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„Ein Himmel von fast morgenländischer Klarheit, schön, rein, leuchtend und blau wie ein Türkis aus Nischapur dehnte sich über den Häusern und Gärten der noch schlummernden Stadt. Nur das Zwitschern der Spatzen, die einander auf Dächern und den Ästen der Akazien verfolgten, und das behagliche Gurren einer Taube vom Wipfel eines Baumes störten die tiefe Ruhe des frühen Morgens. Von weitem ertönte dann und wann das ächzende Knarren eines Bauernkarrens, der langsam auf dem holprigen Pflaster der Sadowaja, der größten und elegantesten Straße der Stadt, herankam.
Angrenzend an den breiten, staubigen, verlassenen Domplatz umschloß eine Holzverschalung den Hof des Hotel London, dessen eintönige lange Fassade mit drei Stockwerken aus grauen Steinen, verdrießlich wie ein regnerischer Herbsttag, ohne Erker, ohne Pfeiler, ohne Säulen, schmucklos in die Sadowaja starrte.
Dieses Hotel, das erste der Stadt, war durch seine Küche berühmt. Die jeunesse dorée, Offiziere, Industrielle und Aristokraten waren die Gönner seines renommierten Restaurants, in dem ein Orchester von drei blassen Juden und zwei Kleinrussen nachmittags und bis spät in die Nacht banale Potpourris aus Eugen Onegin und Pique Dame, sentimentale Volkslieder und rhythmisch zerhackte Zigeunerweisen spielte. Wie viele fröhliche Gesellschaften, glänzende Feste und ’Orgien’ – um diesen Ausdruck zu gebrauchen, der bei uns für die Veranstaltungen des Hotel London beliebt war – hatten dessen Wände schon umschlossen!
Das Restaurant des Hotels bestand aus einem großen und einem kleineren Saal. Aber es besaß keine Separees. Daher pflegten diejenigen, die unter sich bleiben wollten, im ersten Stock des Hotels Zimmer und Salon zu nehmen, die Leo Dawidowitsch, der Portier, stets für seine Gäste reserviert hielt.“
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Claude Anet
ARIANE
Ein russisches Mädchen
First published in 1931
Copyright © 2020 Classica Libris
Original title
Claude Anet
Ariane
Ein Himmel von fast morgenländischer Klarheit, schön, rein, leuchtend und blau wie ein Türkis aus Nischapur dehnte sich über den Häusern und Gärten der noch schlummernden Stadt. Nur das Zwitschern der Spatzen, die einander auf Dächern und den Ästen der Akazien verfolgten, und das behagliche Gurren einer Taube vom Wipfel eines Baumes störten die tiefe Ruhe des frühen Morgens. Von weitem ertönte dann und wann das ächzende Knarren eines Bauernkarrens, der langsam auf dem holprigen Pflaster der Sadowaja, der größten und elegantesten Straße der Stadt, herankam.
Angrenzend an den breiten, staubigen, verlassenen Domplatz umschloß eine Holzverschalung den Hof des Hotel London, dessen eintönige lange Fassade mit drei Stockwerken aus grauen Steinen, verdrießlich wie ein regnerischer Herbsttag, ohne Erker, ohne Pfeiler, ohne Säulen, schmucklos in die Sadowaja starrte.
Dieses Hotel, das erste der Stadt, war durch seine Küche berühmt. Die jeunesse dorée, Offiziere, Industrielle und Aristokraten waren die Gönner seines renommierten Restaurants, in dem ein Orchester von drei blassen Juden und zwei Kleinrussen nachmittags und bis spät in die Nacht banale Potpourris aus Eugen Onegin und Pique Dame, sentimentale Volkslieder und rhythmisch zerhackte Zigeunerweisen spielte. Wie viele fröhliche Gesellschaften, glänzende Feste und „Orgien“ – um diesen Ausdruck zu gebrauchen, der bei uns für die Veranstaltungen des Hotel London beliebt war – hatten dessen Wände schon umschlossen!
