Armut hat System - Sirkka Jendis - E-Book

Armut hat System E-Book

Sirkka Jendis

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Beschreibung

»Armut hat System«: Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen – ein Appell der Tafel Deutschland-Geschäftsführerin Sirkka Jendis – Geschäftsführerin der Tafel Deutschland – fordert eine soziale Zeitenwende. Wie kann es sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt so viele Bürgerinnen und Bürger auf Unterstützung durch vielfältiges ehrenamtliches Engagement angewiesen sind? Können wir es uns leisten, Teile der Bevölkerung auszugrenzen? Können wir einen Bruch mit dem Gesellschaftsvertrag begehen, der soziale Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft verspricht? Und welche Konsequenzen hat die wachsende soziale Ungleichheit für unsere Demokratie? Als Geschäftsführerin von Tafel Deutschland schildert Sirkka Jendis in ihrem Sachbuch eindrücklich, was Armut im Alltag für Betroffene bedeutet. Sie analysiert verschiedene Dimensionen von Armut und stellt konkrete Forderungen an die Politik. Sirkka Jendis verbindet ihr persönliches Engagement mit gesellschaftspolitischer Schärfe. So entsteht ein eindrückliches Plädoyer für ein neues Menschenbild und eine wirksame Armutsbekämpfung. Radikales Umdenken ist nötig, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht – in der Bildung, zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen. In Deutschland sind 14,2 Millionen Menschen von Armut betroffen, das sind 16,8 % Prozent der Einwohner Deutschlands. (Quelle: Paritätischer Armutsbericht 2024). Die Tafeln unterstützen zwischen 1,6 und 2 Millionen Menschen mit geretteten und gespendeten Lebensmitteln. Mit 60 000 Helferinnen und Helfern sind die über 970 Tafeln eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland.  Sirkka Jendis will mit ihrem Sachbuch erzählen, wie Armut ausgrenzt, einschränkt, stigmatisiert und beschämt. Armut ist nicht selbstverschuldet – wir alle können plötzlich betroffen sein. Vom Staat fordert Jendis echte Armutsbekämpfung, eine mutige Zivilgesellschaft und eine neue Solidarität für armutsbetroffene Menschen.

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Sirkka Jendis

Armut hat System

Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Können wir es uns leisten, Teile der Bevölkerung auszugrenzen? Können wir einen Bruch mit dem Gesellschaftsvertrag begehen, der soziale Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft verspricht? Und welche Konsequenzen hat die wachsende soziale Ungleichheit für unsere Demokratie?

Als Geschäftsführerin der Tafel Deutschland erzählt Sirkka Jendis, wie Armut im Alltag ausgrenzt, einschränkt, stigmatisiert und beschämt. Sie zeigt auch, was wir tun können – und müssen. Aus ihren Analysen und Gesprächen leitet sie konkrete Forderungen an die Politik ab, mit denen die systemischen Ursachen von struktureller Armut bekämpft werden können.

Und sie spricht uns alle an: Es braucht Menschen, die hinschauen, sich verbünden und gemeinsam dafür sorgen, dass niemand ausgeschlossen, übergangen und benachteiligt wird. Ihr Buch ist deshalb ein eindrückliches Plädoyer: für ein neues Menschenbild, eine wirksame Armutsbekämpfung und eine mutige Zivilgesellschaft.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

»Der Populismus der Armutsdebatte«

»Einladung zur Empathie«

Die Tragödie der Armut

Arm in einem (immer noch) reichen Land – immer mehr mit immer weniger

Wovon wir reden, wenn wir von Armut reden

Und worum es eigentlich geht

Wer über Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen

… aber nicht nur auf »die da oben« zeigen

Arm und (allein-)erziehend – Kinderarmut und Chancengerechtigkeit

Wo geht es los?

Was kann Bildung und was nicht?

Das Startchancen-Programm als Lösung?

Die Kindergrundsicherung als Perspektive?

Knackpunkt Familie und Beruf

Kleine Ideen und große Expert*innen

Arm trotz, wegen und ohne Arbeit – zwischen Niedriglohn und Bürgergeld

Der Wert der Arbeit

Bürgergeld statt Hartz IV – wenig mehr als ein neuer Name

Mindestlohn und Minijobs

Gefragt sind Perspektivwechsel

Arm und alt – Demografie, Menschenwürde und Einsamkeit

Riestern statt Solidarisieren

Grundsicherung im Alter – Altern in Würde?

Quo vadis, Rentenversicherung?

Scham, Stress, Einsamkeit

Arm macht krank, krank macht arm

Arm mit Migrationsgeschichte – zwischen (Nicht-)Willkommenskultur und Fachkräftemangel

Bekannte Probleme – nur mehr davon

Integrationsparadox oder Stimmungsumschwung?

Politische Maßnahmen und gesellschaftliche Herausforderungen

Arm und außen vor –soziale Ungleichheit und Demokratiegefährdung

Mit jeder Krise wächst die Ungleichheit

Wegschauen ist keine Lösung

Eigentum verpflichtet – Überreichtum erst recht

Bürgerschaftliches Engagement stärken

Eine soziale Zeitenwende braucht eine mutige Gesellschaft

Dank

Literaturempfehlungen

Für die Menschen der Tafel-Bewegung – weil die Welt mit ihnen jeden Tag ein Stück besser wird

Reicher Mann und armer Mann

standen da und sah’n sich an.

Und der Arme sagte bleich:

Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.

