Arnes Nachlaß - Siegfried Lenz - E-Book

Arnes Nachlaß E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

"Sie beauftragten mich, Arnes Nachlaß einzupacken." Hans, der Ich-Erzähler, kommt nicht umhin, die kleinen und großen Schätze zu sichten, die Arne Hellmer, mit dem er zwei Jahre lang ein Zimmer teilte, zurückließ. Jener Arne Hellmer, den Hans' Eltern - nach einem schrecklichen Unglück - bei sich aufnahmen. "Wie ein Eindringling in seine Welt, seine Tränen, seine verborgenen Hoffnungen" sieht sich Hans und entfaltet, angeregt durch die Fundstücke des Nachlasses, Arnes Geschichte. So gewinnt sein Leben nach und nach Kontur, in eindringlichen Rückblenden, getragen von einer Erzählhaltung, die das Geheimnis des Jungen behutsam ergründen möchte. "Was Lenz in diesem Bändchen erzählt, gehört zum Anrührendsten, das deutsche Autoren in diesem Jahrzehnt geschrieben haben." (Focus) Diese E-Book-Ausgabe von "Arnes Nachlaß" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.

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Seitenzahl: 221

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Siegfried Lenz

Arnes Nachlaß

Roman

Hoffmann und Campe Verlag

Arnes Nachlaß

Sie beauftragten mich, Arnes Nachlaß einzupacken. Einen ganzen Monat ließen sie verstreichen – einen Monat der Ratlosigkeit und der verzweifelten Hoffnung –, bis sie mich an einem Abend fragten, ob es nicht doch an der Zeit sei, seinen Nachlaß einzusammeln und zu verstauen, und so, wie meine Eltern das fragten, mußte ich es als Auftrag verstehen. Ich versprach nichts; schweigend aß ich mein Abendbrot zu Ende, rauchte zum letzten Glas Bier eine Zigarette, dann stieg ich hinauf in mein Zimmer, das ich so lange mit Arne geteilt hatte, setzte mich auf seinen Hocker und brauchte eine Weile, ehe ich mich entschloß, sein ramponiertes Köfferchen vom benachbarten Boden zu holen, und den Karton, den er damals mitbrachte.

Ich hob den Deckel vom Karton, ich öffnete das Köfferchen, und während ich den Blick wandern ließ zu den offen daliegenden Sachen, die ihm gehörten, glaubte ich auf einmal, Arnes Anwesenheit zu spüren, und hatte das Gefühl, daß er mich, wie so manches Mal, dringend und fragend ansah. Vor mir lag seine finnische Grammatik – ich rührte sie nicht an; in Reichweite, als Heftbeschwerer, glänzte der von Schmutzfäden durchzogene kleine Messingbarren – ich nahm ihn nicht in die Hand; ich löste nicht die kolorierte Karte des Bottnischen Meerbusens von der Wand, die er in Augenhöhe angepinnt hatte, und ich scheute mich, das Brett mit den Schiffsknoten aufzunehmen und in den Karton zu legen.

Ach, Arne, an diesem Abend brachte ich es anfangs nicht fertig, deine Hinterlassenschaft einfach einzusammeln und still wegzuräumen und für unbestimmte Zeit in die ewige Dämmerung des Bodens zu verbannen. Zuviel kam da herauf und bot sich an, jedes Ding bezeugte etwas, gab etwas preis, wie von selbst stiftete es dazu an, Vergangenheit zum Reden zu bringen.

Ein Blick auf den kleinen, aus Holz geschnitzten und rotweiß gelackten Modell-Leuchtturm, und unwillkürlich belebte und vertiefte sich Erinnerung, ein Fenster öffnete sich, wieder herrschte Hafenwinter, ein verhangener Tag mit beißender Klammheit, der Tag, an dem Arne zu uns gebracht wurde.