Das Restaurant des Hotels bestand aus einem großen und einem kleineren Saal. Aber es besaß keine Separees. Daher pflegten diejenigen, die unter sich bleiben wollten, im ersten Stock des Hotels Zimmer und Salon zu nehmen, die Leo Dawidowitsch, der Portier, stets für seine Gäste reserviert hielt.
Dieser Leo, ein Jude mit engstehenden, müden Augen, der unumschränkte Herrscher des Hauses, war eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Die Honoratioren aus der Provinz suchten seine Freundschaft und blieben stets im Vestibül stehen, um einige liebenswürdige Worte an ihn zu richten; Leo war diskret und das Schweigen, wie die guten Dienste des Portiers eines so bekannten Hotels pflegte man gut zu belohnen. Wie viele rosa Banknoten und selbst solche von 25 Rubel hatte er nicht diskret entgegengenommen, ohne daß sein bleiches Gesicht die geringste Bewegung verriet; Noten, die ihm heiße Hände von Männern in der Hoffnung zusteckten, bei ihm Zuflucht für ein galantes Abenteuer zu finden. Es scheint, daß die Anzahl derer, die Wert darauf legten, das Geheimnis ihrer glücklichen Stunden wohl bewahrt zu wissen, groß war, denn Leo Dawidowitsch besaß nicht weniger als drei Häuser. Das beweist, daß der Wohlstand zunahm, daß das Geld leicht erworben und mit Freude ausgegeben wurde, kurz, daß das Leben in dieser Stadt ebenso glühend dahinströmte, wie die heißen Sommertage über die Steppen des südlichen Gouvernements, dessen Hauptstadt sie war. Kein Mann war in der Provinz reich geworden, im Bergbau, in der Industrie oder Landwirtschaft, der nicht stets der unvergeßlichen Feste gedachte, die er bei französischem Champagner in Gesellschaft liebenswürdiger Frauen im Hotel London verlebt hatte.
Eines der drei Häuser von Leo Dawidowitsch stand in einer entlegenen Vorstadtstraße, nicht weit jener Chaussée, auf der in der Dämmerung und in der Nacht edle Traber, der Stolz unserer Provinz, Pärchen entführten, deren Freude es war, mit Windeseile auf ebener, gutgehaltener Straße dahin zu fliegen. Dieses Haus hatte über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk. Leo wollte es eines Tages selbst beziehen, hatte aber nur den ersten Stock eingerichtet und ein altes mürrisches Weib dort eingesetzt. Viele Leute kamen, um zu mieten, denn in der Stadt, die sich in den letzten Jahren mit erstaunlicher Geschwindigkeit vergrößert hatte, war Not an Wohnungen, doch die Antwort der Alten war stets die gleiche: die Wohnung sei vergeben. Trotzdem erschien niemals der Mieter und arglose Leute wunderten sich, daß Dawidowitsch offenbar auf die Vorteile einer gewinnbringenden Vermietung verzichte; andere aber schüttelten bedeutsam den Kopf. Tatsache war, daß an manchen Abenden ein Wagen vor der Tür des kleinen Häuschens hielt und daß trotz der dichtverhängten Fenster vereinzelte Lichtstrahlen noch spät nachts aus den Falten der Vorhänge auf die Straße fielen.
Zu der frühen Stunde, da diese Erzählung einsetzt, beim Erwachen eines heißen Tages Ende Mai, war das große Tor des Hotel London noch geschlossen und das elektrische Licht im Restaurant und Vestibül schon lange erloschen. Die kleine Holztür in der Hofverschalung öffnete sich knarrend, ein junges Mädchen erschien und blieb einen Augenblick zögernd auf der Schwelle stehen.
