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Der Bücherwurm Urano ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und wurde als Myne in einer anderen Welt wiedergeboren. Hier lebt sie ein Leben in armen und einfachen Verhältnissen und ganz ohne Bücher – ein echter Albtraum. Doch das lässt sie nicht so einfach auf sich sitzen und versucht nun, Bücher oder zumindest buchähnliche Dinge selbst herzustellen. Allem voran steht natürlich die Papierproduktion, die sie mithilfe ihres Freundes Lutz ans Laufen kriegen möchte. Dafür unterzeichnet sie sogar einen Vertrag eines Kaufmannes …
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Seitenzahl: 430
Cover
Farbseiten
Karte von Ehrenfest
Prolog
Der Weg zum Japanpapier
Zu Besuch bei Otto
Bennos Einladung
Vertragsmagie
Lutz’ wichtigste Aufgabe
Das Bestellen der Materialien und der Werkzeuge
Beginn der Papierherstellung
Ein großer Fehler
Lutz’ Myne
Die Fertigstellung des Papiers
Die Handelsgilde
Der Gildenmeister und der Haarschmuck
Die Enkelin des Gildenmeisters
Friedas Haarschmuck
Die Übergabe des Haarschmucks
Die Winterhandarbeiten
Der Lehrplan für Lutz
Die Ursache des Misserfolgs und die Verbesserungsmaßnahme
Eine Trombe erscheint
Schnell zubereitet
Myne bricht zusammen
Epilog
Die Umstände von Corinnas Heirat
Die Brunnenkonferenz der Wäscherinnen
Nachwort
Über JNC Nina
Impressum
Farbseiten
Inhaltsverzeichnis
„Tuuli, kannst du die Karuffeln schälen?“
„Klar.“
Auf die Aufforderung von Mama Eva hin setzte sich Tuuli auf den Stuhl und nahm das Messer in die Hand. Während sie die Karuffeln schälte, schaute sie Myne hinterher, die durch die Wohnungstür ging.
Sie hatte gehört, dass Myne Lutz einem Kollegen ihres Vaters vorstellen wollte. Myne ging früh aus dem Haus, um den Termin zum dritten Glockenschlag nicht zu verpassen. Tuuli war hingegen nicht der Meinung, dass das Treffen von Erfolg gekrönt sein würde.
„Es ist zwar schön, dass sie sich so freut, aber was soll das bringen? Willst du sie nicht aufhalten, Mama?“
„Ich glaube auch, dass Lutz kein fahrender Händler werden kann, aber er muss die Realität selbst kennenlernen. Außerdem hat Myne sich so viel Mühe gegeben. Das ist schon in Ordnung.“
Während Eva es Tuuli gleichtat und die Karuffeln schälte, zuckte sie mit den Achseln und machte deutlich, dass sie von Anfang an nicht geglaubt hatte, dass Myne mit dem Treffen etwas erreichen könne. Ihr Gesichtsausdruck verriet auch, dass sie von Mynes Scheitern überzeugt war.
Denn Myne hatte erst vorgestern erfahren, dass ein solches Treffen einer Empfehlung für einen Lehrlingsplatz gleichkam. Daraufhin bereitete sich Myne panisch auf das Gespräch vor und brachte Lutz in den Wald, um sein Aussehen auf Vordermann zu bringen. Danach glänzte Lutz’ blondes Haar zwar unglaublich schön, aber das Entscheidende bei einer Aufnahmeprüfung einer Lehrlingsstelle war nicht das Erscheinungsbild, sondern die Vertrauenswürdigkeit des Empfehlenden.
Tuuli konnte sich nicht vorstellen, dass jemand Lutz wegen Mynes Vertrauenswürdigkeit einstellen würde. Doch wenn sie daran dachte, wie sehr sich Myne in letzter Zeit angestrengt hatte, bekam sie ein komisches Gefühl. Vor einem Jahr war sie noch nicht so zielstrebig gewesen.
„In letzter Zeit ist Myne wie ausgewechselt. Sie kippt zwar immer noch ständig wegen Fieber um, aber sie jammert nicht mehr rum und sagt nicht mehr, wie unfair alles ist. Na ja, sie kriegt auch jetzt nichts auf die Reihe, aber sie versucht, alles selbst zu machen, auch wenn sie dabei weint und sich aufregt.“
In letzter Zeit war die kleine Schwester, die ständig verbittert jammerte, wie unfair es war, dass Tuuli gesund war und draußen spielen durfte, nahezu verschwunden. Sie bekam zwar noch immer häufig Fieberanfälle, aber sie hatte mittlerweile ein Ziel und war deprimiert über ihre Misserfolge.
„So ist das, wenn Kinder groß werden. Für ein Baby ist es selbstverständlich, dass andere sich um es kümmern, aber wenn es älter wird, will es selbstständiger werden. Allerdings ist aller Anfang schwer, und deshalb ärgert es sich ständig. Bevor du drei warst, warst du auch so.“
Eva kniff die Augen zusammen und dachte an die Vergangenheit zurück, an die sich Tuuli nicht mehr erinnern konnte. Tuuli schämte sich ein wenig, als Eva davon sprach, wie sie sich aufregte, wenn ihr etwas nicht gelang. Aber gleichzeitig verglich sie sich selbst in Evas Erzählungen mit Mynes jetzigem Zustand und wunderte sich.
„Hast du nicht gesagt, dass ich schon so war, bevor ich drei wurde? Heißt das nicht, dass Mynes Entwicklung ziemlich langsam ist?“
„Das stimmt. Aber ist das nicht normal, wenn man an ihre körperliche Entwicklung denkt? Jetzt, wo sie endlich etwas gesünder geworden ist, hat sie auch mehr Energie für ihre geistige Entwicklung. Sie bereitet dir sicher viel Ärger, aber lass sie machen, was sie will, solange sie damit niemanden in Gefahr bringt. Nach und nach wird es immer mehr Dinge geben, zu denen sie fähig ist, und sie wird verstehen, was sie kann und was nicht, und dann wird sie auch keine Dummheiten mehr machen.“
„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein: Sie wollte nach meiner Taufe an meiner Stelle im Haushalt helfen und dachte, sie könnte ganz normal Wasser schöpfen und Brennholz sammeln. Aber am Ende konnte sie es nicht und war am Boden zerstört.“
Evas Bemerkung brachte Tuuli dazu, über Mynes Verhalten in der letzten Zeit nachzudenken.
Myne verlangte noch immer oft Dinge, die Tuuli nicht verstand, aber mittlerweile konnte sie sich allein umziehen, zur Toilette gehen und aufräumen. Verglichen mit der Zeit, in der sie grundlos wütend wurde, war die Last auf Tuulis Schultern leichter geworden.
Als Myne zum ersten Mal selbstständig in den Wald ging, stellte sie mit Lutz heimlich Tontafeln her. Als sie von Fey und den anderen zertrampelt worden waren, funkelten Mynes Augen irisierend vor Wut. Myne hatte weder Ausdauer noch Kraft, deshalb war ihre Beute beim Sammeln immer überschaubar, aber wenn man sie sich als ein dreijähriges Kind vorstellte, das erst seit Kurzem in den Wald gehen konnte, war das nicht verwunderlich.
„Du hast recht. Die Dinge, die sie selbst tun kann, werden immer mehr. Ich hoffe, sie bleibt so motiviert.“
„Heute wird wohl kein guter Tag für sie sein. Sei so lieb und tröste sie ein bisschen, wenn sie zurückkommt. Myne hat ihr Bestes gegeben.“
Eva nahm die fertig geschälten Karuffeln in die Hand und stand auf. Tuuli sammelte die Schalen ein und folgte ihr, um ihr bei den Vorbereitungen für das Mittagessen zu helfen.
Nicht einmal im Traum hätte Tuuli gedacht, dass Myne, die das Treffen für Lutz arrangiert hatte, den Weg des Kauffraulehrlings einschlagen würde, wenn auch nur unter Vorbehalt.
Endlich hatte ich die Möglichkeit, Japanpapier herzustellen. Und ich musste es nicht einmal selbst machen, denn Lutz würde es als einen Teil der Aufnahmeprüfung für mich erledigen. Hervorragend!
