Asche - Marco Theiss - E-Book

Asche E-Book

Marco Theiss

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Beschreibung

Als der traumatisierte Chicagoer Feuerwehrmann Michael in den Flammen eines Großbrandes glaubt, seine verstorbene Ehefrau wiederzusehen, begeht er einen folgenschweren Fehler, der mehreren seiner Kollegen das Leben kostet. In der darauffolgenden Zeit erscheint ihm Nicole immer wieder als geisterhafte Erscheinung in den Flammen. Um sie sehen zu können, sie vielleicht sogar aus ihrer Hölle zu retten, muss Michael das Feuer rufen, statt es zu bekämpfen – und sich schon bald fragen, wie viel er für seine große Liebe zu opfern bereit ist.

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REDRUM

 

 

 

 

Asche

1. Auflage

(Deutsche Erstausgabe)

Copyright © 2021 dieser Ausgabe bei

REDRUM BOOKS, Berlin

Verleger: Michael Merhi

Lektorat: Stefanie Maucher

Korrektorat:

Alida Gersonde / Nicole Schumann

MIMO GRAPHICS unter Verwendung einer

Illustration von Shutterstock

 

ISBN: 978-3-95957-944-5

 

E-Mail: [email protected]

www.redrum.de

 

YouTube: Michael Merhi Books

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REDRUM BOOKS - Nichts für Pussys!

Marco Theiss

Asche

 

Für meine Eltern. Die besten.

 

 

Zum Buch:

 

Als der traumatisierte Chicagoer Feuerwehrmann Michael in den Flammen eines Großbrandes glaubt, seine verstorbene Ehefrau wiederzusehen, begeht er einen folgenschweren Fehler, der mehreren seiner Kollegen das Leben kostet. In der darauffolgenden Zeit erscheint ihm Nicole immer wieder als geisterhafte Erscheinung in den Flammen. Um sie sehen zu können, sie vielleicht sogar aus ihrer Hölle zu retten, muss Michael das Feuer rufen, statt es zu bekämpfen – und sich schon bald fragen, wie viel er für seine große Liebe zu opfern bereit ist.

 

Zum Autor:

 

Marco Theiss wurde 1984 in Frankfurt am Main geboren. Schon früh war er das seltsame Kind, das bei gesellschaftlichen Anlässen stundenlang mit einem Block in der Ecke saß, statt mit anderen Kindern zu spielen.

Mit vierzehn Jahren begann Theiss mit dem Drehen von Kurzfilmen. Nach dem Abitur verschlug es ihn zum Studium nach Köln. Nachdem er zwei Jahre (und zahlreiche geleerte Flaschen Wodka, Whiskey, Bier, Sekt, Wein, Tequila, Rum, Jägermeister, Absinth, Brandy, Flimm, Cognac, Obstler, Likör, Feigling …) später merkte, dass das Studentenleben zwar absolut, das Studium jedoch so gar nicht sein Ding war, begann er, bei Film und Fernsehen zu arbeiten. Die Stimmen in seinem Kopf verstummten jedoch nicht, und so verlagerte er das Schreiben in die Nachtstunden. Zwischen 2012 und 2020 schrieb Theiss Drehbücher für verschiedene Horror- und Actionfilme. Seit 2018 widmet er sich außerdem verstärkt dem Schreiben von Romanen, und hat seitdem den Nordsee-Horror ›Blutige Ebbe‹, und den Action-Thriller ›Scott Kelly in Double The Pain‹ über Books On Demand veröffentlicht. Auch heute – sagen seine Nachbarn – hört man nachts noch häufig das Tippen der Tastatur und das Klirren geleerter Flaschen aus seiner Wohnung.

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Nachwort

VERLAGSPROGRAMM

 

 

Marco Theiss

Asche

Horror

 

Mag sein, dass der Teufel in der Hölle herrscht. Aber das Feuer ist die Hölle.

Kapitel 1

Michael bekämpfte das Feuer seit fünfzehn Jahren, hatte es unzählige Male zurückgedrängt, doch es kam immer wieder. Die Menschen luden es zu sich ein und waren davon fasziniert, seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal zwei Stöcke aneinander gerieben und es beschworen hatten. Sie genossen es, Macht darüber zu haben, wie sie es genossen, Macht über alles Mögliche zu haben. Das Land, das Wasser, die Luft, die Tierwelt … Doch schon eine Kleinigkeit reichte – ein Biss des eigenen Schoßhunds, ein Verirren im Wald abseits der Wege, eine Strömung, die einen hinaus ins offene Meer zog, oder der Ausfall einer Flugzeugturbine in zehntausend Metern Höhe –, und das Machtgefühl war dahin. Manchmal genügte schon ein kleiner Funke.

Wir glauben, uns das Feuer untertan gemacht zu haben, halten es in unseren Kaminen wie einen Hund an der Kette eines Schrottplatzes. Sperren es in kleine Gefängnisse aus Wachs mit Docht und lassen es an ausgetrockneten Weihnachtsbäumen brennen, als würde es nicht Jahr für Jahr ganze Wälder verzehren.

Es knackt und knistert, zerstört das Holz, welches wir damit entfachen, verändert es, bewegt es – und verändert und bewegt gleichsam sich selbst. Versucht, vom steinernen Kamin aus, den flauschig-weichen Teppich zu erreichen, den wir davor ausgebreitet haben, damit unsere Kinder auf dem Boden spielen können. Es kämpft darum, die Macht, die wir uns genommen haben, zurückzugewinnen. Mit Schürhaken und Feuerlöscher fühlen wir uns stark und sicher. Glauben, es zurückdrängen zu können, wann immer wir wollen.

Michael kannte die andere Seite. Er wusste, wie es ist, wenn das Feuer den winzig kleinen Sprung über den Teppichrand schafft. Wenn es Baumwolle und Kinder zu fassen bekommt und zu Asche verbrennt. Wenn es Muskeln und Zähne zeigt und innerhalb von Sekunden um sich greift. Erst einmal entkommen, schlägt es seine Zähne und Klauen in alles um sich herum. Holz, Stoff, Plastik, Fleisch … Es frisst sogar die Luft, verbrennt sie und ersetzt sie durch seinen giftigen schwarzen Atem.

Um Macht geht es zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Nur noch um Leben und Tod. Wer noch kann, versucht, der Hölle zu entkommen, so wie es in der Kirche gepredigt wird. Aber es gibt auch die, die nicht an die Hölle glauben. Jene, die das Feuer bekämpfen und es zurückdrängen.

Michael war einer von ihnen gewesen. Einer der tapferen Männer, die rein rannten, während alle anderen flüchteten. Einer, der die Flammen mit Axt und Schlauch bekämpfte, um Leben zu retten.

