronistischen Gegennarrativs

2.5

Solidarität und Dynamik: Alfonsíns Ringen mit der neuen Wirtschaftsordnung

2.6

Zwischenfazit

3

Strukturanpassungen und die Neuverortung des Peronismus: Die Regierungszeit Carlos Menems (1989–1999)

3.1

Die Präsidentschaft Menems: Momente und Akteure

3.2

Krise des Staates: Neue Gründungsnarrative im Übergang von Alfonsín zu Menem

3.3

There is no alternative in Argentina: Menem und die Zwänge des Zeitgeistes

3.3.1

Die Befreiung des liberalen Volkes von der Gängelung des Staatsdirigismus

3.3.2

Die Neuverortung der peronistischen Historie

3.3.3

Das Ende der alten Konflikte im Zeitalter der Alternativlosigkeit

3.3.4

»Peripherer Realismus«: Die Neuausrichtung in der Außendarstellung

3.4

Kampf der Alternativlosigkeit: Zum schwierigen Stand der Opposition unter Menem

3.5

Zwischenfazit

4

Die K-Erzählung und die Entstehung von La Grieta: Die Regierungszeit des Kirchner-Ehepaars (2003–2015)

4.1

Die Präsidentschaft von Néstor und Cristina Kirchner: Momente und Akteure

4.2

Grundsteinlegungen der »Großen Spaltung«: Die Neuausrichtung des Peronismus unter Néstor Kirchner (2003–2007)

4.2.1

Die Inszenierung des Widerstandskampfes gegen die neoliberale Unterdrückung

4.2.2

Die Wiederauferstehung der »dezimierten Generation«: Veränderte Schwerpunktsetzungen in der peronistischen Geschichte

4.2.3

Eine dritte nationale Bewegung: Kirchners Ziel der »Transversalität«

4.3

Der Beginn der »Großen Spaltung«

4.3.1

Der »Agrarkonflikt«

4.3.2

Der Streit um die Reform der Mediengesetzgebung

4.4

Vivir La Grieta: Das K-Narrativ und seine Gegner (2008–2015)

4.4.1

Die Vertiefung des Widerstandskampfes

4.4.2

»La Patria Grande«: Die lateinamerikanische Ebene

4.4.3

Das Kirchner-Volk und seine Gegner

4.4.4

Die Bicentenario-Feiern und die zweite Amtszeit Cristina Fernández de Kirchners: Die Zelebrierung der »Großen Spaltung«

4.5

Zwischenfazit

5

Zusammenfassung und Fazit

6

Abkürzungen

7

Quellen und Literatur

7.1

Quellen

7.2

Sekundärliteratur

Vorwort

Mein Dank gilt all denen, die mich während meiner Forschungsarbeit unterstützt haben. An erster Stelle ist das Prof. Dr. Edgar Wolfrum, dessen Vertrauen in meine Arbeit mir vieles erleichtert hat. Ebenso möchte ich mich bei Prof. Dr. Stefanie Gänger für Rat und Tat gerade in der Endphase der Arbeit herzlich bedanken. Den Herausgebern von »Eigene und Fremde Welten«, Prof. Dr. Jörg Baberowski, Prof. Dr. Stefan Rinke und Prof. Dr. Michael Wildt, möchte ich herzlich für die Chance danken, mein Werk in dieser vielfältigen und hochwertigen Reihe zu publizieren. Selbiges gilt für Catharina Heppner und Jürgen Hotz vom Campus-Verlag, die mich von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Veröffentlichung äußert kompetent und hilfsbereit unterstützten. Schließlich danke ich der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation.

Die Studie hätte ohne die vielfältige Hilfe aus Argentinien niemals entstehen können. Die Art und Weise, wie ich bei meinen Besuchen in Buenos Aires aufgenommen wurde und wie ich auch aus der Ferne in Heidelberg mit Ratschlägen und Material beliefert wurde, werde ich nie vergessen. Ein besonderer Dank gilt Dr. María Florencia Blanco Esmoris von der Universidad de San Martín sowie Dr. Martina Garategaray von der Universidad Nacional de Quilmes. Dem gesamten Personal der Biblioteca Nacional in Buenos Aires bin ich zu Dank verpflichtet. Sie haben mir bei meinen Recherchen vor Ort mit beeindruckender Hilfsbereitschaft unter die Arme gegriffen und mir die angenehmste Arbeitsatmosphäre geschaffen, die ich mir nur vorstellen kann.

In Deutschland möchte ich zunächst das Team der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen-Instituts in Berlin hervorheben, welches meine häufig dringenden Anliegen in schwierigen Pandemie-Zeiten zügig bearbeitete und mich bei meinen stressgeplagten Aufenthalten vor Ort bestmöglich betreute. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den aufmerksamen Korrekturlesern, allen voran Dr. Birgit Hofmann, PD Dr. Klaus Kempter, Tim Schinschick und Anna Vogel sowie all unseren studentischen Hilfskräften, die mir die Arbeit am Lehrstuhl Zeitgeschichte in der letzten Schreibphase sehr erleichtert haben. Insbesondere Lea-Marie Trigilia möchte ich für Ihre Unterstützung bei der Übersetzung danken.

Ohne die Möglichkeit, die ersten Ideen in einem vertrauensvollen, freundschaftlichen Umfeld debattieren zu können, wäre diese Arbeit in den Kinderschuhen stecken geblieben. Danke an Felicitas Loest, Anna Nübling und Inéz-Maria Wellner, dass sie mir genau diesen Rahmen geboten haben. Teil der Gruppe war auch Miriam Jost, deren Anteil am vorliegenden Werk ich nicht in Worte fassen kann. Ohne ihre Ermutigungen, ihre Korrekturarbeit und zahlreiche kritischen Anmerkungen wäre die Arbeit niemals erfolgreich zu Ende gebracht worden.

Zum Schluss danke ich meinen Eltern, Dagmar und Heinrich Renghart, für ihre bedingungslose Unterstützung während meiner gesamten Studienzeit sowie meinem Bruder Michael für seine erfrischenden Einflüsse aus mir vollkommen fremden Fachbereichen. Die Gewissheit, dass ihr drei immer an meiner Seite seid, gibt ein wunderbares Gefühl der Sicherheit im Leben. Wenn möglich, dann gilt dies noch mehr für meine Frau Natalia Rodas Pinilla, die mit ihrer unbeschreiblichen positiven Energie so manche große Hürde in den letzten Jahren magisch klein hat erscheinen lassen. Gewidmet ist die Arbeit meinem Großvater Kurt Müller und meiner Großmutter Dorothea Müller, die meine Begeisterung für Sprachen und Bücher wie niemand sonst von klein auf aktiv begleitet hat.

Saarbrücken, 14.11.2022

1.Einleitung

Die historische Entwicklung Argentiniens gilt vielen Betrachtern, ob aus der Innen– oder Außenperspektive, als schwer greifbar. Einst wurde es als aufstrebender Staat des Südens und »Land der Zukunft« gefeiert.1 In den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Lage jedoch deutlich gewandelt. Gerade nach dem Ende der traumatischen Militärdiktatur im Jahre 1983, zu jenem Zeitpunkt hoffnungsvoll zelebriert als Neuanfang und »Fest der Demokratie«2, verkehrte sich das einst positive Image Argentiniens immer mehr ins Gegenteil. Unüberbrückbar wirkende politische Differenzen, schwere wirtschaftliche Turbulenzen und soziale Gewaltausbrüche führten dazu, dass mittlerweile vom »Krisenzyklus am Río de la Plata«3 die Rede ist. Sozialwissenschaftler erkennen lediglich »Instabilität als Konstante«4 oder beschreiben ein »Land frustrierter Perspektiven«5. Die Wurzeln und Hintergründe des häufig diagnostizierten argentinischen Abstiegs vom Hoffnungsträger der südlichen Hemisphäre zum Sorgenkind wurde von zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen bearbeitet und institutionelle, wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren herausgestrichen.6 Insbesondere die problematische Einbindung in neue Rahmenbedingungen einer sich rasanter globalisierenden Welt nach 1970 wurden wiederholt untersucht.7

Auch in der vorliegenden Forschungsarbeit spielen die Herausforderungen jenes epochalen Umbruchs »revolutionärer Qualität«8 eine wichtige Rolle. Die Triebfeder der Studie ist allerdings die Frage nach den Hintergründen der tiefen gesellschaftlichen Polarisierung, die das Land seit vielen Dekaden plagt, wichtige Reformdebatten überlagerte, Erneuerungsprozesse ausbremste und zweifelsfrei ein gewichtiger Faktor der argentinischen Krisenanfälligkeit in den letzten Dekaden war. Trotz der anfangs euphorisch gefeierten Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1983 gelang es im Anschluss nicht, die schon zuvor beklagten tiefen Spaltungstendenzen innerhalb der argentinischen Bevölkerung zurückzudrängen – ganz im Gegenteil: Insbesondere seit den späten 2000er Jahren diskutiert das Land am Río de la Plata über eine unüberwindbar erscheinende Grabenbildung in der Gesellschaft, genannt La Grieta – die »Große Spaltung«. In der Forschung wird die Polarisierung Argentiniens zumeist in ihren sozioökonomischen sowie politisch-institutionellen Dimensionen analysiert.9 Die vorliegende Studie will im Unterschied dazu eine ganz andere, die ideengeschichtliche, Ebene in den Vordergrund stellen und einen Aspekt beleuchten, der bislang, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, wenig im Fokus stand. Sie will anhand des Fallbeispiels Argentiniens in der Zeit nach der Militärdiktatur aufzeigen, dass Phänomene gesellschaftlicher Polarisierungen eine wirkmächtige, auf Faktoren des Denkens und der Vorstellungswelten aufgebaute Komponente aufweisen können. Das südamerikanische Land krankt, das soll hier deutlich werden, auch auf jener Ebene an schwer überwindbaren gesellschaftlichen Gräben. Dem geht die Arbeit mit einem präzisen Zugriff nach: Sie untersucht divergierende gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Konflikte bei ihrer erzählerischen Begründung.