 

– aus: »Alfabet«, Bertolt Brecht (1934)1

»Der Populismus der Armutsdebatte«

Vorwort von Prof. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Die soziale Marktwirtschaft ist seit Langem der Kern unseres Gesellschaftsvertrags. Sie ist die Grundlage für den Erfolg und den großen Wohlstand, den wir heute genießen. Und sie beruht auf drei Grundpfeilern: der Chancengleichheit, bei der alle Menschen von Geburt an die gleichen Möglichkeiten haben sollen, ihre Talente und Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen; der sozialen Teilhabe, durch die der Mensch als soziales Wesen im Mittelpunkt steht; und der Solidarität, bei der die Gesellschaft den Auftrag hat, die verletzlichsten Gruppen zu schützen, jedem ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren, und bei der die stärksten Schultern mehr Verantwortung tragen.

Die Armut in Deutschland ist ein frappierender Bruch dieses Gesellschaftsvertrags. Die Armut widerspricht jedem einzelnen dieser drei Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft. Armut raubt den betroffenen Menschen ihre Würde und die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Sie verwehrt die Möglichkeit, Teil der Gesellschaft zu sein und sich einbringen zu können. Und sie bedeutet für viele ein Trauma, weniger Lebenszufriedenheit und Glück, eine schlechtere Gesundheit, Ausgrenzung und Abhängigkeit vom Sozialstaat.

Armut ist nicht nur ein Bruch mit Moral und Rechten, der einen erheblichen Schaden für die Betroffenen bedeutet. Sondern Armut schadet der Gesellschaft, sie spaltet die Gemeinschaft und entzieht ihr viele Menschen, die sich engagieren wollen, aber nicht können. Es beraubt Unternehmen und Wirtschaft potenzieller Fachkräfte, die heute dringender denn je benötigt werden und die einen wichtigen Beitrag für den Erfolg eines Unternehmens, die ökologische Transformation oder in der Pflege und im Gesundheitssektor bedeuten.

Armut belastet die Sozialsysteme und bindet finanzielle und personelle Ressourcen, anstelle diese für ein leistungsfähiges Bildungssystem, für sozialen Frieden oder ein effektives Gesundheitssystem zu nutzen. Und Armut schwächt die Demokratie, weil fehlende soziale Teilhabe auch immer eine Erosion dieser politischen Teilhabe bedeutet und Menschen ihre demokratische Stimme verwehrt.

Armut hat nur Verlierer, nie Gewinner. Trotzdem spaltet das Thema Politik und Gesellschaft wie nie zuvor. Der Streit um Kindergrundsicherung oder Bürgergeld zeigt die Perversität der Debatte und die Falschheit des Verständnisses von Armut und deren Ursachen und Konsequenzen. Es setzt sich zunehmend ein Narrativ im öffentlichen Diskurs durch, das Armut als ein von den Betroffenen selbst verursachtes Phänomen darstellt: Menschen seien faul und wollten nicht arbeiten, sie wollten sich in die soziale Hängematte legen und auf Kosten anderer leben. Das Lohnabstandsgebot sei nicht groß genug, sodass Menschen mit Bürgergeld schlichtweg eine rationale und richtige Entscheidung für sich treffen, indem sie wählen, nicht zu arbeiten, sondern Leistungen zu beziehen.

Bei der Bekämpfung der Kinderarmut durch die Kindergrundsicherung hieß es von mancher Seite, Armut hätte etwas mit Migration zu tun, und daher sei dessen Bekämpfung weniger dringlich. Der einzige Weg aus der Armut, so manche in diesem Diskurs, sei, Eltern zur Arbeit zu zwingen, indem soziale Leistungen gekürzt und harte Sanktionen auferlegt werden.

Diese Beispiele zeigen, dass der Diskurs zur Armut in Deutschland stark auf Populismus und Narrativen mit falschen Fakten beruht. Er zeichnet ein Menschenbild, das dem Ideal der sozialen Marktwirtschaft nicht stärker widersprechen könnte. Von Armut bedrohte Menschen werden als unsoziale Wesen dargestellt, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören oder gehören sollten. Dabei hat Armut weder Hautfarbe noch Religion noch Herkunft. Der Populismus liegt darin, dass einige wenige Menschen, die die Sozialsysteme missbrauchen, als repräsentativ für alle von Armut betroffenen Menschen dargestellt werden. Die überwältigende Mehrheit derer, die von Armut betroffen sind und ihr Möglichstes versuchen, um wieder Fuß zu fassen, wird in Kollektivhaftung genommen. Fakt ist, dass die Mehrheit der Menschen ein Leben in Armut nicht wählt und sich häufig nichts mehr für sich selbst und ihre Kinder wünscht, als ein selbstbestimmtes, verantwortungsvolles Leben führen zu können.

Das Perfide des Populismus der Armutsdebatte ist, dass die Populisten verletzliche Gruppen gegeneinander ausspielen. Der Staat gebe zu viel Geld für die Sozialsysteme aus, daher müssten soziale Leistungen gekürzt werden. Die Armut der einen sei verantwortlich für die Probleme der anderen, so ein gängiges Narrativ. Solche Narrative sind mächtig und effektiv, weil sie bei vulnerablen Gruppen Ängste schüren und ihnen suggerieren, die Verantwortung für ihre schwierige Lage liege bei den Menschen, denen es noch schlechter geht. Die AfD hat dieses Narrativ zu ihrem Geschäftsmodell gemacht – mit beachtlichem politischen Erfolg an der Wahlurne. Zahlreiche Politiker*innen auch demokratischer Parteien folgen diesem Beispiel, um auf Stimmenfang zu gehen.

Wir brauchen dringend einen ehrlichen, unbeeinflussten Diskurs zu Armut und zur Armutsbekämpfung in Deutschland. Ein solcher Diskurs muss versachlichen, mit harten Zahlen und Fakten, um die perfiden und falschen Argumente der Populisten zu entlarven. Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sind gemeinsam in der Pflicht, den Diskurs dieser Debatte zu korrigieren, mit falschen Narrativen aufzuräumen und konkrete Lösungen anzubieten.