Sie trug ein einfaches braunes Kleid mit einer Schürze aus schwarzem Lüster. Es war die Uniform des bekanntesten Gymnasiums der Stadt, deren Strenge durch einen weißen Spitzenkragen gemildert war, der jetzt ein wenig zerdrückt schien. Gegen die Vorschrift war das Kleid etwas dekolletiert und ließ in zarter Anmut einen schlanken Hals sehen, auf dem sich in leichter Haltung ein kleines Köpfchen wiegte. Ein weißer Strohhut, dessen breiter Rand an den Seiten durch ein schwarzes, unter dem Kinn verknüpftes Band heruntergebogen wurde, umrahmte das Gesicht. Den Kopf lebhaft vorneigend überblickte sie die verlassene Straße, um nach diesem kurzen Zögern aus der Tür zu treten. Hinter ihr erschien nun ein zweites Mädchen, einige Jahre älter, blond, ein wenig üppig, etwas schwerfällig, mit einem schwarzen Seidenrock und einer Batistbluse unter dem Frühjahrsmantel bekleidet.
Das junge Mädchen in Uniform reckte sich, hob den Kopf gegen den Himmel, sog die reine Luft tief, wie einen Trunk frischen Wassers ein und sprach lachend:
„Welche Schande, Olga, es ist hellichter Tag!“
„Schon lange wollte ich aufbrechen,“ brummte diese, „ich weiß nicht, weshalb du so lange gezögert hast… oder weiß es nur zu gut! Und ich muß um zehn Uhr im Bureau sein! Ich werde wieder einen Auftritt mit diesem Tyrannen Petrof haben. Und überhaupt habe ich zuviel Champagner getrunken!“
Die Gymnasiastin betrachtete sie mitleidig, zuckte, wie es ihre Gewohnheit war, leicht mit der linken Schulter und erwiderte nichts. Sie schritt rasch mit einem leichten glücklichen Gang dahin, ließ auf dem Asphalt die hohen Stöckel ihrer Halbschuhe lustig klappern und blickte mit erhobenem Kopf ringsum. Sie war voller Freude, sich nach einem rauchigen Zimmer in der überraschenden Reinheit eines aufdämmernden Frühlingsmorgens zu finden. Die beiden Mädchen schritten quer über den weiten Domplatz und trennten sich, nachdem sie sich für den Abend verabredet hatten.
Die Schülerin bog links vom Dom in eine Seitengasse, als sie plötzlich eilige Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte. Ein schlanker Schüler in Uniform mit den gekreuzten Hämmern am Kappenrand lief ihr nach.
Sie blieb stehen. Ihr Ausdruck wurde kalt und abweisend, die langen Augenbrauen zogen sich zusammen, so daß der Student, der keinen Blick von ihr wandte, verwirrt wurde.
Nervös zitternd stotterte er:
„Verzeihung, Ariane Nikolajewna. Ich wartete, bis Sie allein wären. Ich konnte mich nicht so von Ihnen trennen. Nach dem was zwischen uns geschehen ist…“
Mit überlegener Ruhe unterbrach sie ihn:
„Was, ich bitte Sie, ist denn geschehen?“
Die Verwirrung des jungen Mannes nahm zu.
„Ich weiß nicht,“ stammelte er, „weiß nicht, wie Ihnen erklären… Mir schien… Waren Sie böse, ja? Ich bin verzweifelt. Sagen Sie’s lieber gleich. So ein Leben ist unerträglich!“ schloß er, ganz fassungslos.
„Ich bin über gar nichts böse“, antwortete Ariane, jedes Wort betonend. „Merken Sie sich’s ein für allemal: ich bereue niemals, was ich getan habe. Aber erinnern Sie sich denn nicht, daß ich es mir verbeten habe, auf der Straße von Ihnen angesprochen zu werden? Ich bin erstaunt, daß Sie das vergessen konnten!“
Unter dem eisigen Blick des jungen Mädchens zögerte er nur einen Augenblick, machte dann kehrt, und entfernte sich ohne ein weiteres Wort.