Wir aßen Birnen. An jenem Wintertag hingen wir erwartungsvoll am Fenster und aßen südafrikanische Tafelbirnen, die einer von Vaters Leuten in einem der Fruchtschuppen ergattert hatte, drüben im Freihafen. Kauend blickten wir auf den abschüssigen, unter Schnee liegenden Werftplatz, über den ausgetretene Wege hinliefen – von den Werkstätten zum Kontor, von den Schuppen zu den beiden Kränen –, schmutzige Wege, in denen Pfützen von Schmelzwasser schimmerten. Alles trug weiße Kappen: Die verbrauchten Kolben und Wellen, die alten Anker und die ausgedienten Schiffsmasten und auch der Fallturm, in dem die Kugel herabsauste und den Schrott zu Barren zurechthämmerte, waren weiß bemützt. Unten, am leicht geriffelten Wasser, wo sie einen rostigen Griechen abwrackten, bissen sich Schneidbrenner durch die zerschrammte Bordwand, trennten, unter spritzendem Funkenregen, Platte um Platte heraus. Wie leicht sich alles ergibt und anbietet, wie nah und gegenwärtig es ist: die Abwrackwerft, wir, unsere Erwartung. So, wie du, Arne, von uns erwartet wurdest, wurde wohl niemand zuvor hier erwartet, so gespannt, so teilnahmsvoll, aber auch so skeptisch.

Wiebke sah ihn zuerst, und wenn auch nicht seine Erscheinung, so doch den alten grauen VW, in dem sie Arne zu uns brachten. Meine Schwester legte das Birnengehäuse auf die Fensterbank und deutete zum Werfttor und zur Straße hinüber, von woher ein Auto sich näherte, langsam, ruckelnd, als suchte es sich seinen Weg zwischen den Hügeln ausgeweideter Schiffsteile; es verfuhr sich, verschwand für einen Augenblick hinter getürmten Rohrleitungen, tauchte vor der Schlosser-Werkstatt auf und fand dann zwangsläufig zu dem geräumigen hölzernen Schuppen, dessen eine Hälfte als Kontor diente. Das muß er sein, flüsterte Wiebke. Bevor er sich vom Rücksitz herauszwängte, stiegen zunächst aber ein gedrungener bärtiger Mann und eine hochgewachsene Frau aus, die durch das Fenster ins Kontor hineinlinsten und, in der Gewißheit, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, gleich mit dem Ausladen einiger Sachen begannen.

Und dann sahen wir ihn, endlich kletterte er heraus und stand nur ergeben da, ein schmächtiger Junge, der zu frieren schien und der darauf wartete, Anweisungen zu erhalten. Ohne den Blick zu heben, ließ er sich von dem Mann einen Rucksack umhängen, faßte den Griff eines Köfferchens, das ihm gereicht wurde, blieb geduldig stehen, während da noch ein Beutel und ein sperriger Kasten ausgeladen wurden, und erst als die Frau ihm übers Haar wischte, sah er auf. Jetzt entdeckte er wohl in der Höhe den Schwenkarm des Krans, an dem eine riesige Schiffsschraube schwebte, und an diesen Anblick verloren, übersah er die ausgestreckte Hand der Frau. Sie mußte zufassen. Sie zog ihn mit sich. Alle drei verschwanden im Kontor meines Vaters.

Damals, Arne, an jenem Wintertag, sahen wir dich zum ersten Mal, hatten nur Augen für dich, wie du dort standest im schmutzigen Schnee vor dem Schuppen, ergeben, verloren, als hättest du dich in unsere Welt verirrt. Meinem kleinen, immer spottbereiten Bruder Lars erschienst du als Fragezeichen, abschätzig meinte er, daß mit dir wohl nicht viel anzufangen sei, nicht hier, wo wir kurzweilig lebten, an diesem entlegenen Hafenbecken, in dem alte, ausgemusterte Schiffe ihr Ende fanden. Wiebke fiel aus der Ferne dein staksiger Gang auf, außerdem glaubte sie erkannt zu haben, daß du dein Gesicht wie schuldbewußt gesenkt hieltest; sie sagte es leise, als fürchtete sie, du könntest es hören. Harmloser als du jedenfalls hätte uns einer nicht vorkommen können, nicht am Tag deiner Ankunft, und gewiß hätte niemand von uns geglaubt, daß du uns einmal ein dauerhaftes Rätsel aufgeben und uns zurücklassen würdest in Trauer und Bewunderung.

