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Ernst Jünger hat ein umfängliches Reisewerk hinterlassen. Im Laufe seines Lebens unternahm er mehr als 80 Reisen, etliche auch an exotische Orte in Übersee. Ausgehend von größtenteils unbekannten Dokumenten des Nachlasses - authentischen Reisenotizen und unveröffentlichten Briefen -, fügt Weber der Biografie dieses Jahrhundertmenschen das bislang ungeschriebene Kapitel eines intensiven Reiselebens hinzu. Jünger reflektierte die Moderne als Beschleunigungsgeschichte und dokumentierte die um (Selbst-)Bewahrung bemühten Versuche, die katastrophalen Umbrüche, den permanenten Wandel des 20. Jahrhunderts literarisch zu bewältigen. Ernst Jüngers Ästhetik der Entschleunigung liefert damit nicht nur eine Ästhetik des Tourismus und der literarischen Moderne, sondern hält auch Verhaltensregeln für eine Epoche bereit, in der das Zeit-für-sich-haben immer weniger möglich erscheint.
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Seitenzahl: 805
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Jan Robert Weber
Ästhetik der EntschleunigungErnst Jüngers Reisetagebücher (1934-1960)
Von Jan Robert Weber
I. Einleitung
II. In der fremden Republik (1918-1932)
Kindheit und Jugend: Fernweh und Abenteuerlust | Weltkrieg und Niederlage: Träume vom zivilen Reiseleben und das Ende aller Reisepläne | Verhinderter Reisender: Kriegsschriftsteller und Nationalist (1918-1926) | Im ›Niemandsland‹: Weltkrieg als exotisches Abenteuer | Nationalistische Feindbestimmung: Weimar als Kolonie des Westens | ›Künstlertum des Kampfes‹ gegen die ›zivilisierte Barbarei‹ der Moderne (1927-1932) | Reisen: Vorpommersche ›Wildnis‹ und lotophagische Inseln | Reiseprosaminiaturen: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung (1929) | Ein Reisebrief als poetologisches Manifest: Sizilianischer Brief an den Mann im Mond (1930) | Beschleunigung und Stillstellung: ›Totale Mobilmachung‹ durch den ›Arbeiter‹ (1932) | ›Werkstättenlandschaft‹ – ›Planlandschaft‹ – Imperium von ›chinesischer Konstanz‹ | Reiseverdikt: Reisen als romantische Illusion
III. Die Entdeckung vormoderner Beharrungsräume in Zeiten nihilistischer ›Pöbelherrschaft‹ (1933-1939)
›Machtergreifung‹ als ›wüste Repetition nationaldemokratischer Ideologie‹ | Im NS-Staat: Pragmatischer Rückzug und literarische Opposition | Im Abseits der Provinz: ›Nichtbeteiligung am Niedrigen‹ | Literarischer Neubeginn in der letzten Phase des Nihilismus | Dalmatinischer Aufenthalt (1932/1934) | In Humboldt’scher Tradition: ›Stereoskopische‹ Übungen | Neue Heimat: Vormoderne | Gipfelblick mit Nietzsche: Entschleunigung bis zur Zeitlosigkeit | Unerschütterlich wie Hölderlin: Die Notwendigkeit der Insel | Reisen: Urlaub von der Diktatur (1933-1938) | Nord- und Ostsee: Vergebliche Fluchten vor dem ›Unzuträglichen‹ | Norwegen: Exilpläne, Urlaubsflirts und die Überwindung des Weltkriegstraumas | Brasilien: Waldgänge auf der Grenze zur ›Wildnis‹ | Rhodos: Besichtigung der Grenze zwischen Abend- und Morgenland | Unterwartete Ausbeuten in den ›Oasen der Wüste‹ | Afrikanische Spiele (1936): Die Fremde als Freiraum | Das Abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios (1938): Vom maskierten Terror in der Heimat und der verborgenen Harmonie in der Fremde
IV. Im Zweiten Weltkrieg: Die Notwendigkeit der Idylle (1939-1945)
Blitzkrieg: In der Vernichtungszone des ›Arbeiters‹ | Paris: Im provisorischen Refugium des ›Bürgers‹ | Kaukasus: Gleichgewichtsverlust in der Infernolandschaft des Vernichtungskriegs | Die Macht der Reiseerinnerung: Entschleunigungsübungen im Katarakt des Kriegsendes | Publikationstechnische Konservierungen | Myrdun (1935/1943) | Literarisierung: Das Motiv des Zeitsprungs und die Tilgung der Privatissima | My(Ve)rdun: Befreiendes Panorama | Ursprüngliche Freiheit: Anleitung zum ›Kreuzen‹ im Sturm der Geschichte | Aus der Goldenen Muschel (1929/1944) | Lakonismus statt bildungsgesättigter Exkurse | Sizilien als hortus conclusus | Segesta: Augenblicke erhabener Zeitlosigkeit | Mafia versus Faschismus: Familienbande gegen den totalen Staat | Vormoderne Beharrungsräume statt ›organischer Moderne‹
V. Verteidigung der Autorschaft im Zeichen dauerhaften Friedens (1946-1949)
Kriegsende: Publikationsverbot und Verlust der Reisefreiheit | Enttäuschte Hoffnungen auf ein dauerhaftes Friedensreich | Im Kreuzfeuer der Kritik: Netzwerkbildung als Selbstbehauptungsstrategie | Auslandspublikationen: Umgehung alliierter Indizierung | Atlantische Fahrt (1936/1947) | Veröffentlichung mit Kalkül: Wider die ›vormärzliche Zensur‹ der Besatzungsmächte | Literarisierung I: ›Passionierte Abschriften‹ im ›Motorensturm‹ des Kriegsendes | Literarisierung II: Gordon Pyms Hoffnung auf Sulla in Zeiten der ›Pöbelherrschaft‹ | Spaziergänge durch Urwald und Metropole: Vermählung mit der Großen Mutter | Parallelen: Jüngers ›Residenz des Weltgeists‹ und Zweigs ›Land der Zukunft‹ | Ein Inselfrühling (1938/1948) | Literarisierung: ›Passionierte Abschrift‹ für die Nachkriegszeit | Friedrich Georg Jüngers Orient: ›Wanderungen‹ durch den nachgeahmten Okzident | West-östliche Symbiosen: Überformung und Befruchtung | Zurück zum Ursprung: Totenkult und Geistlichkeit als Nothelfer des Volkes | Entschleunigung statt Inventur
VI. Mediterrane Refugien und die Unaufhaltsamkeit der Moderne (1950-1960)
Comeback und splendid isolation | Der ›Waldgang‹ ›über die Linie‹ als Entschleunigungstherapie | Wilflingen: Ländliche Abgeschiedenheit und ›Sanduhrstimmungen‹ | Reisen: Mediterrane Refugien | Zweckreisen in die Schweiz und Trauerarbeit in der Toskana | Vom Finden der Nische: Zeitreisen ans ›unberührte‹ Mittelmeer trotz Massentourismus | Antibes: ›Letzte Lockerungen‹ alteuropäischer Dekadenz | Sardinien: Das letzte ›Paradies‹ | Das Ende der Zeitreisen: Vergebliche Suche nach der Vormoderne außerhalb Europas | Sardinien-Trilogie: Am Sarazenenturm (1954/1955), San Pietro und Serpentara (1955/1957) | Literarisierung: Wachtürme als Markenzeichen | Glänzender Spiegel der Kritik: Ungewohntes Lob, unverhoffter Preis | Beharrungsraum Sardinien: Mythische Heimat und fragile Idylle | Thunfisch-Schlacht, Weltkriegserinnerungen und ein Zauberer ohne ›Mario‹ | Ökologische Fundamentalkritik nach dem Anschluss des ›Orts ohne Anschlüsse‹ | Ein Vormittag in Antibes (1950/1960) | Literarisierung: Im Dienst der Diskretion | Vorbereitende Meditationen: Am Kieselstrand und Drei Kiesel | ›Hoher Mittag‹ am Kieselstrand | Schule der Verlangsamung: Jünger und die bundesdeutsche Reiseliteratur nach 1949
VII. Siebzig Verweht: Das stillgestellte Ich des Weltreisenden in der Nachgeschichte
VIII. Anmerkungen
IX. Quellen- und Literaturverzeichnis
Archivalien
Quellen
Briefwechsel, Erinnerungen und Dokumentationen
Weitere Literatur
Das Schlimme ist ja im Moment, es gibt nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit, aber keinen Raum mehr. Man muss jetzt Räume schaffen und besetzen gegen diese Beschleunigung. // Die Beschleunigung der Zeit ist so hoch, dass Metaphern nichts mehr aufhalten können. Die können die Verlangsamung nicht bewirken. Wir brauchen symbolische Plätze. […] Das ist nicht Dramatik, das ist nicht Epik, sondern etwas Viertes, das ist auch nicht Kritik. Lyrik, Dramatik, Epik und Kritik, das sind nach Alfred Kerr die vier Kunstsorten, und jetzt kommt eine fünfte Kunstsorte hinzu, und die heißt: Verlangsamung. // Ja ja, klar.1
Ähnlich wie Heiner Müller im Interview mit Alexander Kluge die Gegenwart als Beschleunigungszeitalter kennzeichnet, so haben zahlreiche Schriftsteller, Philosophen und Klassiker der modernen wie postmodernen Gesellschaftstheorie ihre Zeit als eine Epoche permanenter Akzeleration beschrieben. Sowohl im langen 19. Jahrhundert (1789-1914) als auch im kurzen 20. Jahrhundert (1914-1989) wurden technologische Neuerungen, wissenschaftlicher Wandel, politische Umwälzungen, soziale Umbrüche, kulturelle Veränderungen und nicht zuletzt die Steigerung des persönlichen Lebenstempos als Phänomene einer beschleunigten Moderne festgehalten. Ob im Werk Goethes2 oder Heinrich Heines, ob bei Karl Marx oder Friedrich Nietzsche, ob bei Max Weber oder Walter Benjamin, ob bei Hugo Ball, Thomas Mann oder Botho Strauß – Modernisierungsprozesse sind in Deutschland spätestens seit der Französischen Revolution und den Anfängen der Industrialisierung als Beschleunigungserfahrungen reflektiert worden.3 Kurz: Die Rede von der Beschleunigung gehört zu den festen Topoi der literarischen Moderne, die seit jeher den »Verlauf der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Moderne mit kritischer Gegenstimme«4 begleitet.
Wer von Beschleunigung spricht, kann sowohl Gegner als auch Parteigänger der Moderne sein. Er reflektiert damit zunächst das typisch moderne Bewusstsein, in einer Welt permanenter Veränderung zu leben. Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass das »Projekt der Moderne«5 noch unvollendet ist oder gar zu scheitern droht. Erst wenn Bewältigungsstrategien entwickelt werden, offenbart der Beschleunigungsphänomenologe seine Position.