Einige Minuten später war Ariane Nikolajewna vor einem großen Holzhaus angelangt. Im Parterre waren Geschäfte. Sie stieg zum ersten und einzigen Stock hinauf, zog einen Schlüssel aus ihrem Täschchen und öffnete vorsichtig die Tür. Nur das einförmige Ticken einer großen Uhr im Speisezimmer unterbrach die Stille der Wohnung. Auf den Zehenspitzen schlich das junge Mädchen durch ein langes Vorzimmer und öffnete leise eine Tür, hinter der in einem engen Bett ein Dienstmädchen mit offenem Munde, halb angekleidet, schlief.
„Pascha, Pascha!“ flüsterte Ariane. Die Dienerin, die aus dem Schlafe auffuhr, wollte aufstehen. Ariane hielt sie im Bett zurück.
„Du weckst mich um neun Uhr, um neun Uhr, verstehst du. Ich habe vormittag eine Prüfung.“
„Gut, gut, Ariane Nikolajewna, ich werde nicht vergessen. Aber es ist heller Tag. Wie spät Sie doch nach Hause kommen. Ich bitte Sie um Gottes willen, schonen Sie sich doch. Ich komme gleich, Sie auszukleiden“, fügte sie, mit einem neuen Versuch aufzustehen, hinzu.
„Nein, Pascha, bleib nur liegen. Schlaf noch ein wenig. Zum Glück kann ich mich allein an- und auskleiden.“
Ein paar Minuten später war im ganzen Hause der Dworanskaja vollkommene Ruhe.
Um zehn Uhr dieses Morgens unterzog der Geschichtsprofessor Paul Pawlowitsch mit zwei anderen Lehrern die Schülerinnen des von Frau Znamenskaja geleiteten Gymnasiums der Schlußprüfung. Gegen zwanzig junge Mädchen waren in dem großen, hellen, kahlen Schulzimmer versammelt. Es schwirrte von Bruchstücken einer leise geführten Unterhaltung, geflüsterten Sätzen, kurzen, erregten Worten. Lebhafte Augen glänzten in bleichen Gesichtern. Manche blätterten noch hastig im Geschichtsbuch. Andere verfolgten eifrig die Vorgänge auf dem Podium.
Die Prüfung, die für jede Schülerin fünf Minuten dauerte, behandelte ein Thema, das auf kleine Zettel geschrieben, ausgelost worden war. Jedes Mädchen hatte während der Prüfung ihrer Vorgängerin Zeit, an einem benachbarten Tischchen über ihr Thema nachzudenken. Ariane Nikolajewna erwartete eben ihre Prüfung und zerknitterte in ihrer Hand den Zettel, den sie von Paul Pawlowitsch erhalten hatte.
Zwei Stunden Schlaf hatten genügt, ihrem Gesicht eine fast kindliche Frische zu geben, über ihren etwas kleinen hellgrauen Augen wölbten sich langgeschwungene Brauen, die über der kleinen, geraden, regelmäßigen Nase fast zusammenstießen. Der feingezeichnete Mund war geschlossen. Ariane grübelte nicht über ihr Prüfungsthema, sondern folgte den stockenden Antworten der Schülerin, die eben geprüft wurde. Ihre grauen Augen funkelten unter den schwarzen Wimpern und sie mußte merklich an sich halten, ihrer bedrängten Kollegin nicht helfend beizuspringen.
Eine abseits sitzende Aufsichtsdame ging nach einem Blick auf ihre Uhr hinaus. Zwei Minuten später kehrte sie mit der Schulleiterin zurück. Die Professoren beeilten sich, dieser vor dem Podium einen Stuhl anzubieten; Frau Znamenskaja dankte ihnen aber durch ein Neigen des Kopfes und nahm weiter hinten den Sessel der Lehrerin.
Durch den Saal lief ein Murmeln. Die jungen Mädchen tauschten halblaut ihre Meinungen.
