9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche, soll einen Aufsatz über das Thema "Die Freuden der Pflicht" schreiben. Nicht daß ihm nichts dazu einfiele - das Thema ist ihm vertraut wie keinem sonst: Sein Vater, der "nördlichste Polizeiposten Deutschlands", war den Pflichten seines Amtes so rückhaltlos ergeben, daß er nicht zögerte, seinem Jugendfreund, dem international bekannten Maler Nansen, das von den Nazis über ihn verhängte Malverbot eigenhändig zu überbringen und seine Einhaltung persönlich zu überwachen. Siggi, zu dieser Zeit noch ein Kind, wird Zeuge eines stillen, aber erbitterten Kampfes. Sein Vater ist nun einmal sein Vater, aber seine Zuneigung gehört dem Maler und seinen farbglühenden Bildern. In der Erinnerung wird sein Deutschaufsatz zum Lebensbericht, zum Versuch, sich selbst zu begreifen. "Ein Meisterwerk, dessen Ernst voller Trauer ist - wie es nur bei einem Beobachter sein mag, der Humor hat." (Die Zeit) Diese E-Book-Ausgabe von "Deutschstunde" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 796
Siegfried Lenz
Deutschstunde
Roman
Literatur
Hoffmann und Campe Verlag
Für L.H.L.
Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben. Joswig selbst hat mich in mein festes Zimmer gebracht, hat die Gitter vor dem Fenster beklopft, den Strohsack massiert, hat sodann, unser Lieblingswärter, meinen metallenen Schrank durchforscht und mein altes Versteck hinter dem Spiegel. Schweigend, schweigend und gekränkt hat er weiterhin den Tisch inspiziert und den mit Kerben bedeckten Hocker, hat dem Ausguß sein Interesse gewidmet, hat sogar, mit forderndem Knöchel, dem Fensterbrett ein paar pochende Fragen gestellt, den Ofen auf Neutralität untersucht, und danach ist er zu mir gekommen, um mich gemächlich abzutasten von der Schulter bis zum Knie und sich beweisen zu lassen, daß ich nichts Schädliches in meinen Taschen trug. Dann hat er vorwurfsvoll das Heft auf meinen Tisch gelegt, das Aufsatzheft – auf dem grauen Etikett steht: Deutsche Aufsätze von Siggi Jepsen –, ist grußlos zur Tür gegangen, enttäuscht, gekränkt in seiner Güte; denn unter den Strafen, die man uns gelegentlich zuerkennt, leidet Joswig, unser Lieblingswärter, empfindlicher, auch länger und folgenreicher als wir. Nicht durch Worte, aber durch die Art, wie er abschloß, hat er mir seinen Kummer zu verstehen gegeben: lustlos, mit stochernder Ratlosigkeit fuhr sein Schlüssel ins Schloß, er zauderte vor der ersten Drehung, verharrte wiederum, ließ das Schloß noch einmal aufschnappen und beantwortete sogleich diese Unentschiedenheit, sich selbst verweisend, mit zwei schroffen Umdrehungen. Niemand anders als Karl Joswig, ein zierlicher, scheuer Mann, hat mich zur Strafarbeit eingeschlossen.
Obwohl ich fast einen Tag lang so sitze, kann und kann ich nicht anfangen: schau ich zum Fenster hinaus, fließt da durch mein weiches Spiegelbild die Elbe; mach ich die Augen zu, hört sie nicht auf zu fließen, ganz bedeckt mit bläulich schimmerndem Treibeis. Ich muß die Schlepper verfolgen, die mit krustigem, befendertem Bug graue Schnittmuster entwerfen, muß dem Strom zusehen, wie er von seinem Überfluß Eisschollen an unseren Strand abgibt, sie hinaufdrückt, knirschend höherschiebt bis zu den trockenen Schilfstoppeln, wo er sie vergißt. Widerwillig beobachte ich die Krähen, die, scheint’s, eine Verabredung bei Stade haben: von Wedel her, von Finkenwerder und Hahnöfersand schwingen sie einzeln heran, vereinigen sich über unserer Insel zu einem Schwarm, steigen und wenden in verwinkeltem Flug, bis sie sich auf einmal einem günstigen Wind anbieten, der sie nach Stade wirft. Das knotige Weidengebüsch lenkt mich ab, das glasiert ist und mit trockenem Reif gepudert; der weiße Maschendraht, die Werkräume, die Warntafeln am Strand, die hartgefrorenen Klumpen des Gemüselandes, das wir im Frühjahr unter Aufsicht der Wärter selbst bebauen: alles und sogar die Sonne lenkt mich ab, die, wie durch Milchglas getrübt, lange, keilförmige Schatten fordert. Und bin ich trotzdem einmal nahe daran, anzufangen, fällt mein Blick unweigerlich auf den zerschrammten, an Ketten hängenden Anlegeponton, an dem die gedrungene, messingblitzende Barkasse aus Hamburg festmacht, um pro Woche, sagen wir mal, bis zu zwölfhundert Psychologen abzusetzen, die sich geradezu krankhaft für schwer erziehbare Jugendliche interessieren. Ich kann nicht wegsehen, wenn sie den gekrümmten Strandweg heraufkommen, ins blaue Direktionsgebäude geführt werden und nach üblicher Begrüßung, womöglich auch nach Ermahnungen zu Vorsicht und unauffälligem Forschen, ungeduldig hinausdrängen, scheinbar absichtslos über unsere Insel schwärmen und sich an meine Freunde heranmachen: an Pelle Kastner zum Beispiel, an Eddi Sillus und den jähzornigen Kurtchen Nickel. Vielleicht interessieren sie sich deshalb so für uns, weil die Direktion errechnet hat, daß jeder, der auf dieser Insel gebessert worden ist, nach seiner Entlassung mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht wieder straffällig wird. Wenn Joswig mich nicht zur Strafarbeit eingeschlossen hätte, wären sie jetzt wohl auch hinter mir her, würden meinen Lebenslauf unter ihr wissenschaftliches Brennglas halten und sich bemühen, ein Bild von mir zu gewinnen. Aber ich muß die doppelte Deutschstunde nachholen, muß die Arbeit liefern, die ein hagerer, schreckhafter Doktor Korbjuhn und unser Direktor Himpel von mir erwarten. Auf Hahnöfersand, der Nachbarinsel, die ebenfalls elbabwärts liegt, Richtung Twielenfleth Wischhafen, und auf der, wie bei uns, schwer erziehbare Jugendliche festgehalten und gebessert werden, wäre das nicht möglich: zwar gleichen sich die beiden Inseln sehr, zwar werden sie vom gleichen öltrüben Wasser belagert, von den gleichen Schiffen passiert, von den gleichen Möwen beansprucht, doch auf Hahnöfersand gibt es keinen Doktor Korbjuhn, keine Deutschstunden, keine Aufsatzthemen, unter denen, Ehrenwort, die meisten sogar körperlich leiden. Viele von uns möchten daher lieber auf Hahnöfersand gebessert werden, wo die seegehenden Schiffe zuerst vorbeikommen und wo die knatternde, zerrissene Flamme über der Raffinerie jeden dauerhaft grüßt.
Auf der Schwesterinsel, das ist sicher, hätte ich keine Strafarbeit erhalten, denn dort kann nicht geschehen, was bei uns geschah: hier genügte es, daß ein hagerer, nach Salbe riechender Mensch auf Korbjuhnsche Art in den Klassenraum trat, uns höhnisch, aber auch schreckhaft musterte, sich ein »Guten-Morgen-Herr-Doktor« wünschen ließ und ohne Ankündigung, ohne Warnung die Aufsatzhefte verteilte. Er sagte nichts. Er trat vielmehr, und ich meine: genußvoll, an die Tafel, ergriff die Kreide, hob die unansehnliche Hand und schrieb, während ihm der Ärmel bis zum Ellenbogen hinabrutschte, dabei einen trockenen, gelblichen, wenigstens hundertjährigen Arm freigab, das Thema an die Tafel, in seiner geduckten, schrägen Schrift, in der Schräge der Scheinheiligkeit. Es hieß: »Die Freuden der Pflicht.« Ich blickte erschrocken in die Klasse, sah nur gekrümmte Rücken, verstörte Gesichter; da lief ein Zischen von Bank zu Bank, Füße scharrten, Tischplatten wurden mit Seufzern gespickt. Ole Plötz, mein Nebenmann, bewegte seine fleischigen Lippen, las halblaut mit und bereitete seine Krämpfe vor. Charlie Friedländer, der begabt genug ist, nach Belieben blaß, grünlich, jedenfalls alarmierend ungesund zu erscheinen, so daß alle Erzieher ihn spontan von jeder Arbeit befreien – Charlie ließ bereits seine Atemkunst spielen, verfärbte sich zwar noch nicht, machte sich jedoch schon, unter geschickter Mitwirkung der Halsschlagader, Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Ich zog meinen Taschenspiegel heraus, winkelte ihn in Richtung zum Fenster, fing mir etwas Sonne und warf die Sonne gegen die Tafel, worauf Doktor Korbjuhn sich erschreckt umwandte, mit zwei Schritten die Sicherheit des Katheders gewann und uns von dort herab befahl, anzufangen. Noch einmal flog sein trockener Arm hoch, sein Zeigefinger wies in fordernder Starre auf das Thema: »Die Freuden der Pflicht«, und um allen Fragen auszuweichen, verfügte er: Jeder kann schreiben, was er will; nur muß die Arbeit von den Freuden der Pflicht handeln.