Bevor er es erkannt hatte …

Bevor er begonnen hatte, sein Leben aus anderen Gründen in den Flammen zu riskieren, weil er glaubte, dass er ihnen nicht nur Leben, sondern auch Seelen entreißen könnte. Ein Gedanke, der ihn zu Verzweiflungstaten getrieben hatte.

Als er jetzt von oben auf Nicole herabsah, die aus der Tür des riesigen alten Fabrikgebäudes trat, nackt, und den Flammen entkam, die ihn einschlossen, wagte er es, ein letztes Mal zu hoffen.

 

Kapitel 2

Schon lustig, dass eine Melodie manchmal nach Erinnerung klingen kann.

Als Michael die Liebe seines Lebens zum ersten Mal geküsst hatte, lief I’m on Fire im Radio. Bruce Springsteen. Der Boss hat ein besonderes Talent dafür, Musik nach Erinnerung klingen zu lassen, selbst wenn man noch nie etwas Besonderes dazu erlebt hat. Seine Melodien klingen nach Mama, die zum Essen rein ruft. Nach Papa, der von der Arbeit nach Hause kommt. Nach der ersten Fahrt im eigenen Auto oder alten Freunden, die man ewig nicht gesehen hat. Und nach ersten Küssen. Den ersten verstohlenen unter der Tribüne des Footballstadions, den ersten wilden auf einer Party, den ersten unwichtigen auf dem Rücksitz eines Autos – und nach dem ersten echten.

Der Kuss mit Nicole war einer von den echten gewesen. Wenn Michael zurückdachte, war es vielleicht der einzige echte erste Kuss gewesen, den er je bekommen hatte.

Sie war ihm in einer Bar aufgefallen, als er abends mit Kollegen nach einer harten Woche mit ein paar Bier ins Wochenende starten wollte. Als Feuerwehrmann in Chicago war jede Woche eine harte Woche und so war das Durstlöschen nach dem Feuerlöschen zu einem festen Ritual geworden. Die Tagschicht übergab die Wache an die Nachtschicht und zog gesammelt los ins O’Malleys.

Der Pub lag nur zwei Blocks von der Wache entfernt und war so irisch, wie sich die Feuerwehrleute nach den ersten zwei Pints Guinness fühlten. Für die Familienväter unter ihnen war das meist schon irisch genug und den Rest des Abends überließen sie ihren ungebundenen Kollegen das Feld.

Für Michael und die Übrigen konnte es gar nicht irisch genug sein. Zu keltischen Folk-Rock-Klängen tanzten und grölten sie, bis der Wirt sie nachts um drei vor die Tür kehrte und hinter ihnen abschloss, um zu verhindern, dass sie auf der Ferse umdrehten und wieder zurück an den Tresen stürmten.

Drinnen gab sich das O’Malleys Mühe, zum Verbleiben einzuladen. Tresen und Sitznischen waren aus altem, nachgedunkeltem Holz, Bänke und Stühle mit dunkelgrünen Polstern bezogen. Das Licht war spärlich, aber warm. Die Glühbirnen unter kupfernen Lampenschirmen gefangen, die die Lichtstrahlen bronzefarben nach unten in die Tischmitte schickten, aber alles rundherum der Dunkelheit einer Bar überließen, in der man sich gut volllaufen lassen konnte, ohne sich beobachtet vorzukommen. Als ›freundliche Schatten‹ hatte Kris Kristofferson diese schummrigen Bereiche einst in einem seiner Songs bezeichnet, und jeder Trinker wusste, was er gemeint hatte.

Entlang dreier Wände verliefen Regalbretter unterhalb der Decke, mit einer beachtlichen Sammlung leerer Whiskeyflaschen aus aller Welt. An der vierten Wand, hinter dem Tresen, hing das Brett tiefer und in den Flaschen glitzerte es gold-gelb bis bräunlich. Den Kern der Sammlung bildeten irische Whiskeys, doch auch Scotch und Bourbon wurden ausgeschenkt. An den Wänden hingen Schwarzweißfotografien irischer Musiker. Die Dubliners in all ihren Besetzungen. Die Bilder dokumentierten, wie aus jungen bärtigen Männern alte bärtige Männer geworden waren. Phil Lynott – der wenig Glück mit dem Altwerden gehabt hatte, als es ihn mit sechsunddreißig Jahren aus dem Leben gerissen hatte – und seine Jungs von Thin Lizzy vereinnahmten eine ganze Ecke des Pubs. Vollkommen zu Recht, wie Michael fand. Er war seit seiner Jugend ein großer Fan der Truppe und war froh, einen Laden in Chicago gefunden zu haben, in dem sie Lizzy nicht nur an den Wänden, sondern auch bei der allabendlichen Musikauswahl huldigten.

Wie oft hatten Michael und seine Kameraden ihren Whiskey zu Whiskey in the Jar gekippt oder The Boys are back in Town mit gegrölt, als hätte Lizzy den Song für sie geschrieben. Er war zur heimlichen Hymne der Wache 7 geworden.

An einem dieser Freitagabende hatte Michael sie zum ersten Mal gesehen. Die Tür war aufgegangen, der schwere, grüne Windfang dahinter zur Seite geschoben worden und drei Frauen hatten den Pub betreten. Michael hatte nur eine von ihnen wahrgenommen. Als würden die in Kupfer geschlagenen Glühbirnen über der jungen Frau nur für sie scheinen, ihr warmes Licht gebündelt auf ihre blonden Locken vergießen und sie durch den Raum begleiten, während alles um sie herum in den freundlichen Schatten versank. Ihr Lächeln zog ihn sofort in seinen Bann. Die strahlend weißen Zähne, die hinter den vollen, roten Lippen hervorblitzten. Die kleinen Grübchen, die sich dabei in ihren Wangen bildeten. Das Funkeln ihrer blauen Augen …

Michaels Blick haftete an ihr, folgte ihr durch den Raum bis zum Tresen. Ihre schmalen Schultern steckten in einer braunen Lederjacke, ihre langen Beine in einer engen Bluejeans, deren Stoff im Schaft brauner Cowboystiefel verschwand. Sie bestellte mit drei ausgestreckten Fingern Getränke für sich und ihre Freundinnen. Mehrere Ringe blitzten an ihrer Hand. Michael hoffte, dass keiner davon ein Ehering war. Doch selbst das hätte ihn nicht davon abgehalten, diese Frau anzusprechen. Und auch wenn er nicht an Liebe auf den ersten Blick glaubte, war er auf Anhieb in sie verschossen.