Nach dem Treffen mit dem Kaufmann lief ich hüpfend nach Hause. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen Eiskunstlaufsprung mit anderthalbfacher Drehung hinbekommen würde.
„Ehehe. Hehe.“
„Schön, dass du so gut gelaunt bist, Myne. Aber freu dich lieber nicht zu sehr, sonst kriegst du wieder Fieber.“
„Wie könnte ich mich nicht freuen, jetzt, wo wir endlich Papier herstellen können! Wir können jetzt Papier herstellen! Und wenn wir Papier haben, können wir auch Bücher machen! Juhu!“
Endlich war ich den Büchern nähergekommen, wie sollte ich mich da nur beruhigen? Während ich herumhüpfte, seufzte Lutz ratlos.
„Das würde ich ja gerne machen, aber wie? Ich habe keinen blassen Schimmer. Brauchen wir denn kein Werkzeug? Schaffen wir das wirklich?“
Mit Lutz’ ernsten Fragen und Seufzern verflüchtigte sich die unbeschwerte Atmosphäre.
Als ich wieder in der Realität ankam, wurde ich ganz blass. Ich kannte die einzelnen Schritte der Herstellung von Japanpapier und ihre Reihenfolge, ich hatte auch die Namen der Werkzeuge im Kopf, weil ich Bücher über aussterbende Berufe und Werkzeuge gelesen hatte. Aber ich wusste nicht mehr genau, wie man die Werkzeuge anfertigte, die man für die Herstellung von Japanpapier brauchte. Denn ohne Werkzeuge kein Papier.
Oh Mann, muss ich mir etwa erst die Werkzeuge besorgen? Ach, mein Wissen war wie immer völlig unbrauchbar.
„Myne? Du bist auf einmal so still geworden. Du willst mir doch jetzt nicht sagen, dass es nichts wird, oder?“
Als ich Lutz’ besorgtes Gesicht sah, schüttelte ich panisch den Kopf.
„Auf keinen Fall. Ich weiß, wie man Papier herstellt. Ich wollte es schon immer haben, aber das konnte ich nicht, weil ich nicht genug Kraft hatte, um Äste zu schneiden, Wasser zu schöpfen, Feuer zu machen oder Fasern zu zerkleinern. Und bei etwas, das ich für mich brauchte, wollte ich auch niemanden um Hilfe bitten.“
„Ich habe dir doch gesagt, ich würde dir helfen. Hättest du mir nur davon erzählt ...“
Lutz schmollte frustriert. Ich freute mich zwar über seine Hilfsbereitschaft, aber die Papierherstellung war harte Arbeit und nicht zu vergleichen mit ein bisschen Hilfe beim Lehmschaufeln oder Ästehacken.
„Weißt du was, Lutz, ich kann dir nur beibringen, wie man Papier herstellt. Bisher hast du mir nur bei Dingen geholfen, die ich mehr oder weniger selbst machen konnte, aber bei Papier musst du von Anfang bis Ende alles alleine machen. Bist du trotzdem dabei?“
„Selbstverständlich! Wir haben doch abgemacht, dass du die Ideen einbringst und ich die Ergebnisse.“
Lutz nickte auf der Stelle, aber ich musste mich vergewissern, dass er sich nicht von der Stimmung mitreißen ließ.
„Und zuerst musst du die Werkzeuge bauen, schaffst du das?“
„Das machst du doch mit mir zusammen, oder?“
„Natürlich. Ich gebe mein Bestes“, sagte ich und versank in Gedanken.
Um die Werkzeuge herzustellen, musste ich mir erst überlegen, welche wir brauchten. Dann würde ich in der Wohnung nach Ersatz suchen. Mama würde sicher wieder schimpfen, aber ohne Geld blieb uns nichts anderes übrig.
„Ich mache eine Liste der Werkzeuge und versuche, Ersatz zu finden. Wenn es aber keinen gibt, müssen wir sie selbst anfertigen. Kannst du nach Sträuchern suchen, die sich als Rohstoff für Papier eignen?“
„Gibt es davon nicht jede Menge im Wald?“
„Das stimmt, aber ich weiß nicht, welche Sträucher für die Papierherstellung geeignet sind.“
Ich wusste zwar, dass Sträucher wie Kozo, Mitsumata und Gampi für die Herstellung von Japanpapier geeignet waren, aber mit den Pflanzen dieser Welt kannte ich mich nicht aus.
„Also, Sträucher, die für die Papierherstellung geeignet sind, haben lange und starke Fasern. Diese Fasern müssen klebrig sein und zusammenhalten. Und man sollte viele von ihnen aus der Pflanze bekommen können ... Aber ob eine Pflanze lange und feste Fasern hat, kann man nicht am Aussehen erkennen.“
Ich hatte gelesen, dass Kozo im ersten Jahr geeignet wäre, aber im zweiten Jahr würden die Fasern hart und es würden sich Astknoten bilden, die die Pflanze unbrauchbar machten. Ich hatte dieses Wissen zwar, aber ich konnte anhand des Aussehens einer Pflanze nicht feststellen, ob sie im ersten oder zweiten Jahr war. Ich war völlig nutzlos.
„Das klingt alles ziemlich kompliziert und ich habe doch auch keine Ahnung.“
„Auf jeden Fall sollte es Sträucher mit weicheren Zweigen und welche mit härteren geben. Wir brauchen junge Pflanzen mit weichen Zweigen.“
„Verstehe. Je länger die Pflanze wächst, desto härter wird sie.“
Für mich waren alle Äste zu hart, als dass ich sie hacken könnte, aber ein alter Hase im Wald wie Lutz sollte den Unterschied zwischen leicht und schwer zu hackenden, weichen und harten Ästen erkennen können.
„Na ja, es gibt auch Papier aus Bambus und Bambusgras, also kann man auch aus ungeeigneten Pflanzen Papier herstellen, aber warum sollten wir uns das Leben schwer machen? Außerdem wollen wir ein Verkaufsprodukt daraus machen, deshalb sollten wir umso mehr geeignete Sträucher nehmen.“
Da wir das Papier vermarkten wollten, mussten wir uns auch Gedanken über den Anbau der Sträucher machen, sonst könnten uns schnell die Rohstoffe ausgehen. „Ideal wäre es, wenn wir die Pflanzen selbst anbauen könnten, dann hätten wir einen einfachen Zugang zu den Rohstoffen. Aber ob eine Pflanze für den Anbau geeignet ist, kann man nicht so einfach erkennen, oder?“
„Doch, gut und schlecht wachsende Pflanzen sind grundverschieden. Es gibt Pflanzen, die sich gut anbauen lassen.“
„Was?!“
Meine Unerfahrenheit als Stubenhockerin ließ mich mit den Zähnen knirschen. Ich durfte erst seit einem Monat in den Wald gehen. Ich hatte noch nie Sträucher geschnitten und war natürlich nicht die richtige Kandidatin, um geeignete Pflanzen zu bestimmen.
„Lutz, du kümmerst dich um die Auswahl geeigneter Sträucher. Mein Plan ist es, verschiedene Pflanzen auszuprobieren, um zu sehen, ob sie was taugen. Kannst du herausfinden, welche Sträucher weich sind? Und kannst du nach [Tororo] suchen?“
„Was ist das?“
„Das wird beim Papierschöpfen für den Kleber benutzt, um die Fasern zusammenzuhalten, aber ich habe keine Ahnung, wo ich es finden kann. Weißt du vielleicht, ob es Bäume oder Früchte gibt, die eine klebrige Flüssigkeit produzieren?“
Lutz überlegte eine Weile, hatte auf Anhieb aber keine Idee.
„Hm ... Ich frage mal ein paar Leute, die sich im Wald auskennen.“
„Dann versuche ich, mich an den Herstellungsprozess zu erinnern, und schreibe auf, welche Werkzeuge wir brauchen. Anschließend überlege ich mir, wie wir vorgehen.“
Während wir über unsere Pläne sprachen, stand ich schon vor der Haustür.
„Wir sind schon da. Dann wollen wir mal unser Bestes geben.“
Lutz’ grüne Augen strahlten vor Motivation. Mit einem heftigen Nicken ging ich ins Haus.