Ich halte meine Strafarbeit – bei gleichzeitiger Einschließung und vorläufigem Besuchsverbot – für unverdient; denn man läßt mich nicht dafür büßen, daß meiner Erinnerung oder meiner Phantasie nichts gelang, vielmehr hat man mir diese Abgeschiedenheit verordnet, weil ich, gehorsam nach den Freuden der Pflicht suchend, plötzlich zuviel zu erzählen hatte, oder doch so viel, daß mir kein Anfang gelang, sosehr ich mich auch anstrengte. Da es nicht beliebige, da es die Freuden der Pflicht sein sollten, die Korbjuhn sich von uns entdeckt, beschrieben, ausgekostet, jedenfalls eindeutig bewiesen wünschte, konnte mir niemand anderes erscheinen als mein Vater Jens Ole Jepsen, seine Uniform, sein Dienstfahrrad, das Fernglas, der Regenumhang, seine in unablässigem Westwind segelnde Silhouette auf dem Kamm des Deiches. Unter Doktor Korbjuhns mahnendem Blick fiel er mir sogleich ein: im Frühjahr, nein, im Herbst, dann also an einem dunklen, windfrischen Tag im Sommer schob er sein Fahrrad wie immer zum schmächtigen Ziegelweg hinab, hielt, wie immer, unter dem Schild »Polizeiposten Rugbüll«, brachte die Pedale, indem er das Hinterrad hob, in die erwünschte Ausgangsstellung, verschaffte sich wie immer mit zwei Stößen den nötigen Schwung zum Aufsitzen und fuhr, zunächst schlingernd, stuckernd, vom Westwind aufgebauscht, ein Stück in Richtung zur Husumer Chaussee, die nach Heide und Hamburg weiterführt, bog beim Torfteich ab und fuhr, jetzt mit seitlichem Wind, an den maulwurfsgrauen Gräben entlang zum Deich, wie immer an der flügellosen Mühle vorbei, saß hinter der Holzbrücke ab und schob das Fahrrad schräg den wulstigen Deich hinauf, gewann dort oben, vor der Leere des Horizonts, eine unerwartete, den Raum betreffende Bedeutung, schwang sich abermals in den Sattel und segelte nun, eine einsame Tjalk, mit prallem, geblähtem und fast explodierendem Umhang auf dem Kamm des Deiches entlang, nach Bleekenwarf, wie immer nach Bleekenwarf. Nie vergaß er seinen Auftrag. Wenn der Herbstwind Korvetten über den Himmel von Schleswig-Holstein trieb: mein Vater war unterwegs. Im scheckigen Frühjahr, bei Regen, an trüben Sonntagen, morgens und abends, in Krieg und Frieden schwang er sich auf sein Fahrrad und strampelte in die Sackgasse seiner Mission, die ihn immer nur nach Bleekenwarf führte von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
Dies Bild, wie gesagt, diese mühselige Fahrt, zu der der Außenposten der Landpolizei Rugbüll – der nördlichste Polizeiposten Deutschlands – andauernd aufbrach, gelang meiner Erinnerung sofort, und um Korbjuhn zu dienen, dachte ich mich noch näher heran, band mir einen Schal um, ließ mich auf den Gepäckträger des Dienstfahrrades setzen und fuhr einfach mit nach Bleekenwarf, wie so oft, hielt mich, wie so oft, mit klammen Fingern am Koppel meines Vaters fest, während der Gepäckträger mir mit seinem harten Gestänge rote Flecken in die Oberschenkel kniff. Ich fuhr mit und sah uns gleichzeitig, gegen den Hintergrund unentbehrlicher Abendwolken, gemeinsam auf dem Deich entlangfahren, ich spürte die Windstöße frei und scharf von der Einöde des Watts und sah uns beide von fern schwanken unter denselben Windstößen, und ich hörte meinen Vater stöhnen vor Anstrengung, nicht verzweifelt oder zornig über den Wind, sondern nur ordnungsgemäß stöhnen und, wie mir schien, mit heimlicher Genugtuung. Am Watt, am schwarzen winterlichen Meer entlang, fuhren wir nach Bleekenwarf, das ich kannte wie kein Anwesen außer der zerfallenden Mühle und unserm Haus; ich sah es daliegen auf schmutzigem Erdsockel, von Erlen flankiert, deren Kronen scharf gestriegelt und nach Osten hingebogen waren, ich versetzte mich vor das schwingende Holztor, öffnete es, blickte forschend auf Wohnhaus, Stall, Schuppen und das Atelier, aus dem mir, wie so oft, Max Ludwig Nansen zuwinkte, listig und vorsorglich drohend.
Sie hatten ihm damals verboten zu malen, und mein Vater, der Polizeiposten Rugbüll, hatte die Einhaltung des Malverbots zu überwachen durch alle Tages- und Jahreszeiten; er hatte, um das auch zu erwähnen, jede Erfahrung und Entstehung eines Bildes zu unterbinden, alle unerwünschten Behauptungen des Lichts, überhaupt polizeilich dafür zu sorgen, daß in Bleekenwarf nicht mehr gemalt wurde. Mein Vater und Max Ludwig Nansen kannten sich lange, ich meine: seit ihrer Kindheit, und da sie beide aus Glüserup stammten, wußten sie, was sie voneinander zu erwarten hatten, und vielleicht auch, was ihnen bevorstand und was einer dem anderen bereiten würde bei längerer Dauer der Lage.
Weniges liegt so wohlverwahrt im Tresor meiner Erinnerung wie die Begegnungen zwischen meinem Vater und Max Ludwig Nansen; deshalb schlug ich zuversichtlich mein Heft auf, legte meinen Taschenspiegel daneben und suchte die Fahrten meines Vaters nach Bleekenwarf zu beschreiben, nein, nicht allein die Fahrten, sondern auch all die Finten und Fallen, die er sich ausdachte für Nansen, die schlichten und komplizierten Listen, Pläne, die seinem langsamen Argwohn einfielen, Tricks, Täuschungen und, weil Doktor Korbjuhn es sich gewünscht hatte, schließlich auch die Freuden, die bei der Ausübung der Pflicht wohl abfielen. Es gelang nicht. Es glückte nicht. Immer wieder setzte ich an, schickte meinen Vater den Deich hinab, mit und ohne Umhang, bei Wind und bei Windstille, mittwochs und sonnabends: es half nicht. Da herrschte zuviel Unruhe, zuviel Bewegung und liederliche Fülle; noch bevor er Bleekenwarf erreichte, verlor ich ihn aus den Augen, weil es einen Aufruhr von Möwen gab, weil ein alter Torfkahn mit seiner Fracht kenterte oder ein Fallschirm über dem Watt schwebte.
Vor allem aber lief über den Vordergrund eine kleine, unternehmungslustige Flamme, die alle erinnerten Bilder und Begebenheiten versehrte, sie schmelzen und auflodern ließ, und, wenn die Flamme sie nicht erwischte, krümmte oder verkohlte oder, was auch vorkam, sie unter dem Zittern ihrer Glut verbarg.
So versuchte ich’s von der anderen Seite, dachte mich nach Bleekenwarf, um hier meinen Anfang zu finden, und grauäugig, listig bot sich Max Ludwig Nansen an, mir beim Trichtern der Erinnerung zu helfen: er lenkte meinen Blick auf sich, trat mir zuliebe aus seinem Atelier, tappte durch den Sommergarten zu den oft gemalten Zinnien, stieg langsam den Deich hinauf, wobei sich ein schweres, beleidigtes Gelb über den Himmel legte, das von dunklem Blau durchzuckt wurde, hob ein Fernglas und blickte nur eine Sekunde in Richtung Rugbüll, das genügte, um plötzlich ins Haus zu stürzen und sich im Innern zu verstecken. Fast hatte ich einen Anfang gefunden, als das Fenster aufgestoßen wurde und Ditte, Max Ludwig Nansens Frau, mir, wie so oft, ein Stück Streuselkuchen herausreichte. Da bot sich einfach zuviel an; ich hörte eine Schulklasse in Bleekenwarf singen; ich sah wieder eine kleine Flamme, ich hörte die Geräusche, die mein Vater bei nächtlichem Aufbruch verursachte. Jutta und Jobst, die fremden Kinder, überraschten mich im Schilf. Jemand warf Farben in einen Tümpel, der in dramatischem Orange aufleuchtete. Ein Minister sprach in Bleekenwarf. Mein Vater salutierte. Große Autos mit fremdem Nummernschild hielten in Bleekenwarf. Mein Vater salutierte. Ich träumte in der zerfallenden Mühle, im Versteck, wo die Bilder lagen: mein Vater führte eine Flamme an der Leine, löste das Halsband und befahl der Flamme: »Such!«
Immer mehr verschränkte, überschnitt, verwirrte sich alles, bis mich auf einmal Korbjuhns warnender Blick traf; da reinigte ich, sozusagen, in gesammelter Anstrengung die von Gräben durchschnittene Ebene meiner Erinnerung, schüttelte die Nebenerscheinungen ab, um alles unverdeckt und leicht abbildbar vor mir zu haben, besonders meinen Vater und die Freuden der Pflicht. Ich erreichte es auch, hatte gerade alle entscheidenden Personen zu einer Paradeformation unter dem Deich aufgestellt, wollte sie auch schon vor mir defilieren lassen, als Ole Plötz, mein Nebenmann, aufschrie und sich in erfolgreichen Krämpfen aus der Bank fallen ließ. Der Schrei kappte alle Erinnerung, ein Anfang gelang mir nicht mehr, ich gab auf, und als Doktor Korbjuhn die Hefte einsammelte, gab ich ein leeres Heft ab.