Werde ich in ein paar Jahren diese schmalzige Formulierung benutzen, wenn ich meinen Kindern erzähle, wie Mama und Papa sich kennengelernt haben?, schoss es ihm durch den Kopf. Dann erlosch der Scheinwerfer über dem Kopf des Mädchens. Der schönste Anblick in Michaels Leben wich einer breit grinsenden, knallroten Visage. Er schrak zurück, obwohl Ray Brown, der sich in sein Gesichtsfeld rückte, ein gut aussehender Kerl war, der auf Frauen häufig eine ähnliche Wirkung hatte wie die hübsche Blondine auf Michael. Ray hatte ein markantes Gesicht mit rehbraunen Augen und einen Körper, der ihn schon drei Mal oben ohne in den Kalender der heißesten Feuerwehrmänner des Landes gebracht hatte.

»Hörst du mir zu?«, fragte Ray, der nicht sicher war, ob er Michaels Aufmerksamkeit hatte.

»Sorry, war grad in Gedanken«, gestand Michael.

Ray blickte über die Schulter rüber zum Tresen, fand die drei hübschen Neuankömmlinge. Er pfiff leise durch die fast geschlossenen Lippen.

»Verstehe«, sagte er angetan. »Aber ich fürchte du denkst zu viel.«

Michael sah ihn fragend an. Ray machte einen Schritt zur Seite, gab den Blick auf das Objekt von Michaels Begierde wieder frei – und auf den Typen im Anzug, der bereits zum Angriff übergegangen war. Er hatte sich ausgerechnet Michaels hübsche Blondine ausgesucht und es irgendwie geschafft, in dem kurzen Moment, in dem Ray die Sicht versperrt hatte, an zwei Gläser Sekt heranzukommen. Eines reichte er ihr gerade, um mit ihr anzustoßen.

»Aber zwei sind ja noch übrig«, sagte Ray und begutachtete die beiden Brünetten. »Hast du es auf eine Bestimmte abgesehen oder nimmst du einfach die, die ich übrig lasse?«

»Schon okay. Kannst beide haben.«

Ray winkte ab und meinte: »Eigentlich wollte ich vor allem mit dir anstoßen.« Er drückte Michael ein neues Guinness in die Hand und stieß klirrend mit seinem Glas dagegen. »Auf uns«, sagte Ray, »und die wahre Liebe unter Männern.«

Michael lächelte. Ein bisschen müde zwar, aber er gab die Schuld zu gleichen Teilen der harten Woche und der Ernüchterung, zu langsam gewesen zu sein.

»Noch drei davon und die Weiber sehen eh alle gleich aus«, scherzte Ray und nahm einen kräftigen Schluck.

Michael sah zu der hübschen Blonden und nickte abwesend.

»Hast recht«, sagte er, doch diesmal glaubte er nicht daran.

***

Zwei Bier und ein Whiskey in the Jar mit passendem Drink später, fand Michael seine Traumfrau wieder. Sie trotzte seinem steigenden Promillewert und der Vorhersage seines Kumpels und stach noch immer aus der Menge heraus. Der schmierige Anzug an ihrer Seite war einem Glatzkopf in weißem Hemd gewichen, der neben ihr am Tresen stand; seine polierte Kugel dicht an ihrem Gesicht, sprach in ihr Ohr.

»Fuck«, knurrte Michael vor sich hin.

Vielleicht sollte ich mich einfach in die verdammte Warteschlange einreihen.

Inmitten seines genervtesten Blickes schaute sie plötzlich zu ihm. Michael stand sofort gerade, machte fast einen Hüpfer in Saluthaltung, und seine Mundwinkel gingen von steil unten nach oben. Er versuchte, sich zu bremsen, bevor sein Lächeln zu einem absurd breiten Grinsen werden konnte. Es misslang, was er daran erkannte, dass sie kurz kicherte, was den Glatzkopf dazu brachte, sie überrascht anzusehen. Was auch immer er ihr ins Ohr geflüstert hatte, war also nicht der Grund für ihre Heiterkeit.

Sie lacht über dein blödes Verhalten!, wurde es Michael bewusst. Idiot!

Ihr Lachen wurde noch breiter. Seine Mimik musste ihn erneut verraten haben. Konnte sie ihm seinen inneren Konflikt ansehen, trotz der Distanz und der freundlichen Schatten?

Er kniff die Augen zusammen, nahm sich einen Moment, um über sich selbst zu lachen. Dann sah er wieder auf und schenkte ihr ein verlegenes, aber ehrliches Lächeln. Der Glatzkopf stand direkt neben ihr und sabbelte immer noch, doch sie bemerkte es trotzdem, verdrehte gespielt genervt die Augen und lächelte ebenso ehrlich zurück. Michael machte sich auf den Weg, schlenderte zwischen den Gästen hindurch und kam vor ihr zum Stehen. »O mein Gott, du bist es wirklich!«, freute er sich lautstark und breitete die Arme aus. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!«

Sie lachte und nahm den ausgeworfenen Rettungsring an, schob den Glatzkopf beiseite, machte die letzten drei Schritte auf Michael zu und warf sich in seine Arme.

»Ich glaub es ja nicht«, spielte sie begeistert mit. »Wie lange ist das her?«

Sie umarmten einander fest und sie nutzte die Gelegenheit, um ihm zuzuflüstern: »Ich bin Nicole.«

»Michael«, entgegnete er ebenso leise, bevor sie sich von ihm löste, sich dem Glatzkopf zuwandte und sagte: »Michael, das ist …« Sie stockte. »Sorry, wie war noch mal dein Name?«

»Brad«, rief sich der Glatzkopf in Erinnerung.

»Ja, richtig. Mike, das ist Brad.«

Michael streckte ihm die Hand hin und sagte: »Freut mich, Matt.«

»Brad«, wiederholte der Glatzkopf lauter und mit mehr Nachdruck.

Schon wandte sich Nicole wieder ihrem alten Bekannten Michael zu und forderte ihn auf: »Erzähl mal: Wie gehts dir? Was macht das Leben? Gott, ich kann nicht glauben, dass wir uns hier wiedersehen!«

Sphärische Synthesizerklänge lösten die Fideln und Gitarren der Dubliners ab, aus In the rare old times wurde I’m on fire.

»Das ist unser Lied!«, log er spontan und begeistert.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen, während er sie abermals fest an sich zog und der Boss zu singen begann.

»Erinnerst du dich?«, hakte er nach. »Dabei haben wir uns zum ersten Mal geküsst.«

Der Glatzkopf verzog sich genervt, was sie erneut zum Kichern brachte. Dann schloss sie die Augen, neigte den Kopf etwas zur Seite, den Mund leicht geöffnet – und drückte ihre Lippen sanft und weich auf seine. Für eine Sekunde spürte er ihre Zunge. Sie strich sanft über seine Lippen. Dann war es vorbei.

Als Michael seine Augen wieder öffnete, sah Nicole ihn an und sagte: »Ich wollte nicht, dass das eine Lüge bleibt!«

Kapitel 3

Einmal mehr schob sich Ray Brown in sein Blickfeld, doch diesmal nicht in Michaels Erinnerung. Ray riss ihn aus ihr heraus. Raus aus dem O’Malleys. Raus aus Nicoles Umarmung zurück zu dem kalten, ungemütlichen Ruckeln des Feuerwehr-Trucks.