„Willkommen zurück. Lass den Kopf nicht hängen, Myne. Irgendwann kannst du dich bestimmt nützlich machen.“
„Hä? Wovon redest du, Tuuli?“
„Nächstes Mal wird alles besser.“
Kaum war ich zu Hause, kamen Mama und Tuuli, um mich zu trösten.
„Ich bin nicht durchgefallen, ich wurde unter Vorbehalt aufgenommen.“
„Waaas?!“
Als ich ihnen von dem Treffen erzählte, konnten sie es nicht fassen. Während sie meinten, wir müssten diesen Erfolg feiern, drehte ich mich um und holte die Steintafel hervor, denn ich musste mich an den Herstellungsprozess des Japanpapiers erinnern und die Werkzeuge aufschreiben.
„Ich muss mich vorbereiten.“
„Du musst für die Aufnahmeprüfung hart arbeiten, nicht wahr?“
Ich nickte Tuuli zu, die mich anfeuerte, nahm den Schiefergriffel in die Hand und dachte über den Prozess der Papierherstellung nach.
Zuerst mussten wir Sträucher und andere Pflanzen abschneiden. Da Lutz so etwas wie eine Hippe hatte, sollte das kein Problem sein. Dazu brauchten wir auch keine weiteren Werkzeuge. Okay, nächster Punkt.
Ich erinnerte mich, dass man Kozo dämpfen musste, um die schwarze Rinde abzuziehen. Wir brauchten also einen Dämpfer. Wenn wir einen in der Küche hätten, würde ich ihn mir ausleihen. Doch als ich in der Küche nachsah, konnte ich keinen finden. Da wir noch nie etwas Gedämpftes gegessen hatten, wunderte es mich nicht, dass wir keinen Dämpfer hatten. Ich schrieb „Dämpfer“ auf die Tafel. Okay, nächster Punkt.
Die gedämpften Äste mussten zunächst mit kaltem Wasser abgeschreckt werden, und dann musste man die Rinde abziehen, bevor sie kalt wurde. Zum Dämpfen und Abziehen der Rinde mussten wir zum Fluss gehen. Abgesehen vom Messer brauchten wir nichts. Okay, nächster Punkt.
Danach musste die Rinde am Fluss mindestens einen Tag getrocknet werden, damit man die schwarze Haut abschaben konnte, bis die Rinde weiß wurde. Auch dafür sollte ein Messer ausreichen. Okay, nächster Punkt.
Die weiße Rinde musste mit Asche gekocht werden, bis sie weich war und sich der Schmutz löste. Wir brauchten also einen Topf und Asche. Wir konnten denselben Topf nehmen, den wir zum Dämpfen benutzen würden, aber mit der Asche könnte es schwierig werden. Mama würde uns bestimmt nichts geben, und die Asche vom Dämpfen würde nicht reichen. Ich schrieb Asche auf die Tafel. Okay, nächster Punkt.
Die gekochte weiße Rinde musste von der Asche getrennt und mindestens einen Tag in der Sonne getrocknet werden, bis ihre Farbe heller wurde. Dann mussten die beschädigten Fasern und die Astknoten entfernt werden. Das war reine Handarbeit, die wir ohne Werkzeuge erledigen konnten. Okay, nächster Punkt.
Dann musste man die Fasern so lange klopfen, bis sie die Konsistenz von Baumwolle hatten. Dafür brauchten wir einen Vierkantstab, der wie ein Holzknüppel aussah. Ich fragte mich, ob wir einen aus Holz bauen konnten, und schrieb „Vierkantstab“ auf die Tafel. Okay, nächster Punkt.
Nach dem Klopfen sollten die Fasern mit Wasser und Tororo vermischt werden. Dafür brauchten wir einen Eimer oder einen Zuber. Danach sollte das Papier mit einem Suketa, einem Bambussieb, das wie ein Holzrahmen aussieht, geschöpft werden. Das Suketa könnte das größte Problem werden. Ich schrieb „Zuber“ und „Suketa“ auf die Steintafel. Okay, nächster Punkt.
Dann mussten die Bambusmatten des Suketa von den Holzrahmen gelöst werden und die Papierbögen, die durch die Bambusmatten gefiltert wurden, mussten auf einem Shito, einer Unterlage für das Papier, gestapelt werden. Das Papier, das wir an einem Tag herstellen konnten, musste einen Tag und eine Nacht auf dem Stapel liegen bleiben, um das Wasser herauszudrücken. Ich schrieb „Shito“ auf die Steintafel. Okay, nächster Punkt.
Nun musste man ein Gewicht auf die Bögen legen, um das Wasser herauszupressen. Ich hatte gelesen, dass die Klebrigkeit des Tororo völlig verschwinden würde, wenn man das Papier 24 Stunden lang pressen würde. Ich fragte mich, ob wir ein spezielles Gewicht brauchten. Wir hatten eins zu Hause zum Ölpressen, aber konnte Lutz damit umgehen? Jedenfalls schrieb ich „Gewicht“ auf die Tafel.
Nach dem Pressen musste man die Bögen einzeln vom Shito ablösen und auf ein Brett legen. Ich schrieb mir „ein flaches Brett“ auf. Nachdem es in der Sonne getrocknet war, musste man es nur noch vom Brett nehmen und fertig.
„Hm, wenn ich so darüber nachdenke, brauchen wir echt ganz schön viele Werkzeuge.“
Wir benötigten einen Dämpfer, einen Topf, einen Vierkantstab, Asche, einen Zuber, ein Suketa, ein Shito, ein Gewicht und ein flaches Brett, dazu die Rohstoffe und Tororo. Ich hatte zwar Fotos und Illustrationen des Herstellungsprozesses gesehen und hatte das Verfahren größtenteils im Kopf, aber da ich es noch nie selbst ausprobiert hatte, konnte ich mich nicht an die Details erinnern, wie zum Beispiel an das Verhältnis von Pflanzenfasern und Tororo.
Aber ich erinnerte mich an eine Fernsehsendung, in der ein Idol – untypisch für eine solche Berühmtheit – ein Dorf aufbauen musste. Wenn selbst ein Idol das schaffte, dann sollte ich es doch auch hinbekommen.
Ich versuchte, mich an die Sendung zu erinnern. Gib dein Bestes, mein Gedächtnis! Aber das Idol hatte ja die Werkzeuge bekommen, musste sie nicht selbst herstellen und hatte Unterstützung von Experten vor Ort. Uff.
Ich hatte zwar das Wissen, aber meine praktische Erfahrung beschränkte sich auf eine Postkarte aus recyceltem Papier, die wir im Hauswirtschafts-Praktikum aus Pappe hergestellt hatten. Ich würde sagen, das war besser als nichts, aber auch nicht besonders nützlich.
Auf jeden Fall wollte ich mich am Papier in Postkartengröße versuchen. Bei einem kleinen Format wäre die Anfertigung der Werkzeuge einfacher und wir sollten mit etwas Kleinerem anfangen, um herauszufinden, welche Sträucher geeignet waren.
„Hey, Lutz. Lass uns zuerst einen Dämpfer machen.“
Ein runder Dämpfer, wie er in der chinesischen Küche verwendet wird, wäre ziemlich schwierig, aber einen eckigen Dämpfer aus Holz herzustellen, sollte keine große Herausforderung sein. Zur Veranschaulichung zeichnete ich ein Bild auf die Steintafel und zeigte es Lutz.
„Das ist an sich einfach, aber haben wir überhaupt Nägel?“
„Wie?! Kann man nicht einfach passend zugeschnittene Hölzer ineinanderstecken?“
„Wovon redest du?“
Die erste Hürde bei der Herstellung eines Werkzeugs: Dafür fehlte uns wieder ein Werkzeug. Holz konnten wir selbst hacken, aber Nägel konnten wir nicht aus dem Nichts zaubern. In dieser Welt waren sie nicht so billig, dass Kinder sie einfach benutzen konnten.
Wir hatten auch kein Werkzeug, um das Holz fein zu bearbeiten. Es wäre schön gewesen, wenn ich mit den Werkzeugen von Papa die Technik der japanischen Tischlerei hätte anwenden können, aber mein theoretisches Wissen hätte uns nicht weitergeholfen. Und selbst wenn ich es Lutz erklären würde, würde er es nicht sofort beherrschen, sonst wäre es ja kein Handwerk.