Julius Korbjuhn konnte meine Schwierigkeiten nicht einsehen, glaubte mir nicht die Qual des Beginnens, konnte sich einfach nicht vorstellen, daß der Anker der Erinnerung nirgendwo faßte, die Kette straffte, sondern nur rasselnd und polternd, bestenfalls Schlamm aufwirbelnd über den tiefen Grund zog, so daß keine Ruhe eintrat, kein Stillstand, der nötig ist, um ein Netz über Vergangenes zu werfen.
Nachdem also dieser Deutschlehrer erstaunt mein Heft durchgeblättert hatte, rief er mich auf, betrachtete mich einerseits leicht angewidert, andererseits mit redlichen Bedenken, forderte eine Erklärung von mir und sah sich nicht in der Lage, mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. Er bezweifelte den guten Willen sowohl meiner Erinnerung als auch meiner Phantasie, bestritt mir die Not des Anfangs, indem er nicht mehr sagte als: Du siehst nicht so aus, Siggi Jepsen, und behauptete mehrmals, daß die leeren Seiten gegen ihn gerichtet seien. Statt mir zu glauben, witterte er Widerstand, Aufsässigkeit und so weiter, und da für solche Lagen der Direktor zuständig ist, führte Korbjuhn mich nach der Deutschstunde, die mir nichts brachte als den Schmerz über eine tolle, verwackelte, jedenfalls unknüpfbare Erinnerung, in das blaue Direktionsgebäude hinüber, wo im ersten Stock, gleich neben der Treppe, das Zimmer des Direktors liegt.
Direktor Himpel, wie immer in Windjacke und Knickerbocker, war von etwa zweiunddreißig Psychologen umgeben, die sich geradezu fanatisch interessiert zeigten an den Problemen jugendlicher Krimineller. Auf seinem Schreibtisch stand eine blaue Kaffeekanne, lagen fleckige Seiten von Notenpapier, einige davon bedeckt mit seinen hastigen, landschaftlich engagierten Kompositionen, knappe Lieder, in denen die Elbe vorkam, meerfeuchter Wind, gebeugter, aber zäher Strandhafer, leuchtender Möwenflug, aber auch flatternde Kopftücher sowie der dringende Ruf des Nebelhorns: unser Inselchor ist dazu ausersehen, all diese Lieder aus der Taufe zu heben.
Die Psychologen verstummten, als wir das Zimmer betraten, hörten zu, was Doktor Korbjuhn dem Direktor zu melden hatte. Die Meldung kam leise, doch ich konnte hören, daß da abermals von Widerstand die Rede war und von Aufsässigkeit, und wie um das zu belegen, überreichte Korbjuhn mein leeres Aufsatzheft dem Direktor; der wechselte einen besorgten Blick mit den Psychologen, trat auf mich zu, rollte mein Heft zusammen und schlug sich damit kurz auf das eigene Handgelenk, dann auf die Knickerbocker und verlangte eine Erklärung. Ich sah in gespannte Gesichter, hörte ein zartes Knacken hinter mir, das entstand, als Korbjuhn seine Finger auszog, litt unter der gesammelten Erwartung meiner Umgebung. Durch das breite Eckfenster, vor dem ein Klavier stand, sah ich hinaus auf die Elbe, erkannte zwei Krähen, die sich im Flug um etwas Schlaffes, Hängendes, vielleicht um ein Stück Darm, stritten, das sie sich wechselweise entrissen, hinabwürgten, ausspuckten, bis es auf eine Eisscholle fiel und dort von einer wachsamen Möwe geschnappt wurde. Da legte der Direktor mir eine Hand auf die Schulter, nickte mir fast kameradschaftlich zu und bat mich noch einmal, vor all den Psychologen, um eine Erklärung, worauf ich ihm von meiner Not erzählte: wie mir das Wichtigste zu dem gewünschten Thema zuerst einfiel, dann aber verwackelte; wie ich kein Geländer finden konnte, das mich allmählich in die Erinnerung hinabführte. Von den vielen Gesichtern erzählte ich ihm, von dem unüberschaubaren Gedränge und all den Bewegungen quer durch meine Erinnerung, die mir jeden Anfang vermadderten, jeden Versuch vereitelten, auch vergaß ich nicht zu erwähnen, daß die Freuden der Pflicht bei meinem Vater noch andauerten und daß ich sie deshalb, um ihnen gerecht zu werden, nur ungekürzt schildern könne, jedenfalls nicht in willkürlicher Auswahl.
Erstaunt, vielleicht sogar verständnisvoll hörte der Direktor mir zu, während die Diplompsychologen flüsterten, noch näher traten und sich dabei anstießen und erregt zuraunten »Wartenburgischer Wahrnehmungsdefekt« oder »Winkeltäuschung« oder sogar, was ich besonders widerlich fand, »Kognitive Hemmung«; da war ich schon bedient und so weiter, jedenfalls weigerte ich mich, in Anwesenheit dieser Leute, die mich unbedingt durchschauen wollten, noch mehr Erklärungen abzugeben: die Zeit auf dieser Insel hat mich genug gelehrt.
Nachdenklich zog der Direktor seine Hand von meiner Schulter, musterte sie kritisch, prüfte vielleicht, ob sie noch komplett war, und wandte sich dann, unter der erbarmungslosen Aufmerksamkeit seiner Besucher, zum Fenster, wo er ein Weilchen in den Hamburger Winter hinausblickte, sich wohl bei ihm Anregung und Rat holte, denn auf einmal wandte er sich mir zu und verkündete mit niedergeschlagenen Augen sein Urteil. Ich solle, so meinte er, in meine Zelle gebracht werden, in »anständige Abgeschiedenheit«, wie er sagte, und zwar nicht, um zu büßen, sondern um ungestört einzusehen, daß Deutschaufsätze geschrieben werden müssen. Er gab mir also eine Chance.
Er erläuterte, daß alle Ablenkungen, wie etwa Besuche meiner Schwester Hilke, von mir ferngehalten würden, daß ich meinen Pflichten – in der Besenwerkstatt und in der Inselbücherei – nicht nachzugehen brauchte, überhaupt versprach er, mich vor jeder Störung zu bewahren, und dafür erwartete er, daß ich, bei gleicher Essensration, meine Arbeit nachschrieb. Es kann ruhig, sagte er, dauern, solange es nötig ist. Ich solle den Freuden der Pflicht, sagte er, geduldig nachspüren. Ich meine, er sagte auch, ich solle alles bedachtsam tropfen und wachsen lassen, wie ein Stalaktit oder so; denn Erinnerung, das kann auch eine Falle sein, eine Gefahr, zumal die Zeit nichts, aber auch gar nichts heilt. Da horchten die Diplompsychologen auf, er aber schüttelte mir fast kameradschaftlich die Hand, Händeschütteln, darin hat er ja Erfahrung, ließ sodann Joswig rufen, unseren Lieblingswärter, machte ihn mit seinem Entschluß bekannt und sagte etwa: Einsamkeit, Siggi braucht nichts so sehr wie Zeit und Einsamkeit; achten Sie, daß er beides reichlich erhält. Danach gab er Joswig mein leeres Heft, und wir beide waren entlassen, schlenderten über den gefrorenen Platz – Joswig so bekümmert und vorwurfsvoll, als hätte ich ihm mit meiner Verurteilung zur Strafarbeit eine eigene Enttäuschung bereitet. Dieser Mann, der sich für nichts mehr begeistern kann außer für seine Altgeldsammlung und den Gesang des Inselchors, er zog sich beleidigt in sich selbst zurück, als er mich in meine Zelle brachte. Darum umschloß ich seinen Unterarm und bat ihn, mich nach Möglichkeit weniger vorwurfsvoll zu behandeln. Er ging aber nicht darauf ein, sondern sagte nur: Denk, so sagte er, an Philipp Neff, womit er mich indirekt davor warnte, es diesem Philipp Neff gleichzutun, einem einäugigen Jungen, den sie ebenfalls verurteilt hatten, eine Deutscharbeit nachzuschreiben. Zwei Tage und zwei Nächte, so kann man erfahren, soll dieser Junge sich abgemüht haben, einen Anfang zu finden, einen genügsamen Grund – es ging, soviel ich weiß, um das Korbjuhnsche Thema: »Ein Mensch, der mir auffiel« –, am dritten Tag schlug er einen Wärter nieder, brach aus, würgte mit einer unter uns unvergessenen Wirkung den Hund des Direktors, konnte bis zum Strand fliehen und ertrank bei dem Versuch, die Elbe im September zu durchschwimmen. Das einzige Wort, das Philipp Neff, dieser tragische Beweis für Korbjuhns unheilvolle Tätigkeit, in sein Heft geschrieben und hinterlassen hatte, hieß: Karunkel – was immerhin vermuten ließ, daß ihm ein Mensch mit einer Fleischwarze besonders aufgefallen war. Jedenfalls war Philipp Neff mein Vorgänger in dem festen Zimmer, das man mir nach meiner Ankunft auf der Insel für schwer erziehbare Jugendliche zugewiesen hatte, und als Joswig mich an sein Los erinnerte, indem er mich davor warnte, es ihm gleichzutun, ergriff mich eine unbekannte Angst, eine schmerzhafte Ungeduld: ich drängte mich zum Tisch und fürchtete mich vor ihm, wollte mich auf die alte Spur setzen und bangte, sie nicht wiederfinden zu können, ich zauderte und forderte, druckste und begehrte, wollte und wollte nicht – was zur Folge hatte, daß ich nur teilnahmslos zusah, wie Joswig mein Zimmer untersuchte, nein, nicht allein untersuchte, sondern zur Strafarbeit freigab.