Die These lautet, dass in Argentinien seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 ein Ideenkampf um die Art und Weise herrschte, wie die jeweils Regierenden versuchten, ihre Projekte narrativ zu legitimieren. Zwei Ebenen sind hierfür von Bedeutung. Zum einen brachten Staatsführer und Regierungsmitarbeiter konfligierende Interpretationen der Vergangenheit in Stellung und bewerteten historische Zäsuren, Heldenfiguren, Mythen und Bilder in ihrem Sinne. Nicht selten produzierten sie so spaltende Deutungen von vor der Militärdiktatur in einem neuen Gewandt. Zum anderen luden sie Interpretationen der sich im Zuge der globalen Transformationsphase seit den 1970er Jahren verändernden Staats– und Gesellschaftsbilder ebenso emotional auf, speisten sie in ihre narrativen Begründungen ein und verstärkten die Spaltungstendenzen. Aus der kontroversen Wiederverwertung und Neuinterpretation historischer Ankerpunkte sowie der ebenso emotionalisierenden Aufladung von sich verändernden Gesellschaftsbildern ab den 1970er Jahren wurden selbstlegitimierende Narrative geschaffen, die stets für Spannungen sorgten. Daraus resultierte ein permanenter Ideenstreit, in dem es nicht um kurzfristige gesellschaftliche Fragen oder politische und ökonomische Kurskorrekturen ging. Es herrschte vielmehr eine schroffe Frontstellung hinsichtlich der Deutungen von Höhen und Tiefen der nationalen Vergangenheit, von historischen Bildern, Mythen und Heldenfiguren sowie über Visionen für die Zukunft als argentinische Gesellschaft. Der Streit erregte die Öffentlichkeit immer wieder, überlagerte inhaltliche Aushandlungen von angedachten Reformen und lähmte den politischen Prozess. Ihren Höhepunkt erreiche die konfliktive Stimmung ab 2008, als während der Präsidentschaft Cristina Fernández de Kirchners in den Fernsehtalkshows und Zeitungen eifrig über La Grieta debattiert wurde. Die Diskussion um La Grieta ist gleichzeitig Ausgangs– und Fluchtpunkt der Arbeit. Hier kulminierten die argentinischen Ideenkämpfe in einer Konstellation, in der sich Regierungsbefürworter und –gegner vollkommen feindlich gesinnt gegenüberstanden und eine Versöhnung als unvorstellbar diskutiert wurde. In den folgenden Kapiteln werde ich untersuchen, wie diese polarisierenden Ideendispute entstanden sind, welche Auswirkungen sie hatten und warum sie gerade während der Amtszeit Cristina Fernández de Kirchners zu einer spürbaren Eskalation führten.

1.1Hinführung: Der argentinische Ideenkampf und die Diskussion um La Grieta

Am 10. Dezember 2015 wurde Mauricio Macri als Staatspräsident Argentiniens vereidigt. Die Amtsübernahme des buonarenser Unternehmers war im Vorfeld in vielerlei Hinsicht als historisch eingestuft worden. Erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur kam ein Präsident ins Amt, der weder der Unión Cívica Radical (UCR) noch einer peronistischen Partei angehörte – beide Strömungen hatten bei demokratischen Wahlen seit den 1940er Jahren stets triumphiert.10 Mehr noch, Macri war mit einem dezidiert marktwirtschaftlichen und gesellschaftlich konservativen Kurs im Wahlkampf durchs Land gezogen – eine Strategie, die bis dato selten mit einem Erfolg an der Urne belohnt worden war.11 Eher am Rande wurde von Journalisten und Politikwissenschaftlern auf die Wichtigkeit hingewiesen, dass es in der noch jungen Demokratie abermals zu einer friedlichen, demokratischen Alternanz in Argentinien gekommen war: Auf die peronistische Vorgängerin Cristina Fernández de Kirchner folgte nun ein Präsident des Parteienbündnisses Cambiemos.12

Trotz des letztlich reibungslosen Machtwechsels war das gesellschaftliche und politische Klima alles andere als ruhig und friedlich. Nahezu die gesamte doppelte Amtsperiode (2007–2015) Cristina Fernández de Kirchners war als Phase äußerster Polarisierung wahrgenommen worden, in der sich zwei gesellschaftliche Lager von Gegnern und Anhängern der Präsidentin unversöhnlich gegenüberstanden.13 Bei der Verleihung des renommierten Fernsehpreises Martín Fierro im Jahr 2013 kleidete der bekannte Kirchner-kritische Journalist Jorge Lanata die Stimmung am Río de la Plata in drastische Worte:

»Schon seit 20 Jahren komme ich zu den Martin-Fierro-Verleihungen und ich habe noch nie eine so große Teilung im Publikum gesehen. Es gibt eine Art unüberbrückbare Spaltung in Argentinien, was ich ›die große Spaltung‹ nenne und ich glaube, dass es das schlimmste ist, was im Land vor sich geht und es wird über die aktuelle Regierung hinausreichen. Im weitesten Sinne ist es eine kulturelle Teilung, es hat damit zu tun, wie wir die Welt betrachten. Sie hat Freunde, Brüder, Partner, Arbeitskollegen […] getrennt. Hoffentlich können wir sie irgendwann überwinden. Zwei halbe Argentinien machen kein ganzes.«14

Die Rede Lanatas von La Grieta, der argentinischen »Großen Spaltung«, wurde zum Ausgangspunkt einer langanhaltenden Kontroverse über die Wurzeln, den Charakter und die Verantwortlichkeiten für die unüberbrückbar erscheinenden Differenzen im Land.15 In zahllosen Leitartikeln in Zeitungen, Wortmeldungen in Fernseh– und Radiosendungen sowie in Buchpublikationen positionierten sich Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Provenienz hinsichtlich der Frage, was unter der tatsächlich oder vermeintlich einzigartigen argentinischen Spaltung zu verstehen sei und wer Schuld habe an diesem »Kulturkampf«.16

Genesis und Charakter von La Grieta wurden hauptsächlich in drei verschiedenen Mustern erklärt, die sich zum Teil überlappten: Erstens als Streit über stark unterschiedliche wirtschaftliche Vorstellungen, zweitens als Neuauflage der alten Auseinandersetzung zwischen Peronismus und Antiperonismus und drittens als personenzentrierter Disput zwischen der Präsidentin Cristina Fernández sowie ihren Unterstützern und einem breiten gesellschaftlichen und ideologischen Spektrum an Gegnern, die schließlich in Mauricio Macri ihre Führungsfigur fanden.

La Grieta als Meinungsdissonanz zwischen gegenläufigen wirtschaftspolitischen Ansätzen zu deuten, basiert auf der Grundsatzfrage, die das Land am Río de la Plata seit Dekaden beschäftigt: Mit welchen ökonomischen Konzepten kann es gelingen, die endlos anmutende Abfolge an Krisen zu beenden, die Argentinien seit den 1930er Jahren und vor allem nach der Rückkehr zur Demokratie immer wieder an den Rand des wirtschaftlichen Kollapses führten? Die Regierung Kirchner und ihre Befürworter bestanden auf der Bedeutung des Staates als Kontrolleur eines potenziell stets gesellschaftsschädigenden globalen Kapitalismus und hoben die entscheidende Rolle der Regierung als Verteiler des Reichtums und als Protektorin der sozial Schwächeren hervor. Viele ihrer Gegner hingegen sahen genau in den wiederkehrenden Staatseingriffen und der lähmenden Bürokratie das Grundübel der anhaltenden ökonomischen Stagnation des Landes sowie ein Einfallstor für Klientelismus. Sie plädierten daher für eine mehr oder minder weitgehende Zurückdrängung oder Neukonzipierung des argentinischen Etatismus.

Das zweite Erklärungsmuster verstand La Grieta als Fortsetzung alter politischer Konflikte, die die Gesellschaft schon seit der Regierung des Gründers und Namensgebers der peronistischen Bewegung, Juan Domingo Perón, sowie seiner zweiten Frau Eva zu zerreißen drohte. Demzufolge lebte das alte Dilemma des »unmöglichen Spiels«17, das Peronisten und Antiperonisten schon seit 1955 ausfochten, in Cristina und ihrem Ehemann und Vorgänger Néstor Kirchner sowie deren Opponenten fort: Beide Seiten sprächen dem Gegenüber jegliche Legitimität ab, seien jedoch unfähig, den jeweils anderen nachhaltig aus dem Feld zu drängen.

Das letzte Deutungsmuster fokussierte stark auf die moralischen Verfehlungen der politischen Hauptakteure. Je nach Standpunkt galten entweder Cristina Fernández oder ihr wichtigster Konkurrent der letzten Regierungsjahre, Mauricio Macri, als korrupte Manipulatoren, die sich und ihre Entourage auf schamlose Weise und auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten.18

Meiner Ansicht nach können all diese Erklärungsstränge nur einen begrenzten Beitrag liefern, um die »Große Spaltung« und die damit zusammenhängende aufgeheizte Stimmung im Argentinien der 2010er Jahre adäquat zu beschreiben. Auch ihre tieferen, historischen und politkulturellen Implikationen können sie nicht greifen. Den Streit um La Grieta deute ich davon abgrenzend als eine deutlich sichtbare Aufwallung des eingangs eingeführten ideellen Wettkampfs zwischen Regierenden und ihren Gegnern. Er ist profund in der argentinischen Historie verwurzelt, nahm seine entscheidenden Elemente aber seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1983 auf.