Dieses Buch tut genau dies: Es leistet einen enorm wertvollen Beitrag zu dieser Debatte. Es räumt mit falschen, manipulativen Narrativen auf, es zeigt mit Zahlen und Fakten das Ausmaß der Armut, dessen Ursachen und Konsequenzen.

Das Buch beschreibt, wie die Lebensrealität der von Armut betroffenen Menschen aussieht und wie schwierig es in der Wirklichkeit ist, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen.

Eine der großen Stärken unserer Zivilgesellschaft wird deutlich: die vielen Organisationen und Menschen, die durch ihre (zumeist ehrenamtliche) Arbeit Solidarität vorleben und ohne die unsere Gesellschaft sehr viel ärmer wäre. Dazu gehören die Tafeln in Deutschland, fast tausend selbstständige oder in Trägerschaft befindliche Einrichtungen, die für so viele von Armut bedrohte Menschen in Deutschland ein wichtiger Anker sind.

Die Lösungen, wie Politik und Gesellschaft ihrer Verantwortung wieder gerechter werden und Armut deutlich reduziert werden kann, liegen auf der Hand. Die Effektivität dieser Lösungen wurde durch viele wissenschaftliche Studien belegt. Es kostet nicht die Welt, Armut zu besiegen. Ganz im Gegenteil: Unsere Gesellschaft kann es sich schlichtweg nicht leisten, moralisch wie wirtschaftlich und sozial, der Bekämpfung der Armut nicht die höchste Priorität zu geben.

»Einladung zur Empathie«

Geleitwort von Andreas Steppuhn, Vorsitzender Tafel Deutschland

Tafeln machen Armut sichtbar, das ist seit jeher genauso unsere Aufgabe, wie die Folgen von Armut zu lindern. Und sie sind zugleich ein Seismograf unserer Gesellschaft.

Tafeln gibt es inzwischen überall, in jeder größeren Stadt und in ländlichen Gegenden. Vorbehalte gegen Tafeln gibt es immer wieder. Entweder weil es keine Armut gäbe oder weil man sie bitte nicht auf der Straße sehen möchte. In der Schlange warten, wie entwürdigend. Bitte nicht mitten in der Stadt, lieber etwas abseits. So sehen es viele Menschen, die nicht von Armut betroffen sind – und so wünschen es sich häufig auch die Menschen, die zu uns kommen. Sie schämen sich und wollen von den anderen nicht gesehen werden, wenn sie sich ihre Lebensmittel bei einer der aktuell 975 Tafeln im Land holen. Wer zur Tafel geht, ist unten angekommen, hat endgültig verloren – so werden Tafeln sinnbildlich von vielen gesehen, und so fühlt es sich für manche Menschen an, die zu uns kommen.

Das Narrativ, dass man für seine Armut selbst verantwortlich ist, dass man sie verschuldet hat – man hätte sich mehr anstrengen müssen, man sollte keine so große Familie haben, man kann wohl nicht mit Geld umgehen –, und damit einhergehend die unausgesprochene Wertvorstellung, dass man weniger bedeutend ist, wenn man wenig Geld hat, wird uns als Gesellschaft mit so viel Nachdruck erzählt, dass es im schlechtesten Sinne wirkt. Und es scheint ein sehr deutsches Phänomen zu sein. Wir bemerken, dass Menschen aus anderen Ländern nicht so häufig diese traurige Scham in sich tragen. Dass sie Unterstützung eher annehmen können.

Eine der häufigsten Fragen, die wir gestellt bekommen, wenn wir nicht armutsbetroffenen Menschen über unsere Arbeit berichten oder eine Tafel besuchen: Kommen da nicht auch Menschen, die Ihre Hilfe gar nicht brauchen?

Ich weiß nicht, ob jede und jeder Fragenstellende bemerkt, was dadurch passiert. Statt hier hinzusehen, nachzufragen, die Menschen und ihre Lebensverläufe zu betrachten, lenken wir ab von den Menschen und ihren Leben und stellen ihre Berechtigung, zur Tafel zu kommen, infrage. Ganz sicher gibt es Menschen, die unser Sozialsystem und die Hilfssysteme ausnutzen. Ich sage Ihnen aber: Das ist nun wirklich nicht das vorherrschende und dringend zu diskutierende Thema, wenn wir über Armut sprechen.

Etwa 1,6 bis 2 Millionen Menschen kommen regelmäßig zu den Tafeln. Das Interesse an genauen Zahlen ist groß, zu Recht. Es macht für uns allerdings keinen relevanten Unterschied, ob 1,5 oder 2 Millionen Menschen zu uns kommen. Jedenfalls nicht im Sinne der Bewertung von Armut für jeden einzelnen Betroffenen. Es sagt vielleicht etwas über die Leistungsfähigkeit der Tafeln aus, aber eben nur bedingt etwas über das Ausmaß der Armut in unserem Land. In unseren Ausgabestellen sehen wir einen zermürbenden Alltag, wir sehen Menschen, für die wir zunehmend existenzsichernd sind, anstatt nur ihren schweren Alltag ein wenig zu lindern. Ich besuche viele Tafeln in Deutschland, spreche mit unseren Ehrenamtlichen und Kund*innen; lasse mir von ihren Sorgen und Nöten berichten und frage nach, was die Tafeln auch von uns als Dachverband erwarten, um ihre Aufgabe und die so einfache wie großartige Tafel-Idee – Lebensmittel zu retten und Menschen zu helfen – bestmöglich erfüllen zu können. Und doch sind wir ein freiwilliges Angebot und nicht Teil des staatlichen Sozialsystems. Dies ist so und wird so bleiben.