Fast einen Tag lang sitze ich nun so, und vielleicht hätte ich schon angefangen, wenn da nicht, zur Ablenkung, Schiffe über den winterlichen Strom aufkämen, die zuerst nicht zu sehen, nur zu hören sind: das schwache Dröhnen der Maschinen kündigt sie an, dann ein Stoßen und Poltern, das die Eisschollen hervorrufen, die splitternd an der eisernen Bordwand entlangtrudeln, und dann, während das Stampfen härter und bestimmbarer wird, gleiten sie aus dem Zinngrau des Horizonts mit ganz und gar verwaschenen Farben, feucht, vibrierend, eher eine Erscheinung der Luft als des Wassers, und ich muß sie aufnehmen mit dem Blick und begleiten, bis sie querab und vorüber sind. Mit ihren eisverkrusteten Steven und Relings und Entlüftern, mit ihren glasierten Aufbauten und rauhreifbesetzten Spanten gleiten sie durch die Starre. Was sie zurücklassen, ist ein breiter, ungenauer Schnitt im treibenden Eis, eine Rinne, die mäanderförmig gegen den Horizont läuft, schmaler wird, zuwächst. Und das Licht, auf das Licht über der winterlichen Elbe ist kein Verlaß: Zinngrau wird zu Schneegrau, Violett bleibt nicht Violett, Rot verzichtet auf sein Komplement, und der Himmel Richtung Hamburg ist vielfach gefleckt wie von Prellungen.
Drüben am Ufer, woher mattes Hämmern bis zu mir herüberklingt, steht ein schmaler, schmutziger Nebelschweif, der mir wie eine entrollte Fahne aus Mullbinde vorkommt. Näher zu mir, mitten über dem Strom, hängt die Rußfahne des kleinen Eisbrechers »Emmy Guspel«, der vor einer Stunde mit rabiatem Bug durch das bläulich schimmernde Treibeis pflügte; die längliche Qualmwolke will nicht sinken, will sich nicht auflösen, weil der Frost Streik ausgerufen hat und darum vieles unerledigt bleibt, sogar die Atemstöße bleiben sichtbar. Zweimal ist die »Emmy Guspel« schon vorübergedampft, denn sie muß das Eis in Bewegung halten, muß verhindern, daß sich da eine Stauung von Schollen bildet, ein Eispfropf im Strom, der eine geschäftliche Thrombose hervorrufen könnte.
Schräg stehen die Warntafeln unten am verlassenen Strand; Eisschollen haben sich an den Pfählen gescheuert und sie dabei gelockert, das Hochwasser hat nachgedrückt, der Wind hat sie schiefgeweht, so daß die Wassersportler, die die Warnung vor allem betrifft, schon den Kopf schräg legen müßten, um zu erfahren, daß jedes Anlegen, Festmachen und Zelten auf unserer Insel verboten ist. Zum Sommer, das ist sicher, werden sie die Pfähle wieder richten, denn es sind besonders die Wassersportler, die die Besserung der jugendlichen Gefangenen auf der Insel gefährden könnten: das ist die Meinung des Direktors, und das ist auch, wie man erfahren kann, die Meinung, die der Hund des Direktors vertritt.
Nur in unseren Werkräumen ist der Kreislauf weder geschwächt noch unterbrochen. Weil sie uns hier mit den Vorzügen der Arbeit bekannt machen wollen, sogar einen erzieherischen Wert in der Arbeit entdeckt haben, achten sie, daß keine Stille entsteht: das Summen der Dynamos in der Elektrowerkstatt, das Ting-Tong fallender Hämmer in der Schmiede, das schroffe Zischgeräusch der Hobel in der Tischlerei und das Hacken und Kratzen aus unserer Besenwerkstatt hören nie auf, lassen den Winter vergessen und erinnern mich, daß ich meine Aufgabe noch vor mir habe. Ich muß anfangen.
Der Tisch ist sauber, alt, mit dunkelnden Kerben bedeckt, mit eckigen Initialen und Jahreszahlen, Zeichen, die an einen Augenblick der Bitterkeit, der Hoffnung, aber auch des Starrsinns erinnern. Mein Heft liegt aufgeschlagen vor mir, bereit, die Strafarbeit aufzunehmen. Ich kann mir keine Ablenkung mehr leisten, ich muß beginnen, ich muß den Schlüssel umdrehen, um den Tresor meiner Erinnerung, in dem alles verschlossen liegt, endlich zu öffnen, um all das hervorzuholen, was Korbjuhns Forderung erfüllt: ich soll ihm die Freuden der Pflicht bestätigen, ihre Wirkungen verfolgen, die in mir selbst enden, und zwar zur Strafe, ungestört, und so lange, bis der Nachweis gelungen ist. Ich bin bereit. Und da ich dabei voran muß, will ich zurückgehen, eine Auswahl treffen, einen Ort suchen, vielleicht doch den Polizeiposten Rugbüll, oder lieber gleich die ganze schleswig-holsteinische Ebene zwischen Glüserup, der Husumer Chaussee und dem Deich, das Land, das für mich nur von einem einzigen Weg durchschnitten ist, und der führt von Rugbüll nach Bleekenwarf. Auch wenn ich die Vergangenheit aus dem Schlaf wecken muß: ich muß anfangen.
Also.
Im Jahr dreiundvierzig, um mal so zu beginnen, an einem Freitag im April, morgens oder mittags, bereitete mein Vater Jens Ole Jepsen, der Polizeiposten der Außenstelle Rugbüll, der nördlichste Polizeiposten von Schleswig-Holstein, eine Dienstfahrt nach Bleekenwarf vor, um dem Maler Max Ludwig Nansen, den sie bei uns nur den Maler nannten und nie aufhörten, so zu nennen, ein in Berlin beschlossenes Malverbot zu überbringen. Ohne Eile suchte mein Vater Regenumhang, Fernglas, Koppel, Taschenlampe zusammen, machte sich mit absichtlichen Verzögerungen am Schreibtisch zu schaffen, knöpfte schon zum zweiten Mal den Uniformrock zu und linste – während ich vermummt und regungslos auf ihn wartete – immer wieder in den mißlungenen Frühlingstag hinaus und horchte auf den Wind. Es ging nicht nur Wind: dieser Nordwest belagerte in geräuschvollen Anläufen die Höfe, die Knicks und Baumreihen, erprobte mit Tumulten und Überfällen die Standhaftigkeit und formte sich eine Landschaft, eine schwarze Windlandschaft, krumm, zerzaust und voll unfaßbarer Bedeutung. Unser Wind, will ich meinen, machte die Dächer hellhörig und die Bäume prophetisch, er ließ die alte Mühle wachsen, fegte flach über die Gräben und brachte sie zum Phantasieren, oder er fiel über die Torfkähne her und plünderte die unförmigen Lasten.
Wenn bei uns Wind ging und so weiter, dann mußte man sich schon Ballast in die Taschen stecken – Nägelpakete oder Bleirohre oder Bügeleisen –, wenn man ihm gewachsen sein wollte. Solch ein Wind gehört zu uns, und wir konnten Max Ludwig Nansen nicht widersprechen, der Zinnadern platzen ließ, der wütendes Lila nahm und kaltes Weiß, wenn er den Nordwest sichtbar machen wollte – diesen wohlbekannten, uns zukommenden Nordwest, auf den mein Vater argwöhnisch horchte.
Ein Rauchschleier schwebte in der Küche. Ein nach Torf duftender, zuckender Rauchschleier schwebte im Wohnzimmer. Der Wind saß im Ofen und paffte uns das Haus voll, während mein Vater hin und her ging und offenbar nach Gründen suchte, um seinen Aufbruch zu verzögern, hier etwas ablegte, dort etwas aufnahm, die Gamaschen im Büro anlegte, das Dienstbuch am Eßtisch in der Küche aufschlug und immer noch etwas fand, was seine Pflicht hinausschob, bis er mit ärgerlichem Erstaunen feststellen mußte, daß etwas Neues aus ihm entstanden war, daß er sich gegen seinen Willen in einen vorschriftsmäßigen Landpolizisten verwandelt hatte, dem zur Erfüllung seines Auftrags nichts mehr fehlte als das Dienstfahrrad, das, gegen einen Sägebock gelehnt, im Schuppen stand.
So war es an diesem Tag vermutlich die aus Gewohnheit zustande gekommene äußere Dienstbereitschaft, die ihn schließlich zum Aufbruch zwang, nicht der Eifer, nicht die Berufsfreude und schon gar nicht die ihm zugefallene Aufgabe; er setzte sich wie so oft in Bewegung, anscheinend weil er komplett uniformiert und ausgerüstet war. Er variierte nicht seinen Gruß, bevor er ging, er trat wie immer auf den dämmrigen Flur, lauschte, rief gegen die geschlossenen Türen: Tschüß, nech!, erhielt von keiner Seite eine Antwort, war jedoch nicht verblüfft oder enttäuscht darüber, sondern tat so, als hätte man ihm geantwortet, denn er nickte befriedigt, zog mich nickend zur Haustür, wandte sich noch einmal an der Schwelle um und machte eine unbestimmte Geste des Abschieds, bevor der Wind uns aus dem Türrahmen riß.