Da Nägel im täglichen Leben häufig gebraucht wurden, konnte man sie sicher in einer Schmiedewerkstatt kaufen, aber zu unserem Leidwesen fehlte uns das Wichtigste: Geld. So saßen wir in der Klemme.
„Was machen wir jetzt, Myne?“
„Ich werde Otto um Hilfe bitten. Vielleicht kann ich meine Arbeit gegen Nägel tauschen.“
Am nächsten Tag ging ich zum Tor und fragte Otto:
„Ich habe eine Frage: Wissen Sie, wie viel Nägel kosten? Können Sie uns einen günstigen Laden empfehlen, wenn Sie einen kennen?“
„Nägel? Wozu das denn? Du kannst doch sowieso nicht damit umgehen.“
Er hatte recht. Ich hatte nicht genug Kraft, um einen Hammer zu schwingen. Für Schiefergriffel und Tinte hatte er noch Verständnis, aber warum ich Nägel wollte, schien er nicht zu begreifen. Nach einem Seufzer antwortete ich:
„Wir wollen Werkzeuge anfertigen, um Papier herzustellen, aber dafür fehlen uns wiederum andere Werkzeuge ...“
„Ahahahah ...“
Otto lachte ungeniert und schlug auf den Tisch. Verständlich. Nachdem ich große Töne gespuckt und versprochen hatte, bis zum Frühjahr ein fertiges Produkt zu liefern, klang „uns fehlen die Werkzeuge“ wie ein Scherz, aber wir meinten es ernst.
Als ich Otto einen bösen Blick zuwarf, wischte er sich die Tränen vom Gesicht und lächelte mich an. Er sah freundlich aus, aber ich erkannte das hinterlistige Gesicht eines Kaufmanns. Otto schien zu merken, dass meine Alarmglocken läuteten, und schmunzelte zufrieden.
„Wenn du mir die Zusammensetzung des Mittels verrätst, das die Haare schön macht, kann ich dir vielleicht ein paar Nägel leihen.“
Aber das wäre kein gleichwertiger Tausch. Vor allem, wenn Otto die Information an Benno weitergeben würde, würde ich eine wertvolle Karte gegen Benno verlieren. Das wollte ich nicht riskieren.
„Nur für ein paar Nägel kann ich Ihnen die Zusammensetzung nicht geben. Bennos Reaktion beim Treffen hat mir das Gefühl gegeben, dass es ein profitables Produkt sein könnte.“
„Gut beobachtet“, murmelte Otto leicht beeindruckt.
„Danke“, antwortete ich, ohne weiter darauf einzugehen, während ich mir den Kopf zerbrach, denn Otto war der letzte Strohhalm, an den wir uns klammerten.
Warum brauchte er das einfache Rinse-in-Shampoo?
Im Gegensatz zu Benno war er kein Kaufmann, deshalb glaubte ich nicht, dass er es als Produkt verkaufen wollte. Aber vielleicht wollte er Benno einen Gefallen tun, um dafür eine Gegenleistung zu bekommen.
Otto sah zwar gepflegt aus, aber er schien nicht der Typ zu sein, der viel Wert auf sein Äußeres legte. Wahrscheinlich würde sich eher eine Frau dafür interessieren ... Seine Frau?! Oh, er brauchte es für seine Frau! Alles würde einen Sinn ergeben, wenn seine bessere Hälfte, die er über alles liebte, davon Wind bekommen hätte und davon schwärmen würde.
„Otto, die Zusammensetzung kann ich Ihnen nicht verraten, aber wir können die Produkte gegeneinander tauschen.“
Otto hob leicht die Augenbrauen. Er schien interessiert zu sein. Vielleicht würde er nicht auf der Information bestehen. Da ich den Sieg am Horizont witterte, ging ich noch einen Schritt weiter.
„Und ich werde auch Corinnas Haare mit dem Mittel schön glänzend machen, um ihr zu zeigen, wie man es anwendet. Ohne Anleitung kann sie mit dem fertigen Produkt nichts anfangen.“
„Na gut. Abgemacht.“
Otto nickte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich dachte, Corinnas Namen zu erwähnen, wäre sehr effektiv, aber dass es die Sache so viel einfacher machen würde, überraschte mich.
„Komm am nächsten freien Tag vorbei. Dann können wir tauschen.“
„Alles klar.“
Wir beschlossen, dass ich am nächsten freien Tag mit dem einfachen Rinse-in-Shampoo zu Otto gehen sollte, um Friseurin (zum Haarewaschen) zu spielen. Ich war erleichtert, endlich Nägel zu bekommen, aber mein einfaches Rinse-in-Shampoo ging langsam zur Neige.
Ich musste für Nachschub sorgen, denn das Shampoo war ein Verbrauchsgut. Wahrscheinlich würde Otto in Zukunft wieder etwas dafür eintauschen wollen.
„Lutz, ich habe einen Weg gefunden, an Nägel zu kommen!“
„Echt? Gut gemacht!“
„Ja, dafür brauche ich das [einfache Rinse-in-Shampoo], aber es ist fast alle. Ich möchte heute welches machen, kannst du mir helfen?“
„Kein Problem.“
Da wir schon dabei waren, wollte ich etwas mehr Shampoo machen, vielleicht könnten wir es zur Kapitalbeschaffung einsetzen.
„Es wird noch eine Weile dauern, bis wir Merille pflücken können. Zu dieser Jahreszeit sind die Rios ein guter Ersatz.“
Nachdem wir ein paar Rios gepflückt hatten, gingen wir zu mir nach Hause, wo Lutz aus den Früchten Öl presste. Lutz konnte noch nicht mit dem Gewicht umgehen und benutzte den Hammer zum Pressen, während ich Kräuter in das Öl streute.
„Hm, das war gar nicht so schwer.“
„Ja, man muss nur auf die Zusammensetzung von Öl und Kräutern achten. Deshalb können wir das fertige Produkt zwar gegen Rohstoffe oder Geld tauschen, aber wir dürfen auf keinen Fall jemandem die Zusammensetzung verraten.“
„Warum nicht?“
„Weil es so einfach ist. Unsere Geschäftspartner können es einfach selbst herstellen und wir können es dann nicht mehr als Tauschmittel anbieten.“
„Okay, ich verstehe.“
Ich füllte das einfache Rinse-in-Shampoo in eine kleine Flasche und gab sie Lutz. Er schaute mich erstaunt an.
„Das brauche ich nicht. Du bist für die Beschaffung von Geld und Rohstoffen zuständig. Behalte es lieber.“
„Das ist der Lohn für deine Arbeit. Du kannst es Karla geben, sie hat dir sicher schon Löcher in den Bauch gefragt.“
Nachdem ich Lutz vor dem Vorstellungsgespräch die Haare gewaschen hatte, erzählte er mir, dass seine Mama ihn die ganze Zeit mit Fragen genervt habe. Da ich sie seitdem nicht gesehen hatte, musste Lutz ihre Fragerei ertragen.
„Oh, das wäre prima! Danke, Myne.“
Freudestrahlend nahm Lutz das Shampoo entgegen. Ich setzte ein Lächeln auf, so wie ich es bei Otto gesehen hatte.
„Und selbst wenn Karla dich unter Druck setzt, darfst du ihr auf keinen Fall die Zusammensetzung verraten. Das ist so eine Art Testlauf, dass wir nur das fertige Produkt liefern, aber auf keinen Fall die Informationen preisgeben dürfen. Denn ein Kaufmann muss viele Geheimnisse hüten.“
„Können wir nicht einen einfacheren Testlauf machen?“
Lutz kicherte und protestierte.
Jedenfalls hatte ich nicht damit gerechnet, dass die kleinen Nägel eine so große Herausforderung darstellen würden. Bis zum Japanpapier war es noch ein weiter Weg.
Ein paar Tage später erhielt ich über Otto die offizielle Einladung von Corinna.
„Ist es nicht komisch, dass ich die Einladung empfangen soll? Ist das nicht etwas, das man an die Eltern schickt? Schließlich können nur meine Eltern zu- oder absagen.“
Als Otto das hörte, zog er die Augenbrauen leicht nach oben und schüttelte den Kopf.