Auch nachdem Arne und seine Begleiter im Kontor verschwunden waren, hielten wir das Fenster besetzt, starrten unablässig hinüber und dachten uns in den immer überheizten Arbeitsraum meines Vaters, wo, wie wir annahmen, die Übergabe geschah und nach Begrüßung und Befragung ein vorbereitetes Dokument unterschrieben wurde. Wir wollten es uns nicht entgehen lassen, wie sie aus dem Kontor heraustraten und, nach der Verabschiedung von Arnes Begleitung, zu uns herüberkamen: ob Hand in Hand und im Gespräch oder schweigend hintereinander durch den Schneematsch. Während wir wie angenietet das Kontor beobachteten, fragte meine Mutter in unserem Rücken, ob er schon gekommen sei, und nachdem Wiebke es knapp bestätigt hatte, erinnerte sie uns daran, was am Abend zuvor ausgemacht worden war: Wir hatten versprochen, Arne wie einen Bruder aufzunehmen. Denkt daran, was er erleben mußte, sagte sie, und sie sagte noch einmal: Nehmt ihn wie einen Bruder auf und stellt ihm keine Fragen, irgendwann wird er schon von selbst sprechen wollen.

Wir wußten da nicht viel über Arne, wir wußten lediglich, daß sein Vater, ein ehemaliger Kapitän und Eigner eines Küstenmotorschiffes, mit seiner ganzen Familie freiwillig in den Tod gegangen war, nicht auf See, sondern in ihrem Haus am Rand von Cuxhaven. Nur bei ihm, nur bei Arne hatten die Wiederbelebungsversuche Erfolg; seine Eltern und die beiden älteren Schwestern konnten die Nachbarn, die das Unglück entdeckt hatten, nicht mehr ins Leben zurückholen. Mein Vater fuhr zum Begräbnis seines Jugendfreundes, und nach seiner Heimkehr brachte er uns bei, daß wir demnächst Zuwachs bekämen, freundlichen, schüchternen Zuwachs, zwölf Jahre alt, Arne Hellmer. Ich weiß noch, wie oft wir da versuchten, aus meiner Mutter mehr herauszufragen, doch sie wollte nichts sagen; obwohl sie alles wußte, wehrte sie unsere Fragen ab, unwirsch mitunter. Daß Arne zu mir ziehen sollte, in mein geräumiges Bodenzimmer, war allein ihre Entscheidung.

Als sie aus dem Kontor herauskamen, hatten sie sich anscheinend schon voneinander verabschiedet, sie nickten sich nur noch einmal zu, dann fuhren Arnes Begleiter weg, und er stand so lange da, bis mein Vater seinen Karton und den Beutel aufnahm und ihn blickweis aufforderte, mit ihm zu gehen. Sie gingen nebeneinander, ohne zu reden, mitunter wandte mein Vater sich ihm zu, als wollte er ihm Mut machen: Nu los, komm schon. Vor dem Haus blieben sie stehen, und Vater lenkte Arnes Blick zu unserem Fenster hinauf, mit einem Ausdruck, in dem eine stille Warnung lag; da zogen wir uns gleichzeitig zurück und verteilten uns im Wohnzimmer, darauf bedacht, nicht übermäßig interessiert zu erscheinen. Meine Mutter hielt es ebenfalls für nötig, uns zeichenhaft zu ermahnen, danach stellte sie sich zur Begrüßung an der Tür auf, nicht seitlich, sondern so, daß sie dem Eintretenden den Weg versperrte.