„Schon wieder ist sie da.“
„Immer kommt sie, wenn Ariane geprüft wird!“
„Eine Schande, diese Protektion!“
Kaum hatte sich Frau Znamenskaja niedergesetzt, als Paul Pawlowitsch einige Male müde auf den Tisch klopfte. „Ich danke.“ Das junge Mädchen stieg erlöst vom Podium, ging an seinen Platz zurück und verbarg das gerötete Gesicht hinter seinem Taschentuch.
Mit zögernder Stimme rief der Professor:
„Kustnetzowa.“
Ariane kam heran.
Ohne den Blick zu erheben fragte der Professor:
„Welches ist Ihr Thema?“
„Die Märtyrer von Nowgorod.“
Und ohne weitere Fragen abzuwarten, begann Ariane ihren Vortrag. Sie sprach mit überraschender Sicherheit des Ausdrucks. Die schwierigsten Fragen schienen durch ihre Antworten einfach zu werden, das verworrenste Thema wurde leichtverständlich. Sie ordnete alle Dinge nach ihrer Bedeutung und zeichnete, ohne sich in Kleinigkeiten zu verlieren, ein leuchtendes Bild, in dem alles seinen richtigen Platz einnahm.
Mit dem gleichen Behagen, mit dem man im Konzertsaal einem großen Künstler lauscht, hörten ihr die Prüfenden zu. Paul Pawlowitsch ließ jetzt kein Auge von ihr und auch aus dem gespannten Ausdruck der Znamenskaja las man das große Interesse, mit dem sie den gewählten und erschöpfenden Worten Ariane Nikolajewnas folgte. Alle Blicke im Saal ruhten ans dem Podium.
„Das ist eine Fünf mit einem Kreuz“, sagte eine.
„Erster Preis und goldene Medaille“, flüsterte eine andere.
„Schau auf Paul Pawlowitsch,“ zischelte eine dritte, „kein Zweifel, er liebt sie.“
„Das weiß ich schon lang“, antwortete ein bleiches, ernstes Mädchen.
Nach Verlauf der fünf Minuten unterbrach Paul Pawlowitsch Ariane.
„Das genügt, Kustnetzowa, wir danken Ihnen.“
Das junge Mädchen verließ das Podium. Einer der Professoren beugte sich flüsternd zu seinem Nachbar:
„Ein geniales Kind.“
Eine Stunde später war die Prüfung beendet. Während die anderen Schülerinnen den Saal verließen, blieb Ariane noch im Gespräch mit der Schulleiterin zurück. Ihre Unterhaltung dauerte sehr lange. Bald waren sie allein im Saal. In einer Aufwallung von Zärtlichkeit neigte sich die Znamenskaja schließlich zu ihr, küßte die überraschte Ariane und sprach:
„Wo Sie auch immer sein mögen, Ariane, vergessen Sie niemals, daß ich Ihre Freundin bin!“ und entließ sie.
Im Stiegenhaus warteten zwei junge Mädchen auf Ariane Nikolajewna. Sie flüsterten mit spitzem, rasch wieder unterdrücktem Gekicher. Die eine war groß, schlank, blaß mit glänzenden Augen und eckigen Bewegungen. Die andere war häßlich, mit kleinen Augen, breiter Nase, aber kokett und lebhaft. Beider Ruf war kein guter; man sah oft Schmuck an ihnen, dessen Herkunft verdächtig schien, da sie aus vermögenslosen, kleinbürgerlichen Familien stammten. Sie schlossen sich Ariane an und überschütteten sie im Weitergehen mit tausend Zärtlichkeiten, Glückwünschen und Schmeicheleien.
„Hören Sie, Ariane,“ sagte dann die Größere, „könnten Sie nicht heute abend mit uns kommen? Wir sind eine kleine Gesellschaft. In dem neuen Landhaus, das Popof kürzlich kaufte.“
Dieser Popof war der reichste Kaufmann der Stadt, ein Mann reiferen Alters, abstoßend häßlich.