„Du bist doch die Einzige im Haus, die lesen kann. Außerdem können sie nicht absagen. Wenn sie absagen, werden deine Mutter und deine Schwester vielleicht von ihrer Arbeit ausgeschlossen.“
„Hä? Wie ... wie bitte?!“
Corinna stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Als begabte Schneiderin war sie angeblich im Vorstand des Schneiderverbandes tätig. Nach vielen Erklärungen verstand ich, dass Tuuli als Schneiderlehrling in der Position einer einfachen oder Teilzeitangestellten war, dass die Position meiner Mutter als Färberin mit der einer Vorarbeiterin vergleichbar war und dass Corinna die Position eines Vorstandsmitglieds innehatte.
Eine Klassengesellschaft also. Furchtbar. Wenn man von jemandem eingeladen wurde, der über einem stand, durfte man nicht absagen. Das musste ich mir merken.
Hätte Otto statt Corinna die Einladung geschrieben, hätte Papa als sein Vorgesetzter absagen können. Kompliziert.
„Wenn wir schon dabei sind, können wir auch gleich lernen, wie man auf eine Einladung antwortet.“
„Ich verstehe, danke.“
Ich las mit Otto die Einladung auf einem dünnen Brett und lernte, wie man eine Antwort schrieb.
„Du hast eine Einladung von Corinna bekommen?! Was? Du?! Warum?“
„Otto hat ihr vom [einfachen Rinse-in-Shampoo] erzählt. Anscheinend will sie es ausprobieren.“
„Wie bitte?!“
Als Mama die offizielle Einladung sah, die ich mitgebracht hatte, war sie außer sich. Da sie völlig in Panik geriet, fragte ich: „Hätte ich lieber absagen sollen?“ Sie starrte mich wütend an und schimpfte:
„Auf gar keinen Fall! Sieh zu, dass du dich anständig benimmst!“
„Ja! Ich gebe mein Bestes.“
Wie Otto sagte, war es mehr eine Vorladung als eine Einladung.
Mama machte sich in aller Eile an die Arbeit, um mir ein neues Überkleid zu nähen. Sie sagte, es wäre unhöflich, in meinen normalen Kleidern zu Corinna zu gehen. Während sie schneiderte, hielt sie mir eine Lektion über alle möglichen Manieren, die ich beachten sollte, um mich nicht bei den reichen Leuten zu blamieren. Ich wollte Corinna eigentlich nur zeigen, wie man das einfache Rinse-in-Shampoo benutzte, aber irgendwie wurde daraus ein großes Drama.
„Wie schön, dass sie nur dich eingeladen hat. Dabei bin ich diejenige, die es hergestellt hat ...“
„Mama, darf Tuuli mitkommen?“
„Natürlich nicht! Sie ist nicht eingeladen!“
Die Idee für das einfache Rinse-in-Shampoo kam zwar von mir, aber Tuuli war für die Herstellung zuständig. Deshalb war ich der Meinung, dass Tuuli es auch verdient hätte, mitzukommen, aber hier galt es als unhöflich, jemanden ohne Einladung mitzunehmen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als neidisch zu sein und zu Hause zu warten.
Wie beim letzten Treffen mit Otto sollte ich wieder zum dritten Glockenschlag auf dem Hauptplatz sein. Ich zog das neue Überkleid, das Mama mir genäht hatte, über meine alten Kleider, trug meine Tragetasche mit der Shampooflasche und dem Kamm und machte mich mit Papa auf den Weg.
Als wir am Brunnen auf dem Hauptplatz ankamen, sah ich Otto, der schon auf uns wartete.
„Herr Truppführer, keine Sorge, ich werde gut auf sie aufpassen. Okay, gehen wir, Myne.“
„Ja. Bis später, Papa!“
Papa sah besorgt aus und blickte mir lange hinterher. Mit einem Wink verabschiedete ich mich und ging mit Otto auf die Burgmauer zu, in deren Nähe er zu wohnen schien. Je näher man an der Burgmauer lebte, hinter der die Adeligen wohnten, desto teurer war die Miete. Er lebte also in einer Art Luxuswohnung.
„Otto, Sie sind Soldat, aber wohnen in der Nähe der Burgmauer?“
„Mit meinem Sold könnte ich mir das nicht leisten, aber Corinnas Familie hat ein Zimmer in ihrem Haus für uns vorbereitet. Mein Schwager wollte seine süße kleine Schwester nicht ganz loslassen und hat mir gesagt, dass ich dort einziehen soll.“
Ich erinnerte mich, gehört zu haben, dass Otto in Corinnas Familie eingeheiratet hatte. Ohne die Unterstützung von Corinnas Familie hätte er sich mit dem Sold eines einfachen Soldaten keine Wohnung in so einer Gegend leisten können. Da er sein ganzes Hab und Gut für das Bürgerrecht verpulvert hatte, war er bei der Hochzeit vielleicht sogar bettelarm und hatte die Familie der Braut zur Verzweiflung gebracht.
Je weiter wir in den Norden der Stadt kamen, desto mehr unterschied sich das Aussehen der Passanten von dem meiner gewohnten Umgebung. Geflickte Kleidung war kaum noch zu finden, stattdessen sah ich immer mehr Menschen, die flatternde, verschwenderisch gestaltete Kleider trugen.
Auch die Geschäfte im Erdgeschoss vermittelten einen ganz anderen Eindruck. Die Verkaufsflächen wurden größer, und mit der Zahl der Angestellten stieg auch die Zahl der Kunden. Man sah immer mehr Kutschen von der Hauptstraße kommen, während die Lasten tragenden Esel immer seltener wurden.
Es war schockierend, so deutliche Klassenunterschiede in einem Viertel zu spüren, das ich zu Fuß erreichen konnte. Ich hatte Bücher über die Klassengesellschaft gelesen und hatte theoretisches Wissen darüber, aber meine Vorstellung entsprach in keiner Weise der Realität. Ich blinzelte und sah mich um.
„Der zweite Stock in diesem Gebäude.“
„Im zweiten Stock?!“
Ottos Familie wohnte im zweiten Stock eines sechsstöckigen Hauses. Im Erdgeschoss war ein Laden, im ersten Stock wohnte die Familie des Ladenbesitzers. Das zweite bis fünfte Stockwerk war vermietet und im sechsten Stock lagen die Zimmer der Lehrlinge und Angestellten. Je kürzer der Weg zur Straße und zum Brunnen war, desto teurer war die Miete. Wir wohnten übrigens im vierten Stock in der Nähe des Tores, man kann sich also vorstellen, wie unsere finanzielle Situation war.
Da Corinnas Familie Otto ein Zimmer über ihrer Wohnung eingerichtet hatte, war sie wohl die hohe Tochter einer großen Kaufmannsfamilie.
Ich war überrascht, dass ihre Familie nichts gegen ihre Heirat einzuwenden hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ein fahrender Händler den gleichen Status hatte wie die Tochter eines Handelshauses. Aber entsprach mein Gefühl auch dem Standard dieser Welt?
„Ich bin wieder da, Corinna. Ich habe Myne abgeholt.“
„Willkommen, Myne. Schön, dass du da bist. Ich bin Corinna, Ottos Frau.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Myne. Otto hat oft auf mich aufgepasst.“
Corinna, die ich zum ersten Mal traf, sah unglaublich süß und bezaubernd aus.
Ihr helles, cremefarbenes, weiches Haar, das wie der Mond schimmerte, war gebunden und betonte die Konturen ihres schmalen Nackens. Ihre Augen waren silbergrau. Die blassen Farben ließen sie zerbrechlich erscheinen. Aber: Sie hatte einen beeindruckenden Busen. Ihre Kurven befanden sich an den richtigen Stellen und ihre Taille war schlank.
Otto hatte es auf ihre Schönheit abgesehen!
Als wir das Empfangszimmer betraten, sah ich einen aus Stoffresten zusammengenähten Wandteppich und Corinnas Werke, die als Dekoration dienten, und konnte meine Bewunderung nicht unterdrücken. Es war das erste Mal, dass ich in dieser Welt eine dekorierte Wohnung zu Gesicht bekam.