Sich am Diskurs der Beschleunigung affirmativ zu beteiligen, verspricht, sich der rasanten kulturellen, gesellschaftspolitischen und technisch-wissenschaftlichen Entwicklung zu bemächtigen. Dabei führt die Bejahung rapider Modernisierung nicht selten zu einer Apologie ihrer Entfremdungsrealitäten und Aporien, vor allem dann, wenn die ursprünglich offene Zukunftserwartung durch eine (tendenziell totalitäre) Stillstellungsvision ersetzt wird – das verführerische »Ende der Geschichte«6 entpuppt sich nicht selten als »rasender Stillstand«7 oder als Katastrophe.
Gegenüber dem Vertreter permanenter Veränderung erscheint derjenige, der Verlangsamung und Entschleunigung empfiehlt, ein Skeptiker oder gar ein Feind der Moderne zu sein, folgt er doch einem vermeintlich konservativen, restaurativen oder gar reaktionären Impuls, die Fortschrittsdynamik zu hemmen. Tatsächlich aber entspringt die Klage über Beschleunigungsturbulenzen häufiger dem »melancholischen Geist der Moderne«8 als einem anti- oder vormodernen Bewusstsein. Und tatsächlich macht die Rede von einer Verlangsamung des Fortschritts ihren Autor nicht selten als Vertreter einer »reflektierten Moderne«9 kenntlich, wenn er etwa auf die natürlichen Geschwindigkeitsgrenzen hinweist, das Emanzipationsversprechen der Moderne gebrochen sieht oder in der lebenspraktischen oder gar ästhetischen Verlangsamung eine Strategie erkennt, verloren gegangene Autonomie und Souveränität von Individuum und Gesellschaft in der Moderne wiederzugewinnen.
Nicht selten ist übrigens im 20. Jahrhundert der Anwalt der Entschleunigung zuvor ein Advokat der Beschleunigung gewesen. So haben sich sowohl die künstlerischen Avantgarden der Jahrhundertwende als auch die Intellektuellen der Zwischenkriegszeit mehrheitlich als Anhänger einer notwendigen Beschleunigung der Geschichte verstanden. Das Schreckbild stellte nicht nur die Rückständigkeit dar, sondern auch die vorzeitige Erstarrung der Bewegung, das Leerlaufen der Entwicklung. Doch führte die Liebe zur »Gewalt der Geschwindigkeit«10 zu Ermächtigungs- und Ordnungsphantasien, die dann von den totalitären Ideologien teils eingelöst, teils überboten worden sind. Es nimmt daher nicht wunder, dass der ehedem utopistische Beschleunigungsdiskurs gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem nachhaltigen Utopieverlust, zu einem postmodernen Denken geführt hat.11 Der angesprochene Wechsel von der vermeintlichen Spitze der historischen Entwicklung ins Abseits ergab sich aus der Enttäuschung über die Resultate des rasanten zeitgeschichtlichen Verlaufs. Von der Vorhut akzelerierender Modernisierung zu ihrer verlangsamenden Nachhut zu wechseln, an dieser Positionsverschiebung der deutschen Intellektuellen im 20. Jahrhundert hat Ernst Jünger in exemplarischer Weise teilgenommen.
Ernst Jünger gehört zu den literarischen Kronzeugen der Beschleunigung im 20. Jahrhundert. Vom Beginn seines literarischen Schaffens als 25-jähriger Weltkriegsveteran bis in die letzten Tagebuchaufzeichnungen als 100-jähriger Autor hat er die »Anstrengung« unternommen, »der Zeit deutend beizukommen« und literarisch »Zeitbewältigung« zu betreiben.12
Als Kriegsschriftsteller, politischer Publizist und konservativer Revolutionär verschrieb er sich zunächst einer rücksichtslosen Akzeleration. Nach der »rapiden Beschleunigung des historischen Prozesses« im Ersten Weltkrieg und seiner vermeintlichen Fehlentwicklung in der Weimarer Republik war der »bürgerliche Staat deutscher Prägung« aus Jüngers Sicht »eines beschleunigenden Modernisierungsschubes« im Zeichen einer totalen Mobilmachung bedürftig, dem er 1932 mit dem Essay Der Arbeiter die entscheidende Richtung geben wollte.13 Diese Beschleunigungs- und Stillstellungsvision sollte das Ende der Republik zugunsten eines totalitär organisierten, nach innen wie außen dynamisch agierenden Staats herbeiführen. In diesem Zusammenhang ist auch die »Ästhetik des Schreckens« als Beitrag zur Beschleunigung der Geschichte zu verstehen, die Jünger im übrigen Frühwerk als ästhetizistisch-spätromantischen Protest literarisiert hat, um den Begriff der Vernunft einerseits durch die pure Anschauung des Schönen aufzukündigen, andererseits durch die avantgardistischen Wahrnehmungsmodi des Grauens, des Schreckens, der Plötzlichkeit und des Schmerzes ad absurdum zu führen.14
Von Abschnitt zu Abschnitt überholt das Gros die Avantgarden. Das Leiden beginnt, wenn der Traum sich realisiert. Bestehen bleibt nur, was der Zeit überlegen war, nicht, was sich auf zeitlichen Vorsprung berief.15
Mit dem Jahr 1933 fanden Jüngers Beschleunigungs- und Stillstellungsphantasien einer totalen Mobilmachung durch den Arbeiter ebenso wie seine Ästhetik des Schreckens ihr abruptes Ende. Zum einen, weil der reale Terror des Nationalsozialismus den Schrecken des Abenteuerlichen Herzens überbot und damit als gegenaufklärerische Avantgarde-Literatur desavouierte16, zum anderen, weil Jünger politisch dem Nationalbolschewismus Ernst Niekischs nahe stand, dessen Programm mit Hitlers Machtantritt hinfällig geworden war. Die republikfeindlichen Nationalrevolutionäre gerieten bald ins Visier des NS-Regimes, so dass die Gruppe um Niekisch mit polizeistaatlichen Mitteln rasch zerschlagen wurde.
Infolgedessen zog sich Jünger auf die Position eines ästhetischen Konservatismus zurück: Aus dem »Agent[en] der Weltgeschichte« wurde ihr »Mineur«.17 Was folgte, waren bestürzende Erfahrungen sowohl in den Friedensjahren der NS-Diktatur als auch während des Zweiten Weltkriegs, die den zurückgezogen lebenden Schriftsteller nicht zur Ruhe kommen ließen. Je länger Hitler herrschte, desto mehr setzte Jünger auf die Macht der Überlieferung, auf humanistische Verhaltensmuster, auf die bewahrende Kraft des Mythos. Und je rasender das Dritte Reich im »Weltbürgerkrieg«18 seinem Untergang zusteuerte, desto mehr konzentrierte sich Jünger auf Gedankenfiguren der Dauer, der Verlangsamung und Entschleunigung. Schließlich musste er angesichts des deutschen Vernichtungskriegs und des kataraktischen Weltkriegsendes auch seine neusachliche »Verhaltenslehre der Kälte« – »das Training eines funktionalen Ich«19 – aufgeben; die künstlerische Existenz konnte mit den Mitteln der Zwischenkriegs-Avantgarde nicht länger bewahrt und verwirklicht werden.
Obwohl sich nach 1945 (trotz Kaltem Krieg) vor allem im Westen, nun unter stabilen demokratischen Verhältnissen, erneut ein rasanter Modernisierungsprozess entfaltete und bis zum Untergang des Sowjetimperiums ein ökonomisches, sozialstaatliches und massendemokratisches Golden Age20 verwirklichte, hat Jünger seine teils stoisch-humanistische, teils subversiv-anarchistische, teils konservativ-melancholische Haltung nicht aufgegeben. Weiterhin nahm er mit Max Weber die fortgesetzte Modernisierung argwöhnisch als »Entzauberung der Welt« wahr.21 Und so wurde er auch in der zweiten Jahrhunderthälfte das »Gefühl« nicht los, »ein Fremdling im eigenen Vaterland zu sein«22 bzw. »auf einem fremden Planeten gelandet zu sein, und dazu in einer schlechten Saison«23:
Neben der Unruhe des geborenen Widders plagte mich von Anfang an das Gefühl, der herrschenden Ordnung nicht konform zu sein – sei sie politisch durch die Monarchie, die Republiken, die Diktatur bestimmt, sei sie ökonomisch durch den homo faber und seine Trabanten abgeweidet oder theologisch durch Fuchsgeister entmythisiert.24
Jüngers anhaltende Skepsis gegenüber der Moderne hängt mit ihrer Akzeleration eng zusammen. Mit der Stimme des Augenzeugen beschleunigter Modernisierung konnte Jünger auch in der Bundesrepublik sprechen: »Wie ist es möglich, daß sich die Zeit so schnell verdüstert hat – zu schnell für eine kurze Lebensbahn, ein einziges Geschlecht?«25 Seit »etwa zweihundert Jahren« habe »eine stärkere Beschleunigung stattgefunden« als jemals zuvor in der Geschichte, so Jünger in den Tagebüchern Siebzig Verweht, was seither Platz greife, sei eine »Akzeleration in Potenz«26:
Die Dampfmaschine brachte die große Wende nach Tausenden von Jahren, während deren wir mit der Muskelkraft von Menschen und Tieren, mit Wind und Wasser ausgekommen sind. Der Motor kam ein Jahrhundert später, der Flug und die Raumfahrt folgten in immer kürzeren Abständen. Angesichts dieser Beschleunigung ist kaum zu ahnen, was sie noch zeitigen wird. Was ist dagegen ›Die Reise um die Welt in achtzig Tagen‹ – die Utopien werden überspielt. Die Kunst kann damit nicht Schritt halten.27
Der pessimistische Ton des Spätwerks täuscht: Ernst Jünger ist der rasenden Moderne nicht von der Seite gewichen. Denn im Zuge seiner »totale[n] Demobilisierung«28 wandte er sich dem bis dahin nahezu ignorierten Genre des Reiseberichts zu und begann, den »Auszug aus der entzauberten Welt«29 als Reiseautor zu proben.
Ernst Jünger – der passionierte Individualtourist – hat ein monumentales Reise-Œuvre hinterlassen. In den Sämtlichen Werken, der Ausgabe letzter Hand also, sind mehrere tausend Seiten Reiseliteratur zusammengekommen: Am Anfang stehen die Prosaminiaturen der beiden Fassungen von Das Abenteuerliche Herz sowie die poetologische Schrift Sizilischer Brief an den Mann im Mond, am Ende mit Siebzig Verweht, Subtile Jagden und Fassungen gar ein vielbändiges, weit verzweigtes Altersreisewerk. Die Hauptwerke der Reiseprosa sind zwischen 1934 bis 1960 entstanden: Neun Journale und Essays über Dalmatien, Norwegen, Sizilien, Rhodos, Brasilien, Sardinien und Antibes schildern das Reisen als einen Zeitsprung in die vormoderne oder gar mythische Vergangenheit und lassen den Auslandsaufenthalt im Erlebnis der Zeitlosigkeit – dem deiktisch inszenierten Augenblick der Entschleunigung – gipfeln.