Draußen legte er sich sogleich mit der Schulter gegen den Wind, senkte sein Gesicht – ein trockenes, leeres Gesicht, auf dem alles, jedes Lächeln, jeder Ausdruck von Mißtrauen oder Zustimmung sehr langsam entstand und dadurch eine unerhörte, wenn auch mitunter verzögerte Bedeutsamkeit erlangte, so daß es den Anschein hatte, als verstehe er alles zwar gründlich, aber zu spät – und ging vornübergebeugt über den Hof, auf dem der Wind spitze Kreisel drehte und eine Zeitung zerzauste, einen Sieg in Afrika, einen Sieg auf dem Atlantik, einen gewissermaßen entscheidenden Sieg an der Altmetallfront zerzauste und knüllte und gegen den Maschendraht unseres Gartens preßte. Er ging zum offenen Schuppen. Stöhnend hob er mich auf den Gepäckträger. Er packte das Fahrrad mit einer Hand an der Hinterkante des Sattels, mit der anderen an der Lenkstange und drehte es herum. Dann schob er es zum Ziegelweg hinab, hielt unter dem spitzen, auf unser Rotsteinhaus zielenden Schild »Polizeiposten Rugbüll«, brachte das linke Pedal in günstige Ausgangsstellung, saß auf und fuhr mit straff geblähtem Umhang, der zwischen den Beinen mit einer Klammer zusammengefaßt war, Richtung Bleekenwarf.
Das ging gut bis zur Mühle oder sogar fast bis zur Holmsenwarf mit ihren wippenden Hecken, denn so lange segelte er gebläht und kräftig gebauscht vor dem Wind, doch dann, als er sich gegen den Deich wandte, den Deich gebeugt erklomm, glich er sofort dem Mann auf dem Prospekt »Mit dem Fahrrad durch Schleswig-Holstein«, einem verbissenen Wanderer, der durch Versteifung, Krümmung und vom Sattel abgehobenes Gesäß bereitwillig die Mühsal erkennen ließ, mit der man sich hier fortbewegen muß auf der Suche nach heimischer Schönheit. Der Prospekt verriet jedoch nicht nur die Mühsal, er deutete auch das Maß der Geschicklichkeit an, das notwendig ist, um bei fallsüchtigem, seitlichem Nordwest mit dem Fahrrad auf dem Kamm des Deiches zu fahren; außerdem veranschaulichte er die in Windfahrten zweckmäßige Körperhaltung, ließ das Erlebnis des norddeutschen Horizonts ahnen, zeigte die schlohweißen Kraftlinien des Windes und bevorzugte als vertraute Garnierung des Deiches die gleichen blöden und verzottelten Schafe, die auch meinem Vater und mir nachblickten.
Da eine Beschreibung des Prospekts zwangsläufig zu einer Beschreibung meines Vaters werden muß, wie er auf dem Deich nach Bleekenwarf fuhr, möchte ich, zur Vervollständigung des Bildes, noch die Mantel-, Herings- und Lachmöwen erwähnen sowie die seltene Bürgermeistermöwe, die, dekorativ über dem erschöpften Radler verteilt, durch nachlässigen Druck etwas verwischt, wie weiße Staubtücher zum Trocknen in der Luft hingen.
Immer auf dem Kamm des Deiches entlang, auf dem schmalen Zwangskurs, der sich da braun im flachen Gras abzeichnete, die Stöße des Windes parierend, die blauen Augen gesenkt – so fuhr mein Vater mit seinem gefalteten, in der Brusttasche steckenden Auftrag den sanften Bogen des Wulstes aus, ohne Dringlichkeit, nur mühselig, so daß man vermuten konnte, sein Ziel sei das hölzerne, grau getünchte Gasthaus »Wattblick«, in dem er einen Grog trinken und mit Hinnerk Timmsen, dem Wirt, einen Handschlag, vielleicht sogar einige Sätze wechseln werde.
Wir fuhren nicht so weit. Noch vor dem Gasthaus, das mit Hilfe von zwei begehbaren Holzbrücken auf dem Deich ruhte – und mich immer an einen Hund erinnerte, der seine Vorderpfoten auf eine Mauer gelegt hat, um darüber wegsehen zu können –, drehten wir ab, gewannen in beherrschter Schußfahrt den erlaufenen Pfad neben dem Deichfuß und bogen von da in die lange Auffahrt nach Bleekenwarf ein, die von Erlen flankiert, von einem schwingenden Tor aus weißen Planken begrenzt war. Die Spannung wuchs. Die Erwartung nahm zu – wie immer bei uns, wenn sich einer im April, bei diesem barschen Nordwest, durch das unverstellte Blickfeld bewegt mit erklärtem Ziel.
Seufzend ließ uns das Holztor ein, das mein Vater bei langsamer Fahrt mit dem Fahrrad aufstieß, er fuhr an dem unbenutzten, rostroten Stall vorbei, am Teich, am Schuppen, sehr langsam, gerade als wünschte er, vorzeitig entdeckt zu werden, fuhr dicht an den schmalen Fenstern des Wohnhauses vorbei und warf noch einen Blick in das angebaute Atelier, bevor er abstieg, mich wie ein Paket auf den Boden stellte und das Fahrrad zum Eingang führte.
Da bei uns niemand den Eingang eines Anwesens unentdeckt erreicht, brauche ich meinen Vater nicht klopfen oder fordernd in das Halbdunkel des Flurs hineinrufen zu lassen, auch brauche ich nicht den Fall nahender Schritte zu beschreiben oder Überraschung explodieren zu lassen; es genügt vielmehr, daß er die Tür aufstößt, seine Hand durch den Umhang schiebt und sie sogleich warm umspannt und auf und ab geschüttelt fühlt, worauf ihm nur zu sagen bleibt: Tag, Ditte –; denn die Frau des Malers war gewiß schon in dem Augenblick zur Tür gegangen, als wir in knapper Sturzfahrt den Deich verlassen hatten.
In ihrem langen, groben Kleid, das ihr das Aussehen einer strengen holsteinischen Dorfprophetin verlieh, ging sie uns voraus, erwischte in der Flurdunkelheit den Drücker der Wohnzimmertür, öffnete und bat meinen Vater, einzutreten. Mein Vater löste erst einmal die Klammer, die den Umhang zwischen den Oberschenkeln zusammenhielt – er spreizte dabei jedesmal seine Beine, gab in den Knien nach und fummelte so lange herum, bis er den Kopf der Klammer zwischen den Fingern hielt –, befreite sich vom Umhang, indem er nach unten wegtauchte, zog seine Uniformjacke glatt, öffnete ein wenig meine Vermummung und schob mich vor sich her in die Wohnstube.
Sie hatten eine sehr große Wohnstube auf Bleekenwarf, einen nicht allzu hohen, aber breiten und vielfenstrigen Raum, in dem mindestens neunhundert Hochzeitsgäste Platz gehabt hätten, und wenn nicht die, dann aber doch sieben Schulklassen einschließlich ihrer Lehrer, und das trotz der ausschweifenden Möbel, die dort herumstanden mit ihrer hochmütigen Raumverdrängung: schwere Truhen und Tische und Schränke, in die runenhafte Jahreszahlen eingekerbt waren und die einfach durch die gebieterische und dräuende Art ihres Dastehns Dauer beanspruchten. Auch die Stühle waren unverhältnismäßig schwer, gebieterisch; sie verpflichteten, möchte ich mal sagen, zu regungslosem Dasitzen und zu einem sehr sparsamen Mienenspiel. Das dunkle, plumpe Teegeschirr – sie nannten es Wittdüner Porzellan –, das auf einem Bord an der Wand stand, war nicht mehr in Gebrauch und lud zu Zielwürfen ein, aber der Maler und seine Frau waren duldsam und änderten nichts oder nur wenig, nachdem sie Bleekenwarf gekauft hatten von der Tochter des alten Frederiksen, der so skeptisch war, daß er sich, als er Selbstmord beging, vorsichtshalber die Ader öffnete, ehe er sich an einem der ungeheuren Schränke erhängte.
Sie änderten nichts am Mobiliar, wenig in der Küche, in der sich Pfannen, Töpfe, Fäßchen und Kannen streng ausgerichtet anboten; sie beließen an ihrem Platz die greisen Geschirrschränke mit den unbescheidenen Wittdüner Tellern und den maßlosen Terrinen und Schüsseln, sogar die Betten blieben an ihrem Ort, strenge, schmale Pritschen, die kargsten Zugeständnisse an die Nacht.
Aber mein Vater sollte endlich, zumal er schon im Wohnzimmer steht, die Tür hinter sich schließen und Doktor Theodor Busbeck begrüßen, der wie immer allein auf dem Sofa saß, auf dem harten, vielleicht dreißig Meter langen Ungetüm, nicht lesend oder schreibend, sondern wartend, seit Jahren wartend in Ergebenheit, sorgfältig gekleidet und voll geheimnisvoller Bereitschaft, so als könnte die Veränderung oder die Nachricht, die er erwartete, in jedem Augenblick eintreffen. Auf seinem blassen Gesicht war fast nichts zu erkennen, das heißt, jeder Ausdruck, den eine Erfahrung auf ihm zurückgelassen hatte, war von einer planvollen Vorsicht wieder entfernt, abgewaschen worden; aber bereits wir wußten immerhin so viel, daß er als erster die Bilder des Malers ausgestellt hatte und auf Bleekenwarf lebte, seit seine Galerie zwangsgeräumt und geschlossen worden war. Lächelnd ging er meinem Vater entgegen, begrüßte ihn, ließ sich die Windstärke bestätigen, nickte auch lächelnd zu mir herab und zog sich wieder zurück. Nimmst du Tee oder Schnaps, Jens, fragte die Frau des Malers, mir ist nach Schnaps.
Mein Vater winkte ab. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts, und er setzte sich nicht wie sonst auf den Fensterstuhl, trank nicht wie sonst, sprach nicht wie sonst von seinen Schmerzen in der Schulter, die ihn seit einem Sturz vom Fahrrad heimsuchten, und versäumte es auch, die Vorfälle und näheren Begebenheiten auszubreiten, über die der Polizeiposten Rugbüll herrschte und unterrichtet sein mußte, vom folgenschweren Hufschlag über Schwarzschlachtung bis zur ländlichen Brandstiftung. Er hatte nicht einmal einen Gruß von Rugbüll mitgebracht und vergaß auch, nach den fremden Kindern zu fragen, die der Maler aufgenommen hatte. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts.