Das Signalhorn blies durch die Straßenschluchten, scheuchte Autos aus dem Weg und ließ Fußgänger auf Bürgersteigen erstarren. Jede Minute zählte. Irgendwo brannte es. Menschen waren in Gefahr. Andrew Parks jagte den tonnenschweren Truck mit sechzig Meilen durch die Stadt und das Letzte, was sie in dieser Situation brauchen konnten, war ein Fußgänger, der vor den Rettungskräften die Straße kreuzte. Der rot-blaue Schein der Signallichter, die vorn und hinten auf dem achtzehn Meter langen Truck montiert waren, wurden von den Wänden und Scheiben der Häuser reflektiert und verwandelten jede Straße, in die sie einbogen, für einen Moment in eine Diskothek. Michael hatte sich vom monotonen Heulen des Horns und dem Spiel der Lichter davontragen und in die Vergangenheit entführen lassen.

»Alles klar, Mike?«, fragte Ray und sah ihn mit bohrendem Blick an. Mit einem Nicken würde er sich nicht zufriedengeben.

»Ich bin okay«, bestätigte Michael nickend und sah sich im Innenraum um. Die Augen seiner Kollegen waren auf ihn gerichtet. Alle, außer die von Andrew Parks, der völlig auf die Straße konzentriert war. Jetzt, da er sie bemerkt hatte, wendeten sie die Blicke verstohlen ab und sahen aus dem Fenster oder zu Boden. Nur Rays Aufmerksamkeit blieb ihm.

»Es ist das erste Mal, dass du wieder mitfährst, seit …« Er stockte. »Die Jungs machen sich nur Sorgen um dich.«

Das wusste Michael und auch, dass er voll da sein musste, zu seinem Wohl und dem seiner Kollegen. Jede kleine Unachtsamkeit, jeder Fehler, konnte in den Flammen Menschenleben kosten. Michael war sich nicht sicher, ob er je wieder ganz der Alte sein würde, aber er fühlte sich bereit. Außerdem musste er raus. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf. Er konnte nicht mehr länger untätig herumsitzen, Tag und Nacht nur mit finsteren Gedanken. Das machte alles nur schlimmer. Also hatte er eine Entscheidung getroffen und am frühen Nachmittag zum ersten Mal seit zwei Monaten seinen Dienst angetreten. Die Kollegen hatten ihn freudig in Empfang genommen, ihm auf die Schulter geklopft, sich gefreut, dass er zurück war. Alle waren bemüht gewesen, gute Laune zu verbreiten und niemand hatte sich erkundigt, wie es ihm ging oder ob er bei irgendetwas Hilfe bräuchte.

Die Stimmung hier und jetzt im Truck war eine andere. Klar, die Anspannung war bei jeder Einsatzfahrt zu spüren, aber für gewöhnlich versuchten die Jungs, sie hinter lockeren Sprüchen zu verbergen. Heute fuhr sie ungetarnt mit und Michael wusste, dass er der Grund dafür war. Seine physische Abwesenheit in den letzten acht Wochen, aber auch seine gedankliche Abwesenheit in den letzten Minuten, während derer er aus dem Fenster und in die Vergangenheit geblickt hatte. Wahrscheinlich sogar gestarrt.

Er war immer einer gewesen, auf den man zählen konnte. Seine Freunde, seine Familie, Nicole und seine Kollegen. Hätte man vor zwei Monaten im Truck gefragt, wen man sich im schlimmsten Feuer an seiner Seite wünschen würde, rechnete er sich gute Chancen aus, dass vier von ihnen seinen Namen genannt hätten. Nur Diego Ortiz auf dem Beifahrersitz hätte sicherlich »Gott« geantwortet. Wie zur Bestätigung küsste dieser gerade das silberne Kruzifix, das an der Kette um seinen Hals hing. Im Moment jedoch war Michael das große Fragezeichen. Zwei Monate war er nicht ins Feuer gerannt. Sie hatten Zweifel, ob sie in den Flammen auf ihn zählen konnten. Michael machte ihnen deswegen keinen Vorwurf. Parks und Ortiz hatten Familie. Martin Birch auf dem Sitz Michael gegenüber stand kurz vor seiner Hochzeit. Sie alle hatten etwas zu verlieren. Selbst Ray, der ewige Junggeselle, liebte sein Leben so sehr, dass Michael ihn diesbezüglich nicht hintenanstellen wollte. Ein Leben war ein Leben. Und die fünf Menschen, die mit ihm im Truck saßen, waren ihm fünf der liebsten. Er würde seine Jungs nicht enttäuschen.

Als Michael wieder aus dem Fenster blickte, sah er das Glühen des Feindes hinter den Häusern auf seiner Seite. Die mehrstöckigen Bürogebäude waren zu hoch, als dass er die Flammen dahinter hätte sehen können, doch die Hitze spie einzelne Funken hoch in den dunklen Nachthimmel, wo sie sich für einen flüchtigen Augenblick als rote Sternschnuppen zu tarnen versuchten, dabei wie ein Raubvogel nach unten spähten, auf der Suche nach neuer Beute, auf die sie sich stürzen konnten, um das Herrschaftsgebiet des Feuers zu vergrößern.

»Da!«, machte er die anderen auf den Brand aufmerksam und klopfte mit der Fingerspitze gegen die Scheibe. Ray und Martin rückten zu ihm rüber, um aus dem Fenster zu blicken und Michael war froh, ihre Aufmerksamkeit diesmal aus professionellen Gründen gewonnen zu haben.

Andrew trat hart auf die Bremse, zog das Lenkrad nach rechts und bog in die nächste Straße ein. Er war ohne Frage einer der besten Fahrer, die Michael in seinen fünfzehn Dienstjahren kennengelernt hatte, und er hatte das Glück, mit Rick Powell einen ebenso waghalsigen wie sicheren Partner gefunden zu haben, der das Lenkrad der Achse am Ende des Trucks bediente. Der schwere Truck fuhr dank des eingespielten Teams in einem Tempo um die Kurve, in dem Michael es sich mit einem Pkw kaum getraut hätte.

Das Horn blies erneut durch die Straße, fegte mehrere Autos an den Straßenrand und machte ihnen den Weg frei. Andrew gab Vollgas, jagte den Truck durch den Korridor in der Mitte.

Dann sahen sie es: das Feuer. Es war im dritten Stockwerk ausgebrochen und kletterte die Etagen eines fünfzehnstöckigen Bürogebäudes hinauf. Rauch und Flammen hangelten sich aus zerplatzten Fenstern an der Fassade entlang, mit langen, rot-schwarzen Fingern.