Nach der wirtschaftlich, politisch und sozial desaströsen Regierungszeit der letzten Militärdiktatur haben verschiedene demokratische Regierungen und politische Eliten seit dem Ende der Diktatur groß angelegte Transformationsprojekte entworfen, um den kriselnden argentinischen Staat und seine verunsicherte Bevölkerung in einer sich transformierenden und globalisierenden Welt zu verorten. Der Ideenstreit, der im Kulturkampf der »Großen Spaltung« seinen Siedepunkt fand, wurzelt in der Art und Weise, wie diese Eliten Unterstützung für ihre Vorstellungen in der Bevölkerung zu generieren versuchten. Sie nutzten dafür hoch emotionalisierte selbstlegitimierende Narrative, die Sinnstiftung und Orientierung geben sollten. Das Konfliktpotenzial erwuchs aus zwei eng miteinander verflochtenen Quellen, aus welchen sich die Erzählungen speisten. Zum einen entwarfen Politiker und intellektuelle Eliten bestimmte Interpretationen der Vergangenheit, markierten große Erfolge und denunzierten Fehlentwicklungen sowie Schuldige für den unbestrittenen Tiefpunkt, den die Militärdiktatur dargestellt hatte. Einschneidende historische Brüche, Momente, Ideologien, Mythen, Bilder und Personen wurden immer wieder neu und anders bewertet und für das je eigene Regierungsprojekt als Legitimationsgrundlage in Stellung gebracht. Politische Kontrahenten griffen diese Interpretationen an und traten in einen Deutungswettstreit mit den Regierungen. Zum anderen bemühten die Regierungen jeweils unterschiedliche Staats– und Gesellschaftsbilder, die sich aus den ideellen Einflüssen der globalen Transformationsphase nach den 1970er Jahren nährten und immer wieder divergierende Auffassungen darüber hervorbrachten, wie mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen war. Auch diese Bilder wurden mit emotionalen Narrativen ausgestattet und ebenso von Gegenspielern in Frage gestellt und angegriffen.

Auf diesen beiden Ebenen gossen die Eliten alte und neue gesellschaftliche Konflikte um wetteifernde Deutungen der argentinischen Geschichte sowie um normative Visionen für die Zukunft in permanent neue Ummantelungen. Unentwegt wurde um die eigene Historie gestritten und durch ideelle Vorstellungen und Narrativen an der gesellschaftlichen Polarisierung konstruiert, bis schließlich unter Cristina Fernández eine Gemengelage entstand, die die Argentinier glauben machte, sie lebten tatsächlich in einer hoffnungslos gespaltenen Gesellschaft. Mit einem Ansatz der neuen Ideengeschichte, den ich nun ausführlicher erkläre, will ich die Facetten und Gründe des Deutungskampfes und seinen Höhepunkt in den 2010er Jahren erklären.

1.2Theoretische Vorüberlegungen

Um mein Konzept verständlich zu machen, sind zunächst einige theoretische Überlegungen zu formulieren. Sie betreffen zum einen die Hintergründe meines Entwurfs, die Spannungen in Argentinien als wetteifernde Ordnungsvorstellungen und deren narrative Fundierung zu begreifen und zum anderen die weit verbreitete These, es habe zu Beginn der 1970er Jahre in westlichen Staaten allgemein eine profunde Transformation im Ordnungsdenken, von Staats– und Gesellschaftsbildern, gegeben.

1.2.1Ordnungsvorstellungen und Deutungskämpfe: Der Streit um das Narrativ

Mit dem Konzept, die »Große Spaltung« als Konsequenz eines Konflikts zwischen unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen zu erklären, orientiert sich diese Forschungsarbeit am Ansatz von Cornelius Castoriadis. Mit seinem Begriff »das Imaginäre« füllte der griechisch-französische Philosoph in den 1970er Jahren die Lücke, die die politische Theorie mit Bezug auf den Bereich der kulturell-symbolischen Vorstellungswelten bis dato größtenteils gelassen hatte. Diese Art von Imagination galt für gewöhnlich als etwas Irrationales oder nicht Existentes und damit als zu vernachlässigen.19 Castoriadis hingegen stellte Vorstellungen in den Vordergrund und erklärte, dass jegliche Realität lediglich das Produkt einer Schöpfung darstellte –20 als »radikale Imagination« eines Subjekts in Abgrenzung zur Außenwelt sowie als »sekundäre Imagination« aus gesellschaftlich bestimmten, bereits vorhandenen Vorstellungen, Bildern und Symbolen, die das Subjekt lediglich neu kombiniert.21 Jedem »etwas« lag für Castoriadis eine »unaufhörliche und (gesellschaftlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern«22 zugrunde.

»Imaginäre« konstruieren Castoriadis zufolge damit auf der einen Seite die Wirklichkeit eines jeden Einzelnen. Andererseits kommt ihnen eine gesellschaftskonstituierende Funktion zu. Auch die Gesellschaft als Kollektiv schafft sich ihre eigene Welt durch imaginäre Bedeutungen und ihre Interpretationen. Sie wirken durch Institutionen, wie eine geteilte Sprache, Normen, Produktionsweisen und Bedeutungen, die diese Institutionen verkörpern (Totems, Tabus, Götter, Ware, Reichtum, Vaterland usw.), auf die einzelnen Individuen und erzeugen das Gefühl einer Zusammengehörigkeit und einer Einheit. Durch sie versteht sich die Gesellschaft als spezifisch und gewinnt ihre zentralen sinnstiftenden Elemente, durch das das Zusammenleben möglich wird.23 Charles Taylor beschrieb ein solches »Soziales Imaginäres« als komplexes soziales Ordnungsgefüge, das die Wahrnehmung der Umwelt und die Verortung des Individuums in dieser bestimmt:

»of the ways people imagine their social existence, how they fit together with others, how things go on between them and their fellows, the expectations that are normally met and the deeper normative notions and images that underlie these expectations«24

Ohne diese Sinnzusammenhänge würde die Welt für Castoriadis im Chaos befangen sein, Gesellschaft und Kultur wären nicht möglich.25

Keine der Imaginäre, weder die subjektiven noch die kollektiven, sind statisch, sondern unterliegen ganz im Gegenteil einem dauerhaften Transformationsprozess.26 In ihrer Wandelbarkeit sind Ordnungsvorstellungen fortwährend Arenen von »Deutungskämpfen«27 um die Konstitution der Wirklichkeit.28 Soll eine Ordnung als bindend für ein Kollektiv etabliert werden und Stabilität erreichen, braucht sie zwingend Legitimation.29 Der Frankfurter Forschungsverbund »Normative Orders«30 hat in den letzten Jahren den Begriff des »Rechtfertigungsnarrativs« verwendet, um eine bestimmte Art von Legitimationsversuchen einer Ordnung zu beschreiben: die Rechtfertigung mittels Erzählungen.

Andreas Fahrmeier führt hierzu aus, dass moderne Gesellschaften eine Präferenz für Rechtfertigungen in konsistenten, rationalen Systemen, wie beispielsweise Gesetzesbücher oder Beweise nach den Regeln der Natur– und Sozialwissenschaften, haben. Rechtfertigungen durch Geschichten erscheinen hier zunächst nicht naheliegend. Gleichzeitig gibt er jedoch zu bedenken, dass jegliche Begründung, letzten Endes selbst Gesetzestexte, narrative Formen annehmen und argumentative Rechtfertigungen durch erzählte Geschichten – erlebte, tradierte oder exemplarisch konstruierte – untermalt werden.31

Begründungen finden demzufolge stets mittels legitimierender Narrative statt. Derartige Erzählungen richten sich in Herfried Münklers Konzeptualisierung an eine Gruppe von Individuen, der die »eigene« Rolle innerhalb des erzählten Projekts nähergebracht wird.32 Historische Rückgriffe werden an dieser Stelle als sinnstiftende Elemente zentral. Hans Vorländer und Gert Melville betonen, dass derartige legitimierende Erzählungen stets einen »Gründungsmythos«33 konstruieren und davon ausgehend eine vorgeblich ungebrochene Kontinuität von Ahnenfiguren oder historischen Momenten bis zum Wirken der aktuell Herrschenden herstellen. Ebenso konstruieren sich Symbole, Bilder und Mythen aus historischen Bedeutungszuschreibungen und emotionalen Aufladungen.34 Das Narrativ ist sowohl in der Vergangenheit verankert als auch in die Zukunft gewandt und besitzt eine »bestärkende und zugleich auffordernde Funktion; sie bestätigt, dass man auf dem richtigen Weg ist und fordert dazu auf, diesen Weg zielstrebig weiterzugehen.«35 Sie sind eine Verbindung von

»Konstative[m] mit dem Postulatorischen: Die Geschichte, die erzählt wird, berichtet zunächst und vor allem von Vergangenem – Erfolgen und Misserfolgen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Gewinn und Verlust – um daraus dann ein Bild der Zukunft zu entwickeln, das Versprechen, Aussichten und Warnungen bündelt.«36

Der Terminus der Rechtfertigungsnarrative ist für Rainer Forst ein

»heuristisches Mittel, das die normative, auf rationale Überzeugungsbildung zielende Dimension der Rechtfertigung zusammenfügen soll mit der gesellschaftlich wirksamen, von den Beteiligten als jeweils überzeugend anerkannten und praktizierten, durch jeweils eigene Erfahrungen und Erwartungen konstituierten Rechtfertigungen.«37

Schließlich sind Rechtfertigungsnarrative »Formen einer verkörperten Rationalität, denn hier verdichten sich Bilder, Partikularerzählungen, Rituale, Fakten sowie Mythen zu wirkmächtigen Gesamterzählungen, die als Ressource der Ordnungssinngebung fungieren.«38 Die so erzeugte Sinnstiftung und Identitätsbehauptung verleiht dem gesellschaftlichen Konstrukt Stabilität.39

An dieser Stelle lässt sich auf Basis des hier Angeführten ein neuer Blick auf den Zusammenhang zwischen Normativität und Macht werfen: Normativität braucht Macht, um sich entfalten zu können. Soziale Macht wiederum muss die Normativität des gesellschaftlichen Lebens, Denkens und Handelns durchdringen.40 Daraus folgt letztlich auch der dauerhafte Deutungskampf, der mit der Bildung von Rechtfertigungsnarrativen einhergeht. Ihre Wirkmächtigkeit entfalten sie dadurch, dass

»sie die politische und soziale Welt in einem bestimmten Lichte erscheinen lassen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Wirklichkeit und Ideale sowie Einzelne und ein Kollektiv verbindet und zu einer akzeptierten Rechtfertigungsordnung formiert.«41