Was für das Werk gilt, trifft nicht minder auf das Leben zu. Ernst Jünger war seit Ende der 1920er Jahre ein Vielreisender. Zählt man nur die Reisen, aus denen ein Reisebericht hervorgegangen ist, so kommen für den Zeitraum seiner fast 80-jährigen Autorschaft weit über 80 Auslands- und Fernreisen zusammen. Europas Norden und Westen, der Mittelmeerraum mit seinen Inseln und Küstenlandschaften, Afrika, Asien und Südamerika sind die Regionen und Kontinente, über die Jünger ab 1934 kontinuierlich geschrieben hat.
Als Reisender war Jünger kein Antipode, sondern ein Repräsentant seines Zeitalters. Parallel zur Entwicklung des Tourismus und der touristisch geprägten Reisekultur des 20. Jahrhunderts konform, hat er seine Auslandsfahrten als Individualreisender, mitunter als Alternativtourist avant la lettre unternommen. Er nutzte sowohl während der Formierungsphase des Tourismus zwischen 1920 und 1960, als auch in den nachfolgenden Jahrzehnten des voll entwickelten Massentourismus wie selbstverständlich die Verkehrsmittel und Infrastrukturen modernen Fremdenverkehrs.30 Als Gegenspieler zum Touristen tritt Jünger erst in seiner Reiseliteratur auf – das Jünger’sche Reise-Ich ist letztlich eine Kunstfigur, eine Maske oder Rolle, ähnlich wie der »Krieger«, der »heroische Realist«, der »Waldgänger« oder der »Anarch«.31
Trotzdem ist Jüngers stupendes Reisewerk bisher nur als Marginalie wahrgenommen worden.32 Das mag zum einen daran liegen, dass der jahrzehntelange, allzu häufig polemisch geführte Streit um den Kriegsautor und nationalistischen Publizisten den Blick auf den »zivilen« Jünger verstellt hat.33 Zum anderen wirkt offenbar bis heute das literarhistorische Paradigma vom Tod des Reiseberichts im 20. Jahrhundert nach, demzufolge im Zeitalter des Massentourismus das Schreiben über die Fremde infolge ihres Verschwindens gegenstandslos wurde und ist – Reiseliteratur kann demnach nur noch eine eskapistische Täuschung oder formspielerische Mimikry sein.34
Jüngers Reise-Opus wird jedenfalls bislang unter dem Siegel der weltabgewandten Flucht verwahrt, womit dem Autor der Vorwurf gemacht wird, sich wider besseres Wissen zu widersprechen. Jünger beschreibe die »Flucht aus der Zeit als Flucht in andere Räume«, obwohl er doch im Essay Der Arbeiter und noch in Afrikanische Spiele gerade diese Flucht als »überholte Romantik entlarvt«35 hätte.
Das Kardinalproblem moderner Reiseliteratur, nicht mehr über eine terra incognita, sondern nur noch über Länder berichten zu können, die schon erforscht, bereist und zudem massenmedial vermittelt worden sind, war kein Problem Ernst Jüngers. Dass er nicht als Eroberer, Entdecker, Forscher oder Abenteurer in die unbekannte Ferne reisen konnte, diese Einsicht gehört zu seinen frühen, prägenden Enttäuschungen. Was der Individualtourist Jünger dagegen am Ende der 1920er Jahre erfuhr, war die unverhoffte (und anfangs kaum literarisch verarbeitete) Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten in einer Welt permanenter Veränderung. Inmitten eines globalen, paradoxen und heterogenen Modernisierungsprozesses entdeckte Jünger innerhalb und außerhalb Europas rückständige und naturbelassene Regionen der Vormoderne. Allerdings vertrug sich diese Erfahrung noch nicht mit der zeitgleich entwickelten Idee vom ›Arbeiter‹. Die ›totale Mobilmachung‹ sollte auch räumlich total sein, so dass das Reisen, verstanden als Begegnung mit dem Fremden, überflüssig erschien. Jünger hat die Chance erst nach Abschluss des Arbeiters bzw. nach Hitlers Machtantritt ergriffen, Welterkundung und Selbsterfahrung auf Reisen zum Thema seines Werks zu machen. Den Sinnlosigkeitsverdacht nahm er rasch zurück. Nach seiner schroffen Absage im Arbeiter benötigte er nur eine lakonische Feststellung, um seine Reiseliteratur zu rechtfertigen: »Der Autor ist verpflichtet viel zu reisen, um zu erfahren, was die Erde zu bieten hat.«36
Jünger ging es als Reiseautor weder um eine nüchterne, faktengesättigte, noch um eine politische oder feuilletonistische Auslandsberichterstattung, wie sie im 20. Jahrhundert in Form der Reportage maßgeblich gewesen ist37, sondern um Literatur. Und so handeln seine Reiseberichte zwar von authentischen Reisen, doch sind diese Reisen derart verfremdet, dass eine hybride Mischform entstanden ist, die zwischen Faktographie und Fiktion changiert (und so schon etwa von Goethe oder Hugo von Hofmannsthal mustergültig bedient wurde). Es handelt sich also um Kunstprodukte, die mit den Kategorien von Heimat und Fremde spielen, letztlich um »Lügengeschichte[n]«38 für das zeitgenössische Publikum (in der Heimat), die freilich ohne ästhetisch-weltanschaulichen »Argumentationsstrategien« und »Beglaubigungen«39 durch die »Autorität des Zeugen«40 nicht auskommen.41 Mit den Begriffen der Entzeitlichung, Mythisierung und Verklärung, Imagination und Erinnerung ist wenig gesagt. Welche spezielle Argumentationsstrategie hat er also angewandt, um als Reiseautor im Zeitalter des Tourismus glaubwürdig zu erscheinen?
Jünger hat das Reisen, und damit das Schreiben darüber, endgültig im Reisetagebuch Aus der Goldenen Muschel legitimiert, und zwar mit dem Motiv der Zeitreise. 1944 veröffentlicht, aber über die erste Reise nach Sizilien von 1929 berichtend, steht die Passage publikationsgeschichtlich an dritter, autobiographisch jedoch an erster Stelle. Der Autor zieht im Rückblick die Summe seiner bisherigen Reiseerfahrungen und kann als Tagebuchschreiber zugleich suggerieren, dass sich die Einsicht in die Bedeutung des Reisens am 26.4.1929, also vor allen anderen bis dahin veröffentlichten Reiseberichten, eingestellt hat.
So schreiten an den Rändern unseres Raumes die Zeiger sachter vor, und die Geräte, die Moden, die Sitten nützen sich langsamer ab. Es ist dies im Grunde der Unterschied an Eile zwischen der Metropole und der Provinz, der immer lehrreich für die geschichtliche Einsicht bleibt. Wie viele Schilderungen urtümlicher Zustände, von Herodot, von Tacitus an, verdanken wir der Tatsache, dass ihr Autor einige hundert Meilen vom Zentrum des Bewusstseins entfernt auf Studien ging. Die Korrespondenz von Zeit und Raum gilt auch in dieser Hinsicht; wir können durch räumliche Veränderung uns verflossenen Zeiten annähern.42
Jüngers Konzept der Zeitreise liegt die Einsicht zugrunde, in einer gleichförmig werdenden Welt zu leben, doch weiß der Autor auch, dass sich in ihr noch ausgesparte Regionen erhalten haben, die den Besuch und vor allem die literarische Darstellung im Medium der Reiseprosa lohnen. Natürlich wird damit auch die typisch moderne, typisch touristische Sehnsucht nach einem geruhsamen, stabilen, gemächlichen Leben artikuliert, das in der beschleunigten Heimat längst untergegangen ist. Dennoch soll mehr geleistet werden, als ein Bericht über die »Erholung vom Zustand der durchrationalisierten Moderne«43.
Über alle Einsichten hinaus liegt in diesem Eintauchen auch etwas Heilsames verborgen. ›In Italien‹ oder ›Auf dem Lande‹ bedeutet vor allem eine Minderung an Tempo, geringere Verbrennung durch die Zeit. Man geht ins Kinder- und Märchenland zurück.44
Jüngers Reiseberichte schildern keine kopflose Flucht. Sie folgen einer bewussten Verlangsamungsstrategie: Aus der turbulent beschleunigten Moderne kommend, findet das Jünger’sche Reise-Ich in der Fremde Refugien auf Zeit und erfährt damit einen ferialen Ausstieg aus einer Welt der Zumutungen, Inanspruchnahmen und Überforderungen. Die Fremde wird dabei zum vormodernen Beharrungsraum, zur »Entschleunigungsinsel«45 des von Modernisierungsschüben erfassten, in Katastrophen verwickelten oder einfach von permanenten Veränderungen verwirrten Subjekts. Kein Zweifel: Jünger setzt damit eine räumliche Utopie gegen die »verzeitlichten«46 Zukunftsutopien der Moderne.
Jüngers Reiseprosa als Eskapismus abzutun, heißt zu überlesen, dass in ihr all das aufgehoben ist, was die Moderne als unvollendetes Projekt kennzeichnet: Ich-Zerfall, Metaphysik-Verlust und weltanschauliche Orientierungslosigkeit, aber auch bürokratische, technische und ideologische Verfügbarkeit des Einzelnen durch Staat und Gesellschaft. Was Jünger seinem Leser vorführt, sind Verhaltensregeln der Ich-Stabilisierung. Kontemplation und Muße, Müßiggang und Selbstverwirklichung, Meditation und Selbstgenügsamkeit heißen denn auch die Exerzitien eines radikal individualistischen Reise-Ichs, dem es letztlich darum geht, die Autonomie des (ästhetischen) Subjekts in den Kataklysmen des 20. Jahrhunderts zu bewahren.
Beständig ist in den Reisetagebüchern und Essays von der Fremde als einem »alte[n] Zuhaus«47 die Rede. Tatsächlich hat der Autor die Kategorien von Heimat und Fremde derart dialektisch vertauscht, dass der vormoderne Beharrungsraum leitmotivisch als eigentliche Heimat erscheint, wo ein Leben nach humanem, selbstbestimmtem Maß noch möglich ist sowie transzendentale Erlebnisse der Zeitlosigkeit noch erfahren werden können. Von diesen Erfahrungen in der Fremde zu berichten, hielt Jünger schlicht für unverzichtbar, befürchtete er doch, dass sich ohne den konservierenden Bilderdienst seiner Reiseliteratur »alles in eine Zweigstelle der Schlachthäuser von Chicago oder der Zwangsarbeitslager am Eismeer verwandeln wird«48.