»Scheiße«, sagte Ortiz leise und bekreuzigte sich eilig.

»Mach ein Kreuz für mich mit«, bat Ray, der über Ortiz’ Schulter hing, um einen besseren Blick zu haben. Die Flammen waren da. Die Schaulustigen auch. Nur die Feuerwehr noch nicht.

»Okay, Männer«, übernahm Martin Birch das Kommando. »Anscheinend sind wir früh dran. Leiter raus und volle Montur. Die anderen sind bestimmt in ein paar Minuten da. Die sollen dann hier draußen übernehmen und wir gehen rein. Das Feuer hängt tief. Dritte Etage, vielleicht auch noch eine weiter unten. Wir richten die Einsatzzentrale im Erdgeschoss ein und steigen von da aus auf. Fragen?«

Es gab keine. Die Abläufe waren tausendfach erprobt. Jeder wusste, was zu tun war. Sekunden später brachte Andrew den Truck in der Straßenmitte zum Stehen. Die Männer stiegen aus und betrachteten die Wand aus Flammen.

»Das wird hässlich«, sagte Ray.

Eine Fensterscheibe in einem der oberen Stockwerke zerbarst und ein Glasregen ging klirrend auf den Bürgersteig nieder. Durch die plötzliche Luftzufuhr angefacht, schoss eine flammende Zunge aus dem Fenster. Der Anblick erinnerte Michael an die Kunst eines Feuerspuckers. Die Feuerzunge wurde aus dem Gebäude geblasen, trennte sich vom Körper des Hauses, stand einen Moment in der Luft und verpuffte schließlich im Nichts. Eine wunderschöne Demonstration der Schwerelosigkeit dieses roten Monsters. Das Feuer schien sämtlichen Naturgesetzen zu trotzen. Es stieg nach oben wie nach unten, es erlosch, nur um überraschend an einer anderen Stelle wieder aufzuflammen. Das Feuer schickte seine Funken hinauf in den Nachthimmel, sandte sie auf die Reise wie Sporen von Pflanzen, um sich auszubreiten. Von hier unten glichen sie einem Schwarm Glühwürmchen, nur dass sie wirklich glühten, während sie wunderschön vor dem Schwarz des Himmels tanzten. Der Wind trieb die kleinen Flieger vor sich her. Michael glaubte, sie würden schneller werden, als sie in alle Richtungen stoben – und so noch lebendiger wirkten, da sie auf die Schwenkleiter reagierten, die zwischen ihnen in die Höhe wuchs. Wie lebende Wesen auf der Flucht vor einem riesigen, bedrohlichen Fressfeind – und irgendwie war sie das ja auch.

Mit einem Mal verschwand das faszinierende Naturschauspiel aus ›Fressen und gefressen werden‹ und Michael starrte in sein eigenes Gesicht, umgeben vom Feuer. Es spiegelte sich in der Atemmaske eines Kollegen, als dieser zwischen ihn und das brennende Gebäude trat.

»Mike, verdammt! Mach dich fertig!«, fuhr Ray ihn an.

Michael sah sich um. Zwei weitere Löschfahrzeuge waren angekommen. Feuerwehrleute schwärmten um ihn herum wie emsige Ameisen. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Jeder Handgriff saß. Und Michael tat nichts, außer in die Flammen zu starren.

Wie lange habe ich tatenlos herumgestanden, während meine Kollegen ihre Sauerstoffgeräte anlegten und die Leiter ausfuhren?

Er wusste es nicht. Ray versetzte ihm einen kräftigen Schlag gegen die Schulter. Michael sah wieder nach vorn, fand sein Gesicht erneut in Rays Atemmaske. Die Flammen, die ihn eben noch in der Spiegelung umgeben hatten, waren verschwunden. Natürlich waren sie das! Das Feuer loderte hinter Ray. Wenn Michael sich in der Maske spiegelte, konnten die Flammen es unmöglich tun. Sie waren nur in seinem Kopf gewesen. Hatten sich aus seinen Gedanken für einen kurzen Moment in die Wirklichkeit geschummelt, als beide Welten im Übergang Sekundenbruchteile miteinander verschmolzen waren.

»Kommst du klar?«, fragte Ray mit Nachdruck.

Michael nickte und marschierte unter der ausgefahrenen Leiter hindurch zurück zum Truck, wo die anderen Kollegen sich gerade fertig machten. Ortiz sattelte ihm eine Sauerstoffflasche auf den Rücken und drückte ihm die dazugehörige Maske in die Hand. Michael legte sie an, inhalierte das Sauerstoffgemisch, schmeckte die dröge Luft aus dem Tank, die ihn im Inferno am Leben erhalten würde. Er setzte seinen Helm auf, zog die feuerfesten Handschuhe an und ballte die Hände zu Fäusten, um wieder ein Gefühl für die Steifheit des Stoffs zu bekommen. Dann griff er sich eine der Äxte aus dem Verschlag in der Seite des Trucks. Er war bereit!

Seine Kollegen warteten schon. Er wandte sich ihnen zu, erblickte sie durch den leichten Schleier der Schutzbrille. Die fünf Männer standen in voller Ausrüstung da, zeichneten sich als schwarze Silhouetten vor dem lodernden Rot ab, das hinter ihnen in den Himmel wuchs. Männer und Flammen standen ihm gegenüber, erwarteten ihn gleichermaßen und erinnerten ihn an Abbildungen der Hölle. Schwarze Schatten vor Wänden aus Feuer. Gefangene Seelen im ewigen Fegefeuer.

Michael wich einen Schritt zurück.

Einer der Schatten trat auf ihn zu. Michael machte erneut einen Schritt nach hinten, spürte die Seitenwand des Trucks im Rücken. Der Schatten streckte die Hände nach ihm aus, packte seine Schultern, schüttelte ihn.

Mit einem Mal war Michael wieder voll da.

»Reiß dich zusammen!«, fuhr Ray ihn an.

Michael konnte die rehbraunen Augen seines Freundes hinter der Schutzbrille sehen. Es war keine Wut in ihnen, nur Sorge.

Was Ray wohl gerade in meinen sieht? Angst? Panik?

»Letzte Chance, draußen zu bleiben«, verdeutlichte Ray. »Keiner wird es dir übel nehmen.«

Auf keinen Fall! Ich habe eine Verabredung mit diesem rot glühenden Monster. Eine, die ich schon viel zu lange aufgeschoben habe. Diesmal ist es etwas Persönliches.

Er umklammerte den Stiel der Axt, das Instrument seiner Rache, und marschierte an Ray vorbei.