Die vorliegende Studie geht davon aus, dass ein solcher fortlaufender Deutungskampf um unterschiedliche Rechtfertigungsnarrative innerhalb der argentinischen Gesellschaft nach dem tiefen Einschnitt der Militärdiktatur den Hintergrund für die »Große Spaltung« der 2010er Jahre bildete. Die Implosion der militärischen Machtordnung nach dem verlorenen Malvinas-Krieg 1982 stellte für die argentinische Gesellschaft eine tiefe Zäsur dar, die von entscheidender Brisanz bei der Erstellung neuer Rechtfertigungsnarrative war.42 Die Rückkehr zur demokratischen Institutionalität wurde nach der Niederlage der Streitkräfte nicht mehr in Frage gestellt, doch wie die neue Ordnung narrativ begründet werden sollte, war offen. Die sich in Stellung bringende neue politische Führungsriege rund um den ersten Staatspräsidenten nach der Diktatur, Raúl Alfonsín, sowie seine Nachfolger Carlos Menem und das Ehepaar Néstor und Cristina Kirchner machten hier drei wirkmächtige Angebote43 und lösten jeweils heftige Debatten aus. In meiner historiographischen Analyse werde ich Ursprünge und zeithistorische Hintergründe der jeweiligen Narrative herausarbeiten, die Fundamente ihrer historischen Interpretationen offenlegen, ihre Mythen, Symbole und Bilder erläutern und die fortwährenden Deutungskämpfe um diese Narrative erklären. Am Ende der Analyse folgt die Begründung, warum der Deutungsstreit zwar dauerhaft schwelte, aber gerade unter dem Kirchner-Ehepaar in La Grieta kulminierte.

Das grundsätzliche Konfliktpotenzial bei der narrativen Begründung von Ordnungen bildet den ersten Teil des theoretischen Fundaments der vorliegenden Arbeit. Wie erwähnt, gewinnen die Deutungskämpfe an Intensität, wenn etablierte Vorstellungen durch neuartige herausgefordert werden. Einschlägiger sozial– und geschichtswissenschaftlicher Forschung zufolge geschah genau dies auf breiter Ebene während der 1970er Jahre in der gesamten sogenannten westlichen Staatenwelt. Erkenntnisse aus diesen Arbeiten bilden den zweiten Teil meiner theoretischen Grundlagen.

1.2.2Die Transformation von Staats– und Gesellschaftsvorstellungen nach den 1970er Jahren

Die These von sich verändernden Ordnungsvorstellungen während und nach den 1970er Jahre genießt in der deutschen zeithistorischen Forschung bereits seit mehreren Jahren Hochkonjunktur. Für Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael stellt jene Dekade einen Einschnitt dar, nach welcher die Epoche »nach dem Boom«44 der westeuropäischen und nordamerikanischen Nachkriegszeit begann. Sie folgen der Ausgangsthese, dass sich hier ein »Strukturbruch«45 vollzog, der vielfältige, tiefgreifende Wandlungsprozesse in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zur Folge hatte.46 Die Zäsur falle allerdings nicht mit einem konkreten Datum zusammen, sondern bestehe, in den Worten von Hartmut Kaelble, aus »rapid economic changes, and cultural and social upheavals. It was a ›silent revolution‹ , instead of an upheaval dominated by specific events, it represents a soft turning point.«47 Antriebsfeder der Argumentation ist die Krisenstimmung, die in den 1970er Jahren in Westeuropa herrschte: Im Soge zweier Ölkrisen und eines wirtschaftlichen Abschwungs flachte die bis dato vorherrschende Fortschrittseuphorie ab und langsam begannen sich die wirtschaftlichen Fundamente der Nachkriegsgesellschaften zu verändern.48 Die Epoche der traditionellen Montanindustrie und der fordistischen Massenproduktion kam an ihr Ende, im Gegenzug setzte in dieser Zeit der Aufstieg der Finanzbranche sowie der High-Tech-Produktion ein.49 Die Verwandlung beschränkte sich aber nicht auf den ökonomischen Bereich. Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahren profunde Veränderungen in der Arbeitswelt, in der Wirtschafts– und Gesellschaftspolitik, aber auch im Alltag oder im Konsumverhalten in den Blick genommen.50

Entscheidend für die vorliegende Arbeit ist jedoch die übergeordnete Dimension: Ordnungsvorstellungen in Politik und Wirtschaft, die Rolle des Staates, ja das gesamte Gesellschafts– und Menschenbild begann sich zu transformieren.51 Besonders anschaulich haben das Peter Wagner52 und Andreas Reckwitz53 herausgearbeitet. Beide verwenden in ihren soziologischen Arbeiten zur Moderne voneinander abweichende Begrifflichkeiten und unterschiedliche Ansätze. Die Diagnosen der veränderten Imaginationen vor und nach der Umbruchphase der 1970er Jahre ähneln sich jedoch stark.

Für beide Soziologen stellte jenes Jahrzehnt eine Wasserscheide dar, in deren Folge sich gesellschaftliche Imaginationen in den liberal-demokratischen, pluralistischen Systemen des sogenannten kapitalistischen Westens tiefgreifend wandelten. Reckwitz diagnostiziert für jene Zeit den Übergang von einem seit dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden »Regulierungsparadigma« zu einem nun einsetzenden »Dynamisierungsparadigma«54.

Seiner Ansicht nach war das später abgelöste Regulierungsparadigma eine Antwort auf die »massiven Krisenerfahrungen der Industriegesellschaften der 1930er und 1940er Jahre«55 gewesen. Sie spiegelten sich in den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der daraus entstehenden Massenarbeitslosigkeit, den nach wie vor schwelenden Problemherden der sozialen Frage sowie den Unzulänglichkeiten der bestehenden staatlichen Institutionen wider. Der Übergang zur Industriegesellschaft im späten 19. Jahrhundert war mit einer »Entleerung« des Sozialen einhergegangen, was unter anderem zu einer enormen Polarisierung der Gesellschaft und zu einer Radikalisierung des politischen Diskurses geführt hatte.56 Das Regulierungsparadigma habe eine Antwort auf diese Probleme dargestellt. In den Worten von Peter Wagner wurde der Versuch unternommen, die moderne Gesellschaft zu »organisieren«,57 indem die Regierenden sich anschickten, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse zu regulieren und sie in eine feste Ordnung zu bringen.58 Die zentrale Rolle der neuen Regierungspraxis fiel vor allem im Bereich der Wirtschafts– und Sozialpolitik dem Staat zu. Im Nachgang der Verheerungen der Weltwirtschaftskrise setzte sich, federführend vorangetrieben von John Maynard Keynes, die Ansicht durch, dass Märkte grundsätzlich von Ungleichgewicht und Krisenanfälligkeit geprägt waren.59 Dieser Schwäche des liberalen Kapitalismus wurde nun der Staat als aktive Steuerungsinstanz und langfristiger Planer zur Seite gestellt, um das kapitalistische System und seine Krisen zu kontrollieren. Hinzu kam die Idee, die Reichtumszirkulation in der Bevölkerung so gut wie möglich auf alle Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen, um Konflikte zu vermeiden. Die antizyklische, nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik versprach genau jene Abfederung des krisenanfälligen Kapitalismus und der Keynesianismus wurde in der Folge zum wichtigsten Ideengeber der politischen Ökonomie.60 Zentraler Bestandteil der neuen Rolle des Staates war der Aufbau von Wohlfahrtstaaten. Diese boten den Menschen im Falle wirtschaftlicher Krisen weitreichende Absicherungen mittels Kranken– und Altersvorsorge sowie Absicherung für den Fall von Arbeitslosigkeit, zudem wirkten sie im Wohnungsbau sowie im Bereich der Bildung und Infrastruktur als Investor. Generell entwickelte sich eine Vorstellung, Fortschritt und Wohlstand planen zu wollen und zu können.61

Begleitet wurde dieser Prozess von einer grundlegenden Neuordnung im Verständnis des Sozialen. Den bisherigen Defiziten wurde nun eine dezidiert starke Position von Kollektiven, sozialen Bindungen und Gemeinschaft gegenübergestellt.62 Das Individuum existierte im Regulierungsparadigma lediglich in einer wechselseitigen Beziehung zur Gesamtgesellschaft, es erhielt von dort Halt und Absicherung, stand allerdings auch in der Bringschuld gegenüber der Gemeinschaft – durch Mitarbeit an der Optimierung des Gemeinwohls. Zusätzlich wurde das Individuum in diverse soziale Korporationen eingebettet, etwa in Volksparteien und Gewerkschaften, Kirchen– und Berufsverbänden.63 Das Ergebnis war für Reckwitz die Formierung einer »nivellierte[n] Mittelstandsgesellschaft«64, in der kulturelle Differenzen und individuell abweichendes Verhalten nicht willkommen waren. Stattdessen etablierte sich in der gesamten Gesellschaft eine »Konsenskultur«.65

Das Dynamisierungsparadigma bildete sich nach Darstellung von Reckwitz in der Folge der Krise der 1970er Jahre heraus. Wie in den 1930er Jahren sei es zu einer Transformation gekommen, da Probleme und Widersprüche entstanden waren, auf die im bis dato herrschenden Paradigma keine Lösungen gefunden werden konnten. Am sichtbarsten zeigten sie sich die Komplikationen ein weiteres Mal im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Zwischen den beiden Ölpreiskrisen der 1970er Jahren kam die bis dato nahezu ungebrochene Phase des Hochwachstums der Nachkriegszeit zum Erliegen. Die Wirtschaft konnte nie wieder an die vorhergehende Dynamik anknüpfen. Zudem bedrohte der Expansionsdrang und die weltweite Auslagerung von Produktionsstätten im Zuge der verstärkten Technologisierung und Globalisierung der 1970er Jahre die Funktionsweise des Fordismus.66 Das Leitmotiv der Vollbeschäftigung verblasste. Außerdem wurde bei zunehmender Arbeitslosigkeit und erlahmender Wirtschaft der Sozialstaat vor nie gekannte Herausforderungen gestellt.67 Die antizyklischen Werkzeuge der keynesianischen Theorie erwiesen sich in der einsetzenden »Stagflation« als wirkungslos und der Glaube an die Planbarkeit der Wirtschaft wurde nachhaltig erschüttert.68 Stattdessen wurde mehr und mehr vor einer schädlichen Überregulierung und daraus folgenden Erschlaffung der Wirtschaft gewarnt. Die »Überbelastung« der Regierungen ließ schließlich gar von einer »Krise der Demokratie« sprechen.69 Die einzige Alternative schien ein Aufbrechen der bekannten staatlichen Schranken darzustellen. Neue Leitbegriffe wie »Flexibilität« rückten nun in den Vordergrund.70