In der Pandemie riefen uns Menschen an, die unsere Angebote nicht nutzten, oft aus Scham, uns jedoch baten: Bitte sprecht auch für uns. Bitte wisst, dass es uns gibt. Bei den Tafeln sehen wir nur die Spitze des Eisbergs Armut. Dass Millionen weiterer armutsbetroffener Menschen nicht zu den Tafeln kommen, bedeutet in ihrer Lebenswirklichkeit häufig, einen zermürbenden Alltag zu führen, in dem sie versuchen, die eigene Armut vor Nachbarn, Freunden, manchmal der eigenen Familie zu vertuschen, und dies ist die schlechteste Wirkung dieses Narrativs.

Bei meinen Tafelbesuchen vor Ort bekomme ich mit, dass die Nachfrage bei den Tafeln steigt. Und immer häufiger betrifft es Rentnerinnen und Rentner. Rund ein Drittel der Tafeln haben temporäre Aufnahmestopps und Wartelisten. Es tut weh zu sehen, dass Tafeln es teilweise nicht mehr schaffen, der Nachfrage gerecht zu werden. Tafeln sind am Limit angekommen.

Sirkka Jendis möchte mit ihrem Buch einen Beitrag dazu leisten, dieses Menschenbild zu korrigieren und aufzuzeigen, welche strukturellen und systemischen Ursachen Armut zugrunde liegen. Tafeln gibt es mittlerweile seit 31 Jahren. Wir haben an Bedeutung gewonnen. Einige werfen uns das vor. Doch wir wollen unsere Bekanntheit und Stimme nutzen, um politische und gesellschaftliche Debatten anzustoßen – auch mit diesem Buch. Denn Armut, insbesondere Altersarmut, wird weiter zunehmen, und wir brauchen nicht nur politische Maßnahmen, um die Ursachen von Armut zu bekämpfen, sondern auch einen veränderten Blick und empathischeren Umgang mit Menschen, die in Armut leben.

Einleitung

Die Tragödie der Armut

Oft sind es die großen Katastrophen, die sich in unser Gedächtnis einschreiben, seien es Naturkatastrophen wie das Erdbeben in der Türkei 2023, das Hochwasser im Ahrtal im Sommer 2022 oder die Unwetterkatastrophen im Frühsommer 2024, Unglücksfälle wie die Kernschmelzen von Tschernobyl oder Fukushima oder Akte des Terrors. Wer sich an die Anschläge vom 11. September 2001 zurückerinnert, weiß noch genau, wo und wie er davon erfahren hat. Manchmal bleibt sogar die Nachricht an sich beziehungsweise der Moment, in dem sie einen erreichte, am stärksten in Erinnerung, obwohl sie vielleicht nur der Vorbote einer Tragödie war. Für viele Menschen war das der Morgen des 9. November 2016, als die Nachricht von Donald Trumps Wahlsieg bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch kein Mensch ahnen, welche langfristigen und weltweiten Konsequenzen diese Wahl haben würde, es ging einfach nur eine böse Vorahnung damit einher.

Gleichzeitig stellte sich ein Gefühl der Ohnmacht ein und der Wunsch nach genaueren Informationen sowie der unbedingte Drang, etwas tun zu wollen.

Auch wenn die Situationen nicht vergleichbar sind, überkam mich am 24. Februar 2022 ein ähnliches Gefühl. Und waren diese drei Empfindungen wieder da. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ließ der russische Präsident Wladimir Putin einen bereits seit 2014 schwelenden Konflikt eskalieren. Ohne Genaueres vorhersehen zu können, war uns in der Geschäftsstelle der Tafel Deutschland in Berlin – und sicher ebenso in den Tafeln vor Ort – sofort klar, dass dieser Angriffskrieg auf einen souveränen europäischen Staat, der direkt an unser Nachbarland Polen und weitere EU-Mitglieder wie die Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzt, auch uns sehr schnell betreffen würde. Wir wussten nicht, wann genau, wir wussten nicht, wie, wir wussten nur, dass wir helfen wollten, so gut es ging.

Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch in der Kennenlernphase, hatte ich meine Stelle als Geschäftsführerin der Tafel Deutschland doch erst einige Wochen zuvor angetreten, dreizehn, um genau zu sein. Seit Dezember 2021 bilde ich zusammen mit Marco Koppe unter dem Vorstand die Doppelspitze des Tafel-Dachverbands in Berlin, von wo aus wir nicht nur Ansprechpartner*innen für unsere Landesverbände und die deutschlandweit 975 Tafeln mit ihren rund 2000 Ausgabestellen und 60000 Helfer*innen sind, sondern eben auch mit unserem europäischen Netzwerk, mit Fach- und Interessenverbänden sowie mit Politiker*innen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene kommunizieren, Förderprogramme für die Tafeln und Landesverbände kreieren und umsetzen, Geld- und Sachspenden akquirieren, Großspenden verteilen und digitale Portale für eine optimierte Lebensmittelverteilung entwickeln, Seminare für Tafel-Aktive organisieren und kommunikativ die Themen Armut, soziale Teilhabe, Lebensmittelverschwendung und Ehrenamt in die Öffentlichkeit rücken.

Erinnern wir uns zurück: Februar 2022; vorläufiges Ende des zweiten Corona-Winters. Anders als noch in den ersten Lockdowns 2020 waren die Tafeln auf Abstand und die Verteilung von Masken an ihre Kund*innen eingestellt, und dass einzelne Ausgabestellen coronabedingt schließen mussten, kam nur noch in wenigen Ausnahmefällen vor. Doch zwei Jahre Pandemie hatten Spuren hinterlassen, viele Ehren- und Hauptamtliche waren an ihrer Belastungsgrenze, etliche auch darüber hinweg. In dieser erschöpften Lage zeichnete sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit eine Fluchtbewegung aus der Ukraine ab, die nach Schätzungen der Vereinten Nationen zur weltweit größten seit dem Zweiten Weltkrieg anwachsen sollte.