An den vielen Kleidungsstücken und der Dekoration mit Stoffresten konnte ich erkennen, dass dieser Raum als Besprechungszimmer mit Auftraggebern genutzt wurde. Der Raum war geschmackvoll und farbenfroh eingerichtet und strahlte eine beruhigende Atmosphäre aus.
Für die Wohnung einer Kaufmannsfamilie war er jedoch recht schlicht. Der Tisch und die Stühle waren weder verziert noch glänzend poliert, sondern behielten die natürliche Farbe des Holzes. Ich erinnerte mich an nordeuropäische Möbel, die einfach gestaltet waren, damit man sich nicht daran satt sah und sie lange benutzen konnte. Vielleicht wurden die Möbel in dieser im Winter verschneiten Gegend mit dieser Absicht gebaut.
„Myne, danke, dass du extra gekommen bist. Ich habe von Otto gehört, dass du mir die Haare schön machen willst. Ich freue mich schon.“
Corinna sprach mit sanfter Stimme zu mir, während sie mir einen Kräutertee einschenkte. Sie hatte die Ausstrahlung einer wohlerzogenen, edlen Dame. Ihre ruhige Art wirkte heilsam und weckte den Beschützerinstinkt.
„Als ich von dem Treffen hörte, habe ich mich auch sehr darauf gefreut. Sie sehen nicht nur bezaubernd aus, sondern haben auch einen exquisiten Geschmack, und die Kleider, die hier ausgestellt sind, sind noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe.“
„Du bist aber eine wohlerzogene kleine Dame. Und deine Haare glänzen wirklich so schön, wie Otto mir erzählt hat. Meinst du, meine Haare werden auch so?“
Corinna strich mir über die Haare und sah ganz fasziniert aus. Gestern Abend hatten Mama und Tuuli meine Haare mit dem einfachen Rinse-in-Shampoo auf Hochglanz gebracht, damit das Produkt wertvoller aussah, deshalb glänzten sie noch mehr als sonst.
„Sollen wir gleich loslegen?“
Corinnas Gesicht strahlte, als ich die Flasche aus der Tasche zog. Dass sie ihre Gefühle offen zeigte, machte sie liebenswürdig. Ich verstand, warum Otto sie verwöhnte.
„Können Sie sich zum Haarewaschen vorbereiten? Wir bräuchten einen Eimer Wasser und ein Tuch, um die Haare abzutrocknen.“
Ich signalisierte Otto, dass die Muskelarbeit für einen Mann bestimmt war, und ließ ihn das Wasser besorgen. In der Zwischenzeit zog Corinna Kleidung an, die nass werden durfte. Dann legte ich das Tuch an die richtige Stelle, die kleine Flasche daneben und holte den Kamm aus meiner Tasche.
„Oh? Das ist also das Wundermittel? Was machst du damit?“
Neugierig schüttelte Otto das Fläschchen, spähte hinein und roch daran. Ich ahnte, dass es unangenehm werden könnte, wenn Otto hierbleiben und nach dem Waschen mit Worten und Taten die Zweisamkeit mit Corinna auskosten wollte.
„Bitte warten Sie in einem anderen Zimmer, bis wir fertig sind. Hüten Sie sich davor, einer Frau bei der Schönheitspflege zuzuschauen.“
„Ja, genau. Otto, warte bitte in einem anderen Zimmer.“
Zusammen mit Corinna vertrieb ich Otto, der nicht gehen wollte, aus dem Zimmer. Ich hörte ihn vor der Tür herumlungern, ignorierte ihn aber und nahm die Flasche. Dann gab ich Corinna eine leicht verständliche Erklärung, während ich den Inhalt der Flasche ins Wasser goss.
„Das nennt man [einfaches Rinse-in-Shampoo]. Wenn der Eimer zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist, kann man es hineingeben. Dann taucht man die Haare in die Lösung und wäscht sie damit. Darf ich Ihr Haar öffnen?“
Vorsichtig tauchte Corinna ihre Haare in den Eimer. Es schien, als hätte sie sich erst vor Kurzem die Haare gewaschen, denn sie waren weniger schmutzig als erwartet.
Um auch die Kopfhaut gründlich zu reinigen, goss ich die Flüssigkeit immer wieder darüber.
„Bitte achten Sie besonders auf diese Stelle.“
„Ich wusste gar nicht, dass es sich so gut anfühlt, wenn jemand anderes einem die Haare wäscht.“
„Wenn Sie Otto fragen, macht er das sicher gerne.“
Als ich vor mich hin murmelte, dass er es auch ungefragt machen würde, schmunzelte sie.
„Ach so? Ich dachte, er soll mir nicht zuschauen.“
„Das habe ich nur gesagt, weil es mir unangenehm wäre, wenn Sie und er vor mir in Ihre eigene Welt eintauchen würden ...“
„Haha, wenn ein kleines Kind schon so etwas sagt, frage ich mich, wie er sonst über mich redet.“
Da Corinna viel größer war als Tuuli, der ich immer die Haare wusch, fiel mir die Aufgabe nicht leicht. Aber wie viele Nägel wir von Otto bekommen würden, hing von ihrer Zufriedenheit ab, also gab ich mein Bestes und wusch sie so sorgfältig wie möglich.
„Sag mal, Myne. Kann ich dich was fragen?“
Corinnas Stimme klang ein wenig steif. Ich dachte, sie würde mich gleich nach der Zusammensetzung des einfachen Rinse-in-Shampoos fragen, und streckte reflexartig den Rücken durch.
„Wie ist Otto denn so, wenn er am Tor arbeitet?“
Überrascht von der Frage, legte ich den Kopf zur Seite. Mit betrübtem Blick sagte sie leise:
„Meinetwegen kann er nicht mehr als Kaufmann arbeiten, deshalb mache ich mir Sorgen ...“
„Da können Sie ganz beruhigt sein, denn auch am Tor bleibt er ein Kaufmann.“
Obwohl er sagte, dass er zu viel zu tun habe, übernahm er die ganze Buchhaltung. Er verhandelte ständig mit den Händlern, die Waren anlieferten, und nutzte seine Arbeit als Torwächter, um so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Sein Handlungsprinzip war das eines Kaufmanns.
„Wie? Er arbeitet als Kaufmann am Tor? Obwohl er Soldat ist?“
„Genau. Vor allem, wenn er mit den Lieferanten verhandelt und um Bestellungen feilscht, hat er immer das typische Kaufmannslächeln auf den Lippen und wirkt lebendiger denn je.“
„Haha, auf dich wirkt er also wie ein Kaufmann. Ja, du hast recht. Jetzt ist mir ein Stein vom Herzen gefallen.“
Je länger Corinna sich die Haare trocknete, desto mehr glänzte ihr cremefarbenes Haar. Sorgfältig durchgekämmt schimmerten sie sogar wie Perlen. So wie damals, als ich Lutz die Haare wusch, war ich ein bisschen neidisch auf ihre schönen Haare.
„Bitte benutzen Sie möglichst einen Holzkamm. Je öfter Sie damit durch Ihr Haar gehen, desto mehr Flüssigkeit nimmt der Kamm auf und desto glänzender wird Ihr Haar.“
„Ich verstehe. Sie sind wirklich schöner geworden.“
Corinna strich sich durchs Haar und wirkte beeindruckt.
„Ihr Haar hat von Natur aus eine schöne Farbe und sieht gepflegt aus, da können ein paar Tropfen schon einen großen Unterschied machen. Sie können das Produkt alle fünf bis sieben Tage einmal anwenden.“
Ich zeigte ihr die Flasche mit dem restlichen Shampoo und erklärte ihr die Häufigkeit der Anwendung. Corinna schaute mich erstaunt an.
„Darf ich das wirklich behalten? Aber ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich dir nichts dafür geben würde ...“
„Keine Sorge. Ich habe mit Otto ausgemacht, dass ich dafür Nägel bekomme.“
„Nägel? Im Ernst? Verkaufst du es nicht unter Wert? Ist das wirklich in Ordnung?“
Ich hatte es zwar mehr oder weniger unter Wert verkauft, aber ich musste ihr die Zusammensetzung nicht verraten und ich würde endlich an meine lang ersehnten Nägel kommen. Außerdem hatte ich vor, in Zukunft andere Dinge zu verlangen, wenn Corinna um Nachschub bat, also war das kein Problem für mich.