Ein solches Aufkündigen der über Jahrzehnte gültigen gesellschaftlichen Regeln und Hierarchien wurde auch jenseits der Wirtschaftspolitik gefordert. Angeführt von den Studenten der 68er-Bewegung wurden die starre Homogenität und die autoritären Wertvorstellungen der Nachkriegsgesellschaft als verknöchert und überkommen verurteilt und stattdessen eine umfassendere Freiheit gefordert. Die Autonomie der Individuen und deren »Selbstverwirklichung« wurden als wichtiger angesehen als die Einbettung in ein soziales Kollektiv.71

All dies zeigte gemäß der Analyse von Reckwitz, dass die westlichen Gesellschaften in eine Überregulierungskrise geraten waren, auf die erst im Rahmen eines neuen »Dynamisierungsparadigmas« Antworten gefunden wurden.72 Ging es nach 1945 darum, stabile soziale und wirtschaftliche Ordnungen aufzubauen und die Gesellschaft zu organisieren, wendete sich nun das Blatt hin zu »Tendenzen einer Dekonventionalisierung und Pluralisierung von Praktiken«73. In der politischen Ökonomie setzten sich Theorien durch, die von Regierungen vorangetriebene staatliche Steuerungsversuche stets als schädlich und als Hang zur autoritären Gängelung kritisiert hatten. »Neoliberalen« Theoretikern wie Friedrich von Hayek, Milton Friedman und anderen gelang es, die ideelle Hegemonie des Keynesianismus zu brechen.74 In ihrer Vorstellung ging es vordergründig darum, die Freiheit der Marktsubjekte so weit wie möglich zu garantieren. Damit wurde zwangsläufig der Staat als Hauptakteur der alten Ordnung einer kritischen Befragung unterzogen. Freiheit des Marktes bedeutete dabei nicht schlicht eine Zurückdrängung oder gar Auflösung des Staates, sondern er wurde nun als Garant eingesetzt, um mittels klarer Regeln und Institutionen den freien Warenaustausch zu beschleunigen, auszuweiten und langfristig zu sichern.75 Die neoliberale Triade Liberalisierung des Handels, Privatisierung öffentlicher Produktionsstätten und Deregulierung sozial– und verwaltungsstaatlicher Beziehungen wurden zur neuen Maxime in der politökonomischen Regierungspraxis.76 Kompetitivitäts– und Effizienzsteigerung in der internationalen Konkurrenz verdrängten nationale Wohlstandsziele wie Vollbeschäftigung oder möglichst gerechte (Um-)Verteilung des Reichtums.77 Die neuen Schlagwörter der neoliberalen Marktlogik breiteten sich bald in Bereichen der Gesellschaft aus, die vorher nicht von Effizienz– und Wettbewerbsgedanken durchdrungen waren – im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Infrastruktur oder im Bildungssektor.78

In zahlreichen Forschungsarbeiten wird die Periode nach den 1970er Jahren deshalb allgemein als »neoliberale« Epoche betitelt.79 Für die Belange der vorliegenden Studie erscheint eine solche Kategorisierung jedoch nicht zielführend. Der Terminus ist seit den 1980er Jahre in vielen Ländern, gerade in Lateinamerika, zu einem hochgradig politisch aufgeladenen Kampfbegriff geworden und wird bis heute zumeist pejorativ von Widersachern konservativer oder liberaler Bewegungen verwendet.80 Darüber hinaus entstand der Neoliberalismus zwar ursprünglich als Reaktion auf die Krise des Liberalismus in den 1930er Jahren und produzierte unterschiedliche Antworten auf die Ausgangsfrage, wie die Freiheit des Einzelnen und des Marktes am besten gewährleistet werden könne.81 In der öffentlichen Debatte wird er aber häufig auf seine wirtschaftspolitischen Aspekte reduziert. Auch wenn mittlerweile wissenschaftlich daran gearbeitet wird, den Neoliberalismus auch in seiner politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Tragweite zu konzeptualisieren,82 erscheinen andere Begriffe geeigneter, um die Zeit nach 1970 zu beschreiben. Termini wie »Dynamisierung« (Reckwitz) oder »erweiterte Liberalisierung« (Wagner) benennen die vielschichten Umformungen der Ordnungsvorstellungen seit dem Strukturbruch adäquater. Sie sind nicht vorbelastet und laufen nicht Gefahr, eine Reduzierung auf wirtschaftliche Aspekte zu evozieren.

Denn der Wandel der 1970er Jahre umfasste nicht nur politökonomische, sondern auch soziokulturelle Aspekte. Für Daniel Rodgers brach ein gesellschaftliches »age obesessed with self-referentiality«83, Giovanni Orsina erkannte den Anbeginn der Epoche des »Narzissmus«84. Der Drang zur Liberalisierung, der sich bereits während der Studentenunruhen gezeigt hatte, veränderte langfristig die Art und Weise, wie sich einzelne Individuen zur Gesellschaft positionierten. Statt sich in gesamtgesellschaftliche Relationen zu setzen, pochten die Menschen als Individuum oder als Teil einer Gruppe darauf, dass sie über subjektive Rechte verfügten, die sie der Gesellschaft gegenüber einfordern können –85 mit weitreichenden Folgen vor allem für progressive Akteure. So erklärt Reckwitz beispielsweise den Siegeszug der Menschenrechte als Leitmotiv gesellschaftlicher Anliegen seit den 1970er Jahren: Bei den Linken ging es immer weniger um die vormals entscheidenden Arbeitsbeziehungen, sondern um die Forderung, dass sämtliche Individuen möglichst weltweit gleiche Rechte erhalten – allen voran diejenigen, denen sie aufgrund einer gruppenspezifischen soziokulturellen Identität vorenthalten werden. Während die alten Institutionen des Regulierungsparadigmas wie die Volksparteien der Nachkriegszeit oder die Gewerkschaften schließlich an Bindungskraft verloren, gewannen themenspezifische Organisationen wie Umwelt– sowie feministische Gruppen oder Tierschutzbewegungen an Zugkraft.86

Die hier skizzenhaft angedeuteten Verschiebungen in den Ordnungsmustern der Nachkriegszeit werden in der europäischen und nordamerikanischen Forschungslandschaft zumeist mit Bezug auf Westeuropa und die USA beschrieben. Ähnliches wurde jedoch auch für den lateinamerikanischen Kontext nachgezeichnet. Der chilenische Soziologe Manuel Antonio Garretón, der Argentinier Marcelo Cavarozzi und weitere Kollegen identifizierten eine in den 1970er Jahren einsetzende Veränderung der »sozio-politischen Matrix«87 mit weitreichenden Folgen für politische Diskurse und das Handeln der Regierenden auf dem Kontinent.88 Sie stellten die These auf, dass es zuvor eine die unterschiedlichen politischen Ausformulierungen überlappende »staatszentrierte-nationalpopuläre« Matrix gab,89 die wie in Europa in jener Dekade abgelöst wurde und folgende Kennzeichen besaß: Ihre

»socio-economic base was import-substituting industrialisation, in which the state, defined as ›state of compromise‹ (including contradictory interests of competing sectors like oligarchy, bourgeoisie, middle and organised working classes, and excluding peasants and urban poor), had a leading role and was not only the main development agent, but also the main reference of the collective action of the masses that were incorporated into the national life«90

Den Ansatz, die auch in Lateinamerika im Zuge der Weltwirtschafskrise stark kritisierte liberale Wirtschaftsordnung über den massiven Einsatz des Staates regulieren oder ordnen zu wollen, gab es hier ebenfalls – obgleich in einen andersartigen soziokulturellen Kontext eingebunden. Die Politik der Importsubstitution und die damit verbundene Tendenz, eine wirtschaftliche Entwicklung »nach innen« anzustreben, war die lateinamerikanische Antwort auf die Krise des Wirtschaftsliberalismus.91 Die politisch hybriden, aber zum autoritären Umgang neigenden Regime zeichneten sich zudem durch dominante, populistische Führungsfiguren aus, die die Individuen der Bevölkerung durch intensive Mobilisierung und einen starken Nationalismus in die Kollektive der Gesellschaft integrierten.92 Stets in andere nationale Kontexte eingebunden und weniger Stabilität als in Westeuropa zeitigend,93 lassen sich doch die organisierenden beziehungsweise regulierenden Muster in ihrer Grundausprägung vergleichen.

Aus den Fugen geriet das Paradigma aus ähnlichen Gründen wie die Regulierung in Europa: Der Staat war aufgrund der globalen Wachstumsabschwächung in den 1970er und 1980er nicht mehr in der Lage, seine Kompromissfunktion zwischen den einzelnen Akteuren aufrechtzuerhalten, auf einer gesellschaftlichen Ebene forderten radikale Gruppierungen ein Ausbrechen aus autoritären politischen und soziokulturellen Strukturen sowie eine schnellere, revolutionäre Verbesserung der Lebensverhältnisse für die breite Bevölkerung.94 Laut Marcelo Cavarozzi entstand hieraus eine Ordnungskrise, die die politischen Eliten in der Folge nicht mehr zu lösen in der Lage waren.95 An diesem historischen Krisenmoment setzt die vorliegende Arbeit an: am Übergang von der lateinamerikanischen Version des Regulierungsparadigmas zur Dynamisierung – in einer höchst instabilen Ausprägung.