Sie hieß Arne, der von meinem Vater sacht geschoben wurde, willkommen, sie nahm ihn gleich an die Hand und führte ihn zum Tisch, auf dem, eigens für ihn, ein Frühstück vorbereitet war, Milch und Käsebrot und eine südafrikanische Tafelbirne – ein für ihren Sparsinn üppiges Frühstück. Jetzt gehörst du zu uns, sagte sie, während sie ihm half, den gelben Rucksack abzunehmen, und als er verlegen vor dem Tisch stand, rief sie uns nacheinander auf und bat uns, ihn zu begrüßen und ihm unsere Namen zu nennen. Ich höre noch, wie mein Vater ungeduldig von der Tür her sagte: Mach schon, Wiebke, und auch du, Lars, gebt Arne die Hand. Ich gab dir als erster die Hand, ich sagte: Ich bin Hans, du wirst in meinem Zimmer wohnen, du wirst dich bestimmt wohl fühlen bei mir. Ein zaghaftes Lächeln glitt über sein Gesicht, er nickte dankbar, nickte erstaunt, seine Lippen bewegten sich, doch es war kein Wort zu hören.

Lars begrüßte ihn flüchtig, fast nachlässig, und er glaubte wohl, besonders originell zu sein, als er im Abdrehen sagte: Dann auf gute Nachbarschaft. Arne war nicht einmal verwundert, anscheinend hatte er den Satz überhört, denn er starrte unverwandt Wiebke an, er musterte sie so überrascht, so freundlich und forschend, als erinnerte sie ihn an jemand, der ihm viel bedeutete. Wiebke wies ihn darauf hin, daß ihr zweiter Name Carola war, daß aber alle hier sie nur Winnie nannten, und als Arne darauf nichts sagte oder sagen konnte, stellte sie ihm frei, sie auch Winnie zu rufen.

Mein Vater drückte ihn auf den Stuhl nieder und forderte ihn auf, zu essen, und wir standen herum und kamen nicht von seiner Erscheinung los. Wir taxierten, maßen, befragten ihn lautlos: das hellblonde Stoppelhaar, die schmalen, auch in der wattierten Jacke schmal erscheinenden Schultern, das blasse Gesicht, dessen Haut – vor Kälte oder Erregung – leicht aufgerauht, körnig war, die dünnen Handgelenke. Er trug keine Jeans, sondern olivfarbene Cordhosen und an den Füßen neue, derbe Schnürschuhe. Da er zögerte, das Käsebrot zu berühren, setzte meine Mutter sich zu ihm und ermunterte ihn, zu essen, doch er schüttelte den Kopf und sah sie mit einem bittenden Blick an und flüsterte: Ich hab schon gegessen, wirklich, heute morgen. Und er blieb bei seinem Verzicht, wobei ihm anzumerken war, daß es ihm nicht leichtfiel, dem Drängen zu widerstehen.

Lange saß er still da, zumindest kam es uns so vor, und während wir uns achselzuckend ansahen und harmlose Fragen überlegten, stand er plötzlich auf und öffnete sein altmodisches Köfferchen. Tastend fuhr seine Hand hinein, fingerte da unter dunklem Wollzeug, hielt inne und zog etwas heraus, etwas Weißliches, Angegilbtes, das er behutsam umschloß und zum Tisch brachte und vor meiner Mutter hinsetzte. Das habe ich Ihnen mitgebracht, sagte er leise. Sogleich umstanden wir alle den Tisch, sahen und bewunderten die aus Walroßzahn gearbeitete, fein polierte Möwe, eine Heringsmöwe, geduckt, mit gerecktem Hals, offenbar in Verteidigungshaltung. Wer sie nur ansah, hörte sie schreien. Ist die aber schön, sagte meine Mutter und nahm sie in die Hand, drehte und wendete sie und glaubte tatsächlich, die ursprüngliche Kühle des Materials zu spüren, nach Jahren noch zu spüren. Sie reichte die Möwe meinem Vater, der nachdenklich über den glatten Körper hinstrich und urteilte: Feine Arbeit, in Norwegen machen sie so was. Sie ist aus Norwegen, sagte Arne, mein Vater hat sie einmal mitgebracht, sie gehörte meiner Schwester.