Er setzte sich nicht. Er streifte mit den Fingerkuppen die Brusttasche. Er blickte durch das Fenster zum Atelier hinüber. Er schwieg und wartete, und Ditte und Doktor Busbeck sahen, daß er auf den Maler wartete, freudlos, unruhig sogar, soweit mein Vater überhaupt Unruhe zeigen konnte, jedenfalls ließ ihn das, was er zu tun hatte, nicht gleichgültig. Sein Blick fand keinen Halt – wie immer, wenn er betroffen, wenn er unsicher und erregt war auf seine friesische Weise: er sah jemanden an und sah ihn nicht an, sein Blick traf und glitt ab, hob sich und wich aus, wodurch er selbst unerreichbar blieb und sich jeder Befragung entzog. So wie er dastand in der sehr großen Wohnstube auf Bleekenwarf, beinahe widerwillig in der schlecht sitzenden Uniform, unsicher und mit einem Blick, der nichts bekennen wollte, ging von ihm ganz gewiß keine Bedrohung aus.
Da fragte die Frau des Malers gegen seinen Rücken: Ist was mit Max? Und als er nickte, nichts als steif vor sich hin nickte, erhob sich Doktor Busbeck, kam näher und nahm Dittes Arm und fragte zaghaft: Eine Entscheidung aus Berlin?
Mein Vater wandte sich überrascht, wenn auch zögernd, um, sah auf den kleinen Mann, der sich für seine Frage zu entschuldigen schien, der sich für alles zu entschuldigen schien, und antwortete nicht, weil er nicht mehr zu antworten brauchte; denn beide, die Frau des Malers und sein ältester Freund, gaben ihm durch ihr Schweigen zu erkennen, daß sie ihn verstanden hatten und auch schon wußten, welch eine Entscheidung es war, die er zu überbringen hatte.
Natürlich hätte Ditte ihn jetzt nach dem genauen Inhalt seines Auftrags fragen können, und mein Vater, denke ich, hätte bereitwillig, auch erleichtert geantwortet, doch sie forderten ihn nicht auf, mehr zu sagen, standen eine Weile nebeneinander, und dann sagte Busbeck für sich: Jetzt auch Max. Mich wundert nur, daß es nicht schon früher passierte, wie bei den andern. Während sie sich in gemeinsamem Entschluß dem Sofa zuwandten, sagte die Frau des Malers: Max arbeitet, er steht am Graben hinterm Garten.
Das war schon abgewandt gesprochen und enthielt für meinen Vater gleichermaßen Hinweis wie Verabschiedung, worauf ihm nichts anderes mehr übrigblieb, als die Stube zu verlassen, nachdem er mit einem Achselzucken angedeutet hatte, wie sehr er seine Mission bedaure und wie wenig er selbst mit der ganzen Sache zu schaffen habe. Er schnappte sich seinen Umhang vom Ständer, stieß mich an, und wir beide gingen hinaus.
Langsam bewegte er sich an der kahlen Front des Hauses entlang, eher bekümmert als selbstsicher, stieß die Gartenpforte auf, stand jetzt im Schutz der Hecken und setzte seine Lippen in Tätigkeit, ließ sie Worte und ganze Sätze vorsorglich probieren, wie so oft, wie immer, wenn ihm eine Begegnung mehr als das Übliche an Sprache abzuverlangen drohte, ging dann zwischen den gelockerten und aufgeräumten Beeten, an dem strohgedeckten Gartenhaus vorbei zum Graben, der Bleekenwarf umschloß, einem schilfgesäumten ruhenden Gewässer, das die Einsamkeit des Anwesens erhöhte.
Da stand der Maler Max Ludwig Nansen.
Er stand auf der geländerlosen Holzbrücke und arbeitete im Windschutz, und weil ich weiß, wie er arbeitete, möchte ich ihn nicht ohne Vorbereitung unterbrechen, indem ich meinen Vater dazu bringe, ihm auf die Schulter zu tippen, ich möchte die Begegnung verzögern, weil es kein beliebiges Zusammentreffen ist und ich zumindest erwähnen will, daß der Maler acht Jahre älter war als mein Vater, kleiner von Wuchs, wendiger, unbeherrschter, vielleicht auch listiger und starrsinniger, obwohl sie beide ihre Jugend in Glüserup verbracht hatten. Glüserup: Herrje.
Er trug einen Hut, einen Filzhut, den er tief in die Stirn zog, so daß die grauen Augen im geringen, aber unmittelbaren Schatten der Krempe lagen. Sein Mantel war alt, am Rücken durchgescheuert, es war der blaue Mantel mit den unerschöpflichen Taschen, in denen er, wie er uns einmal drohend sagte, sogar Kinder verschwinden lassen konnte, wenn sie ihn bei der Arbeit störten. Diesen graublauen Mantel trug er zu jeder Jahreszeit, draußen und drinnen, bei Sonne und bei Regen, womöglich schlief er auch in ihm; jedenfalls gehörte der eine zum andern. Manchmal allerdings, an gewissen Sommerabenden, wenn sich über dem Watt die schwerfälligen Konvois der Wolken versammelten, konnte man auch den Eindruck haben, daß es lediglich der Mantel und nicht der Maler war, der da den Deich entlangwanderte und den Horizont inspizierte.
Was der Mantel nicht verbarg, das war nur ein Stück der zerknitterten Hose, und das waren die Schuhe, altmodische, aber sehr teure Schuhe, die bis zu den Knöcheln reichten und einen schmalen, schwarzen Wildledereinsatz hatten.
Wir waren es gewohnt, ihn so zu treffen, und so fand ihn auch mein Vater vor, der hinter der Hecke stand und, wie ich glaube, zufrieden gewesen wäre, wenn er nicht dort hätte stehen müssen, zumindest aber ohne den Auftrag, ohne das Papier in seiner Brusttasche und nicht zuletzt ohne Erinnerungen. Mein Vater beobachtete den Maler. Er beobachtete ihn nicht gespannt, nicht mit berufsmäßiger Aufmerksamkeit.
Der Maler arbeitete. Er hatte etwas mit der Mühle vor, mit der zerfallenden Mühle, die unbeweglich und flügellos im April stand. Leicht über ihren Drehkranz erhoben, stand sie wie eine plumpe Blume auf einem sehr kurzen Stengel, ein düsteres Gewächs, das seiner letzten Tage harrte. Max Ludwig Nansen machte etwas aus ihr, indem er sie entführte, in einen anderen Tag, eine andere Beziehung, in eine andere Dämmerung entführte, die da auf seinem Blatt herrschte. Und wie immer, während er arbeitete, redete der Maler; er sprach nicht mit sich selbst, er wandte sich an einen Balthasar, der neben ihm stand, an seinen Balthasar, den nur er sah und hörte und mit dem er schwatzte und zankte, dem er manchmal sogar eins mit dem Ellenbogen versetzte, so daß wir, obwohl wir keinen Balthasar sehen konnten, den unsichtbaren Gutachter auf einmal stöhnen hörten, und wenn nicht gleich stöhnen, so doch fluchen. Je länger wir hinter ihm standen, desto mehr begannen wir an Balthasar zu glauben, wir mußten ihn anerkennen, weil er sich mit seinen scharfen Atemzügen und seiner zischenden Enttäuschung bemerkbar machte, und weil der Maler nicht aufhören wollte, ihn anzusprechen und ihn in ein Vertrauen zu ziehen, das er sogleich bedauerte. Auch jetzt, während mein Vater ihn beobachtete, stritt sich der Maler mit Balthasar, der auf den Bildern, in denen er gefangengesetzt war, einen violetten gesträubten Fuchspelz trug und schrägäugig war und einen Bart aus brodelndem Orange hatte, aus dem es glühend heraustropfte. Trotzdem blickte sich der Maler selten nach ihm um, er stand ziemlich fest bei der Arbeit, die Beine leicht gespreizt, beweglich in den Hüften, und zwar ebenso zur Seite wie nach vorn und hinten beweglich, und während der Kopf sich schräg legte, aus den Schultern hob, pendelte oder sich senkte wie zu einem Rammstoß, schien der rechte Arm von einer erstaunlichen Starre befallen: zäh wirkten seine Bewegungen, angestrengt, als ob da ein unberechenbarer, heikler Widerstand wirksam sei; doch obwohl der entscheidende Arm diese seltsame Versteifung zeigte, arbeitete sonst der ganze Körper des Malers mit.
Mit dem Verhalten seines Körpers bestätigte und beglaubigte er einfach das, was er gerade machte, und wenn er sich, etwa bei Windstille, den Wind vornahm, ihn zwischen Blau und Grün entstehen ließ, dann hörte man phantastische Flottillen in der Luft und das Schlagen von Segeln, und der Saum seines Mantels begann sogar zu flattern, und aus seiner Pfeife, falls er eine im Mund hatte, wurde der Rauch flach weggerissen – zumindest kommt es mir heute so vor, wenn ich daran denke.
Mein Vater sah ihm also bei der Arbeit zu, zögernd, bedrückt, er stand so lange da, bis er wohl die Blicke spürte, die uns aus dem Haus trafen, aus der Stube, die wir gerade verlassen hatten, da gingen wir langsam an der Hecke entlang, immer noch verfolgt von den Blicken, zwängten uns seitlich in einen Durchschlupf und standen gleich darauf am äußersten Rand der geländerlosen Holzbrücke.