Garretón und Cavarozzi sprechen in ihrem »Matrix«-Entwurf davon, dass sich neben der Rolle des Staates, dem politischen Repräsentationssystem, der sozioökonomischen Basis und der sozialen Akteure sowie ihrer kulturellen Beziehungen auch die Art und Weise veränderte, wie die Politiker versuchten ihre Projekte zu legitimieren und Identifikationspotenziale unter den Menschen zu entfalten. Auch sie betonen also die Wichtigkeit narrativer Begründung.96

An dieser Stelle laufen die beiden theoretischen Grundlagen meiner Studie zusammen; die zwingende Bindung von gesellschaftlicher Ordnung an narrative Rechtfertigungen sowie die Annahme, dass im gesamten kapitalistischen Westen unter Einschluss des lateinamerikanischen Kontinents seit den 1970er Jahre zentrale Koordinaten bestehender Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens einem Paradigmenwechsel unterworfen waren.

Daher verfolgt diese Arbeit die These, dass der Ideenkampf Argentiniens, seine Emotionalität und die »Große Spaltung« erst durch die Betrachtung der Folgen dieses Zusammenspiels verständlich werden. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Legimitationsnarrative, die die längerlebigen Staatsführungen seit dem Ende der Militärdiktatur, von Raúl Alfonsíns UCR-Regierung über Carlos Menems peronistische Präsidentschaft bis zum Ehepaar Kirchner seit dem Ende der Militärdiktatur entworfen haben. Sie werden auf zwei eng miteinander verflochten Ebenen untersucht, die die benannte Korrelation widerspiegeln und Konfliktpotenziale offenlegen. Die Regierenden griffen, erstens, auf historische Erzählungen über die nationale Vergangenheit zurück, modifizierten in der Historie genutzte Narrative, Mythen und Bilder und schufen daraus neuartige Versionen. Zudem wurden sie, zweitens, maßgeblich vom Übergang des vorher dominierenden Regulierungs– zum nun einsetzenden Dynamisierungsparadigma beeinflusst: Die oben kurz skizzierten Verschiebungen im Gesellschaftsbild sowie der Auffassungen zur Rolle des Staates fanden auch in Argentinien Anklang, wurden von den Regierungen aufgenommen und in die Narrative eingeflochten. Ihr Ziel war es dabei stets, der jungen postdiktatorischen Institutionalität neue Leitmotive und normative Werte vorzugeben, um die traumatisierte Gesellschaft hinter der demokratischen Verfasstheit nach 1983 zu versammeln und sich mit dieser zu identifizieren. Die Studie wird darüber hinaus zeigen, welche Deutungskämpfe daraus entstanden und schließlich erklären, wie und warum sich daraus die Eskalation während der ersten und zweiten Amtszeit von Cristina Fernández de Kirchner bildete.

Bevor das ausgeführt wird, folgt zunächst ein Überblick über einige Elemente entscheidender historischer Rechtfertigungsnarrative in Argentinien. Dabei werden lediglich zentrale Linien bedeutsamer Narrative sowie ihrer Entstehung knapp herausgestellt. Sie bilden jedoch den historischen Hintergrund für den untersuchten Zeitraum und legen die Fundamente frei, auf welchen viele der historischen Erzählungen, Mythen und Bilder innerhalb der Rechtfertigungsnarrative nach 1983 fußten und sie erst verständlich machen. Im Anschluss daran werden der Zuschnitt der Arbeit, die zentralen Fragestellungen, die verwendeten Quellen sowie der Forschungsstand erläutert.

1.3Historischer Hintergrund: Argentinische Rechtfertigungsnarrative und ihre Krisen

Um die geschichtlichen Fundamente der hier untersuchten Erzählungen freizulegen, ist der Blick vor allem auf zwei Rechtfertigungsformeln zu richten: Die erste betrifft die sogenannte »Konservative Ordnung« in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Sie legitimierte die Dominanz einer kleinen wirtschaftlichen und politischen Elite mit der Vorstellung von einer ausstehenden Mission der Zivilisierung einer noch rohen argentinischen Gesellschaft hin zu einer republikanischen Reife nach europäischem Vorbild. Mittels des Wirkens eines starken Staates in der Gesellschaftspolitik, und hier insbesondere im Bildungsbereich, bei gleichzeitig möglichst großer Freiheit der Wirtschaftstätigkeit sollte mit dieser »Konservativen Ordnung« eine potente Macht im Süden Amerikas erschaffen werden. Die zweite entscheidende narrative Fundierung von Herrschaft bot Juan Domingo Perón in seiner ersten Präsidentschaft von 1946 bis 1955. Sie denunzierte die vorhergehende Ordnung als ausbeuterische, von fremden Mächten mitgesteuerte Elitenherrschaft, verlieh General Perón selbst die Rolle des mythischen Befreiers eines unterdrückten Volkes und sprach sich für die rigorose Vertretung nationaler Interessen anstelle der bislang vorherrschenden Abhängigkeit von europäischen und nordamerikanischen Ideen und Interessen aus. Der Peronismus nutzte den Staat in der Selbstkonstruktion als Lenker und Umverteiler wirtschaftlichen Reichtums und schickte sich an, eine harmonische, einheitliche Gemeinschaft des Volkes unter der Führung des Generals zu bilden. Beide Erzählungen sowie die historischen Hintergründe ihrer Entstehung werden nun in ihren Grundzügen skizziert.

Argentinien durchlebte nach der Loslösung vom spanischen Kolonialreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine mehrere Dekaden andauernde staatliche Konsolidierungsphase. In der Historiographie wird sie für gewöhnlich ab 1880 als abgeschlossen betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt waren die nach der Ausrufung der Unabhängigkeit immer wieder aufflammenden Bürgerkriege beendet, das Staatsgebiet befriedet und eine stabile Koexistenz im vormals konfliktiven Verhältnis zwischen dem Machtzentrum Buenos Aires und den übrigen Provinzen Argentiniens etabliert worden.97 Um den Staatspräsidenten Julio Argentino Roca, der 1880 erstmals in die Casa Rosada einzog,98 hatte sich eine relativ homogene politische Führungsriege gebildet, die das Land bis 1916 durchgehend regierte. Zudem profitierte Argentinien von einem auf massiven Export von Land– und Viehwirtschaftsprodukten gestützten ökonomischen Aufschwung, der erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. endgültig zum Erliegen kam. Die Zeit von 1880 bis 1916 betitelt die argentinische Historiographie für gewöhnlich als »liberal-konservative Modernisierung«99 oder »Konservative Ordnung«.100

Die Legitimationserzählung, das politische Modell und das Handeln der Elite speisten sich stark aus den ideellen Einflüssen und Erfahrungen nach der nationalen Unabhängigkeit Argentiniens im Jahre 1810. Insbesondere die intellektuelle Avantgarde der sogenannten Generación del 37101 (Generation von 1837) um Juan Bautista Alberdi und Domingo Faustino Sarmiento spielte eine prägende Rolle. Beide waren tief enttäuscht von den Zerwürfnissen der Bürgerkriege und den despotischen Realitäten, die auf die aufklärerisch-republikanischen Ideale der Ahnen der Mairevolution von 1810 gefolgt waren. Insbesondere die 1835 beginnende Präsidentschaft von Juan Manuel de Rosas werteten sie als barbarische Tyrannenherrschaft. Die Generación del 37 versuchte die Hintergründe der in ihren Augen verheerenden Entwicklung Argentiniens zu ergründen und Ideen für eine bessere Zukunft zu entwickeln.102

Langfristig folgenreich wurde dabei besonders Sarmientos 1845 erschienene Streitschrift El facundo o civilización y barbarie en las pampas argentinas103. Spürbar von der europäischen Romantik beeinflusst, stellte Sarmiento die argentinische Natur, die Landschaften und Bewohner in den Vordergrund und erklärte aus den daraus gezogenen Erkenntnissen die Probleme seiner Heimat. In dem Pamphlet, das sich in erster Linie an seinem politischen Feindbild Rosas abarbeitete, sah Sarmiento zwei Herzen in der argentinischen Nation schlagen: einen rückständigen, ländlichen, ungebildeten und instinktgeleiteten, amerikanischen Bevölkerungsteil der Barbarei – sinnbildlich in dem Diktator Rosas verkörpert – sowie einen fortschrittlichen, städtischen, gebildeten und vernunftgeleiten, europäischen Anteil. Sarmiento bevorzugte die europäisch-moderne Seele Argentiniens.104 Aus Sarmientos Betrachtung der Gesellschaft entstand in der Folge das wirkmächtige und im Laufe der Geschichte immer wieder neu gedeutete Narrativ der zwiegespaltenen Argentinier, wobei der Argumentation nach eine Seite zwingend ihren schädigenden Einfluss verlieren musste, um die Zukunft der Nation zu retten.105 Unter Julio Argentino Roca und seinen konservativen Nachfolgern bedeutete das in den frühen 1880er Jahren vor allem, dass das Staatsterritorium von »wilden Stämmen«106 endgültig befreit und von zivilisierten, das hieß europäischen, Immigranten bevölkert werden müsse.