Mir entging nicht, daß meine Eltern sich mit einem Blick verständigten, worauf mein Vater das kurze Brett mit dem aufmontierten Modell-Leuchtturm holte und es Arne in die Hände legte: Und das ist für dich, zum Einzug. Er sagte noch: Ich hab’s mal selbst gemacht, auf großer Fahrt, es ist lange her. Ungläubig hielt Arne das Geschenk eine Weile vor seinem Körper, dann setzte er es auf den Tisch, beugte sich darüber und berührte behutsam den Turm und die umlaufende Plattform und die kleinen dekorativen Wellen, die sich vor dem Fuß des Turms reckten, er linste auf die aufgemalten Fenster und hob die Laternenkuppel ab und spähte in das Innere des Turms – überwältigt von Freude. Wenn du den Wärter suchst, sagte mein Vater, den mußt du dir hinzudenken. Wie immer bei uns, gaben sie einander zum Dank stumm die Hand, Arne meinem Vater und meine Mutter Arne; danach aber sagte meine Mutter: Du brauchst mich nicht mit Sie anzureden, Arne, du gehörst doch jetzt zur Familie, sag einfach Tante Elsa, das genügt. Wiebke lächelte spöttisch, sie hielt das Angebot wohl für verfrüht oder für überflüssig, und auch Lars schien es zu tun, der bekümmert zur Decke aufsah, mit unhörbarem Seufzen. Und beide blickten sich dann betreten an, als mein Vater, weil er offenbar in seinem Willkommensangebot nicht zurückstehen wollte, Arne freistellte, ihn künftig einfach Onkel Harald zu nennen, Onkel Harald, klar? Arne nickte nur. Bevor mein Vater hinüberging in sein Kontor, deutete er auf Arnes Sachen und sagte zu mir: Hilf ihm mal, und zeig ihm, wo er wohnen wird; wenn er sich erst ausgebreitet hat, findet sich alles andere von allein; und an Arne gewandt, sagte er: Wenn du was brauchst, frag nur Hans, er ist der Älteste, ihm kannst du dich anvertrauen.

Wir beluden uns mit seinen Sachen und stiegen zu meinem Zimmer hinauf, ich lotste ihn über den dämmrigen Boden, warnte vor Hindernissen – den Truhen mit ererbtem, nie gebrauchtem Weißzeug, den beiden Kinderbetten – und öffnete ihm die Tür. Zweimal mußte ich ihn auffordern, einzutreten.

So wie du, Arne, blieb manch einer verblüfft an der Schwelle stehen, der zum ersten Mal zu mir heraufkam; denn mit seiner Einrichtung glich mein Zimmer damals einer Schiffskajüte. Die engen Kojen mit hochgeklapptem Sicherheitsbrett, die dreibeinigen, raumsparenden Polsterstühle, die aus tropischem Holz gefertigten Tische und die beiden baumelnden Messingglocken: alles stammte aus abgewrackten Schiffen, alles wurde unter Aufsicht meines Vaters, der als Meister das Sagen hatte, geborgen, repariert, gewienert und zu uns transportiert, um mir ein seewinddurchlüftetes, vor allem aber kostengünstiges Zuhause zu schaffen. Die Fenster allerdings waren noch nie auf See gewesen, waren noch nie unter Gischtfahnen erblindet, es waren doppelt verglaste Veluxfenster, tief herabgezogen, so daß man stehend über den Werftplatz, auf das Hafenbecken und am Abend auf die Lichtkuppel von Hamburg blicken konnte.