Mein Vater sah in den Graben hinab und erkannte zwischen treibenden Schilfblättern und schwappender Entengrütze sich selbst, und dort gewahrte ihn auch der Maler, als er einen Schritt zur Seite machte und dabei in das stehende, nur von schwachen Schauern geriffelte Wasser hinabsah. Sie bemerkten und erkannten sich im dunklen Spiegel des Grabens, und wer weiß: vielleicht rief dies Erkennen eine blitzschnelle Erinnerung wach, die sie beide verband und die nicht aufhören würde, sie zu verbinden, eine Erinnerung, die sie in den kleinen schäbigen Hafen von Glüserup verschlug, wo sie im Schutz der Steinmole angelten oder auf dem Fluttor herumturnten oder sich auf dem gebleichten Deck eines Krabbenkutters sonnten. Aber nicht dies wird es wohl gewesen sein, woran sie beide unwillkürlich dachten, als sie einander im Spiegel des Grabens erkannten, vielmehr wird in ihrer Erinnerung nur der trübe Hafen gewesen sein, der Samstag, an dem mein Vater, als er neun war oder zehn, von dem glitschigen Tor stürzte, mit dem die Flut reguliert wurde, und der Maler wird noch einmal nach ihm getaucht und getaucht haben, so wie damals, bis er ihn endlich am Hemd erwischte, ihn hochzerrte und ihm einen Finger brechen mußte, um sich aus der Klammerung zu befreien.
Sie traten aufeinander zu, oben und unten, im Graben und auf der Brücke, gaben sich im Wasser und vor der Staffelei die Hand, begrüßten sich wie immer, indem sie, leicht zur Frage angehoben, den Vornamen des andern nannten: Jens? Max? Dann, während Max Ludwig Nansen sich schon wieder seiner Arbeit zuwandte, langte mein Vater in die Brusttasche, zog das Papier hervor, glättete es in der Schere zweier Finger und zauderte und überlegte im Rücken des Malers, mit welchen Worten er es überreichen sollte. Wahrscheinlich dachte er daran, das gestempelte und unterschriebene Verbot wortlos zu überreichen, allenfalls mit der Bemerkung: Da is was für dich aus Berlin, und gewiß hoffte er darauf, daß ihm unnötige Fragen erspart blieben, wenn er den Maler zunächst einmal selbst lesen ließ. Am liebsten hätte er die ganze Angelegenheit natürlich Okko Brodersen überlassen, dem einarmigen Postboten, aber da dies Verbot polizeilich übergeben werden mußte, war mein Vater, der Posten Rugbüll, dafür zuständig – wie er auch, und das würde er dem Maler noch beibringen müssen, dazu ausersehen war, die Einhaltung des Verbots zu überwachen.
Er hielt also den offenen Brief in der Hand und zauderte. Er blickte zur Mühle, auf das Bild, wieder zur Mühle und wieder zum Bild. Unwillkürlich trat er näher heran, blickte jetzt vom Bild zur Mühle, wieder zum Bild und wieder zur flügellosen Mühle, konnte nicht wiederfinden, was er suchte, und fragte: Was soll’n das abgeben, Max? Der Maler trat zur Seite, deutete auf den Großen Freund der Mühle, sagte: Der Große Freund der Mühle, und machte dem erdgrünen Hügel weiter klumpige Schatten. Da wird auch mein Vater den Großen Freund der Mühle bemerkt haben, der sich still und braun aus dem Horizont erhob, ein milder Greis, bärtig, vielleicht wundertätig, ein Wesen von freundlicher Gedankenlosigkeit, das sich ins Riesenhafte auswuchs. Seine braunen, rot unterfeuerten Finger waren gespannt, gleich würde er sacht gegen einen Flügel der Mühle schnippen, den er offenbar selbst gerade angesetzt hatte, er würde die Flügel der Mühle, die tief unter ihm in sterbendem Grau lag, in Bewegung bringen, schneller, immer schneller, bis sie die Dunkelheit zerschnitten, bis sie, von mir aus gesehen, einen klaren Tag herausmahlten und ein besseres Licht. Es würde den Flügeln der Mühle gelingen, das stand fest, denn die Züge des Greises nahmen bereits eine einfältige Genugtuung vorweg, auch ließen sie erkennen, daß der Alte auf schläfrige Weise erfolgsgewohnt war. Der Mühlenteich meldete zwar violetten Zweifel an, doch dieser Zweifel würde nicht recht behalten; der Große Freund der Mühle entkräftete ihn durch seine entschlossene Zuneigung.
Das is vorbei, sagte mein Vater, die wird sich nich mehr drehn, und der Maler: Morgen geht’s los, Jens, wart nur ab; morgen werden wir Mohn mahlen, daß es qualmt. Er unterbrach seine Arbeit, setzte die Pfeife in Brand, betrachtete mit pendelndem Kopf das Bild. Ohne hinzusehen, reichte er meinem Vater den Tabakbeutel, versicherte sich erst gar nicht, ob mein Vater sich eine Pfeife stopfte, sondern steckte den Beutel sogleich wieder in die unerschöpfliche Manteltasche und sagte: Da fehlt noch ein bißchen Wut, nicht, Jens? Dunkelgrün fehlt noch – Wut; dann kann die Mühle losklappern.
Mein Vater hielt den Brief in der Hand, dicht am Körper hielt er ihn, in instinktiver Verborgenheit, aus der er ihn hervorziehen würde, wenn der Augenblick günstig wäre, denn er selbst traute es sich nicht zu, den Augenblick zu bestimmen. Er sagte: Die kriegt kein Wind mehr in Gang, auch keine Wut, Max, und der Maler: Die wird noch nach uns klappern, wart nur ab, morgen werden die Flügel um sich schlagen.
Vielleicht hätte mein Vater noch länger gezögert, wenn der letzte Satz nicht so zur Behauptung geraten wäre, jedenfalls streckte er auf einmal den Arm aus, und während er ihm den Brief hinhielt, drückte er sich so aus: Da, Max, da is was aus Berlin. Du hast es gleich zu lesen. Achtlos nahm der Maler den Brief aus seiner Hand und ließ ihn in der Manteltasche verschwinden, dann drehte er sich zu meinem Vater um, berührte ihn an der Schulter, stieß ihn noch einmal, und zwar kräftiger, in die Seite und sagte mit zusammengekniffenen Augen: Los, Jens, wir haun ab, solange Balthasar in der Mühle ist. Ich hab einen Genever, bei dem wächst dir an jeder Hand ein sechster Finger. Genever, mein Gott, nicht aus Holland, sondern aus der Schweiz, von einem Schweizer Museumsmenschen. Komm ins Atelier.
Doch mein Vater wollte nicht kommen, er zielte mit seinem Zeigefinger kurz in Richtung Manteltasche, sagte: Der Brief da, und nach einer Pause: Den Brief da hast du gleich zu lesen, Max, is aus Berlin; und weil ihm die mündliche Anweisung nicht auszureichen schien, trat er einen Schritt auf den Maler zu, wodurch sich dem die Brücke verengte und der Weg zum Haus. Also holte der Maler achselzuckend den Brief hervor, las den Absender – so, als wollte er dem Polizeiposten einen Gefallen tun –, nickte mit ruhiger Geringschätzung und sagte: Diese Idioten, diese; dann sah er schnell zu meinem Vater, und der Blick, der ihn traf, erstaunte ihn. Er zog den Brief aus dem Umschlag. Er las ihn stehend auf der Holzbrücke, und nachdem er ihn lange gelesen hatte – langsam, meine ich, und immer langsamer, stopfte er ihn zum zweiten Mal in die Tasche, verkrampfte sich, sah weg, sah über das flache Land unter dem Wind zur Mühle hinüber, schien sich durch einen Blick Rat zu holen: bei dem Labyrinth der Gräben und Kanäle, bei den zerzausten Knicks, bei dem Deich und den selbstbewußten Anwesen – ach was, er sah weg, um nicht meinen Vater ansehen zu müssen.
Ich habe mir das nicht ausgedacht, sagte mein Vater, und der Maler: Ich weiß. – Auch ändern kann ich nichts, sagte mein Vater. Ja, ich weiß, sagte der Maler und, seine Pfeife am Absatz ausklopfend: Ich hab auch alles verstanden, bis auf die Unterschrift: die Unterschrift ist unleserlich. – Die haben viel zu unterschreiben, sagte mein Vater, und der Maler erbittert: Sie glauben es ja nicht, sie glauben es selbst nicht, diese Narren: Malverbot, Berufsverbot, vielleicht noch Eß- und Trinkverbot: so etwas kann einer doch nicht mit leserlichem Namen unterschreiben. Er betrachtete mit geneigtem Kopf, sich vergewissernd, den Großen Freund der Mühle, der es braun und begabt fast geschafft hatte, der die Flügel, wenn nicht heute, so doch morgen in ratternde Bewegung bringen würde, und in diese Betrachtung hinein sagte mein Vater in der Weise, wie er Sprache gebrauchte: Das Verbot hat mit Kenntnisnahme in Kraft gesetzt zu werden, steht das nicht so geschrieben, Max? – Ja, sagte der Maler verwundert, so steht es geschrieben, und mein Vater leise, aber gut genug zu verstehen: Das mein ich doch, ab sofort. Da packte der Maler sein Arbeitszeug zusammen, allein, ohne Hilfe des Polizeipostens Rugbüll, er erwartete wohl auch keine Hilfe.
Sie schlüpften hintereinander durch die Hecke, gingen mit steifen Schritten durch den Garten.