Die Vorstellung einer Modernisierung durch Einwanderung aus Europa prägte das endende 19. Jahrhundert entscheidend und wurde ebenfalls bereits von der Generación del 37 als zukunftsweisend aufgefasst. In Juan Bautista Alberdis Hauptwerk Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, das großen Einfluss auf die Verfassung von 1853 hatte, oblag sie der politischen Führung mit seiner Formel »Regieren heißt Bevölkern« gar als Hauptaufgabe.107 Die Immigranten aus dem alten Kontinent würden allein durch ihre Verhaltensweisen und Werte dafür sorgen, dass sich Argentinien in Richtung des europäischen Ideals zivilisierte.108 Alberdi war darüber hinaus der Überzeugung, dass das Wohl der Nation zum einen in einem möglichst weitgehenden Freihandel lag und zum anderen in der zeitweiligen Beschränkung der Macht auf einen kleinen, aufgeklärten, die Menschen anleitenden Machtzirkel – bis die breite Bevölkerung zur Demokratie fähig sei.109

Zahlreiche Überlegungen der Generación del 37 lieferten Legitimationsmaterial, mit welchen die »Konservative Ordnung« ihren exklusiven Machtanspruch untermauerte. Die »mögliche Republik« Alberdis, eine Republik die aufgrund der unfertigen Bedingungen in der Gesellschaft noch keine tatsächliche sein konnte,110 wurde unter den Regierungen des Partido Autonomista Nacional (PAN) ab 1880 mit der Präsidentschaft Rocas zum Ist-Zustand. Verknüpft mit der Aussicht auf eine in einer undefinierten Zukunft befindlichen »wirklichen Republik«111, welche tatsächliche Mitbestimmung der dann zivilisierten und damit mündigen Argentinier versprach, entstand so das entscheidende Narrativ, um die exklusive Herrschaft der Politikerclique und ihr Handeln auf nicht absehbare Zeit zu rechtfertigen.

In diesem Sinne brachten die Regierungen der »Konservativen Ordnung« die Entwicklung des Landes mit starker Hand auf den Weg in Richtung des angedachten europäisierenden Fortschritts. Durch den Einsatz des Staates wurde sie von oben vorangetrieben. Die Immigration wurde gefördert, im Inneren wurde mit der Einführung eines staatlichen Personenregisters und dem Aufbau einer öffentlichen, freien und kostenlosen Schulbildung zentrale Machtfaktoren aus den Händen der Kirche genommen und breitere Bevölkerungsschichten alphabetisiert.112 Weit verbreiteter Wahlbetrug führte dazu, dass der PAN den exklusiven Zugriff auf die Macht behielt. Darüber hinaus wurde jeglicher Angriff auf den »öffentlichen Frieden«, wie Präsident Roca schon in seiner Antrittsrede hatte verlauten lassen, mit aller Entschiedenheit unterdrückt und revolutionäre Umtriebe gleich welchen Ursprungs schon im Ansatz zu erstickt.113 Im Narrativ Rocas konnte nur auf diesem Wege der für die Entwicklung des Landes unabdingbare innere Frieden erhalten bleiben. Und die Manipulation des Urnengangs sorgte in diesem Sinne dafür, dass die leitende Hand der Elite auch in Zukunft nicht gestört wurde.

In wirtschaftlicher Hinsicht stellte sich Roca und seine Nachfolger ganz in die Tradition Alberdis:

»Meiner Meinung nach wissen die Handeltreibenden besser als die Regierung, was sie brauchen; wirkliche Politik besteht demnach daraus, ihr den größtmöglichen Freiraum zu schaffen. Der Staat muss sich darauf beschränken, Kommunikationsräume zu schaffen und das Ansehen der Volkswirtschaft im Ausland möglichst hoch zu halten.«114

Der massive Einsatz des Staates in der Gesellschaftspolitik fand im Bereich der Wirtschaft keine Parallele.115 Hier sollte sich der Staat möglichst zurückhalten.116 Mit einer solchen Überzeugung sorgte Roca dafür, dass die Harmonie zwischen wirtschaftlicher und politischer Elite bestehen blieb, da der Agrarexportboom durch die Anbindung an Großbritannien nach 1890 den schon bestehenden Reichtum der Landbesitzer-Aristokratie noch vergrößerte. Die Interpretationen des Gemeinwohls folgte ebenfalls den Leitlinien Alberdis: Jedes einzelne Individuum würde letztlich durch das Streben nach eigenem Wohlstand in einem liberalen Wirtschaftssystem profitieren, was auf lange Sicht der ganzen Bevölkerung zugutekäme.117

Die Rechtfertigungsnarrative jener wirtschaftlich liberalen und gesellschaftlich konservativen Ordnung speisten sich aus den Versprechen einer an das europäische Vorbild angelehnten Modernisierung, die auf breiter Ebene in der intellektuellen Elite des Landes kursierten. Die Effekte, die der ab dem Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich einsetzende Fortschritt mit sich brachte,118 legten die wunden Punkte der Legitimität der Herrschaftsordnung jedoch bald offen. Zentrale Elemente des Modernisierungskurses wurden zum Gegenstand heftiger politischer Debatten im Land, und die exklusive Lenkung von oben wurden zunehmend in Frage gestellt.

Mehr als alles andere betraf dies die offene Immigrationspolitik, die das Bild der Gesellschaft radikal veränderte. Die Ankunft von »Menschenmassen«, so die Wahrnehmung der Zeit,119 brachte das personalistische, auf den Partido Autonomista Nacional zugeschnittene politische System schnell ins Wanken. Bereits zehn Jahre nach der Machtübernahme Rocas kam es unter seinem Nachfolger Miguel Juárez Celman zur »Revolución del Parque«, einem Aufstand, in dem die neue Partei Unión Cívica – die Keimzelle der späteren Unión Cívica Radical – ein Ende des exklusiven Klientelsystems und der Korruption der Juárez Celman-Regierung sowie eine Ausweitung des Wahlrechts forderte.120

Doch der PAN-Regierung erwuchs nicht nur auf der Parteienebene ernsthafte Konkurrenz. Neue Organisations– und Diskussionsplattformen entstanden. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit der Federación de Trabajadores de la Región Argentina (Arbeiterverband der Region Argentinien) der erste, wenn auch kurzlebige, Gewerkschaftsverband gegründet. Die im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung barg in Argentinien früh bedrohliches Konfliktpotenzial, da die Immigranten aus Europa sozialistische und anarchistische Vorstellungen mit ins Land brachten. Bald entstanden an diese Ideen angelehnte Organisationen, Gewerkschaften und Parteien und schufen damit in den Augen der alten Elite genau jenes revolutionäre Potenzial, welches die gewonnene Stabilität am meisten bedrohte.121 Nicht nur deshalb wurde die Förderung der Einwanderung vor allem von nationalistischen Intellektuellen hinterfragt.122 Einst als unabdingbares Fundament gepriesen, auf dem das zukünftige Argentinien gedeihen sollte, waren große Teile der Elite bald besorgt über die Charakteristika der Neuankömmlinge und ihres Verhaltens. Viele Migranten zeigten kein Interesse an einer dauerhaften Ansiedelung am Río de la Plata und planten eine zeitnahe Rückkehr in die Heimat.123 Die Angst der konservativen und liberalen Eliten des 19. Jahrhunderts vor einem bevorstehenden Verlust der Kontrolle über die Massen vermischte sich so mit dem Aufkommen der nationalen Frage im Land. Nationalistische Intellektuelle wie Ricardo Rojas, Manuel Gálvez und Leopoldo Lugones beklagten um die Jahrhundertwende die durch die Migration verursachte Verwischung der nationalen Identität und verorteten stattdessen beispielsweise in der verblassenden Gaucho-Kultur die Essenz des wahren »argentinischen Seins«.124 Dabei wurde nicht zuletzt die regierende Elite selbst ins Visier genommen und für die Missstände verantwortlich gemacht. Die Nationalisten warfen ihr auch vor, ohnehin nie das Wohl der argentinischen Nation, sondern nur ihr eigenes Profitstreben im Sinn gehabt zu haben.125 Die alte Ordnung war in diesen Kreisen nurmehr ein Club aus »unargentinischen«, auf Europa fixierten Oligarchen, die exklusiv vom Warenaustausch des internationalen Kapitalismus lebten, sich dabei vom Rest der Bevölkerung abgekoppelt hatten und die nationale Identität vernachlässigten –126 ein Deutungsmuster, dass in der Folge weit über jene nationalistischen Kreise hinaus Verbreitung finden sollte.127

Die Herrschaftsordnung der konservativen Elite litt damit unter Fliehkräften, die sie letztlich nicht zu kontrollieren vermochte. Als sie 1912 mit dem Sáenz Peña-Gesetz das Wahlrecht deutlich ausweitete, um der Kritik an der Machtkonzentration zu begegnen, verlor die PAN schon vier Jahre später die Wahl. Hipólito Yrigoyen zog als Kandidat der Unión Cívica Radical in den Präsidentschaftspalast ein. Sein politischer Stil stellte ein neues Phänomen in der politisch-kulturellen Entwicklung des Landes dar. Ursprünglich war die Partei aus dem Protest gegen die Korruption der PAN unter Juárez Celman entstanden, später hatten die Radikalen vor allem für mehr politische Partizipation durch die Ausweitung des Wahlrechts geworben. Unter Yrigoyen tauchten bereits Elemente des zweiten für die vorliegende Studie bedeutsamen Rechtfertigungsnarrativs in der argentinischen Geschichte auf.