„Er hat es in ungewöhnlicher Art eingerichtet; stellen Sie sich nur vor, daß es im ganzen Hause nicht einen einzigen Stuhl gibt, nur Sofas. Das müssen Sie gesehen haben!“ Die Kleine schaltete eifrig ein:
„Und die Musik ist in einem Nebenzimmer versteckt, man hört sie nur, aber sieht nichts von ihr. Und dann hat er etwas ganz Neues ausgedacht: die Beleuchtung besteht nur aus vielen kleinen Kerzen, von denen eine nach der andern ausgeht!“
„Und wer soupiert auf diesen Sofas?“ fragte Ariane. „Denn ich soll doch wohl nicht mit Popof soupieren?“
„Ein paar seiner Freunde, reizende Leute. Übrigens warum sollte es denn nicht Popof sein? Er ist ganz toll in Sie verliebt; er träumt und spricht nur von Ihnen. Sie müssen unbedingt mitkommen.“
„Vielen Dank, Popof ist zu häßlich.“
„Aber geistreich. Und überhaupt mußten Sie ihn singen hören! Er singt bezaubernd. Sie würden das nicht für möglich halten!“
„Er wird ohne mich singen,“ erwiderte Ariane stehenbleibend, „denn ich will weder sein Landhaus, noch seine Sofas, noch seine Kerzen sehen. Heute nicht und morgen nicht. Niemals! Das könnt ihr ihm ausrichten.“
„Aber er wird verzweifelt sein.“
„Der Schnaps wird ihn trösten.“
Sie verließ die beiden Mädchen, die erregt, über die erhaltene Absage eifrig sprechend, ihren Weg fortsetzten.
„Das ist zum Lachen, wie sie sich bitten läßt!“ sprach die Größere, „Popof wird mit uns nicht zufrieden sein“, die Kleine.
Ariane betrat einen winzigen Garten, eigentlich nur einen von Bäumen und Rosenstöcken begleiteten Weg. Paul Pawlowitsch ging hier erregt auf und ab. Sanft, verschlossen und zurückhaltend, ein Träumer und Idealist, schreckte er vor jeder Berührung mit der Außenwelt zurück; besonders aber vor diesen Begegnungen mit Ariane Nikolajewna, die er in dem kleinen Gärtchen zwei-, dreimal in der Woche nach dem Unterricht zu treffen pflegte. Und immer wieder, wenn sie vor ihm stand, fiel es wie eine Lähmung über ihn, so daß er nur mit Mühe Worte hervorbrachte. Heute überdies, nach ihrer kurzen Unterhaltung mit ihren beiden Mitschülerinnen, schien Ariane gereizt, was seine Verwirrung noch steigerte. Trotzdem fand er die Kühnheit, auf eine abseits stehende Bank zu weisen und zum Niedersetzen einzuladen. Sie lehnte ab. Sie hätte sich ohnedies stark verspätet und würde erst nach Hause kommen, wenn alle schon gegessen hätten.
Er ging neben ihr und sie zu ihrer guten Prüfung beglückwünschend wiederholte er das schmeichelhafte Urteil des einen Lehrers:
„Ein geniales Kind.“
Ariane warf ihr bewegliches Köpfchen zurück und brummte:
„Kind! Welche Frechheit, ich bin siebzehn Jahre!“
Danach blieb sie schweigsam, so daß der Professor, irritiert, schließlich auch verstummte.
Sie schritten rasch durch die wenig belebten Straßen. Die Hitze war, zum erstenmal in diesem Jahr, drückend und kündigte schon den glühenden Sommer des Südens an.