Die Tafeln wuchsen über sich hinaus und versuchten, den Geflüchteten schnell und unbürokratisch zu helfen. Aber die Menge der Geflüchteten, die die Hilfe der Tafeln brauchten, wurde einfach zu groß. Der Moment, den ich auch rückblickend als auslaugend und bitter in Erinnerung habe, war, als in unserer Taskforce, die wir bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges gegründet hatten, davon berichtet wurde, dass die ersten Ausgabestellen aufgrund des großen Andrangs Menschen abweisen beziehungsweise einen Aufnahmestopp verkünden mussten. Nicht nur wegen der geflüchteten Menschen aus der Ukraine, sondern auch wegen der massiven Preissteigerungen, die auch in Deutschland diejenigen am heftigsten trafen, die schon zu wenig haben. Nichts ist deprimierender und psychisch belastender für Ehrenamtliche, die helfen wollen, als vor einer akuten Anforderung kapitulieren zu müssen, und sei es auch nur kurzfristig. Und noch schlimmer ist es natürlich für all die Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen auf Unterstützung angewiesen sind. Jede dritte Tafel verhängte 2022 und 2023 zwischenzeitlich Aufnahmestopps oder führte lange Wartelisten, weil die Nachfrage schlicht zu groß wurde.

Im Verlauf des Buches werde ich noch detaillierter auf diese konkrete Situation eingehen, die in den letzten zweieinhalb Jahren prägend für die Tafel, aber auch für mich persönlich war. An dieser Stelle möchte ich aber zunächst einmal mit zwei Vorstellungen aufräumen, denen ich in Gesprächen (auf den unterschiedlichsten Ebenen übrigens) immer wieder begegne und die unter Menschen, die weder selbst armutsbetroffen sind noch den Tafel-Alltag kennen, weit verbreitet sind. Zum einen haben viele Menschen ein Bild von der Tafel, in dem viel Wahres steckt, das die Situation aber auch romantisiert.

Richtig ist: In den Ausgabestellen treffen hilfsbereite Menschen, die wertvolle Lebensmittel vor der sinnlosen Verschwendung retten, auf Menschen, die dankbar sind für diese Unterstützung in ihrem Alltag. Es geht dabei um sehr viel mehr als einen vollen Teller, es geht um soziale Teilhabe, um ein Gesehen- und Wahrgenommen-Werden. Es werden persönliche Worte getauscht, zum Teil kennen sich die Menschen seit Jahren, und nicht selten wird auch gemeinsam gelacht. Trotzdem ist der Tafel-Alltag nicht immer harmonisch und konfliktfrei. Unsere Kund*innen plagen Sorgen, sie sind häufig erschöpft, krank und gestresst. Sie führen ein Leben, das sie sich in dieser Form nicht ausgesucht haben. Scham und Einsamkeit belasten viele, es kommt zu Missverständnissen, falschen oder nicht erfüllbaren Hoffnungen und Erwartungen, und es fallen in der Anspannung auch einmal harte Worte. Es ist nicht richtig, sich ein Leben in Armut – darum geht es hier im Kern – dank der Tafeln oder anderer gemeinnütziger Organisationen in irgendeiner Weise als leicht und sorgenfrei vorzustellen (»Es muss bei uns ja niemand hungern«) oder es gar mit einer sozialen Hängematte, in der es sich die Menschen bequem machen können, zu assoziieren. Dies ist realitätsfern und fast schon zynisch angesichts der Anstrengungen, die in den Ausgabestellen in allen Teilen Deutschlands jeden Tag in den Gesichtern der Betroffenen zu lesen sind.

Zum anderen existiert noch eine zweite Vorstellung, die sich hartnäckig hält und daher immer wieder richtiggestellt werden muss: Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie die Tafeln sind keine Grundversorger. Wir gehören, genauso wie Charityläden oder Sozialkaufhäuser, nicht zu den staatlichen Versorgungseinrichtungen. Wir sind eine gemeinnützige, spendenfinanzierte Ehrenamtsorganisation, ein eingetragener Verein. Wir sind der größte soziale Lebensmittelretter Deutschlands und genießen einen flächendeckenden Bekanntheitsgrad.

Gerade deshalb ist jedoch vielen Menschen nicht bewusst, dass es keinen rechtlichen Anspruch auf Hilfe durch die Tafeln gibt. Für die Grundversorgung seiner Bürger*innen ist der Staat zuständig, nicht wir. Die Tafeln sind nicht Teil des deutschen Sozialsystems.

Das ist gerade für Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind, oft zunächst nicht verständlich. Zumal Geflüchtete aus der Ukraine von teilweise komplett überforderten Behörden an uns Tafeln verwiesen wurden, wodurch der Eindruck entstand, dass wir eben doch eine staatliche Einrichtung wären, deren Unterstützung einforderbar ist. Um es mit den Worten der Gründerin der Tafeln in Deutschland Sabine Werth zu sagen: Wir können nur das verteilen, was wir zuvor bekommen. Und doch unterscheiden wir uns von den meisten Foodbanks in Europa, die in der Regel Lebensmittel einsammeln und an bestehende soziale Organisationen und nicht in eigenen Ausgabestellen verteilen. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es aber große Unterschiede zwischen den einzelnen Tafeln. So sind zum Beispiel vorrangig in Baden-Württemberg viele Tafeln als Läden organisiert, in denen Kund*innen teilweise täglich einkaufen können, während es im Rest des Landes mehrheitlich Ausgabestellen sind, die einmal oder auch mehrmals in der Woche vorgepackte Lebensmittelkisten beziehungsweise -tüten gegen einen kleinen Betrag verteilen.