Yrigoyen inszenierte sich erstmals als Anführer, Interpret und Lenker des Volkes und richtete den Kampf um Mitwirkung der Massen vollkommen neu aus, indem er sich als Inkarnation des Volkswillens darstellte, welcher dem die Bevölkerung ausbeutenden Regime des PAN entgegentrat.128 Sein ungewohnter, dezidiert volksnaher Umgangston rief schnell heftigen Widerstand der politischen und ökonomischen Elite hervor, zu einer wirklichen Transformation der sozioökonomischen Ungleichheiten oder gar des Zugangs zu wirtschaftlichen und politischen Machtressourcen kam es jedoch auch unter radikaler Präsidentschaft nicht. Die sozialen Probleme, die Einbindung der stärker werdenden Arbeiterbewegung sowie die nationale Frage harrten weiterhin einer Antwort.129 Zu einer Zäsur im Ordnungsmodell kam es erst, als in Folge der Weltwirtschaftskrise das Freihandelssystem aus den Angeln gehoben wurde und der Militär Juan Domingo Perón zunächst 1943 als hohes Mitglied einer Diktatur und ab 1946 als gewählter Präsident die Geschicke des Landes bestimmte.130 General Perón knüpfte mit seiner Beschwörung des Volkswillens an Yrigoyen an und konstruierte daraus das Fundament für sein eigenes Narrativ. Seine erste Regierungsphase (1946–1955) kann in Anlehnung an Peter Wagner und Andreas Reckwitz als Auftakt gedeutet werden, die argentinische Modernisierung zu ordnen oder regulieren zu wollen.131

Der General griff in seinem Diskurs viele der schwelenden Konflikte in der argentinischen Gesellschaft auf, integrierte sie in sein politisches Projekt und ummantelte es mit einer wirkmächtigen, »nationalpopulistischen«132 Erzählung. In erster Linie galt dies für die soziale Frage und das Problem der nationalen Identität. Wie Hipólito Yrigoyen markierte Perón eine scharfe Dichotomie zwischen der alten Oligarchenherrschaft und seiner, in der Selbstkonstruktion, das Volk verteidigenden Regierung. Bei Perón allerdings führte die Beschwörung des »wahren Volkes«, der arbeitenden Argentinier, zu einer neuen Idee des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.133 Demnach konnte die Gesellschaft nur als Ganzes überlebensfähig sein, wenn sie als organisches Miteinander begriffen wurde: Einzelne Organisationen – die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeiter und »Rückgrat« des Volkes, Unternehmensverbände als Stellvertreter des Kapitals sowie die Kirche, das Militär und soziale Organisationen – konnten in Peróns Vorstellung harmonisch zusammenwirken, jedoch nur, wenn sie das kollektive, das nationale Interesse über alles stellten. Peróns Rede von der »organischen Gesellschaft« war sowohl eine Antwort auf die lange diskutierte Angst vor den Massen in der Politik als auch eine Barriere gegen die Verbreitung sozialrevolutionärer Umtriebe:

»[W]ir sind lediglich diejenigen, die vereinte und gut geführte Gewerkschaften wollen, denn ungeordnete Massen sind für den Staat und für sich selbst stets die gefährlichste Bedrohung. Eine ungeordnete Masse von Arbeitern, so wie sie einige im Land wollen, ist der beste Nährboden für die sonderlichsten politischen und ideologischen Ideen«134

Entscheidend für das Funktionieren des Organismus war nach der Argumentation des Generals die Führungsgestalt Peróns selbst als ordnende, stabilisierende Hand sowie der Staat als ausführender Lenker sowie Verteilungs– und Austauschplattform zwischen den einzelnen Interessengemeinschaften und ihren Konflikten. Nach 1946 wurde die bereits vorher angestoßene »Entwicklung nach Innen«, die Abkehr von der ökonomischen Fixierung auf den Außenhandel, forciert. Durch staatliche Schranken, wie erhöhte Zollabgaben, wurden Importe gedrosselt und stattdessen eigene, nationale Industrieprodukte gefördert, zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen und damit einhergehend der Binnenkonsum gesteigert.

Das vormalige Ideal individueller Freiheiten trat in den Hintergrund. Im Narrativ des Generals geschah Wertschöpfung im Namen des argentinischen Kollektivs. Der »erste Peronismus«135 vertrat daran anschließend auch ein eigenes Demokratieverständnis, in welchem das Volk und sein Willen in einer »organisierten Gemeinschaft« agierten. Die peronistischen Organisations– und Interessensausgleichsstrukturen mit dem Militär und seiner Ehefrau Evita als Interpreten des Volkswillens und Fixpunkte des gesellschaftlichen Zusammenlebens »waren« die Demokratie in Perfektion. Als Gegenbild zeichnete Perón die antiperonistische Opposition, die nur vorgeblich demokratische Mitwirkung versprachen, stattdessen jedoch lediglich an einer Reetablierung des exkludierenden Elitenstaates von vor 1946 Interesse hatten.136

Hinfällig war im Narrativ des Peronismus auch die Suche nach der nationalen Identität: Die Bewegung des Generals selbst stellte schlicht die Antwort auf die »nationale Frage« dar. Gegen den Widerstand des U.S.-amerikanischen Botschafters Spruille Braden 1946 an die Macht gekommen und dezidiert traditionelle katholische Werte propagierend, hatte Juan Domingo Perón die antiimperialistischen und religiösen Leitplanken seiner Version des argentinischen Nationalismus früh gesetzt. Davon abgesehen blieb Perón möglichst offen: »Argentinisch« sein hieß in der Folge Peronist zu sein und dem Projekt des Generals und seiner Frau zu folgen. General Perón und seine Bewegung wurden in der Selbstdarstellung zur exklusiven Inkarnation der Nation.137

Diese inhaltliche Entleerung umstrittener Debattenfelder betraf bis zu einem bestimmten Punkt alle ideologischen Auseinandersetzungen: Solange ein politischer Aktivist sich in erster Linie auf Perón und Evita berief, konnte er sein politisches Agieren mannigfaltig ausgestalten – nur der Wille und die Deutungshoheit der Führungsfiguren durften nicht in Frage gestellt werden. Im Umkehrschluss bedeute all das aber auch, dass jeder, der sich gegen das politische Projekt des Generals stellte, gegen die Nation agierte – und letztlich nicht mehr Teil des Volkes war.138 Die politische Opposition hatte in dieser Logik jegliche Legitimität verloren:

»Und solange sie sich nicht in einen Teil des Volkes verwandeln, das heißt, solange sie nicht beginnen zu arbeiten, solange sie nicht an ihrem eigenen Leib den gleichen Schmerz wie ihre Brüder und den Schmerz des Vaterlandes fühlen – so als wäre es ihr eigener Schmerz, solange werden sie nicht mehr an die Regierung zurückkehren können, denn seit unserem Auftauchen wird man, um regieren zu können, als einzige und ausschließliche Regierungsvoraussetzung vorweisen müssen, dass man Fleisch und Seele des Volkes ist.«139

Der peronistische »Nationalpopulismus« schaffte es nach 1946 eine in der Geschichte Argentiniens nie dagewesene Massenbewegung zu erschaffen und große Teile der Bevölkerung hinter sich zu scharen. Beträchtliche Anteile bis dahin marginalisierter, arbeitender und armer Bevölkerungsschichten wurden sozial und auch symbolisch – über das populistische Narrativ, seine Mythen und Bilder – in die Nation integriert.140 Der radikale Ausgrenzungsmechanismus der peronistischen Botschaft resultierte als Kehrseite der Medaille allerdings in einem kaum weniger mächtigen Widerstand, der bald dazu führte, dass ehedem verfeindete Akteure wie die Radikalen und die alten konservativen und liberalen Eliten sich gegen den in ihren Augen »totalitären«141 Peronismus verbündeten und gemeinsam gegen ihn und seine Anhänger vorgingen. Der Kampf zwischen Peronisten und Antiperonisten, der nach dem Sturz des Generals durch einen Militärputsch 1955 noch an Intensität gewann, bestimmte das Land für die nächsten Jahrzehnte und ließ auf beiden Seiten ideologische Grenzen verschwimmen. Das Erbe des extrem weit deutbaren und doch stets spaltenden Narrativs des Generals war eine wichtige Facette der enormen Instabilität, die Argentinien nach 1955 kennzeichnete.142

Bis zur Militärdiktatur vermochte es keine Regierung eine auch nur annähernd so wirkmächtige Rechtfertigungsformel wie die General Peróns zu entwerfen. Wie Marcelo Cavarozzi herausgearbeitet hat, blieben bei aller gesellschaftlicher Zwietracht zudem einige Kernelemente des politischen Projekts Peróns nach dessen gewaltsamer Amtsenthebung bestehen.143 Zwar wurde das Narrativ von der Bevölkerung als zusammenhängendem, homogenem Organismus insbesondere durch die gewichtigste politische Oppositionsgruppe, die Radikalen, als totalitär verworfen. Vor allem die Auffassung der Rolle des Staates veränderten sich allerdings nicht profund. Auch die dem General nachfolgenden Regierungen, ob militärischer oder ziviler Couleur, sahen ihn weiterhin als zentralen Lenker im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, hielten Säulen der peronistischen Wohlfahrtsstaatlichkeit aufrecht und nutzten den Staat als ausgleichenden Moderator zwischen den korporativen Strukturen der argentinischen Gesellschaft.144 Mit einem nachhaltig bedeutsamen Narrativ konnte keine der zivilen oder militärischen Regierungen ihr Vorgehen ausstatten. Zudem stieß das staatszentrierte Modell parallel zur Krise des europäischen Regulierungsparadigmas in den 1970er Jahren auf unüberwindbare Hürden. Just als Juan Domingo Perón 1973 seine triumphale Rückkehr an die Macht zelebrierte, stockten das nach Innen gerichtete Wachstum und die nicht nachhaltige argentinische Industrialisierung bereits unübersehbar. Dem Staat fehlten die Ressourcen, um die vormals zentrale Funktion als Verteiler und Moderationsplattform in gleichem Ausmaß ausfüllen zu können. Perón versuchte sich ein weiteres Mal unter Rückgriff auf seine Rolle als Alleinvertreter des argentinischen Volkes zu legitimieren, die ideologischen Konflikte zwischen Peronisten und Antiperonisten sowie innerhalb des Peronismus hatten allerdings einen nicht mehr zu kontrollierenden Siedepunkt erreicht und mündeten in die Welle aus Gewalt und Terror der 1970er Jahre, an deren Ende die Machtübernahme durch die bisher letzte Militärdiktatur stand.145

Zwei Kernelemente der aufgezeigten historischen Rechtfertigungsnarrative stechen hervor. Erstens gelang es den herrschenden Eliten in Argentinien nie eine einende Erzählung zu finden, die grundlegende Kompromisse zwischen wetteifernden Parteien befördert und eine Machtordnung längerfristig legitimiert hätte. Im Gegensatz dazu wurden gar systematisch Spaltungen aufgebaut, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren erreichten.146 Diese grundsätzliche Instabilität und die letztlich stets unfruchtbaren Versuche, sie narrativ zu überwinden, wird im Laufe der Arbeit immer wieder zum Vorschein kommen. Sie begleitete das Land also als historisch verwurzelte Konstante auch nach dem Ende der Militärdiktatur.