So kamen sie schweigend in die Dworanskaja, zu dem Haus, in dem Ariane Nikolajewna wohnte. Paul Pawlowitsch war bleicher als sonst; mit gewaltsamer Anstrengung begann er zu sprechen. Ariane unterbrach ihn:
„Wissen Sie, Paul Pawlowitsch, woran ich denke? Sie meinen, ich sei verstimmt, aber ich bin nur glücklich, namenlos glücklich. Erraten Sie worüber? Nicht? Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich denke nur an eines: in wenigen Minuten bin ich in meinem Zimmer; auf meinem Diwan liegt ein wunderschönes weißes Seidenkleid, dekolletiert und mit weißen Spitzen besetzt. Und Pascha. Sie kennen doch Pascha? Sie betet mich an; was immer ich tue, bewundert sie. Pascha wird mit dem Kleid weiße Seidenstrümpfe und weiße Abendschuhe vorbereitet haben. Dann, Paul Pawlowitsch, werde ich mich von Kopf zu Fuß ganz auskleiden, ich werde diese scheußliche Gymnasiastenuniform, diesen braunen Fetzen, den ich seit drei Jahren trage, auf die Erde werfen, werde darauf tanzen und ihn mit den Fußen zerstampfen, Und Pascha werde ich umarmen. Nur daran denke ich: ich bin frei, frei! Freuen Sie sich doch mit mir!“
Sie streckte ihm die Hände entgegen. Paul Pawlowitsch hörte ihr zu und sein Gesicht spiegelte den Widerstreit seiner Gefühle. Die Freude des jungen Mädchens, ja ihre Stimme allein schon, berauschte ihn und doch fühlte er eine müde Schwermut, einen Abschiedsschmerz… Schon hatte ihn Ariane verlassen, um ins Haus zu eilen, als sie sich bei der Tür nochmals umdrehte:
„Wenn Sie heute abend nichts Besseres vorhaben, kommen Sie in den Alexanderpark.“
Sie war verschwunden. Paul Pawlowitsch starrte ihr regungslos nach.
In dem großen Speisezimmer saßen, als Ariane eintrat, einige Personen an dem langen Tisch, dem Tante Varwara präsidierte. Sie war eine Frau in den Vierzigern mit unregelmäßigen Zügen. In ihrem Gesicht fielen zuerst nur wundervolle große schwarze Augen auf, die allein schon genügten, das allgemeine Urteil über diese Frau zu rechtfertigen: Varwara Petrowna sei eine faszinierende Erscheinung. Sie war geschmackvoll frisiert, ein Scheitel an der Seite teilte ihre leicht gewellten Haare. Ihr Mund war ebenso fein, wie der ihrer Nichte, aber die Zähne waren schadhaft. Varwara Petrowna, die das wußte, hatte sich deshalb angewöhnt, nur mit ihren großen funkelnden Augen zu lachen, während ihre Lippen geschlossen blieben. „Sie ist unwiderstehlich“, meinten dann ihre Intimen. Sie war noch immer schlank und zart. „Wenn Tante Varwara über die Straße geht“, pflegte Ariane zu erzählen, „glauben die Leute ein junges Mädchen vor sich zu haben.“ Sie kleidete sich selbst zu Hause mit der peinlichsten Sorgfalt – in Rußland eine Seltenheit. Sie hatte elegante Schuhe, ihre Hände waren gepflegt, ihre Wäsche war vornehm und stets trug sie ein schwarzes Stoffkostüm von einem ersten Moskauer Schneider.
Das Leben, das sie führte, bildete für die Bewohner der Stadt einen Gegenstand unerschöpflichen Interesses. Aus ihrer Vergangenheit wußte man, daß sie ihre Familie aus nicht ganz aufgeklärten Gründen verlassen hatte, um in der Schweiz Medizin zu studieren, daß sie schließlich nach Rußland zurückgekehrt war und sich als Distriktsarzt in Iwanow, einer Stadt unseres Gouvernements niederließ. Zu dieser Zeit befaßte man sich mehr mit ihrer jüngeren, außerordentlich schönen Schwester Vera, die der bekannte Schriftsteller Kovalsky, der den Winter in der gleichen Stadt wie sie verbrachte, auffallend verehrte. Gerade als man die Verlobung der beiden erwartete, reiste er Hals über Kopf in die Krim und sie kam ebenso unerwartet nach Iwanow zu ihrer Schwester, wo sie durch sechs Monate so zurückgezogen lebte, daß niemand sie zu Gesicht bekam. Darauf zog sie nach Paris und heiratete dort ein Jahr später den Ingenieur Kustnetzow, den seine Geschäfte öfters nach Frankreich führten.