„Entschuldige, Myne. Meine Kleider sind etwas nass geworden. Ich möchte mich umziehen. Kannst du kurz mit Otto auf mich warten?“
Als ich die Tür öffnete, fand ich Otto vor, der wie ein hungriger Bär auf seine Beute lauerte.
„Corinna?!“
„Ich ziehe mich gerade um, weil meine Kleider nass geworden sind. Sei bitte ein guter Gastgeber, Otto.“
Corinna erschien kurz vor der Tür und lächelte. Ihr feuchtes Haar, das ihr geschmeidig über die nassen Kleider glitt, und ihr verlegenes Gesicht hatten etwas unerwartet Erotisches an sich.
„Es tut mir leid, dass ich mich so zeige. Ich beeile mich.“
Nachdem ich das Zimmer verlassen hatte, schloss sie schnell die Tür. Ich warf einen flüchtigen Blick auf Otto, der vom Anblick seiner Frau entzückt war und meine Existenz vergessen zu haben schien. Ich überreichte mir den Lorbeerkranz in Gedanken, denn der Sieg war mein.
„E he he. Otto, finden Sie nicht, dass Corinna unglaublich schön aussieht? Sie haben sich neu in sie verliebt, nicht wahr? Ihre cremefarbenen Haare funkeln wie Edelsteine ...“
„Corinna!“
„Moment, sie zieht sich gerade um!“
Als ich dachte, der Fisch hätte angebissen, versuchte Otto plötzlich ins Zimmer einzudringen und ich musste ihn schnell aufhalten. Aber natürlich war das mit meinen Kräften nicht möglich.
„Otto, willst du Myne zeigen, wie ich mich umziehe?“
Als er Corinnas Frage durch die Tür hörte, erstarrte er wie ein Roboter, dem die Batterie ausgegangen war.
Wir schwiegen eine Weile, dann drehte sich Otto zu mir um, fasste mich an der Schulter und lächelte so strahlend, dass es mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Hey, Myne. Gibt es etwas, das du ganz dringend erledigen musst?“
Er wollte also mit seiner Frau rummachen und mich wegschicken. Okay, schon verstanden.
„Je nachdem, wie viele Nägel ich bekomme, fällt mir vielleicht etwas ein.“
Ich starrte auf die Tüte mit den Nägeln auf dem Küchentisch und lächelte.
Otto schaute abwechselnd auf die Nägel und auf mich und grübelte. Es war offensichtlich, dass er seine berechnende Seite als Kaufmann und seine liebevolle Seite als Ehemann auf die Waagschalen legte und abwog.
„Ich habe das Gefühl, dass ich vor Papa eine gute Ausrede erfinden kann, wenn ich die ganze Tüte mitnehmen darf.“
Als Otto das hörte, drückte er mir lächelnd die ganze Tüte in die Hand, obwohl er gesagt hatte, er würde gut auf mich aufpassen. Da ich genau das erwartet hatte, machte ich mich brav aus dem Staub. Angesichts der Menge an Nägeln beschloss ich, ein Auge zuzudrücken. Viel Spaß.
Mit der Tüte voller Nägel schleppte ich mich mühsam nach Hause. Die Nägel waren bleischwer. Ein Stück wog kaum etwas, aber in der Menge waren sie nicht zu unterschätzen. Schon nach wenigen Schritten wurden meine Arme ganz weich.
Keine Chance. Ich brauchte dringend eine Pause. Meine Arme schmerzten.
So würde ich es nicht nach Hause schaffen. Als ich den Springbrunnen auf dem Hauptplatz erreichte, musste ich mich erst einmal hinsetzen und ausruhen. Ich schüttelte meine Arme und massierte sie. Dann tauchte plötzlich Lutz vor mir auf, der auch auf dem Heimweg zu sein schien.
„Hä? Lutz? Warum bist du hier?“
„Myne?! Ich frage mich eher, was du hier machst. Und bist du allein?!“
Normalerweise bewegte ich mich nur zwischen Zuhause, dem Tor und dem Wald. Da ich nur kurze Strecken zurücklegen konnte, lag der Hauptplatz außerhalb meines üblichen Bewegungsradius. Lutz war wohl überrascht, dass ich allein nach Hause ging, obwohl ich selbst für den Weg in den Wald Begleitung brauchte.
„Ich war bei Otto und gehe jetzt nach Hause. Schau mal, wie viele Nägel ich bekommen habe. Ich brauche eine Pause, weil sie so schwer sind und der Weg so weit ist.“
„Gib sie mir, ich trage sie für dich. Warum hat dich Otto nicht nach Hause gebracht?“
Lutz beschwerte sich und nahm die Tasche. Obwohl die Tüte so schwer war, dass meine Arme schmerzten, schien es Lutz nichts auszumachen.
Auf dem Rückweg berichtete ich Lutz von den Ereignissen des Tages. Und Lutz erzählte, dass er einen Experten des Waldes gefragt hatte, welche Pflanzen sich als Rohstoff für die Papierherstellung eignen würden und was ein guter Ersatz für Tororo wäre. Für das Japanpapier wurde normalerweise Maniok-Bisameibisch verwendet. Hier kamen die Frucht Ediel und der Körpersaft des Schrammkäfers infrage, die für ihre Viskosität bekannt waren.
Ähm ... Also mir waren die Früchte lieber als die Käfer, auch wenn es die Käfer das ganze Jahr über gab.
„Jetzt, wo wir Nägel haben, können wir auch den Dämpfer machen.“
„Hm? Aber wie groß soll er sein? Hast du nicht gesagt, wir müssen ihn an den Topf anpassen? Hast du deine Mutter schon gefragt, ob wir uns den Topf leihen dürfen?“
Der Dämpfer, mit dem wir die Zweige dämpfen wollten, musste nicht besonders groß sein, aber er musste zur Größe des Topfes passen. Aber hier hatte niemand mehr Töpfe als nötig. Selbst wenn ich Mama fragen würde, würde sie bestimmt ein klares Nein sagen.
„Noch nicht. Sie hat mich schon einmal geschimpft, dass nur Essen in den Topf gehört.“
Da Mama schon rot sah, als ich den getrockneten Fisch in den Topf geben wollte, würde sie uns auf keinen Fall den Topf zum Dämpfen und Kochen von Ästen leihen.
„Jetzt stecken wir also wieder fest. Hast du einen Plan? Ich kann uns ja keinen Topf machen.“
Töpfe waren teuer. Richtig, richtig teuer. Denn man konnte sie ein Leben lang benutzen. Und wenn sie kaputtgingen, wurden sie repariert. Sie waren nichts, was wir uns einfach so kaufen konnten, und etwas aus Metall selbst herzustellen war undenkbar.
„Dann kümmern wir uns zuerst um das Suketa. Das sollte nicht so schwer sein, wenn wir die Größe festgelegt haben.“
„Gut. Wir müssen tun, was wir können.“
Während wir im Wald Material sammelten, begannen Lutz und ich mit dem Bau des Suketa. Die Holzrahmen des Suketa waren mit Holz und Nägeln leicht zu konstruieren. Die größte Herausforderung war allerdings, die Leisten gleich lang und gerade zu schneiden, sonst war es nicht besonders schwer. Da ich keine großen Papierbögen schöpfen wollte und mich für das Postkartenformat entschieden hatte, brauchten wir auch keine Stützleisten für die Matten. Ich beschloss, mich an den kleinen Rahmen zu orientieren, die ich im Hauswirtschaftspraktikum gebaut hatte.
Nachdem ich Lutz das Endprodukt auf der Steinplatte gezeigt hatte, zeichnete ich die Einzelteile. Lutz schaute sich die Zeichnungen an, während er das Holz bearbeitete.
„So soll es am Ende aussehen. Damit die Leisten zusammenpassen, müssen sie ganz gerade sein. Du kannst sie am Ende auch noch anpassen. Schaffst du das?“
„Ganz gerade? Das klingt komplizierter, als ich dachte ...“
Lutz schnitt das Holz zu, um zwei rechteckige Rahmen zu bauen, in die eine Postkarte passen würde. Nachdem der obere und der untere Rahmen fertig waren, begann er mit der Arbeit an einem Brett, das den oberen Rahmen beim Papierschöpfen fixieren sollte. Anschließend wurden die Griffe am oberen Rahmen angebracht.