Werkgenetisch betrachtet, stellt Jüngers Reise-Œuvre den direkten Gegenentwurf zum Frühwerk dar. Die Berichte von vormodernen Beharrungsräumen und Entschleunigungsinseln präsentieren eine Gegenwelt zur ›Werkstättenlandschaft‹ des ›Arbeiters‹. Und im direkten Widerspruch zum Postulat des kollektiven Glücksverzichts in einer imperialen Arbeitsgesellschaft wird in ihnen das individuelle Glück eines noch nicht entfremdeten, traditionellen Lebens im Zeichen der Muße und Transzendenz gefeiert. Der Reiseautor Jünger ist ein Dissident des eigenen, radikalen Frühwerks.
Und dennoch: Jünger hat die Unumkehrbarkeit des Modernisierungsprozesses zeit seines Lebens anerkannt. Infolgedessen hat er als Reiseschriftsteller seinen ›Arbeiter‹ nicht widerrufen, sondern neu ausgelegt: Er ist das Schreckbild des Alternativtouristen, der Feind vor den Toren seiner Refugien, der zum Sprung bereite Eroberer seiner Entschleunigungsinseln und der immer schon gerüstete Kolonisator seiner Beharrungsräume. Jüngers Reiseorte umgibt die melancholische Aura des ›Noch-nicht‹. So steht denn auch Jüngers Arkadien unter dem Vorbehalt des Vorläufigen, seine Idylle ist eine fragile Idylle, die ihren Untergang, ihre Transformation in die ›Werkstättenlandschaft‹ der Moderne schon in sich trägt. Damit reflektieren Jüngers Reiseberichte nicht zuletzt auch jene Dialektik, die dem Tourismus eigen ist. Denn paradoxerweise ist der moderne Reisende selbst ein Antreiber des beklagten Beschleunigungsprozesses, der im Zuge des ubiquitären »Raumschwundes«49 auch jene vormodernen Nischen erfasst, nach denen wiederum der moderne, daheim von der »Gegenwartsschrumpfung«50 geplagte homo viator bedürftig ist.
Letztlich muss sich der Leser von Jüngers Reiseprosa auf ein sprachliches Wagnis der »reflektierten Moderne«51 einlassen, welches das Drama zwischen Beschleunigung und Beharrung in der Moderne vielfältig inszeniert. Jünger hat sich in diesem Drama die facettenreiche Rolle des letztlich scheiternden Aufhalters gegeben. Und so begegnet er uns etwa auf Sardinien während der 1950er Jahre (heroisch-realistisch die Invasion der Touristen erwartend) in der Maske des »erzene[n] Reiter[s]« auf der »Spitze des Magnetberges«, der »die Meereseinsamkeit bewacht, bis ihn zu vorgesehener Stunde ein Schiffbrüchiger erlegt«52.
Ihn lockten nur Länder, die für andere nichts Verlockendes hatten, ungesunde, von Fiebern geschwängerte, halb oder gar nicht bekannte Gebiete, Gebiete also, in denen ein selbstherrlich geführtes Leben noch möglich war.1
Oder genauer gesagt: Schon als Jugendlicher sehnte sich Jünger nach Regionen, in denen ein selbstherrlich geführtes Leben noch möglich erschien. Der Zivilisation, das hieß ursprünglich: der Institution der Schule zu entfliehen, war ein Wunsch, den Jünger bereits im Knabenalter hegte. Als erster Sohn einer Akademikerfamilie wohlhabenden Bürgertums in eine zugleich nervöse wie fortschrittsoptimistische Epoche geboren, war er zum einen sozio-kulturell, zum anderen durch sein persönliches Naturell zu einem intensiven Reiseleben prädestiniert.2
In Jüngers familiärem Umfeld wurden die Weichen früh gestellt, die ihn auf die später so häufig genutzte Bahn des Weltreisenden führten. In Geborgenheit und Wohlstand aufwachsend, erhielt er mannigfache Lektüreanregungen, welche die Existenz exotischer, ferner Kontinente und Länder früh bewusst werden ließen. So erhielt der 10-jährige 1905 Alexander von Humboldts »Reisen in die Aequinoctinalgegenden« vom Großvater zum Geschenk: »[Z]eit seines Lebens blieb er von dem Mut dieses Reisenden und von seiner präzisen Beobachtung fasziniert.«3 Und wie selbstverständlich lernte der Knabe das Reisen kennen, das im Wilhelminischen Deutschland noch mehrheitlich Großbürgertum und Adel vorbehalten blieb, wenn beispielsweise seine Mutter regelmäßig in den Süden oder auch nach Weimar aufbrach, um dort auf Goethes Spuren zu wandeln. Zudem charakterisierte das Kind eine Freiheitsliebe, die ihm jeden Zwang verhasst machte und auch den späteren Touristen Ernst Jünger kennzeichnete. Die in seiner Persönlichkeit angelegte Abneigung gegen Institutionen und rationalistische Ordnungen rief bereits beim Minderjährigen eine exotistische Fluchtmotivation ins ›Ungesonderte‹ wach. Ausgelöst wurden die Fluchtphantasien allerdings erst, als das verträumte Kind mit der Schule die erste Institution moderner Staatlichkeit kennen lernte.
Mit der Einschulung begann eine dreizehnjährige Leidenszeit. Zahlreiche Umzüge der Familie sowie schlechte Leistungen machten insgesamt zehn Schulwechsel erforderlich. Auf Internaten, auf so genannten Knabenpressen und den Wilhelminischen Gymnasien mit ihrem Drill und ihrer repressiven Pädagogik entwickelte Jünger eine tief sitzende Schulangst, die er zwar mit vielen seiner Generation teilte4 – erinnert sei an Thomas Mann, Alfred Döblin und Hermann Hesse –, aber bezeichnenderweise erst Jahre später, in Das Abenteuerliche Herz 1929, in Afrikanische Spiele 1936 und vor allem im Alterswerk literarisch zu verarbeiten vermochte.5
Für den Schüler boten sich zunächst keine produktiven Auswege, sondern nur Kompensationen. Neben passionierten Tagträumereien wurden Wanderungen am Steinhuder Meer, in die Lüneburger Heide als beglückend erfahren, die Ernst Jünger mit seinem jüngeren Bruder Friedrich Georg in den Ferien unternahm; erste Naturerlebnisse, die prägten und denen mit dem Weihnachtsgeschenk einer entomologischen Ausrüstung der Weg in die Käferliebhaberei gewiesen wurde. Bis ins Spätwerk bewahrte sich Jünger sein Interesse für Flora und Fauna: Jahrzehnte später ließ der Autor die Natur als »unerschöpfliches Feld der Anschauung« zu einem bestimmenden Sujet seines Werks werden. Vor allem in der Prosa der Reisetagebücher und Reiseessays dient das »Schriftbild der Natur« als Darstellungsobjekt wie als Wahrnehmungsmedium für die »Harmonie der Welt«, sollen doch an und mit ihm »die Charaktere eines Weltteils, einer Insel, einer Alpenkette« erkannt und verdeutlicht werden, um die »Welt« gleichsam zum »Gedicht« werden zu lassen.6 Freilich war dem Jugendlichen diese Absicht noch nicht eigen, obwohl ihm die Natur schon zum ›inneren Erlebnis‹ wurde. Den Kontrast zwischen unbeschwerten Ausflügen und dem von Misserfolgen gekennzeichneten Schulleben empfand Jünger früh. Im Reisewerk kehrt diese Erfahrung wieder, literarisiert als dichotomisches Leitmotivpaar von ›Wildnis‹ und ›Zivilisation‹.
Zu den glücklichen und prägenden Erlebnissen der Jugend zählte ein mehrwöchiger Aufenthalt 1909 im französischen Buironfosse bei Saint Quentin. Der Austauschschüler führte ein Reisetagebuch7, das trotz »grobschlächtige[r] Ausdrucksweise« der später üblichen Praxis des gereiften Reiseschriftstellers ebenso vorgreift wie die »lebhafte Beobachtung der fremden Umwelt« und die »Abneigung gegen Großstädte und Industrie in den Bemerkungen über das Ruhrgebiet«8. Generationstypisch ist überdies, dass Jünger zusammen mit seinem Bruder 1911 dem Wunstorfer Wandervogel beitrat, wo er jugendlichen Protest gegen das zivilisierte, bürgerliche Stadtleben im gemeinschaftlichen Wandern erproben konnte. Auch hier musste das Reiseerlebnis zu Papier gebracht werden. Einige Gedichte im Stil des auswendig gelernten »Zupfgeigenhansl« zeugen davon9: »Wie flieht die Zeit beim Wandern und beim Schauen!«10 All das waren jedoch nur kurze Auszeiten vom gefürchteten Schulbetrieb.
Fremdheitsgefühle gegenüber der Welt der Erwachsenen und die Sehnsucht nach Abenteuern in fernen Ländern bedingten einander früh. Noch im Spätwerk Die Zwille wird diese Disposition gespiegelt, heißt es doch dort über den Jugendlichen Clamor, er sei ein »Fremdling in einer Welt, in der die Räder immer schneller kreisten«11. Der Protagonist gewinnt schließlich ein Elternhaus, nachdem er die Schule verlassen musste, und es reift in ihm die Absicht, ein Maler zu werden. Jünger erzählt in Clamors Geschichte die Initiation zum Künstler, der zur »Zeitverweigerung«12 bestimmt ist. Und der sich kraft der Kunst zukünftig »von den Zwängen der normierten, der vermessenen und berechneten, der ›realen‹ und ›modernen‹ Welt befreien« kann, »die zerteilt ist und zerrissen und deshalb weit entfernt von der ›Heimat‹ des geheimen Weltplans«13. Natürlich bewegten den jungen Heranwachsenden noch nicht die kontemplativen Spekulationen des Erwachsenen über das entschleunigende wie befreiende Schöne von Natur und Kunst. Im Reisewerk dient dieses Schöne als Gegenwelt zu Fortschritt und Moderne, als ebenso unteilbarer wie zeitloser Fixpunkt der Autorschaft: »Wir finden und vergessen uns im Anderen; wir sind nicht mehr allein.«14
Neben der Natur suchte und fand der Heranwachsende im Reich der Literatur eine weitere Zuflucht, zunächst nur als Leser. »Bücher waren es […], die meiner Phantasie den Rückhalt einer festen Reservestellung boten«; mit ihnen errichtete der Jugendliche als »Mittel des passiven Widerstandes« einen »prächtigen und uneinnehmbaren Wall«15 gegen die teils als langweilig, teils als bedrohlich empfundene Außenwelt. Bis zu seinem Notabitur bewältigte Jünger ein umfangreiches Lektürekorpus, das die wichtigsten deutschen und ausländischen Klassiker, antike wie germanische Sagen, die »Märchen aus tausendundeiner Nacht« und schließlich auch einige philosophische Schriften Nietzsches und Schopenhauers umfasste. Hinzu kam zeitgenössische wie kanonische Abenteuer- und Reiseliteratur von Autoren wie Alexander von Humboldt, Cervantes und Grimmelshausen, Defoe, Dumas und Mark Twain, Stanley, Cooper und Sealsfield, Hackländer, Wörishöffer und Gerstäcker, Karl May, Jules Vernes, Sven Hedin und Heinrich Barth.16 Solche Schmöker ließen den Schulalltag vergessen und eröffneten den Raum verheißungsvoller Fremde, in der es keine väterliche Zweckrationalität, kein mütterliches Sicherheitsdenken gab. Auf den mit seinem Bruder Friedrich Georg unternommenen Ausflügen in die Natur wurde das Gelesene nachgespielt: »Wir suchten uns dann im Dickicht oder im Schilf zu bewegen, wie wir es bei Stanley gelesen hatten.«17 Die extensive Lektüre verfehlte ihre Wirkung nicht: »Welt und Existenz verdoppelten oder verdreifachten sich«18. Neben die Wirklichkeit von Schule und Elternhaus traten dem Primaner als armchair traveller ferne Kontinente, die als Imaginationsräume ein abenteuerliches Leben versprachen, sowie erste philosophische Ideen, welche visionäre Schauen jenseits der empirischen Realität ermöglichten.