Ray sah ihm nach, wie er auf Kollegen und Feuer zu stapfte. Michaels beherztes Auftreten konnte die Sorge nicht aus seinem Blick vertreiben, denn was Ray in den Augen seines Freundes gesehen hatte, war eine große Leere. Und die Flammen des Feuers, die sich in seinen Pupillen gespiegelt hatten, als würden sie versuchen, diese Leere zu füllen. Doch er kannte Michael und wusste, dass er ein harter Hund war – und er vertraute ihm. Wenn es da drinnen ernst wurde, würde er schon klarkommen. Er heftete sich an seine Fersen.

»Also gut, dann wollen wir mal!«, spornte Michael seine Kameraden an, als er sie erreicht hatte.

Während von außen die Löscharbeiten begannen, marschierten sie auf die gläserne Eingangstür zu.

Kapitel 4

In den Hallen und Korridoren des Erdgeschosses trafen sie auf Kollegen, die Sauerstoffflaschen in die Nähe des Treppenhauses schleppten und dort ein Lager einrichteten, für die Männer, die nach oben stiegen, um nach Eingeschlossenen zu suchen und das Feuer von innen zu bekämpfen. Oben in den Flammen konnten sie nur überleben, solange sie atmen konnten. Wenn sich ihr Sauerstoffvorrat dem Ende neigte, hieß es, raus aus der Hölle aus Feuer und Rauch. Je kürzer sie dann die Laufwege hielten, desto weniger kostbare Atemluft verschwendeten sie, auf dem Weg aus dem Feuer und wieder zurück hinein. Und umso länger konnten sie oben ihren Job machen und Leben retten.

Für gewöhnlich breitete sich ein Feuer nach oben aus. Einsatzzentrale und Materiallager zwei Stockwerke unter dem Brandherd einzurichten war das übliche Vorgehen beim Einsatz in Hochhäusern. Im Allgemeinen ein sicherer Rückzugsort für Verschnaufpausen und Materialaufrüstung. Zumindest solange das Feuer nicht sämtliche Gesetze der Physik aushebelte.

Michael, Ray und die anderen fanden das Treppenhaus und begannen den Aufstieg.

Michael ließ sich ans Ende der Gruppe zurückfallen. Er hatte in den vergangenen zwei Monaten das Training ebenso schleifen lassen wie sein Leben und spürte zum ersten Mal seit seinen Anfangstagen bei der Feuerwehr wieder die fünfunddreißig Kilo seiner Ausrüstung, die an ihm zerrten. Aufwärts mit Zusatzgewicht in brandfester Kleidung in einem Gebäude, in dem das Feuer seine eigene Klimazone geschaffen hatte. All das machte ihm deutlich stärker zu schaffen als sonst.

Ich bin zwar nicht in Topform, aber immer noch besser als viele meiner Kollegen. Obwohl … selbst Martin stapft vornweg, mit mindestens zwanzig Kilo mehr auf den Rippen und ohne je ein Fitnessstudio von innen gesehen zu haben.

Michael hatte viel getrunken in den letzten sechzig Tagen. Zu viel. Hatte Frust und Kummer im Alkohol ertränkt, letztmals gestern Abend. Sicher spielte auch das eine Rolle. Er hatte sich zwar vorgenommen, nicht zu trinken, aber am Abend, als er nicht schlafen konnte, war er doch bei Bier gelandet, was ihn schließlich zum Schnaps führte. So hatte sein Körper jetzt nicht nur mit den äußeren Umständen zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst.

Das Saufen muss aufhören!

Auch auf diesem Weg war die Rückkehr ins Arbeitsleben Michaels erster Schritt. Er konnte seinen Job nicht besoffen ausüben. Auch nicht verkatert. Dieser erste Arbeitstag war die Bestätigung dafür. Er musste all seine Kraft aufbieten, um nicht den Anschluss zu verlieren.

Die Luft wurde dicker. Michael musste sie zwar nicht atmen, doch er sah die ersten Rauchschlieren im Raum hängen, wabernd, einander suchend und sich zu Schleiern zusammenschließend. Eingesperrt hinter seiner Atemmaske, das Pumpen der sauberen Luft bei jedem Atemzug im Ohr, fühlte er sich plötzlich eingeengt.

Der Trupp erreichte das dritte Stockwerk und mit einem Mal war alles anders. Noch hielt sich das Feuer an die Gesetze der Physik, war ihnen nicht nach unten entgegengekommen, sondern hatte nur die kleinen Rauchschwaden als Vorhut geschickt. Hier oben wartete es auf sie. Sie sahen es noch nicht, aber sie wussten, dass es da war. Es lauerte. Rauch füllte die Korridore und stieg das Treppenhaus nach oben wie einen Kamin, um auch in den höheren Etagen die Luft zu vergiften.

Das Zischen von Michaels Atemmaske schwoll zu einem fast ohrenbetäubenden Lärm an, der ihn noch weiter von der Umwelt abschottete. Hatte er sich ein Stockwerk tiefer gerade noch eingeengt gefühlt, so war das Gefühl jetzt Wirklichkeit. Es gab nur noch die Welt unter dieser Maske. Das kleine Sichtfenster nach draußen. Das zischende Pumpen des Sauerstoffs, das in dieser Welt sein ständiger Begleiter sein würde. Das Drücken des Halteriemens am Hinterkopf und oberhalb der Ohren, das ihm in Erinnerung rief, wie begrenzt seine Welt zu allen anderen Seiten hin war.

Seine Atmung wurde schneller. Nicht gut! Er schob es auf die Anstrengung des Aufstiegs, doch in den hinteren Ecken seines Kopfes, irgendwo da, wo der Riemen gegen ihn presste, wusste er, dass es mehr als nur das war. Es war Angst. Verzweiflung. Ohnmacht. Nicht die Art, bei der man das Bewusstsein verlor, die Augen schloss und zusammenklappte, sondern die, bei der man im Angesicht einer zu großen Aufgabe verzweifelte und in völliger Untätigkeit erstarrte. Er durfte sie nicht zulassen!

Der Trupp verschwand um eine Ecke. Michael war allein. Es war nur eine Sekunde, doch der einsame Moment schien ihn tiefer in das dunkle Loch zu reißen. Jeder Atemzug dröhnte mit einem Mal noch lauter in seinen Ohren, schottete ihn ab.

Reiß dich zusammen, Mann!

Er bog um die Ecke, sah seine Jungs wieder. Sie öffneten links und rechts des Flurs Türen, mal mit einem Ziehen am Griff, mal mit einem beherzten Tritt. Sofort nutzte der Rauch seine Chance, waberte unter der Decke entlang, tauchte elegant unter dem Türrahmen hindurch, um sich die frische Luft in den neu entdeckten Räumen einzuverleiben.

Er ist wie der Blob, dachte Michael, an einen Horrorklassiker seiner Kindheit erinnert. Versucht, sich restlos alles einzuverleiben … Zusammen mit dem Rauch verschwand je einer der Feuerwehrmänner in jedem neu geöffneten Raum und durchsuchte ihn nach Eingeschlossenen, die vielleicht darin Schutz gesucht hatten. Michael wusste, dass seine Kollegen in jeden Raum hineinschrien, um auf sich aufmerksam zu machen, doch das Einzige, was er hörte, war das Rauschen seiner eigenen Atemmaske.