„Du bist schon fertig? Gut gemacht, Lutz!“
„Passt das so?“
„Ja! Man kann die Matten zwischen die beiden Rahmen legen und sie an den Griffen festhalten. So lassen sich die Fasern schütteln, damit sie sich gleichmäßig verteilen. Die Form sieht gut aus.“
„Nur die Form?“, protestierte Lutz überrascht. Ich legte die Rahmen aufeinander und zeigte auf den kleinen Spalt dazwischen.
„Wenn du es schaffst, die Rahmen so zu polieren oder zu feilen, dass kein Spalt mehr dazwischen ist und sie perfekt aufeinanderpassen, sind wir fertig.“
„Sie müssen perfekt aufeinanderpassen? Dann muss ich meinen Vater oder meine Brüder nach Werkzeugen fragen ...“
„Meinst du, die leihen dir welche?“
„Keine Ahnung ...“
Nachdem Lutz seinen Traum, fahrender Händler zu werden, aufgegeben hatte, entschied er sich gegen den Wunsch seiner Eltern, die in ihm einen Bauarbeiter oder Zimmermann sahen, Kaufmannslehrling zu werden, und bekam viel Gegenwind von seiner Familie. Er war nicht in der Lage, sie um Werkzeuge oder um Hilfe zu bitten.
Sein Vater sagte, die Kaufleute seien kaltblütige Bestien, die nur an Geld denken, und er nicht zulassen werde, dass sein Sohn so ein Monster werde. Und seine Mutter Karla meinte, wenn er nicht mehr fahrender Händler werden wolle und in der Stadt Arbeit suche, könne er sich doch etwas anderes überlegen.
Aber egal wie viele Einwände er von seiner Familie bekam, Lutz sagte selbst, dass er jetzt, da er endlich seinen eigenen Weg eingeschlagen hatte, nicht mehr aufgeben wollte. Es war nicht viel, aber ich tat, was ich konnte. Ich erzählte Lutz’ Familie von seiner harten Arbeit, wenn ich sie traf, und stillte seinen Hunger mit meinen Rezepten.
Leider war ich keine so große Hilfe.
Die Rahmen hatten schon die richtige Form. Hätten wir sie ausprobiert und es hätte nicht geklappt, hätten wir sie noch anpassen können. Das größere Problem waren die Matten. Wir brauchten Bambusmatten, wie man sie zum Sushirollen benutzt. Wir benötigten also dünne Bambusstäbe in der richtigen Länge und starke Fäden. Fäden waren nicht leicht zu finden, und aus Bambus dünne Stäbchen zu schnitzen, war auch eine Herkulesaufgabe. Die Matten sollten zwar nur die Größe einer Postkarte haben, aber ich wusste schon, dass es ein Kraftakt werden würde.
„Heute haben wir die Rahmen gemacht, morgen schnitzen wir Bambus und bauen zwei Matten. Aber runde Bambusstäbe herzustellen wird bestimmt nicht so einfach, oder? Können wir vielleicht auch eckige nehmen, wenn die Dicke und Länge passen?“
„Das wissen wir wohl erst, wenn sie fertig sind und wir sie ausprobiert haben ...“
Da ich noch nicht richtig mit dem Messer umgehen konnte, war mein Beitrag zwar unterirdisch, aber Quantität ging vor Qualität, also musste ich mich ins Zeug legen. Ich war froh, dass wenigstens die Rahmen, die wir uns für heute als Ziel gesetzt hatten, gelungen waren.
„Myne und Lutz, kommt ihr mal kurz mit?“
Als wir auf dem Rückweg das Tor passierten, rief Otto nach uns. Da ich am Tor aushalf, war ich nicht überrascht, aber dass er nach Lutz fragte, hatte ich noch nie erlebt.
„Ich auch?“
„Ja. Hier. Eine Einladung für euch.“
Wie bei Corinnas Einladung bekam ich wieder ein Brett in die Hand gedrückt. Da ich mich beim letzten Mal mit Einladungen beschäftigt hatte, erkannte ich den Absender und den Empfänger sofort. Es war eine Einladung von Benno an Lutz und mich.
Ich dachte, wir würden uns erst wieder sehen, wenn das Papier fertig wäre, und konnte den Sinn der Einladung nicht entziffern.
„Für morgen? Das ist aber eine sehr spontane Einladung. Worum geht es denn? Vielleicht will er nicht mehr warten und uns direkt durchfallen lassen?“
Vielleicht wurde er von jemandem gebeten, dem er einen Gefallen schuldete, und musste sich für einen anderen Lehrling entscheiden. Oder er konnte das Produkt mit den Informationen, die wir ihm gegeben hatten, selbst herstellen und brauchte uns nicht mehr. Mir gingen die schlimmsten Szenarien durch den Kopf.
„Nein, nein! Auf keinen Fall!“
Als Otto panisch verneinte, sah ich ihn scharf an. Irgendetwas musste er doch wissen.
„Was genau wissen Sie denn?“
„Na ja, als Benno Corinnas Haare gesehen hat, hat er mir Löcher in den Bauch gefragt. Dann habe ich mich ein bisschen verplappert, und darum geht es bei dem Treffen.“
„Sie sind also schuld? Und wie haben Sie sich verplappert?“
„Als anständiger Ehemann musste ich doch mit meiner Frau prahlen, die noch schöner geworden ist.“
War er extra zu Benno gegangen, um anzugeben und es mir heimzuzahlen, weil ich die ganze Tüte Nägel mitgenommen hatte?
Es war sinnlos, mich bei Otto zu beschweren, denn wir hatten die Einladung bereits erhalten. Und da wir bei Benno als Lehrlinge arbeiten wollten, konnten wir nicht absagen.
„Der Vorwand für das Treffen ist eine Einladung zum Mittagessen. Vielleicht erwartet uns ein Festmahl, Lutz.“
„Oh! Da müssen wir unbedingt hin!“
Lutz wirkte auf einmal richtig motiviert. Für den armen Pöbel war eine luxuriöse Mahlzeit natürlich der perfekte Köder. Um ehrlich zu sein, war ich auch neugierig auf das Essen der Reichen.
Wir sollten zum vierten Glockenschlag vor dem Handelshaus Gilberta sein, hieß es. Aber ich hatte keine Ahnung, wo sich das Handelshaus Gilberta befand.
„Wo ist denn das Handelshaus Gilberta? Das kennen wir nicht.“
„Das ist der Laden von Benno. Im Erdgeschoss bei mir zu Hause.“
Otto wohnte in einem Zimmer über Corinnas Familie, das ihr Bruder für ihn eingerichtet hatte. Corinna war also Bennos Schwester und Benno war ...
„Benno ist Ihr Schwager?“
Otto grinste. Wenn Benno sein Schwager war, wunderte es mich nicht, dass die Information von uns an Benno weitergegeben worden war. Mir verschlug es die Sprache.
Am nächsten Tag zogen Lutz und ich unsere besten Kleider an und machten uns auf den Weg zu Bennos Laden. Nachdem wir den Hauptplatz überquert hatten, wurde die Umgebung immer edler. Lutz war anscheinend noch nie vom Hauptplatz in Richtung Burgmauer gelaufen, denn er sah sich neugierig um.
„Echt Wahnsinn, irgendwie ...“
„Ja, wie eine andere Stadt. Als ich zu Otto gegangen bin, war ich auch ganz erstaunt.“
„Wenn das Stadtbild schon so edel ist, dann erwartet mich bestimmt auch das edelste Essen, das ich je gegessen habe. Ich freue mich so!“
Während Lutz unbeschwert lachte, seufzte ich leise und ermahnte ihn:
„Lutz, achte auf die Tischmanieren. Benno wird sicher ein Auge darauf haben.“
„Hä?! Tischmanieren? Was ist das? Damit kenne ich mich überhaupt nicht aus!“
Ich auch nicht. Genauer gesagt, ich wusste nicht, ob die Tischmanieren, die ich kannte, auch in dieser Welt galten. Aber da gab es nur eine Lösung.