Arne gefiel das Zimmer; nachdem er für seinen Leuchtturm einen Platz gefunden hatte, ging er herum, prüfte die Aussicht, bestaunte das Inventar alter, längst aus dem Register verschwundener Schiffe. Ich öffnete ein Metallspind für ihn. Ich zeigte ihm sein Bett. Ich hob von einer Kiste, in der einst Schwimmwesten verstaut waren, den Deckel ab und empfahl ihm den Raum für Schuhe und sperriges Zeug. Für ihn, ihn ganz allein, hatte ich ein abschließbares Eckschränkchen vorgesehen: Hier kannst du verstauen, was keinen etwas angeht. Den Peilrahmen, den ich mir als Dekoration besorgt hatte, untersuchte er nachdenklich, vorsichtig drehte er die ringförmige Rahmen-Antenne, schloß die Augen, als lauschte er, und machte auf einmal ein Gesicht, als hörte er wirklich etwas, und auf einmal drehte er die Rahmen-Antenne gegen mich und wollte wissen, wie alt Wiebke sei; er fragte direkt: Wie alt ist Wiebke, Hans, und ich sagte: Wiebke ist vierzehn, ich bin siebzehn. Er schwieg eine Weile, seine Augen verengten sich, dann begann er kaum merklich zu zittern, ließ die Antenne los und sagte: Margarethe war auch siebzehn, meine Schwester war auch siebzehn. Ich wollte nicht nachfragen, ich zeigte auf den Klapptisch, der künftig nur sein Tisch sein sollte, und ermunterte ihn, auszupacken, einzuräumen, von allem Besitz zu nehmen, was ich für ihn reserviert hatte. Um ihm nicht wie kontrollierend zuzugucken, verschanzte ich mich hinter einer Hausarbeit, die wir aufbekommen hatten – ich weiß noch: aus der Geschichte der Kolonisation; Kolumbus und Hispaniola –, mußte aber dennoch immer wieder zu ihm hinblicken, beeindruckt von der Sorgfalt, mit der er alles, was er aus dem Rucksack, aus dem Karton und dem Beutel hervorholte, auf Spind und Kisten verteilte und, nach kurzer Begutachtung, ablegte. Daß einer in seinem Alter so schonungsvoll umgehen konnte mit seinem Eigentum, wunderte mich; sogar die paar Taschentücher legte er akkurat aufeinander. Als er die Rolle mit den holländischen Butterkeksen in die Hand bekam, bot er mir sogleich einen Keks an, und weil ich sein Angebot nicht zurückwies, legte er noch ein paar Kekse neben mein Heft. Zuletzt packte er ein paar Bücher und Schreibblöcke aus, die er auf dem Klapptisch stapelte; dann trug er, wie ich’s ihm riet, seine leeren Behältnisse auf den Boden und stellte sie zu unseren vergessenen Kinderbetten. Allein im Zimmer, warf ich dann rasch einen Blick auf seine Bücher und wollte nicht glauben, was die Titel besagten, aber es waren tatsächlich ein Wörterbuch und eine Grammatik der finnischen Sprache, außerdem eine Broschüre mit finnischen Redensarten. Ich blätterte in der Broschüre, versuchte gerade, ein zeilenlanges Wort leise nachzusprechen, da kam Arne zurück und sagte wie nebenher: Jetzt lerne ich Finnisch, Hans.

Arne lernte Finnisch; seit er einmal, in den großen Ferien, in Finnland gewesen war – sein Vater hatte ihn auf eine Reise mitgenommen, und er blieb bei ihm, während ihr Kümo im Dock lag –, hatte er sich vorgenommen, Finnisch zu lernen, allein, ohne Anleitung. Auf meinen Hinweis, daß man Finnisch doch nie braucht, daß es gewiß zweckmäßiger wäre, eine andere Sprache zu lernen, Englisch oder Russisch oder Spanisch zum Beispiel, sah er mich einen Augenblick verständnislos an, dann sagte er: Aber ich muß es, schon wegen Toivo muß ich es. Er fühlte sich tatsächlich verpflichtet, die Sprache seines finnischen Freundes Toivo zu lernen, mit dem er viel geteilt hatte, einmal auch ein Zelt auf einer bewaldeten Insel. Er hoffte, dem bewunderten Freund eines Tages in Finnisch schreiben zu können. Englisch, sagte er, Englisch kann ich schon.

Ja, Arne, damals konnte ich nicht anders, ich mußte mir einfach meinen Teil denken, als du mich – zutraulich, wie du immer warst – mit deinen Überzeugungen und Entschlüssen und Neigungen bekanntmachtest, anfangs schüttelte ich mitunter nur den Kopf und hielt dich aus Zuneigung lediglich für merkwürdig, aber bald wußte ich mehr. Bald erfuhr ich, was Doktor Lungwitz von dir sagte, der ja vorübergehend auch mein Lehrer war; bei einem Besuch vertraute er meinem Vater an, daß er dich für den außergewöhnlichsten Schüler hielt, den er je unterrichtet hatte, ja, er zögerte nicht, dir eine einmalige Begabung für fremde Sprachen zuzuerkennen, die ihm, der selbst in vier Sprachen zu Hause war, als rätselhaft erschien.