Kurz nach ihrer Abreise von Iwanow wurde bekannt, daß das Haus Varwaras noch einen zweiten Gast beherberge, einen Säugling, von dem Varwara erzählte, er sei das ihr anvertraute Kind einer unverheirateten Freundin. Dieses kleine Mädchen war nicht in der Ortskirche getauft worden und als es anderthalb Jahre alt war, reiste Varwara mit ihm ins Ausland, wo sie einige Zeit bei ihrer verheirateten Schwester Vera wohnte.
Zurück kam sie allein. Und ein plötzliches Ereignis lenkte ihr Leben in ganz neue Bahnen. – Eines Nachts wurde sie zu dem schwererkrankten Prinzen J. – einem der reichsten Großgrundbesitzer Rußlands – gerufen, der eben einen Monat auf einem benachbarten Gut verbrachte; sie vermochte ihm das Leben zu retten. Der Prinz ließ sie nicht mehr fort, nahm sie mit nach Europa und sie blieb sieben Jahre, bis zu seinem Tode, bei ihm. Dann kehrte sie in ihre Heimat zurück. Sie brachte ein Vermögen von hunderttausend Rubeln, nebst einer Rente von zehntausend Rubeln und die reichen Erfahrungen des glänzenden Lebens mit, das sie an seiner Seite geführt hatte. Damals kaufte sie das Haus in der Dworanskaja.
Es war, als hätte sie Rußland niemals verlassen. Sie verstand die Kunst, ihre Zeit beschäftigungslos zu verbringen, als wäre sie es nie anders gewohnt gewesen, und die Tage, die sie mit nichts auszufüllen hatte, erschienen ihr viel zu kurz. Sie verließ selten die Stadt, kaum einen Monat verbrachte sie auf einem kleinen Landsitz am Don, den sie erworben hatte, um stets mit Milch, Eiern und Gemüse versorgt zu sein. Während der Jahre ihrer Abhängigkeit vom Prinzen hatte sie die Lust am Reisen bis zum Überdruß genossen. Diese verflossene Zeit betrachtete sie wie die Kulissen eines Theaters, die vielleicht prächtig waren; wer aber dachte daran, zwischen ihnen seine Zukunft zu verbringen! Man verlebt dort eine kurze Zeit im blendenden Schein des künstlichen Lichtes, von tausend Zuschauern beobachtet, aber nach der Vorstellung bleibt man zu Hause und schließt die Türen.
Und das tat Varwara Petrowna; aber sie lehnte die Türe nur an, um die zahlreichen Freunde einzulassen, die sie schon nach kurzer Zeit in der Stadt gewonnen hatte. Fünf Jahre waren seit ihrer Ankunft vergangen, als ihre Schwester Vera in San Remo einem Lungenleiden erlag; sie war dort allein mit ihrer Tochter Ariane gewesen; Kustnetzow eilte von Petersburg herbei, brachte seine Tochter nach Rußland und bat seine Schwägerin, da er nichts mit ihr zu beginnen wußte, sie zu sich zu nehmen.
Als die Nachricht das Haus in der Dworanskaja erreichte, waren die Freunde Varwaras davon überzeugt, daß sie ablehnen werde. Warum sollte sie sich auch in ihrer Unabhängigkeit der Pflicht unterziehen, ein Mädchen zu erziehen, das sie gar nicht kannte? Ihre Freunde tauschten sich; ohne auch nur zu überlegen telegraphierte sie sofort nach Erhalt des Briefes nach Petersburg, man möge ihre Nichte schicken.