So diente in den Sommerferien ein Treibhaus auf dem elterlichen Grundstück als Refugium, wo sich der Heranwachsende im künstlich hergestellten Tropenklima seinen lektüregesättigten Träumen hingab: »Afrika war für mich der Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen«, so Jünger 1929 rückblickend über seine jugendlichen Projektionen,
der einzig mögliche Schauplatz für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte […]. Inzwischen verschlang ich alles, was an Aufzeichnungen über dieses Land zu erreichen war […]. Es war nicht der ganze Kontinent, der meine Aufmerksamkeit fesselte, sondern nur der breite Streifen, den der Äquator schneidet, das eigentlich tropische Land mit seinen schrecklichen Urwäldern und großen Strömen […], von jedem gewohnten Wege weit entfernt. Daß es noch Wildnisse gab, die nie ein Fuß beschritten hatte: dies zu wissen, bedeutete für mich ein großes Glück.19
Sich den als widrig und anödend empfundenen Verhältnissen des Schulalltags durch Lesen und Träumen zu entziehen, war für die bürgerliche Jugend um 1900 nichts Ungewöhnliches. Und auch die jugendliche Begeisterung für Afrika entsprach dem kolonialistisch-imperialistischen Zeitgeist, der sich nicht zuletzt in der damals vielgelesenen Kolonialund exotistischen Reiseliteratur widerspiegelt. Außergewöhnlich war hingegen, dass der 18-jährige seine Fluchtträume wahrzumachen begann20: Nach den Herbstferien des Jahres 1913 investierte er das Schulgeld, das ihm sein Vater ausgehändigt hatte, in einen Revolver und überschritt mit dem Rest des Geldes die Grenze nach Frankreich, um sich in Verdun unter falschen Personalangaben im Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion für fünf Dienstjahre zu verpflichten. Umgehend wurde der Rekrut von dort über Marseille und Algier in die algerische Garnisonsstadt Sidi-bel-Abbès verlegt und der 26. Instruktionskompanie zugeteilt. Verlief das Abenteuer bis dahin wie beabsichtigt, so scheiterte bald der eigentliche, verwegene Plan, die Fremdenlegion als eine Art von Reiseorganisation zu benutzen. Der Jugendliche hatte von Anfang an vor, zu desertieren und sich über Marokko nach Zentralafrika durchzuschlagen. Das misslang schon in den Anfängen: Nachdem Jünger nachts aus dem Ausbildungslager geflohen war, wurde er bereits tags darauf zusammen mit einem Kameraden festgenommen und für acht Tage interniert. Mitte November 1913 zeigte die Rehburger Lokalpresse die Eskapade des Unterprimaners in einer Meldung an. Wenige Wochen später vermochte der Vater den Ausreißer mit viel Glück und Geschick sowie mit diplomatischer und juristischer Unterstützung nach Deutschland zurückzuholen. Dass er seinem Sohn für die Zeit nach bestandenem Abitur eine Expedition auf den Kilimandscharo in Aussicht stellte, anstatt ihn zu bestrafen, spricht nicht nur für die Rationalität des Vaters, sondern auch für dessen Einfühlungsvermögen, Fernweh und Abenteuerlust als ein tiefes Bedürfnis nach Welterfahrung zu erkennen, das seinen Sohn hatte umtriebig werden lassen. Gleichwohl war damit Jüngers erstes großes Reiseabenteuer eklatant gescheitert. In den 1920er Jahren durften den Autor auch die engsten Freunde nur in günstigen Augenblicken darauf ansprechen. Und noch 1936 bekennt der Erzähler in Afrikanische Spiele, dass er an »diesen Ausflug nicht rühren« mochte, »wie an eine Wunde, die spät vernarbt.«21
Ein Einzelfall war Jüngers abenteuerliche Flucht in die Fremdenlegion nicht.22 In den letzten vier Friedensjahren des Kaiserreichs verschrieben sich hunderte junge Männer und Jugendliche der légion étrangère; selbst ein Vetter Wilhelms II., Prinz Albert Friedrich von Hohenzollern, riss aus und starb nach einem Dienstjahr am Tropenfieber. Schwärmerische Erinnerungsbücher und auflagenstarke Groschenromane, kritische Aufklärungsschriften und besorgte Zeitungsmeldungen, schulamtliche Initiativen und Gesetzesnovellen zum Straf- und Staatsangehörigkeitsrecht zeugen davon, dass die Fremdenlegion ein ebenso populäres wie heftig diskutiertes Thema in der Öffentlichkeit war. Folgt man Jüngers Erzählung Afrikanische Spiele, so waren es weniger die Zehn-Pfennig-Hefte so genannter Schundliteratur wie »Heinz Brand der Fremdenlegionär« oder »Die Hölle von Sidi-bel-Abbès« als die Zeitungsmeldungen, die dem Unterprimaner den letzten Anstoß gaben, seinen naiven Fluchtplan in die Tat umzusetzen. »[O]ft genug las ich in den Zeitungen über die Berichte von so ausgesuchten Gefahren, Entbehrungen und Grausamkeiten, wie sie ein geschickter Reklamechef nicht besser hätte entwerfen können, um Tunichtgute meines Schlages anzuziehen.«23
Die Legionärseskapade stellt mehr als eine kuriose Anekdote in Jüngers ereignisreicher Biographie dar. Als Verzweiflungstat eines Freiheitsliebenden, der in der Fremde eine identitätserneuernde Ich- und Welterfahrung sucht; als Handlung eines Lesers, der Literatur und die davon genährten Phantasien zum realen Leben werden lassen möchte; als Flucht eines Zivilisationsüberdrüssigen, der in die vermeintlich strukturlos-elementare Wildnis ausbrechen will24 – der Fluchtversuch des Jugendlichen weist auf den passionierten Individualtouristen voraus.
Mit dem Scheitern des Ausbruchsversuchs 1913 waren Abenteuerlust und Reisesehnsucht ungestillt geblieben. Mehr noch: Der Ausgang des afrikanischen Abenteuers bedeutete ein persönliches »Desaster« und »Fiasko«: »einer der auszog, die Träume […] einer anderen Wirklichkeit zu realisieren, kehrte zurück als ein um die Wirklichkeit seiner Träume Betrogener«25. Dass der Minderjährige seine Heimholung als eine schwere Enttäuschung erlebt hatte, davon zeugt das im Nachlass überlieferte Gedicht »Der Legionär«, das Jünger offensichtlich kurz nach seiner Rückkehr verfasste. Kontrafaktisch wird darin eine gescheiterte Heimkehr geschildert, keineswegs eine misslungene Flucht. Ein Fremdenlegionär kommt nach langer Dienstzeit nach Deutschland zurück und begrüßt die Grenzpfähle des Reichs als Zeichen wiedergewonnener Freiheit, ehe er von einem Polizisten unerwartet festgenommen wird. Der Legionär gerät von einer Unfreiheit in die andere. Entsprechend hoffnungslos endet das Jugendgedicht: »s’ist hier wie dort beschissen«26. Liest man die derbe Verurteilung von Heimat und Fremde als Ausdruck einer anhaltenden Entfremdung, so waren neben den epochalen, sozial- wie kulturhistorischen Bedingungen auch die persönlichen, mentalen Voraussetzungen geschaffen, um rund acht Monate später als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Noch in den 1920er Jahren sah Jünger darin »die Erlösung von einem Leben ohne tiefere Ziele«27.
Jüngers Abenteuerlust fand mit der freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst ihre vorläufige, kanalisierte Erfüllung. Mit ihr wähnte der Notabiturient »alle Sorgen los«28 zu sein. Im August 1914 wurde allerdings nicht nur das väterliche Versprechen der Kilimandscharo-Expedition hinfällig – die fast vierjährige Kriegserfahrung verwandelte das jugendliche Fernweh in Kriegsbegeisterung und schließlich in eine Identifikation mit der Frontsoldatenexistenz.29 »[N]icht ohne Gewinn«30 habe er die Kriegszeit zugebracht, behauptete Jünger 1920, nach der Redaktion seines Erstlings In Stahlgewittern. Sie war keineswegs nur traumatisch, sondern ermöglichte es Jünger, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein als Kriegsheld zu entwickeln. Aus dem erfolglosen Schüler wurde ein »rücksichtslos tapferer Führer, der von seinen Füsilieren alles verlangen kann«31, wie es im Gutachten seines Divisionskommandeurs heißt. Dabei behauptete der eigenwillige Offizier seine persönlichen Neigungen auch an der Front: Er blieb sowohl ein extensiver Leser als auch ein eifriger Käfersammler. Und wenn es Offizierslehrgänge erlaubten, schlüpfte er in die Rolle des Kulturtouristen hinter der Front.