Um mich von meiner Hausarbeit nicht abzuhalten, setzte Arne sich an den Klapptisch und schlug ein Heft auf, er saß ganz still da, nicht ein einziges Mal blätterte er um. Als ein Luftschiff mit einem flatternden Werbeplakat für Autoreifen vom Hafen heranbrummte, stand er nicht auf, er blickte nur einmal zum Fenster und dann zu mir, und jetzt sah ich, daß er Tränen in den Augen hatte, seine Lippen zuckten, er bibberte. Ich trat zu ihm und fragte, was los sei, fragte, ob ich etwas tun könnte für ihn; er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und versuchte zu lächeln, und plötzlich ergriff er meine Hand und sagte stockend: Du kannst dich auf mich verlassen, Hans, immer.

Da er meine Hand nicht losließ, zog ich ihn hoch und drehte ihn zum Fenster und zeigte auf den verschneiten Werftplatz, auf dem sich in seiner Schienenspur ein Kran bewegte, mit klingelnden Warnzeichen. Da unten ist allerhand los, sagte ich, wenn du Lust hast, sollten wir da mal rumstöbern, vielleicht entdeckst du etwas Brauchbares für dich. Er antwortete nicht, er beobachtete ausdauernd den Kran, an dessen Arm jetzt ein meergraues Rettungsboot hing, pendelnd, schwankend, ein bockiges Wesen, das sich gegen die Luftreise sträubte. Der Kahn hat wohl ausgedient, sagte ich; alles, was da unten liegt, hat ausgedient, aber manchmal kommen Leute und kaufen die Sachen für alt, Pumpen, Entlüfter oder Ruderblätter; einmal hat Vater eine ganze Schiffskombüse verkauft, an Zirkusleute. Du glaubst nicht, was ein alter Dampfer beim Abwracken noch so alles hergibt. Arne hob den Blick, sah eine Weile zu den Flammen der Schneidbrenner hinüber, die fern am Wasser den Rest einer Bordwand zerschnitten, sich fast schon bis zum Schiffsboden hinuntergefressen hatten, und auf einmal sagte er – und es hörte sich an, als sagtest du es zu dir selbst –: Unsere »Albatros« ist gesunken, im Kattegat, es war Sturm. Da hoffte ich, daß er mehr sagen und mir anvertrauen würde, was nur er allein wußte und mit sich herumtrug, doch er schwieg, und ich fragte nicht nach, denn ich wollte nichts aufrühren. Ich zeigte auf die ausgeweideten Schiffsteile und ließ ihn ermessen, was unwiderruflich verlorenging bei den vielen Untergängen auf See, welche Werte in der Tiefe lagen, für immer, und ich nannte ihm ein paar Schiffsnamen, die »Flying Enterprise«, die »Andrea Doria« und die »Stella«, aber auch das Unglücksschiff »Estonia«: was da alles mit unterging. Und ich sagte: Wer weiß, was alles mit eurer »Albatros« untergegangen ist, und gleich darauf bedauerte ich, es gesagt zu haben, denn Arnes Blick verengte sich, eine seltsame Starre schien ihn zu befallen, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck verzweifelter Konzentration. Ich legte ihm einen Arm um die Schulter und führte ihn an mein Schapp heran, an die Abseite in Fußbodenhöhe, in der ich aufbewahrte, was ich nach und nach auf der Werft erworben, manchmal auch abgestaubt hatte. Eine dickglasige, vergitterte Laterne. Einen Kompaß. Zwei guterhaltene rotweiße Rettungsringe. Flaggen und Wimpel und ein Stapel von Seekarten. Sinnierend hockte Arne vor meinem heimlichen Besitz, er achtete kaum auf meine Erläuterungen – von welchem Kasten was stammte –, doch als ich ihn aufforderte, sich etwas auszusuchen, fuhr er auf, sah mich ungläubig an und fragte: Im Ernst, meinst du’s wirklich im Ernst? Klar, sagte ich, bedien dich ruhig, nur die Signalpistole, die kannst du nicht bekommen. Da hockte er vor meinen Besitztümern und sollte sich etwas aussuchen, und er prüfte, erwog und befummelte, entschied sich für etwas und legte es gleich wieder zurück, doch nachdem er einen Satz Reederei-Wimpel aufgehoben hatte, fiel sein Blick auf das alte Log, und das nahm er in beide Hände und wünschte es sich. Wir hatten auch eins an Bord, sagte er, auch mit solch einem Brett und der Leine und dem Glas. Spielerisch ließ er ein Stück Leine von der Rolle laufen und zog das Brett über den Fußboden, und ich erkannte, daß er mit dem Gebrauch des Logs vertraut war. Immer noch, Arne, liegt es am Fußende deiner Koje, auf dem Platz, auf dem du es haben wolltest, unberührt von uns.