Martin verschwand einige Meter vor ihm durch eine Tür, Ortiz auf der gegenüberliegenden Seite. Michael rückte vor, war jetzt mit Ray in der Mitte der Truppe. Andrew und Rick erreichten die nächsten beiden Türen, übernahmen jeweils eine und holten mit ihren Äxten aus. Fast synchron schlugen sie zu, trafen beide perfekt. Die Oberseiten der Äxte trafen wie Rammböcke auf die Türgriffe und brachen sie aus dem Holz.

Die Türen schwangen auf und plötzlich war es da.

Das Feuer griff nach draußen, unter dem Türrahmen hindurch, schnalzte unter der Flurdecke entlang wie eine glühende Peitsche. Andrew und Rick zogen die Köpfe ein, ließen die Peitschenhiebe über sich hinweg ins Leere schlagen.

Rauchgasexplosionen – Backdrafts!

Das Feuer hatte in beiden Räumen gewartet, dort allen Sauerstoff verbrannt und sich dann schwelend unten auf den Boden gekauert, während es sich weiter oben, unter der Zimmerdecke, in Gas verwandelt hatte, um nicht zu ersticken, wie es die Flammen taten. So hatte es gewartet, bis der leergebrannte Raum dazwischen wieder mit Sauerstoff gefüllt wurde, von dem es zehren konnte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte es sich den Bauch damit vollgeschlagen, als Rick und Andrew die Türen öffneten, und war sofort auf die beiden losgegangen.

Für einen Moment trafen sich die Feuerzungen aus beiden Räumen in der Mitte des Flurs, umschlangen einander.

Michael musste an Nicoles Zunge in seinem Mund denken. Es war der gleiche flüchtige Moment wie bei ihrem ersten Kuss. Dann war auch das Züngeln der beiden Backdrafts vorbei. Sie schafften es nicht, sich zu einem neuen, größeren Feuer zu verbinden und zogen sich zurück in ihre jeweiligen Räume.

Andrew und Rick rückten nach, verfolgten das Feuer nach drinnen, wie ein wildes Tier, auf das sie Jagd machten.

»Wir brauchen ’ne Leitung!«, schrie Ray und drängte Michael zurück in Richtung Treppenhaus.

Am Ende des Flurs fanden sie eine. Ein roter Feuerwehrkasten an der Wand beherbergte einen Feuerlöscher und ein ausklappbares Rad, auf dem ein Schlauch mit Löschspritze aufgewickelt war. Michael zerschmetterte die Scheibe mit der Axt, fuhr dann mit dem Eisen einmal am Rand entlang, um die verbliebenen Glassplitter abzubrechen und zu verhindern, dass einer davon in den Schlauch schnitt. Ray klappte das Rad nach außen, packte die Spritze und zog.

»Geh!«, rief Michael ihm zu. »Ich komme nach!«

Ray nickte und marschierte in strammem Schritt voran, zog den Schlauch hinter sich her. Michael wickelte ihn dabei weiter ab, ließ ihn über seinen Handschuh laufen und gab acht, dass er nicht verknotete oder sich beim Abwickeln in der Halterung verfing.

Der Schlauch machte Meter um Meter. Michael rechnete damit, dass Ray jeden Moment den ersten Brandherd erreichte. Keine fünf Sekunden später stoppte der Zug am Schlauch. Er lag wie eine Würgeschlange auf dem Boden des Flurs, vollgefressen, nicht gewillt, sich zu bewegen. Dann ging ein Ruck durch den lang gestreckten Körper. Michael konnte verfolgen, wie die Würgeschlange ihre Beute hinunterwürgte. Die Wölbung wanderte den Körper entlang, ließ ihn anschwellen. Ray hatte das Ventil der Löschspritze geöffnet und der Schlauch füllte sich sofort mit Wasser. Die Welle, die sich durch ihn presste, verschwand um die Ecke und aus Michaels Sichtfeld. Alles lief wie am Schnürchen. In wenigen Sekunden würde das Wasser bei Ray ankommen und sie würden das Feuer bekämpfen, diesen Jahrtausende alten Feind, den die Menschheit allzu leichtsinnig für ihren Freund, schlimmer noch, ihren Sklaven, hielt.

Michael packte seine Axt und folgte dem vollgefressenen Schlauch den Flur entlang um die Ecke. Die Schlange verschwand in einem Raum auf der rechten Seite des Flurs.

Das Feuer beherrschte den Raum nicht vollständig. Es loderte und züngelte an mehreren Stellen, verbrannte Tische und Stühle des Großraumbüros, doch hatte es noch nicht in ein Inferno verwandelt. Würde es auch nicht, jetzt wo Michael und die Jungs hier waren.

Ray war mit der Löschspritze bis in die Raummitte vorgerückt. Das Wasser schoss mit Hochdruck in die Flammen, erstickte sie und eroberte den Raum, Tisch um Tisch, Stuhl um Stuhl zurück. Andrew war bei Ray, lenkte seine Aufmerksamkeit, der kurz darauf auch der Wasserstrahl folgte, auf die Aktenschränke in der hinteren Ecke des Raums, von denen das Feuer versuchte, auf die Zimmerdecke überzugreifen. Mit gezieltem Schuss trennte Ray die Fingerspitzen des Monsters von den Deckenplatten, bevor sie sich endgültig daran festklammern konnten, spülte das Feuer eine Sekunde später auch von den oberen Ecken der Schränke und beraubte es damit seines sicheren Stands. Es zischte, als würde es vor Schmerz und Wut aufschreien.

Ortiz und Rick räumten Tische und Stühle außer Reichweite der Flammen, schufen eine Schneise, die das Feuer über den nicht entflammbaren PVC-Boden nur schwerlich würde überwinden können. Dass der Raum inzwischen vor Löschwasser triefte, würde es den Flammen fast unmöglich machen, sich weiter in Richtung Treppenhaus auszubreiten.

»Weiter!«, rief Andrew und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.

Sie rückten vor.

Ein Knacken wurde vom Zischen der Flammen, die vom Wasser getroffen und niedergedrückt wurden, fast übertönt. Ein Stück der Decke neigte sich bedrohlich durch und gab ächzend nach.