Allerdings begann auch der Krieg mit einer wohl für die meisten Kriegsmutwilligen typischen Enttäuschung über den entbehrungsreichen Alltag. Im Januar 1915, kurz nachdem Jünger mit seinem Regiment ins Frontgebiet verlegt worden war, hielt der 19-jährige seine zweite Desillusionierung binnen 14 Monaten fest. Wie die reale Fremdenlegion und das wirkliche Nordafrika entsprach auch der Stellungskrieg keineswegs seinen naiven Erwartungen, an der Westfront homerische Heldentaten vollbringen zu können:
Ich bekomme, wie damals in Algerien, ganz and[Rest der Zeile unlesbar, vermutlich: ere] Ideale. Ein solides Studentenleben mit Lehnstuhl und weichem Bett und einem kleinen Freundeskreis ohne Verbindungseseleien, schöne Ausflüge und gute Bücher. Und eine Käfersammlung. Vorher muß ich irgendwie noch nach Afrika, um zu sehen, dass man auch darin nur Phantastereien nachgejagt hat.32
Die authentischen Kriegstagebücher enthalten nur wenige solcher Passagen. Selten zeichnete Jünger persönliche Frustrationserfahrungen auf. Erst im Mai 1917, nach Offizierslehrgang, mehrmaligen Verwundungen und Auszeichnungen, versetzte ihn der Tadel eines Vorgesetzten in eine Stimmung der Kriegsmüdigkeit, die sich mit dem Wunsch nach einem zivilen Reiseleben verband. Der gemaßregelte Frontoffizier malte sich in einer Mischung aus Zorn und Wehmut aus, welche Möglichkeiten der Welterfahrung ihm bislang verwehrt geblieben waren. Reisesehnsucht keimte auf:
Wenn ich über die grüne Wiese vor mir auf das zerschossene la Baraque sehe, dann muß auch ich, einst so Kriegslustiger mir die Frage vorlegen: Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? Was hätte man in dieser Zeit nicht alles sehen und genießen können. Welcher Genuß muß es zum Beispiel sein, eine holländische Landschaft bei sinkender Sonne zu durchwandern. Wandern! Frei wie der Falk herumstreifen ohne lästigen Zwang und Fessel. Noch ist kein Ende abzusehn. Die Sache wird höllisch monoton.33
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Brief des 23-jährigen Leutnants, der ebenfalls 1917 seinen Bruder Friedrich Georg Jünger aus dem Schützengraben erreichte. Aus ihm wird deutlich, wie wenig vorstellbar dem Frontsoldaten trotz aller Wandersehnsucht eine Auslandserfahrung in Form des touristisch-zivilen Urlaubs war. Ähnlich wie 1913 die französische Fremdenlegion wollte er nach dem – gewonnenen – Weltkrieg die deutsche Kolonialtruppe als Organisation nutzen, um exotische Reiseerfahrungen zu machen. Das Militär sollte einmal mehr als Mittel zum Zweck dienen:
Wenn ich nachts im Graben auf und ab gehe, denke ich viel über die Kolonien nach. Man müßte sich nach dem Kriege zur Schutztruppe melden, dabei kann man sich am besten Land und Leute besehen. Als ich in Gera in Behandlung war, betrachtete ich im Museum die Sammlungen eines Kameruner Pflanzers […]. Die Pflanzen, Früchte und Tiere waren wie Proben einer üppigeren Welt.34
Fernweh, Reisewünsche und Auswanderungspläne vergaß der Frontoffizier jedoch schnell, weil für die letzten anderthalb Kriegsjahre von einem langweiligen Soldatenleben nicht mehr die Rede sein konnte. Im Sommer 1917 als Stoßtruppführer ausgebildet und daraufhin an Hauptkriegsschauplätzen der Westfront eingesetzt, wurde er binnen eines Jahres mehrmals verwundet und mit weiteren, immer höheren Kriegsauszeichnungen geehrt, bis ihn schließlich im August 1918 ein Lungenschuss außer Gefecht setzte. Im September empfing er für seine militärischen Leistungen den höchsten preußischen Orden »Pour le mérite«. Wenige Wochen später endete der Weltkrieg mit der Kapitulation des Reichs, der Abdankung des Kaisers und der November-Revolution, aus der die parlamentarische Demokratie von Weimar hervorging. Die militärisch-politischen Ereignisse dieses Jahres übertrafen Jüngers bisher erfahrene Desillusionierungen35: »erschöpft von ungeheuren Anstrengungen«, fand er sich »plötzlich allein in einer völligen geistigen Verlassenheit«36 wieder. Hatte Vaterlandsliebe bis dahin nur eine untergeordnete Rolle in Jüngers Denken und Handeln gespielt, so fand der junge Offizier in den Tagen des militärischen Zusammenbruchs einen vorläufigen Halt in der patriotischen Überzeugung, als Deutscher Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. Man müsse »das Schicksal des Volkes teilen, in guten wie schlimmen Zeiten mit ihm in Verbindung bleiben, so daß sich die großen Linien im persönlichen Erlebnis spiegeln, das verleiht […] Sinn«. Die Reisepläne hatten dagegen ihren Sinn verloren: »Daher habe ich auch den Plan, den ich vor dem Kriege hegte, ins Ausland zu gehen, aufgegeben, denn ich möchte diese enge Bindung nicht verlieren. Gerade durch den Krieg sind die Bande sehr eng geworden.«37
Mochten die »Fluchtphantasien«, in die »Kolonialwelt von Südwestafrika abzutauchen«, in den Folgemonaten auch kurzzeitig wieder aufleben; die Bekanntgabe des Versailler Friedensbedingungen 1919 bereitete ihnen »ein jähes Ende«38. Persönliches Erlebnis, militärisches Ergebnis und politische Folgen des Ersten Weltkriegs machten Reisewünsche und Zukunftspläne eines Studenten- und Wanderlebens in Europa samt Kolonialherrenexistenz in Afrika gegenstandslos. Nicht minder folgenschwer war es, dass sich Jüngers Patriotismus, der vor dem Krieg kaum ausgeprägt gewesen war, in den Nachkriegsjahren radikalisierte. Aus dem Weltkrieg kehrte Jünger als Nationalist zurück.
Im Jahrzehnt nach 1918 begann in Deutschland das Zeitalter des Massentourismus. Das Reisen zum Selbstzweck und ebenso planbares wie erschwingliches Konsumgut, der schichtenübergreifende Urlaub, der infrastrukturelle Ausbau des Fremdenverkehrs sowie gesellschaftliche Werte, mit denen die individuelle Lebensgestaltung zielführend wird – all diese Faktoren des modernen Massentourismus lassen sich erst für die 1920er Jahre in Deutschland nachweisen. Der Erste Weltkrieg wirkte wie ein Katalysator für die Entwicklung neuer Verkehrsund Kommunikationsmittel, während die Republik den notwendigen Rahmen bereitstellte, um den Tourismus als Branche, das Reisen als Recht aller und den Urlaub als volkswirtschaftliche Notwendigkeit zu fördern. Schon 1918 wurde die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden herabgesetzt und der Urlaubsanspruch tarifvertraglich festgelegt. Adel und vermögendes Bürgertum waren jetzt nicht mehr prinzipiell alleinige Inhaber des Urlaubsprivilegs wie noch zu Kaisers Zeiten. Trotzdem konnten sich die meisten Arbeiter nur selten Kurzurlaube innerhalb Deutschlands leisten. In der Mehrzahl verreisten Angestellte und Beamte. So stieg nach anfänglichen Revolutionswirren, Putsch- und Umsturzversuchen sowie der Inflationskrise die Zahl der Reisenden bis 1929 gegenüber der des Kaiserreichs, ehe mit der Weltwirtschaftskrise die jährliche Urlaubsreise für die Bevölkerungsmehrheit in den folgenden vier Jahren unerschwinglich wurde. Bemerkenswerter als die insgesamt bescheidenen wie instabilen Wachstumsraten der Tourismusbranche in der krisengeschüttelten Republik ist die Tatsache, dass sich neben den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen eine grundlegende Veränderung in der deutschen Reisekultur vollzog. Die Urlaubsreise wurde populär, trat mehr und mehr ins Bewusstsein der Deutschen, nicht zuletzt durch die massenhaft verbreitete Reklame der Fremdenverkehrsindustrie. In den 1920er Jahren wurde der Urlaub zu einem weniger realisierten denn artikulierten Bedürfnis, zum Leitbild modernen Lebensstils.39
In den Genuss des Reisens als Selbstzweck kam der mehrmals verwundete, mehrfach dekorierte Weltkriegsoffizier, Reichswehrleutnant, Student der Zoologie und freie Autor Ernst Jünger im ersten Jahrzehnt der Republik kaum, was für die Nachkriegszeit keine Ausnahme darstellt. Auslands- und Fernreisen zu unternehmen, war in den Anfangsjahren der Republik nur mit finanziellem und organisatorischem Aufwand möglich. Autoren, die wie Alfons Paquet, Arthur Holitscher und Arthur Goldschmidt aus Sowjetrussland, wie Heinrich Hauser und Alfred Kerr aus den USA berichteten, besaßen Reiseprivilegien, die sie in erster Linie ihrem Renommee als (Reise-)Schriftsteller verdankten. Das Reisen in fremde Länder und das Schreiben darüber waren Broterwerb, die Reiseberichte von Konzernen, Verlagen oder gar politischen Organisationen und Parteien finanzierte Auftragsarbeiten.40
Davon konnte der Weltkriegsheimkehrer Jünger nur träumen: Als Reichswehrleutnant war er bis 1923 in seiner Reisefreiheit stark eingeschränkt. Er durchlebte nicht nur »spartanische Jahre der Lektüre«41, sondern auch die eines anstrengenden Dienstes: »Vormittags Arbeit, Nachmittags Arbeit, Abends Arbeit«42. Hinzu kam das Bedürfnis, die Kriegserlebnisse zu literarisieren sowie in militärkundlichen Aufsätzen für die Heeresdienstvorschrift zu Papier zu bringen. Als Jünger dann von 1923 bis 1925 zunächst als Student der Zoologie, dann bis 1927 als freier Publizist in Leipzig über die nötige Freizeit für etwaige Reisen verfügte, fehlten ihm die finanziellen Mittel, um privat ins Ausland zu fahren, zumal er 1923 mit Gretha von Jeinsen die Tochter einer verarmten Offiziersfamilie geheiratet hatte und nach der Geburt seines erstes Sohnes 1926 eine Familie ernähren musste. Jüngers Einkünfte beschränkten sich zu dieser Zeit auf 70 Mark Soldatenrente, die um die Einnahmen aus seinen Büchern und Artikeln nur unzureichend vermehrt wurden. In der Wirtschaftskrise der ersten Republikjahre, die 1923 in der Hyperinflation gipfelte, aber auch während der Weimarer Konsolidierungsphase war das zum Reisen zu wenig.
Jüngers einzige längere Auslandsreise dieser Zeit kam denn auch ohne großen finanziellen Aufwand zustande.43 Im Frühjahr 1925 assistierte er als studentischer Mitarbeiter dem Leipziger Biologen Georg Grimpe während eines dreimonatigen Forschungsaufenthalts an der Stazione Zoologica di Napoli, einem renommierten Institut für Meeresbiologie, das von Anton Dohrn 1870 gegründet worden war. Ansonsten blieb Jünger im ersten Jahrzehnt der Weimarer Republik ein verhinderter Reisender.