Auf einmal kam Wiebke herein, sie kam herein, ohne anzuklopfen, ließ sich auf mein marokkanisches Sitzkissen fallen, sagte nichts, saß nur im Schneidersitz da und blickte Arne grüblerisch an. Der freute sich über Wiebkes Anwesenheit und mußte ihr gleich zeigen, wo er seine Sachen verstaut hatte: Hier, im Spind, liegen schon … in der Kiste, siehst du, die Schuhe … im Eckschrank sollen später die Hefte und … Gleichmütig überging Wiebke, was er ihr zeigte, sie hatte nur ein Interesse für ihn, für seine Haltung, seine Bewegungen, seine Worte, besonders für seine Worte: ein kaltes und doch verständliches Interesse, mit dem sie ihn ununterbrochen begleitete. Sie übersah auch die Keksrolle, die er ihr freundlich hinhielt, und hörte nicht auf, forschend sein Gesicht zu betrachten, und als er ihr zum wiederholten Male einen Keks anbot, fragte sie plötzlich: Warst du richtig tot? Offenbar wurde ihr sogleich bewußt, daß sie diese Frage nicht hätte stellen dürfen, sie sah mich erschrocken an, sie schien so bestürzt über sich selbst, daß sie in dem Bedürfnis, die Frage zu verharmlosen, langsam hinzufügte: Manchmal, weißt du, wenn ich gar nichts mehr gespürt hab, dachte ich schon: So muß es sein, wenn man tot ist. Arne stand regungslos da, er lächelte zaghaft, ich sah ihm an, daß er Wiebkes Frage nicht beantworten wollte oder konnte, zumindest nicht in diesem Augenblick. Im Unterschied zu mir schien er diese Frage aber auch nicht als ungebührlich oder als tadelnswert zu empfinden, er war erstaunt und wohl auch traurig, daß ich Wiebke aufforderte, uns allein zu lassen. Sie muß gemerkt haben, wie enttäuscht ich von ihr war, wie ungehalten darüber, daß sie gegen unsere Abmachung verstoßen hatte, denn sie machte keinen Versuch, ihren Abgang zu verschleppen, sie gehorchte und winkte Arne versöhnlich zu. Es rührte mich – ja, ich kann nur sagen: es rührte mich, als Arne sich zu dem Log hinabbeugte und langsam das Stück Leine aufrollte und unvermutet fragte: Glaubst du, daß wir Freunde werden können? Was denn sonst, sagte ich, außerdem sind wir es schon.

So, Arne, kamst du zu uns, du mit deiner Sanftmut und Duldsamkeit, so begannen die gemeinsamen Jahre, in denen du uns oft genug ratlos machtest und mitunter daran zweifeln ließest, ob du jemals zu uns gehören könntest, einfach weil dir die Spielregeln und Wahrheiten, denen wir uns verpflichtet fühlten, nicht das bedeuteten, was sie uns bedeuteten.