Und die Tafelarbeit wird immer professioneller – nicht im Sinne eines kommerziellen Unternehmens, denn das sind wir genauso wenig wie eine staatliche Einrichtung, sondern hinsichtlich unserer Organisation, unserer Abläufe und auch unseres Angebots. Und das geht vielerorts weit über die reine Ausgabe geretteter Lebensmittel hinaus. Manchen Tafeln ist eine Kleiderstube angegliedert, andere bieten zusätzlich Nachhilfe oder Kochkurse an. Deshalb gibt es auch Menschen wie mich, die hauptamtlich für die Tafel arbeiten, um das Ehrenamt zu stärken. Und dennoch bleibt unser Grundsatz gleich: Wir sammeln Lebensmittel, unterstützen Menschen, die es brauchen, und versuchen, ihnen den oft so anstrengenden Alltag ein wenig zu erleichtern. Für die Versorgung der Menschen ist der Sozialstaat zuständig, die er nicht auf den Rücken von sozialen Organisationen auslagern darf.

Vielleicht spüren Sie auf diesen ersten Seiten bereits, wie sehr mich das Thema Armut und Armutsbekämpfung bewegt. Auch wenn ich persönlich das große Privileg habe, noch nie selbst von Armut betroffen gewesen zu sein, geht mir das Schicksal unserer vielen Tafel-Kund*innen sehr nahe. Andererseits möchte ich die Debatten zu Armut, Chancengerechtigkeit und sozialer Teilhabe – gerade weil sie mir am Herzen liegen – versachlichen und den so häufig emotionalisierten und teilweise populistisch geführten Diskussionen einen lösungsorientierten und handlungsbezogenen Diskurs entgegensetzen.

Mir geht es darum, die Armutsbekämpfung in Deutschland wirksam anzugehen. Ein Mammutprojekt, das nur gelingen wird, wenn viele Menschen mit anpacken und die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft, kurz: Es geht nur gemeinsam. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass Themen, seien sie privat oder öffentlich, politisch oder anderweitig motiviert, immer stärker emotionalisiert werden. Das hat sicherlich damit zu tun, dass viel mehr Meinungen produziert werden und sich eine regelrechte Aufmerksamkeitsökonomie entwickelt hat. All das wird bestimmt durch Algorithmen vieler Medienkanäle, die Zuspitzungen und Radikalisierungen belohnen und der sich Menschen aufgrund ihrer psychischen und evolutionären Veranlagung nur schwer entziehen können. Dennoch möchte ich mit meinem Buch hier einen Kontrapunkt setzen und die Emotionalisierungsschraube nicht weiterdrehen. Denn das wird den Menschen, um die es geht, nicht gerecht. Urteilen Sie selbst, ob mir das gelingt. Und urteilen Sie selbst, ob die Argumente, die ich anführe, und die Fragen, die ich stelle, Sie überzeugen und zum Mitmachen anregen können.

Vielleicht fragen Sie sich nun, ob der Aufruf zu einer sozialen Zeitenwende, wie ich ihn im Untertitel des Buches formuliere, nicht auch nach Aufmerksamkeit schreit und übertrieben ist. Meine kurze Antwort lautet: Leider nein. Meine lange Antwort gebe ich in den folgenden Kapiteln, indem ich die unterschiedlichsten Facetten und Gründe von Armut schildere. Armut ist ein sehr komplexes Thema und hat viele, beinahe ausschließlich traurige Gesichter. Und bereits hier ist die Aussage des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit widerlegt (wie sie es eigentlich von Anfang an war), der 2003 über Berlin sagte: »Arm, aber sexy.« Sicher muss man bei Wowereits Aussage den Kontext beachten, in dem er sie getätigt hat. Aber nach meinen nun beinahe drei Jahren als Geschäftsführerin der Tafel Deutschland und den Jahren meiner Beschäftigung mit diesen Themen zuvor kann ich sagen: Nichts an Armut ist sexy. Nichts. Armut kann als soziales Konstrukt betrachtet werden, sie kann quantifiziert und statistisch erfasst werden. Hinter allen diesen Zahlen jedoch stecken Menschen, die Armut im Alltag erfahren, ganz real und individuell. Armut bedeutet Ausgrenzung, Stigmatisierung und Scham. Armut kann offen sichtbar oder versteckt sein, wobei sie sich in Deutschland natürlich ganz anders äußert als zum Beispiel in Subsahara-Afrika. Armut ist nicht gleich Armut, sie ist oft nur schwer vergleichbar, und dennoch kommen die unterschiedlich von Armut Betroffenen zur selben Ausgabestelle der Tafel. Armut wird bereits seit der Antike beschrieben und wurde allen Fortschritten zum Trotz noch nie überwunden. Das ist vermutlich auch nicht möglich, aber sie lässt sich reduzieren und minimieren. Nicht umsonst sind ihr gleich zwei der siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) gewidmet, nämlich Ziel 1 (»Keine Armut: Armut in all ihren Formen und überall beenden«) und Ziel 10 (»Weniger Ungleichheiten: Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern«).2

Armut ist so komplex und vielfältig in ihren Ursachen, Einflussfaktoren und Auswirkungen, dass es mit einer kleinen Reform hier und einer Anpassung dort nicht getan sein wird. Wir müssen das große Bild zeichnen, um zu den Wurzeln des Problems zu gelangen. Und grundsätzlicher herangehen, um zwischen Symptomen, Einflüssen und Ursachen unterscheiden zu können und zu verstehen, weshalb manche Maßnahmen sinnvoll sind, obwohl sie klein und eher nebensächlich erscheinen, und andere wiederum in die falsche Richtung gehen, auch wenn sie einfach und auf den ersten Blick einleuchtend wirken.