Sie gingen zum Atelier, das an das Wohnhaus angebaut worden war, so, wie der Maler es sich gewünscht hatte, ein Atelier mit Oberlicht, ebenerdig, mit fünfundfünfzig Nischen und Winkeln, die durch alte Schränke und vollgestopfte Regale gebildet wurden und durch zahlreiche harte, provisorische Lagerstätten, auf denen, wie ich manchmal glaubte, all die drolligen oder auch drohenden Geschöpfe des Malers schliefen, die gelben Propheten und Geldwechsler und Apostel, die Kobolde und die grünen, verschlagenen Marktleute. Da schliefen wohl auch die Slowenen und Strandtänzer, und natürlich auch die krummgewehten Feldarbeiter; ich hab die Lagerstätten im Atelier nie gezählt. Auch die Zahl der Bänke und der mit Leinwand bespannten Feldstühle ließ vermuten, daß hier mitunter das ganze phosphoreszierende Volk herumsaß, das er aus seiner Phantasie entlassen hatte, einschließlich der trägen, blonden Sünderinnen. Kisten stellten die Tische vor, Marmeladengläser und gravitätische Krüge die Vasen; es waren so viele Vasen, daß man schon einen Garten verwüsten mußte, um sie zu füllen, und sie waren gefüllt, immer, wenn ich im Atelier war, stand auf jedem Tisch ein Strauß, das flammte nur so und warb für sich.
In einer Ecke beim Ausguß, gegenüber der Tür, stand ein langer Tisch auf Böcken, die keramische Werkstatt, und darüber, auf einem Bord, trockneten Figuren und spitze Köpfe.
Sie kamen also herein, legten das Arbeitszeug ab, und der Maler ging, um aus der Holzkiste den Genever zu holen. Mein Vater setzte sich, stand auf, band den Umhang ab und setzte sich wieder. Er sah zu den schmalen Fenstern des Wohnhauses hinüber. Die Fenster waren leicht nach außen gewölbt und behielten alles für sich. In einer Kiste raschelte Holzwolle, Seidenpapier wurde zerrissen, dann schorrte etwas über den Atelierboden. Der Maler zog eine Flasche heraus, hielt sie hoch gegen das Licht, wischte sie am Mantel ab, hielt sie abermals gegen das Licht und war zufrieden. Er setzte die Flasche ab, angelte geschickt zwei Gläser von einem Bord, dicke, grüne, langstielige Gläser, die er ungeschickt, jedenfalls unsicherer als sonst, füllte, schob eins der Gläser meinem Vater hin und forderte ihn auf zu trinken.
Nicht wahr, Jens, sagte der Maler, nachdem sie getrunken hatten, und mein Vater, bestätigend: Weiß Gott, Max, weiß Gott. Der Maler füllte die Gläser noch einmal und stellte die Flasche hoch auf ein Bord, wo er sie nur mit Mühe wieder erreichen konnte, und dann saßen sie sich schweigend gegenüber, aufmerksam, aber nicht lauernd. Sie hörten, wie der Wind mit Getöse über das Haus ging und nebenan den Kamin untersuchte bis auf den Grund. Draußen auf dem Hof warf er eine Bande von Spatzen in die Luft und mischte sie mit einem Zug von Staren. Die Dachreiter und die Wetterfahne beruhigten sie nicht. Ein unbestimmter Brandgeruch war in der Luft, sie kannten den Geruch, hatten eine Erklärung für ihn: die Holländer brennen Torf, sagten sie beruhigt. Der Maler zeigte stumm auf das Glas, sie tranken, und danach stand mein Vater auf, durchflutet von der Wärme des Genevers, ging hin und her, ging so vom Tisch bis zu einem Eckregal, hob dort den Blick und ließ ihn auf dem Bild »Pierrot prüft eine Maske« ruhen, streifte auch den »Abend der Fohlen« und die »Zitronenfrau« und drehte wieder um und kam zum Tisch zurück – bis er endlich wußte, was er sagen wollte. Mit einer unbestimmten, aber doch umfassenden Bewegung gegen die Bilder sagte er: Und Berlin will das verbieten. Der Maler zuckte die Achseln. Es gibt andere Städte, sagte er, es gibt Kopenhagen und Zürich, es gibt London und New York, und es gibt Paris. – Berlin bleibt Berlin, sagte mein Vater, und dann: Warum, glaubst du, Max? Warum verlangen sie es von dir? Warum sollst du aufhören zu malen? Der Maler zögerte. Vielleicht rede ich zuviel, sagte er. Reden? fragte mein Vater. Die Farbe, sagte der Maler, sie hat immer was zu erzählen: mitunter stellt sie sogar Behauptungen auf. Wer kennt schon die Farbe. – Im Brief steht noch was anderes, sagte mein Vater: da steht was von Gift. – Ich weiß, sagte der Maler mit säuerlichem Lächeln und, nach einer Pause: Gift mögen sie nicht. Aber ein bißchen Gift ist nötig – zur Klarheit. Er bog einen Blumenstengel zu sich herunter, ich glaube, es war eine Tulpe, schnippte mit den Fingern gegen die Blütenblätter wie der Große Freund der Mühle gegen die Flügel, schnippte oder schoß beinahe mit zielsicherem Zeigefinger die Blume nackt und ließ den Stengel wieder hochschnellen. Dann blickte er zur Flasche hinauf, holte sie jedoch nicht vom Bord. Mein Vater sah wohl ein, daß er Max Ludwig Nansen noch etwas schuldete, darum sagte er: Ich hab mir das alles nicht ausgedacht, Max, das kannst du mir glauben. Mit dem Berufsverbot habe ich nix zu tun, ich hab das alles nur zu überbringen.
Ich weiß, sagte der Maler, und dann: Diese Wahnsinnigen, als ob sie nicht wüßten, daß das unmöglich ist: Malverbot. Sie können vielleicht viel tun mit ihren Mitteln, sie können allerhand verhindern, mag sein, aber nicht dies: daß einer aufhört zu malen. Das haben schon andere versucht, lange vor ihnen. Sie brauchen doch nur nachzulesen: gegen unerwünschte Bilder hat es noch nie einen Schutz gegeben, nicht durch Verbannen, auch nicht durch Blendung, und wenn sie die Hände abhacken ließen, hat man eben mit dem Mund gemalt. Diese Narren, als ob sie nicht wüßten, daß es auch unsichtbare Bilder gibt.
Mein Vater umrundete knapp den Tisch, an dem der Maler saß, umkreiste ihn, fragte jedoch nicht weiter, sondern beschränkte sich darauf, festzustellen: Aber das Verbot ist beschlossen und ausgesprochen, Max, das isses. – Ja, sagte der Maler, in Berlin, und er sah meinen Vater gespannt an, offen, wißbegierig, er ließ ihn nicht mehr mit seinen Blicken los, als wollte er ihn zu sagen zwingen, was er, der Maler, längst wußte, und ihm wird nicht entgangen sein, daß es meinem Vater schließlich nicht leichtfiel, zu erklären: Mich, Max – sie haben mich beauftragt, das Malverbot zu überwachen: daß du auch das nur weißt.
Dich? fragte der Maler, und mein Vater: Mich, ja, ich bin am nächsten dran.
Sie sahen einander an, der eine sitzend, der andere stehend, maßen sich schweigend einen Augenblick, forschten wahrscheinlich nach den Kenntnissen, die sie übereinander besaßen, und stellten sich vor, wie sie miteinander verkehren würden in näherer Zukunft und so weiter, zumindest aber fragten sie sich, mit wem sie von nun an zu rechnen hätten, wenn sie sich hier oder dort begegneten. So, wie sie sich forschend musterten, wiederholten sie, meine ich, ein Bild des Malers, das einfach nur »Zwei am Zaun« hieß und auf dem zwei alte Männer, aufblickend in olivgrünem Licht, einander entdeckten, zwei, die sich lange gekannt haben mögen von Garten zu Garten, doch erst in diesem bestimmten Augenblick in erstaunter Abwehr wahrnahmen. Jedenfalls stelle ich mir vor, daß der Maler gern etwas anderes gefragt hätte, als er schließlich fragte: Und wie, Jens? Wie wirst du das Verbot überwachen? Mein Vater überhörte da schon die Vertraulichkeit, die in dieser Frage lag; er sagte: Sollst nur abwarten, Max.
Da stand auch der Maler auf, legte den Kopf ein wenig schräg und musterte meinen Vater gerade so, als ließe sich schon erkennen, wessen er fähig sei; und als mein Vater es für angebracht hielt, seinen Umhang zu nehmen und ihn zwischen den gespreizten Beinen mit einer Klammer zusammenzustecken, sagte der Maler: Wir aus Glüserup, was?, und mein Vater darauf, ohne den Kopf zu heben: Wir können auch nicht aus unserer Haut, wir aus Glüserup. – Dann behalt mich mal im Auge, sagte der Maler. Das soll sich wohl machen lassen, sagte mein Vater und streckte seine Hand aus, reichte sie Max Ludwig Nansen, der in sie einschlug und den Händedruck dauern ließ, während sie beide zur Tür gingen. Vor der Tür, die in den Garten führte, lösten sich ihre Hände. Mein Vater stand sehr dicht an der Tür, fast bedrängt von dem Maler, er konnte den Drücker nicht sehen, er vermutete ihn neben seiner Hüfte, und er griff mehrmals vorbei, bevor er ihn endlich ertastet hatte und ihn sogleich niederdrückte in dem Wunsch, sich aus der Reichweite des Malers herauszudrehen.
Der Wind riß ihn aus dem Türrahmen. Mein Vater hob unwillkürlich die Arme, breitete sie aus, doch bevor der Nordwest ihn anhob, legte er eine Schulter gegen den Wind und ging zu seinem Fahrrad.