Noch Jahrzehnte später erinnert Jünger in den »Parerga zu ›Subtile Jagden‹« sowie in Siebzig Verweht III an seinen neapolitanischen Aufenthalt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er bei der Untersuchung des Tintenfischs Loligo media mehr als »Liebhaber« denn als Wissenschaftler tätig gewesen sei.44 In den Spätwerken ist die forschende Tätigkeit freilich literarisch überformt, wenn das Forschungsobjekt als »ein Gesondertes«, »als eine Probe der unergründlichen Macht« des »Universums« bezeichnet wird. Was dem 28-jährigen Studenten noch verborgen blieb, erkennt der über 70-jährige Autor »im gesonderten Objekt, sei es auch nur der Flügel eines Falters«: »ein Stück […] Heimat«45. Als 100-jähriger 1995 interviewt, erinnerte sich Jünger an Neapel als eine »interessante Erfahrung«. Von einer Pension aus, die »in einem Viertel der Oberstadt« den Blick auf das Castell dell’Ovo erlaubte, »spazierte« er im »chaotisch[en]« Neapel »gerne zu Fuß herum«: »Ich liebte es, in den Gäßchen des spanischen Viertels zu streunen und das Leben der Leute zu beobachten.«46 Ein »willkommenes Bildungserlebnis«47 war diese Reise dennoch. »Ich denke, im nächsten Sommer gemütlich eine Monographie darüber […] zu schreiben«, berichtete der Student der Zoologie seinem Vater 1925 über seine schriftstellerischen Pläne, die er nur ansatzweise verwirklichte. Erst vier Jahre später literarisierte Jünger seine Reiseerfahrung, indem er Neapel als einen »Ort […] der magischen Anschauung«48 in Form einer Reiseprosaminiatur in die erste Fassung von Das Abenteuerliche Herz aufnahm.
Über seine unausgeführten Reisepläne der ersten zehn Republikjahre geben nur wenige Dokumente der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie einige autobiographische Passagen des Frühwerks Auskunft; letztere sind freilich nicht frei von literarischen Verfremdungen. Aufschlussreich ist, dass Jünger an die vor und während des Ersten Weltkriegs gehegten Reise- und Auswanderungspläne anknüpfte und diese um das literarische Motiv der exotistischen Abenteuerfahrt ergänzte, frei nach Joseph Conrads Heart of Darkness. Nach dem Krieg, »der unvergleichlichen Schule des Lebens«, hätte er zunächst »bei den Philosophen« seinen »Kursus duchschmarutzen« wollen, um dann »Aufenthalt in einer jener entlegensten und unberührten menschlichen Siedlungen inmitten unermeßlicher tropischer Regenwälder« zu nehmen. Anschließend hätte er aus dem Urwald »wohlausgerüstet […] ins Zentrum der Großstädte« zurückkehren wollen, »an die Stätten der kompliziertesten Barbarei.« Dass es dazu bis dahin nicht gekommen war, begründete Jünger 1929 mit der deutschen Kriegsniederlage und der anschließenden Wirtschaftskrise, womit er sich zum exemplarischen Zeugen der Zeitgeschichte erklärte, der seine Entbehrungen mit dem grimmigen Realitätssinn hinnimmt: »Aber schon auf halbem Wege hat mir die Inflation, der Götze des Geldes und seiner Dynamik, einen Streich gespielt, und wenn man zum Kriege A sagt, so muß man auch B sagen. Das heißt, man muss es billig finden, wenn man einer Nation angehört, die verloren hat.«49
Das verhinderte Reiseleben verstand Jünger als eine zwangsläufige Folge des verlorenen Weltkriegs. Bemerkenswert ist zudem, dass der Autor sowohl das Leitmotiv seiner späteren Reiseprosa anklingen lässt, als auch auf die beherrschende Motivation seiner jugendlichen Fluchtphantasien anspielt: eine Welt jenseits der Zivilisation zu erleben, die eine intensive Natur- und Selbsterfahrung ermöglicht. Der 34-jährige Schriftsteller hielt am Bildungserlebnis des Reisens fest. Allerdings sollte es im Gegensatz zur bürgerlich-humanistischen Tradition nicht in der Begegnung mit der Kulturgeschichte Italiens oder Griechenlands gipfeln, sondern im exotischen Abenteuer. Eine solche Aventiure aber hatten ihm Kriegsniederlage und Versailler Nachkriegsordnung verwehrt. So stellte es der Republikfeind jedenfalls 1929 dar.
Im ersten Jahrzehnt der Republik hatte Jünger noch andere Sorgen als das Fernweh. Zwischen 1920 und 1925 arbeitete er sich mit »Obsession«50 am Kriegserlebnis ab, unternahm in fünf Anläufen den Versuch, den verstörenden Stoff aus verschiedenen Perspektiven sowie in unterschiedlichen Formen zu literarisieren. 1920 erschien der Erstling In Stahlgewittern als dokumentarischer Kriegsbericht, worauf 1922 der Essay Der Kampf als inneres Erlebnis, 1923 die Novelle Sturm in den Aprilnummern des HANNOVERSCHEN KURIERS sowie schließlich 1925 Feuer und Blut und Das Wäldchen 125 in essayistisch-berichtender bzw. diaristischer Form folgten, in denen Episoden aus In Stahlgewittern in detaillierten Schlachtschilderungen aufgegriffen und ausgebreitet werden. Diese Kriegsprosa begründet Jüngers weltliterarischen Rang.51
Der Frontsoldat hatte die Aporien der Moderne kennen gelernt; nun versuchte der Autor, der erschütternden Kriegswirklichkeit literarisch einen höheren Sinn zuzuschreiben. Man kann Jüngers künstlerisch zunehmend ambitionierte Bewältigungs- und Sinngebungsversuche psychologisch als »Männerphantasien«52 analysieren, als Schuldkomplex des mit dem Leben davongekommenen Veteranen auslegen53 oder als Beiträge zur »Kultur der Niederlage«54 von 1918, als sublimierte Revanche, deuten. Faktisch war Jünger in der so genannten Urkatastrophe des kurzen 20. Jahrhunderts in exemplarischer Weise einer rapide beschleunigten Modernisierung ausgesetzt gewesen, die die politischen Folgen der militärischen Niederlage übertraf. Es war nicht nur die überkommene Idee soldatischen Heldentums fragwürdig geworden. Vielmehr rechtfertigte Jünger Inhumanität, Depersonalisierung, Destruktion von (männlicher) Identität sowie ein umfassender Werte- und Orientierungsverlust zunächst nicht politisch, sondern im Rahmen einer »historischen Anthropologie aus dem Geist des Krieges«55, die er im »Habitus der Kälte«56 mittels einer »Ästhetik des Schreckens«57 darstellte sowie mit der apokalyptischen Deutung des Kriegs als Ende und Neuanfang von Geschichte legitimierte. »Wir haben in […] der Materialschlacht den Zusammenbruch eines hoffnungslos verlorenen Zeitalters geschaut.«58 Den Weltkrieg als Katastrophe der europäischen Zivilisation, als Untergang der bürgerlichen Kultur, letztlich als »Erfahrung eines qualitativen Zeitsprungs und der Fremdheit des Gestrigen«59 zu deuten, war nach 1918 eine Grundüberzeugung der europäischen Intellektuellen, die Jünger teilte. Politische Zusammenhänge bot Jünger nicht, im Gegensatz zur pazifistischen und nationalistischen Kriegsliteratur der Weimarer Republik.
Auf das ästhetische Problem, von der Kriegserfahrung authentisch zu erzählen60, reagierte bereits der junge Autor mit unterschiedlichen literarischen Sinngebungsstrategien. Sei es, dass er In Stahlgewittern in episodisch sich steigernder Reihung als initiatorische Heldengeschichte erzählte, in der sich der Ich-Erzähler nach desillusionierenden Materialschlachten über die Stoßtruppführer-Ausbildung zum homerischen Kriegshelden entwickelt und so seine Wiedergeburt als moderner Kriegertypus in den letzten Feldschlachten des Jahres 1918, im anachronistischen Kampf Mann gegen Mann, erfährt. Sei es, dass er in Der Kampf als inneres Erlebnis teils expressionistisch, teils nietzscheanisch den Krieg zu einem zeitlosen wie kulturerneuernden Elementarerlebnis sublimierte, das von der dekadenten Zivilisation befreit. Sei es, dass er in der Novelle Sturm versuchte, das Kriegsgeschehen kaleidoskopisch, gleichsam multiperspektivisch in einem ›Dekameron des Unterstands‹ einzufangen und zu reflektieren. Auch in den beiden letzten Kriegsbüchern des Frühwerks – Feuer und Blut sowie Das Wäldchen 125 – suchte Jünger der Sinnlosigkeit des Krieges, die sich mit der militärischen Niederlage offenbarte, beizukommen, indem er das Geschehen als Beginn eines neuen Zeitalters erscheinen ließ. Aber jetzt folgten die Erstausgaben von 1925 auch politischen Programmpunkten des Neuen Nationalismus, denen zufolge die Frontsoldaten, die »in sich die Vernichtung einer alten und die Auferstehung einer neuen Welt«61 erfahren hätten, zu den allein legitimierten Trägern einer nationalrevolutionären »Fortsetzung des Krieges mit veränderten Mitteln«62 stilisiert wurden.63
Freilich kam seine Kriegsprosa nicht ohne Paradoxien aus. So wird die Schlacht zwar als »ein furchtbares Messen der Industrien« und der Sieg als »Erfolg einer Konkurrenz« reflektiert, »die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht«64. Aber neben der daraus resultierenden, ohnmächtig erfahrenen »Herrschaft der Maschine über den Menschen« verteidigt der Erzähler das »Gefühl, daß der Mensch dem Material überlegen ist, wenn er ihm […] den Widerstand eines mutigen Herzens« entgegenstellen könne.65 Diese Paradoxie wird jedoch nachvollziehbar, wenn man dem exotistischen Darstellungsmuster Beachtung schenkt, das der Autor noch in den Fassungen letzter Hand aufrechterhalten hat.
Der Erste Weltkrieg war Jüngers »Initiationserlebnis«66 als Autor, der um ein Vielfaches größere »Schritt aus der Ordnung in das Ungeordnete«67, als es die Legionärseskapade sein konnte. Die in vier Kriegsjahren als Frontsoldat gemachten Grenzerfahrungen übertrafen die vormaligen Sehnsüchte »nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr«68 in ungeahnter Weise: »Der Krieg warf seine tieferen Rätsel auf.«69 Nicht zufällig hat Jünger daher exotistische Motive und Topoi ins Genre der Kriegsliteratur überführt, schien er doch zu lehren, dass »man den Urwald nach Europa bringen kann«70.
Wie der literarische Exotismus seinen realen Hintergrund in der Kolonialwelt als einem außerzivilisatorischen Raum regelloser Selbstentfaltung besitzt, so markiert Jünger in seiner Kriegsprosa die Front als einen anarchischen Ort, an dem bürgerliche Verhaltensregeln nicht gelten. Und wie im Exotismus das Verschwinden des Fremden infolge der kolonialistischen Ausbreitung der westlichen Zivilgesellschaft beklagt wird, so nimmt Jünger die Technisierung des Kampfes als desillusionierende Deformation wahr, vor der den Soldaten nur die Wiedererkennung im archaischen ›Ur-Krieger‹ bewahrt, was wiederum der erneuernden Wiedererkennung des Reisenden im ›Wilden‹ als einem ›Urmenschen‹ entspricht. Und schließlich knüpft Jünger seine Hoffnungen auf eine epochale Erneuerung europäischer Kultur und deutscher Nation an den Krieg, funktionalisiert diesen also ähnlich, wie es im Exotismus mit dem Fremden geschieht.