Ist das nicht ein Widerspruch, einerseits grundsätzlicher anpacken zu wollen, gar eine soziale Zeitenwende einzufordern und andererseits ein differenzierteres Bild zeichnen zu wollen und als Dachverband mit den Tafeln täglich Projekte zu unterstützen, die im ganz Kleinen ansetzen? Nein, im Gegenteil, in meinen Augen geht es gar nicht anders. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass darin ein Teil der Antwort steckt, weshalb wir in Deutschland schon so lange in der Armutsbekämpfung versagen. Viel zu oft versucht die Politik, Lösungen nach dem Gießkannenprinzip umzusetzen, und erhöht damit gleichzeitig den bürokratischen Aufwand. Diese Beobachtung – an den falschen Stellen wird vereinfacht, an anderen Stellen wird unnötig verkompliziert – lässt sich gerade in der Armutsdebatte viel zu häufig machen. Deshalb möchte ich Sie schon jetzt zu Beginn bitten, einen Schritt zurückzutreten und erst einmal nicht an die Zahlen und Fakten der Armut zu denken, sondern sich zunächst bewusst zu machen, dass Armut immer jemanden betrifft: einen Menschen, eine Familie mit oder ohne Kinder.

Das mag im ersten Moment banal klingen und manchen Leser*innen naiv erscheinen. Aber wir werden nur wenig an der Armut in unserem Land ändern können, wenn wir uns nicht auf ein gemeinsames Menschenbild verständigen. Und deshalb werde ich immer wieder auf unterschiedliche Menschenbilder zurückkommen: Menschenbilder, die wir predigen, Menschenbilder, die wir zu leben meinen, und Menschenbilder, die wir tatsächlich leben, ganz konkret und jeden Tag. Und Letzteres ist der entscheidende Punkt. Natürlich möchte ich mit meinem Buch eine Debatte anstoßen und für einen Perspektivwechsel werben. Die Debatte führen wir in regelmäßigen Abständen immer wieder, zum Beispiel wenn der nächste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung veröffentlicht wird, wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband (dessen Mitglied auch die Tafel Deutschland ist) seinen jährlichen Armutsbericht vorlegt oder wenn eine Forschungseinrichtung wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung aktuelle Zahlen zu Fragen der Verteilung und sozialen Sicherung präsentiert. All diese Erhebungen, Berichte und Statistiken sind sehr wichtig, sie bilden ein aussagekräftiges Fundament, auf das sich auch unsere tägliche Arbeit bei den Tafeln stützt. Doch die Frage ist: Wieso kriegen wir es, ganz gleich, wer die Regierung bildet, einfach nicht in den Griff, den Perspektivwechsel einzuleiten, unser Menschenbild zu verändern und den Blick zu weiten, obwohl seit so vielen Jahren mit immer neuen Belegen auf ein wachsendes Problem hingewiesen wird? Im Gegenteil. In der aktuellen politischen Debatte scheint sich ein aufgeklärtes und soziales Menschenbild eher zurückzuentwickeln.

Das ist übrigens noch ein weiterer Grund, weshalb ich den Begriff der sozialen Zeitenwende verwende: Die Tafel Deutschland fordert sie im selben Wortlaut schon seit über zwei Jahren.3 Und natürlich gibt es diese oder ähnliche Forderungen noch sehr viel länger. Fast noch schlimmer als die Tatsache, dass sowohl Armutsrisiko als auch konkrete Armut in Deutschland in den letzten anderthalb Jahrzehnten zugenommen haben, ist aber doch, dass wir uns scheinbar daran gewöhnt haben. Oder erinnern Sie sich an einen lauten Aufschrei, an irgendeine große Demonstration gegen Armut, an Straßenblockaden und Streiks? Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland war 2022 armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Solange es nicht die eigene Familie betrifft, beunruhigt das offenbar kaum jemanden.

Ich habe eingangs von Katastrophen gesprochen und davon, wie sie sich in unser Gedächtnis einschreiben. Anders als ein Erdbeben, das uns womöglich ohne jedes Vorzeichen innerhalb kürzester Zeit erschüttert, ist Armut in Deutschland eine Tragödie mit Ansage. Natürlich gibt es Einzelschicksale – Unfälle, Krankheiten, Schicksalsschläge, die zu Armut führen –, das stellt niemand in Abrede. Aber wenn 16,9 Prozent aller Einwohner*innen, also mehr als jede*r sechste, und sogar 21,3 Prozent aller Kinder von Armut bedroht oder betroffen sind,4 dann geht es in erster Linie um strukturelle Probleme: Armut hat System. Um im Bild mit dem Erdbeben zu bleiben: Die Seismografen schlagen bereits seit Langem aus – aber aus irgendeinem Grund überschreiten sie nur selten die Wahrnehmungsschwelle. Dabei müssen wir uns doch ganz grundsätzlich fragen: Ist unsere Marktwirtschaft heute noch so sozial, wie wir uns das seit den Wirtschaftswunderjahren zugutehalten? Oder noch zugespitzter: Ist unsere Marktwirtschaft heute noch sozial, noch human genug?

Was wir bei der Tafel beinahe täglich feststellen: Da hat sich etwas verschoben. Wir bemerken, dass mehr Menschen zu den Tafeln kommen, die es noch vor Kurzem selbst nicht für möglich gehalten haben, dass sie einmal auf Unterstützung durch uns angewiesen sein würden: Zwischen 1,6 und 2 Millionen armutsbetroffene Menschen waren es im Jahr 2023. So viele wie nie zuvor, und die Rekordwerte gelten für so gut wie jede einzelne Tafel in Deutschland.5 Außerdem darf man bei diesen Schätzungen nie vergessen: Das sind lediglich diejenigen, die tatsächlich zu uns kommen. Berechtigt wären noch sehr viel mehr.