Michael sah es aus dem Augenwinkel kommen. Die Wölbung der Decke bekam einen Riss, brach dann. Geistesgegenwärtig packte er Ray am Ventil seines Sauerstofftanks und zog ihn zurück. Der Strahl des Löschschlauchs schwenkte ungezielt durch den Raum, und traf erst Rick und dann Andrew hart am Rücken. Die gebrochenen Deckenplatten schlugen an der Stelle ein, an der Ray noch vor einer Sekunde gestanden hatte. Sie kamen nicht allein, sondern gemischt mit einer Ladung Schutt aus der Zwischendecke und einem mächtigen Schreibtisch, auf dem das Feuer des vierten Stockes ritt. Die Kavallerie von oben. Das Muttertier, das auf die Schmerzensschreie seines Jungen hier unten reagierte.

Ray starrte auf den brennenden Haufen, der ihn um ein Haar unter sich begraben hätte. Er nickte Michael dankbar zu. Nun war er heilfroh, dass er keine weiteren Versuche unternommen hatte, seinem angeschlagenen Freund vom Einsatz abzuraten.

Ortiz hatte bereits die Tür am anderen Ende des Großraumbüros erreicht. Er nahm zwei Schritte Anlauf und trat sie krachend auf. Dahinter wartete das Inferno. Schwarzer Rauch schlug Ortiz entgegen, hüllte ihn in Sekundenschnelle ein. Als er wieder aus der dunklen Wolke heraustrat, hatte er eine Frau in den Armen.

»Ich hab hier eine!«, schrie er aufgeregt, schleppte sie bis in die Mitte des Großraumbüros und legte sie auf dem Boden ab.

Rick übernahm den Schlauch, während Ray sich über die Bewusstlose – oder Tote? – im Sekretärinnen-Outfit beugte. Er zog seinen Handschuh aus, spürte sofort die trockene Hitze auf der Haut. Er fühlte den Puls der Frau, suchte ihn hektisch, hoffte, eine Bewegung zu spüren. Da! Da war er!

»Sie lebt!«, verkündete er.

»Schaff sie hier raus!«, befahl Martin.

Michael half ihm, die Frau vom Boden aufzunehmen, hievte sie quer über die Arme seines Freundes. Ihre sechzig, vielleicht fünfundsechzig Kilo schienen eine Tonne zu wiegen. Schlaff hing sie da.

»Schaffst du das?«, fragte Michael.

»Klar. Bleib du hier bei den anderen«, sagte Ray. »Wir sehen uns gleich wieder!« Dann wandte Ray sich in Richtung Treppenhaus und marschierte los. Michael sah ihm einen Moment nach. Erst dann blickte er zu dem Raum, aus dem Ortiz die Frau gerettet hatte. Der Rauch hatte seinen Weg ins Großraumbüro gefunden und breitete sich wabernd unter der Decke über ihnen allen aus, hatte dafür aber den Blick durch den Türrahmen in den dahinterliegenden Raum freigegeben. Er stand lichterloh in Flammen und es grenzte an ein Wunder, dass die Sekretärin noch am Leben war. Die Hitze hinter der Tür musste bestialisch sein. Und bei der Rauchentwicklung würde es Michael nicht wundern, wenn sie tot wäre, noch bevor Ray sie raus an die frische Luft geschafft hatte. Sie musste in den letzten Minuten pures Gift geatmet haben.

Das Feuer war wild und laut. Michael hörte, wie es ihn und die anderen anschrie. Zischte, wie ein warnendes Tier. Komm mir nicht zu nah, sonst beiß ich!

Wasser schoss durch den Türrahmen in den benachbarten Raum. Rick war zum Angriff übergegangen. Er hatte den Schlauch leicht seitlich zur Linken in Stellung gebracht und pumpte Wasser durch den rechteckigen Holzrahmen, der ihnen einen Einblick in die Hölle gewährte. Das Feuer reagierte auf die Attacke, zischte nur noch wilder. Es würde die Feuerwehrleute nicht abschrecken. Sie würden vorrücken. Sie mussten. Es hatte eine Überlebende hinter dieser Tür gegeben. Und wo eine war, da konnten noch mehr sein. Vielleicht nicht unbedingt in diesem Raum – die eine war schon ein Wunder –, aber in den Räumen dahinter, falls das Feuer nicht schon alles, was darin war, gefressen hatte. Der einzige Weg, das herauszufinden, führte geradewegs durch die Flammen.

»Wir rücken vor!«, schrie Martin. »Bleibt zusammen. Haltet Sichtkontakt!« Dann traten er und Ortiz als erste durch den Türrahmen. Michael blieb auf Abstand. Er starrte durch die Öffnung nach drinnen und sah zu, wie seine Kameraden mit ihren Äxten Tische und Stühle aus dem Weg trümmerten. Sie versuchten, den Brand zurückzudrängen, um einen sicheren Steg für Rick und das Wasser zu schaffen. Der Anblick der Männer mitten im Feuer machte Michael zu schaffen. Er schreckte ihn ab. Er wollte keiner von ihnen sein. Wollte nicht mitten im Feuer stehen. Michael hatte Rays Leben gerettet – vielleicht reichte das an Heldenhaftigkeit für seinen ersten Tag.

Rick marschierte vor, trug den Schlauch durch den Türrahmen, gab dem Feuer von drinnen Saures. Michael sah, wie sich die Flammen verlagerten, nach allen Seiten ausschlugen. Sie duckten sich unter dem Wasserstrahl hindurch, verlagerten sich in Ecken, schienen zu flüchten, sich an anderer Stelle neu zu formieren und einen Gegenangriff vorzubereiten.

»Kommst du?«, wollte Andrew wissen, der bis zum Türrahmen vorgerückt war.

Früher waren Ray und er immer zusammen vorangegangen. ›Teufelskerle‹ hatten die anderen sie genannt. Jetzt war er der Letzte.

Er nickte, eigentlich für sich, aber Andrew verstand es als Zeichen, selbst weiter vorzurücken. Schon war er durch die Tür und mitten in den Flammen. Auch Michael marschierte darauf zu. Das Visier der Maske, durch das er gleich nichts anderes mehr sehen würde als Flammen, begrenzte sein Sichtfeld. Keine Schreibtische, Stühle und Wände mehr. Nur Feuer. Er machte den Schritt über die Schwelle.

Auf der anderen Seite erwarteten ihn Wände aus Feuer. Sie schienen näher zu rücken, wie die Wände einer Müllpresse. Das Wasser aus dem Schlauch, den Rick hin und her schwenkte, trieb sie eine nach der anderen zurück. Immer wieder verschaffte es ihnen wichtige Zentimeter in eine Richtung, während die anderen Wände erneut auf die Feuerwehrmänner zukamen, bevor sie die nächste Ladung Wasser zu schlucken bekamen und zischend zurückwichen.

»Das schaffen wir nicht«, zweifelte Ortiz.

»Doch, tun wir!«, widersprach Martin.

Noch vor ein paar Monaten hätte Michael dem Mexikaner als erster widersprochen und sich sturköpfig in den scheinbar aussichtslosen Kampf verbissen.

---ENDE DER LESEPROBE---