»Dieser Krieg ist wie ein Urwald, der uns seit Jahren immer stärker in seinem dunklen Banne hält«71, heißt es etwa in Das Wäldchen 125. An anderer Stelle sinniert das Kriegstagebuch-Ich über die Frontsoldatenexistenz als Alternative zum zivilen Bürgerleben und spricht ihr explizit eine befreiende Wirkung zu:
Wenn ich bedenke, in welcher Umgebung ich mich jetzt vielleicht befände, zwischen Strebern in einen Beruf eingekeilt, in einem Friedensoffizierkorps, im rauchigen Café zwischen Literaten – ich glaube, ich hätte nach einem halben Jahr den Kram zusammengehauen, um an den Kongo oder nach Brasilien zu gehen oder sonst an einen Ort, an dem sie der Natur noch nicht beikamen. Hier gibt der Krieg, der sonst so vieles nimmt: er erzieht zu männlicher Gemeinschaft und stellt Werte wieder an den rechten Platz, die halb vergessen waren.72
Wie in einer Abenteuerfahrt die ›Wildnis‹ als Initiationsraum des Helden dient, so schreibt Jünger dem Frontgebiet eine Ich- wie kulturerneuernde Funktion zu. Der Stellungsgraben ist nicht allein ein Ort männlicher Bewährung, sondern mehr noch: ein Raum regressiver Utopie. Dort werden zivilisatorische Deformationen überwunden.
Zunächst gehört zu Jüngers exotistischer Topographie des Krieges, dass die geschichtsträchtige Kulturlandschaft ausgelöscht wird. An der Westfront verliert sich infolgedessen der »Sinn für bürgerliche Zeiteinteilung«; der »bürgerliche Geist« fällt »als brüchiges Gewand in Stücken«73 herab. Wo Bürgerlichkeit schon durch einen einfachen Ortswechsel abgestreift werden kann: »Vorgestern habe ich mich noch ganz als Großstädter gefühlt, heute hause ich schon wieder in einem Fuchsloch«74, vermittelt der Unterstand »ein Gefühl der Geborgenheit, weil es der einzige Ort ist, an dem ich zu Hause bin«75. Die bürokratisch geregelte Verlegung aus der Reservestellung an die Front wird als Übergang von der Zivilisation in die Wildnis des Schützengrabens geschildert, die dann in typisch exotistischer Verkehrung als eigentliche Heimat erscheint.
Darüber hinaus unterteilt Jünger das Frontgebiet in verschiedene Bereiche, denen er unterschiedliche Grade an fremder Elementarität und individueller Freiheit zuschreibt. Da ist zunächst die zurückgezogene Hauptwiderstandslinie der Reservestellung, dann die vordere Linie des Schützengrabens und schließlich das ›Niemandsland‹, das zwischen der vorderen Linie und dem Feindesland liegt. Dort spielt sich das Kampfgeschehen ab. Wie im exotistischen Abenteuerbericht, so reicht in Jüngers Kriegsprosa die Zivilisation in Form des bürokratischen »Papierkrieg[s]« weit in das Frontgebiet hinein: »Aus den zahllosen Anforderungen von Elektrotechnikern, Schreibmaschinisten, Brieftaubenwärtern, Vortragskünstlern, Kinooperateuren, Totengräbern, Bademeistern, Kantinengehilfen, Feldbibliothekaren und weiß der Himmel, was sonst noch, errät« der Krieger, dass der »Kämpfer immer weniger« werden »und dieser Leute immer mehr«76. Gegen die bürokratischen Zwänge des Grabenalltags hilft nur die Flucht. Natürlich wird nicht an Desertion gedacht. Der soldatische Abenteurer weicht aus, indem er den Unterstand zum idyllischen Refugium umbaut; der Kriegsbericht gerät passagenweise zur Robinsonade. Gleichgültig ob Stollen, Schützengraben oder Siegfriedbunker – die militärischen Anlagen werden als »kleines Blockhaus«77, »offene Sommerwohnung«78 oder »türlose Sommerburg«79 verklärt, wo man Karl Mays Reiseroman Waldröschen oder eine Verfolgung rund um den Erdball lesen kann. »Die Zeit scheint stillzustehen.«80 Vordergründig geht es darum, sich den »zehntausend kleinen Regeln und Vorschriften« zu entziehen, so etwa dem »Bau von Latrinen«, dem »Einsammeln von Patronenhülsen und Flaschenkorken« oder davor, die »Pferdeschwänze zu stutzen«81. Tatsächlich besteht die ästhetische Funktion der Robinson’schen Refugien darin, den jederzeit möglichen Ausstieg aus einer bedrängenden Gegenwart und überstrukturierten Umwelt anzuzeigen. Erst an solchen Plätzen gelingt es, »die anspruchslosen Gewohnheiten des Naturmenschen wieder« anzunehmen: »in der Sonne liegen und das Fließen der Zeit unmittelbar als Genuß zu empfinden, […] anders kann man in den Pfahldörfern auch nicht gelebt haben, wenn man von der Jagd oder vom Kampfe zurückgekehrt war«82.
Die Imagination eines regressiven Zeitsprungs nimmt die entschleunigten Augenblicke der Reiseprosa vorweg. In der Kriegsprosa finden die wahren »Abenteuer«83 erst im ›Niemandsland‹ der vordersten Linie statt: »Wenn man nur etwas weiter nach hinten kommt, wird gleich das Leben wieder von tausend Beziehungen, Rücksichten und Zweifeln umringt. Im Feuer schwindet das alles dahin.«84 Die Front bietet regellose Entfaltungsmöglichkeiten: Pirschgänge, Handstreiche, waghalsige Unternehmungen und Gefechte. Der Autor beschreibt das ›Niemandsland‹ als anarchischen Raum, denn »hier besteht keine andere Aufsicht und keine andere Richtlinie als jene, die jeder sich selber gibt«85.
›Niemandsland‹ wie Feindesland wollen erobert sein; sie verheißen den Frontsoldaten mit den »Herzen von Goldsuchern«, den »Jäger[n] in einem urweltlichen Land«, in den ruhigen Phasen des Stellungskriegs »das Geheimnisvolle, das das Fremde umgibt«86. Auf nächtlichen Patrouillen gelingen erste Vorstöße in die »Wüste«: »[W]ir hörten die englischen Posten, aber fanden das Niemandsland frei«87. Doch erst wenn die erstarrten Stellungen in Bewegung kommen, erschließt sich dem »Abenteurer« mit seiner »Schiffsmannschaft vor großer Fahrt« die Front als eine terra incognita, »die noch kein Dichter in seinen Träumen geschaut« habe.88 Hatten auch die Eroberungszüge, Entdeckungsfahrten und Forschungsreisen seit Beginn der Neuzeit bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte getilgt – auf dem Schlachtfeld eröffnet sich den Soldaten ein unbekannter Raum, der dem entfremdeten Subjekt das in der Zivilisation unmögliche Erlebnis transzendentaler Gewissheit verheißt:
Da sind eisige Kraterfelder, Wüsten mit feurigen Palmeninseln, rollende Wände aus Feuer und Stahl, über die rote Gewitter ziehen. Da schwärmen Rudel von stählernen Vögeln durch die Luft, und gepanzerte Maschinen fauchen über das Feld. Und alles, was es an Gefühlen gibt, vom gräßlichen körperlichen Schmerz bis zum höchsten Jubel des Sieges, wird dort zu einer brausenden Einheit, zu einem blitzartigen Sinnbild des Lebens zusammengeballt. […] was wollen wir mehr?89
Neben solchen exotistischen Ästhetisierungen beschreibt Jünger das Schlachtgeschehen als Beschleunigungserfahrung. Im »Wirbel der Vernichtung« wird das Ich schließlich an den Zusammenbruch seiner Wahrnehmungsfähigkeit geführt; das Orientierungsvermögen beginnt im »Toben zu verfließen«: »Der Punkt ist erreicht, an dem man sich in eine Ecke setzt und vor sich hinzustarren beginnt oder von dem an man sich […] mit einer gedankenlosen Sicherheit bewegt«90. Vor der Apathie rettet sich der Krieger, indem er sich zügellos dem Rausch des Tötens und Sterbens hingibt. Darstellungstechnisch gesprochen, bewältigt Jünger die Bewusstseinskrise des modernen Subjekts mit einem typisch exotistischen Motiv: Zum Krieg wie zur Abenteuerfahrt gehört die Todesgefahr. Es verwundert daher nicht, dass der Autor auf nationalistische Rhetorik verzichten kann, um das Kampfgeschehen als »Einweihung« in die »Tiefe überpersönlicher Bereiche«91 zu bezeichnen. Das exotistische Muster des »gesteigerten Lebens am Abgrund«92 ermöglicht die Darstellung der modernen Materialschlacht.
Das Motiv der Todesgefahr verfolgt Jünger fast bis zur letzten Konsequenz, indem er seine zum Abenteurerleben stilisierte Frontsoldatenexistenz im Augenblick persönlicher Todeserfahrung kulminieren lässt. Die vor der Schlacht formulierte Verheißung eines transzendentalen Erlebnisses geht schließlich in Erfüllung, als der Krieger inmitten des verwirrenden Schlachtgetümmels »einen harten Schlag vor die Brust« erhält, der ihn »im Augenblick nüchtern macht«93. Der 25-jährige Kriegsbuchautor literarisiert die authentische, das heißt seine persönliche Todeserfahrung zu einem unüberbietbaren, metaphysischen Erlebnis:
Und seltsamer Weise gehört dieser Augenblick zu den ganz wenigen, von denen ich sagen kann, daß sie wirklich glücklich gewesen sind. In ihm begriff ich […] mein Leben in seiner innersten Gestalt. Ich spürte ein ungläubiges Erstaunen darüber, daß es gerade hier zu Ende sein sollte, aber dieses Erstaunen war von einer sehr heiteren Art. Dann hörte ich das Feuer immer schwächer werden, als sänke ich wie ein Stein tief unter die Oberfläche eines brausenden Wassers hinab. Dort war weder Krieg noch Feindschaft mehr.94
Zweifellos besitzt diese Szene in Jüngers schwerer Verwundung vom August 1918 ihren realen, biographisch verbürgten Kern. Zugleich fällt die Nähe zu Schopenhauers Ethik der Willensverneinung auf, die um den metaphysischen Bedeutungsüberschuss eines zum ewigen Frieden erlösenden Todes ergänzt wird. Bemerkenswert ist die literarische Gestaltung vor allem deshalb, weil sie die entschleunigten Augenblicke sinnerfüllter Ganzheit vorwegnimmt, die in den Reiseschilderungen zum (freilich zivilen) Leitmotiv geworden sind.
Ab Mitte der 1920er Jahre überführte Jünger seinen militanten Exotismus in einen »militanten Modernismus«95