Ich nehme außerdem eine zunehmende soziale Kälte wahr – allerdings weniger bei den Menschen selbst als vielmehr in der politischen und medial ausgetragenen Debatte. Populistische Parolen, die auf einen Knalleffekt getrimmt sind, übertönen dabei ernst gemeinte, sachliche Beiträge, die sich auf langfristige Ziele richten. Der Ton ist spürbar ruppiger geworden, seit wir mit immer mehr Krisen und Herausforderungen konfrontiert sind. Corona, Ukraine, Energie, Inflation … Das weckt bei vielen Menschen Ängste und Sorgen, zum Teil vielleicht übertriebene, zum Teil berechtigte, zumindest aber nachvollziehbare.

In meinen Gesprächen auf allen Ebenen unseres Verbandes, mit unseren Partnern und anderen sozialen Organisationen entdecke ich immer mehr Anzeichen dafür, dass das Vertrauen bröckelt. Insbesondere das Vertrauen in die Regierung.6 Aber auch andere Institutionen, von den öffentlich-rechtlichen Medien über die Polizei bis zur Justiz, haben schon einmal mehr Zuspruch erhalten. Dabei sind sie die Pfeiler, auf denen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung aufbaut. Kein Mensch weiß, ob beziehungsweise wann da ein Kipppunkt erreicht wird, der unsere Demokratie nachhaltig schädigt oder gar gefährden wird, und welche Implikationen das für die wachsende soziale Ungleichheit und die von Armut betroffenen Menschen hat.

Armut hat System – das ist einerseits eine besorgniserregende Diagnose, andererseits bedeutet sie aber auch: Wir können das ändern. Es liegt in unserer Hand. Aber es geht nur gemeinsam. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Tafel fungieren als Seismograf, aber auch als Sprachrohr in Richtung Politik für die, die zumeist kein Sprachrohr haben. Bisher werden wir dort jedoch auch nach über dreißig Jahren immer noch viel zu wenig gehört. Armut und Armutsbekämpfung haben mit uns zwar eine Lobby, aber andere Lobbys sind mächtiger, spielen oft in ganz anderen Ligen. Es bestürzt mich, wenn diese wertvolle Ressource – ähnlich wie tonnenweise Lebensmittel – so leichtfertig verschwendet wird. Aber dann denke ich an die 60000 Menschen, die allein bei den Tafeln nicht nur gerne, sondern aus tiefster Überzeugung und mit Leidenschaft mit anpacken. Wir sind wahrscheinlich die größte sozialökologische Bewegung in Deutschland, und es gibt noch viel mehr Menschen in unserem Land, die mit ihrem Engagement Tag für Tag zeigen, dass ihnen unsere Gesellschaft am Herzen liegt. Das macht Mut.

Ich kann nicht für jede*n Einzelne*n sprechen, sondern möchte vielmehr versuchen, das große Thema der Armut in Deutschland als Ganzes zu betrachten. Dennoch möchte ich Ihnen auch Einblicke in die Arbeit bei den Tafeln gewähren. Denn dort nehmen die Zahlen und Fakten menschliche Gestalt an. Hier wird ein Teil des gängigen, des von uns allen als Gesellschaft gelebten Menschenbilds mit echtem Leben gefüllt. Und darum geht es.

 

Kapitel 1

Arm in einem (immer noch) reichen Land – immer mehr mit immer weniger

Das Jahr 2022 hat gerade erst begonnen, und der Winter an der Mecklenburgischen Seenplatte zeigt sich in der ersten Januarwoche von seiner ungemütlichsten Seite. Es ist eiskalt und windig, der Himmel grau; es wird den ganzen Tag über nicht richtig hell, und es fängt auch noch an zu schneien, als wir die Lagerhalle in der Warliner Straße im Osten Neubrandenburgs erreichen. Hier befindet sich das Zentrallager für Mecklenburg-Vorpommern, und etwa drei Kilometer entfernt, in der Neubrandenburger Oststadt, liegt die Ausgabestelle der örtlichen Tafel. Beides, vor allem aber die Menschen, die hier arbeiten und mithelfen, möchte ich bei meinem ersten Tafel- und Lager-Besuch als Geschäftsführerin des Dachverbands kennenlernen.

Meinen Kollegen und mich empfängt der Landeslogistiker für Mecklenburg-Vorpommern. Er kennt sich hier bestens aus, zeigt uns die Lagerhalle, die Fahrzeuge, die Laderampe und die vielen Paletten mit Lebensmitteln, die hier für die abholenden Tafeln zusammengepackt werden.

Die Logistik hinter der Tafelarbeit ist in der öffentlichen Wahrnehmung oft ein unterschätzter Faktor, dabei ist sie entscheidend, denn um es ganz vereinfacht auszudrücken: Bei der Linderung von Armut geht es in der Tafelarbeit auch darum, etwas von hier nach dort zu transportieren – von Orten des Überflusses und der Verschwendung hin zu Orten des Mangels und der Armut. Es geht darum, die Verteilungsungerechtigkeit in der Lebensmittelrettung möglichst gerecht und pragmatisch zu korrigieren. Eine funktionierende Logistik ist dabei der Motor im Hintergrund, der den Tafeln eine gerechtere Verteilung und ihren Beitrag zur Armutslinderung ermöglicht; auch in Neubrandenburg.

Besonders in Erinnerung bleibt mir der junge Mann, der uns auf unserer Besichtigungsrunde durch das Lager begleitet. Er hilft hier als einer von vielen Geflüchteten als eine Art Assistent des Landeslogistikers aus, und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt damit rechnen musste, schon bald abgeschoben zu werden.