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Mit dem Begriff der Intervention ist eine Überschreitung der Kunst durch die Kunst selbst aufgerufen. Damit einher geht nicht nur das Versprechen einer spezifischen Wirksamkeit, sondern eine Praxis des Aushandelns ästhetischer und politischer Sphären. Im Theater scheint die Rede von Intervention dann besonders prägnant zu sein, wenn die komplexen Wechselwirkungen von Öffentlichkeit, Gesellschaft und Medienwirklichkeit über die Szene hinaus thematisiert werden. Der aus einer Tagung an der Ludwig-Maximilians-Universität München hervorgehende Band versammelt Beiträge, die kritische Perspektiven auf Theaterprojekte und theatrale Aktionen werfen, die mit unterschiedlichen Strategien des Eingreifens arbeiten. Dabei wird die Pluralität der interventionistischen Ästhetiken und ihre Theoriebildung aufgezeigt.
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Seitenzahl: 442
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Ästhetiken der Intervention
Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn
Recherchen 156
© 2022 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Satz: Tabea Feuerstein
Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-304-0 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-425-2 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-426-9 (EPUB)
Recherchen 156
Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn
Johanna Zorn, Ulf Otto
Einleitung
Azadeh Sharifi
»Noch einen Schritt weitergehen«
Überlegungen zu weißer Imagination, Interventionen und dekolonialen Ästhetiken
Matthias Warstat
Intervention und Dissoziation
Kollektivbildung im politischen Theater
Julia Prager
ver-sammeln und ver-rändern
Zur dislozierenden Intervention der Bürgerbühne bei Vanessa Stern und Bürger:innen (Schuldenmädchenreport, Dresden 2019)
Sandra Umathum
Von der Kunst, interventionistische Kunst überhaupt zu werden
Simone Niehoff
Künstlerische Interventionen als übergriffige Akte
Wie das Zentrum für Politische Schönheit scheitert
Lars Koch
Performing Artivism
Relevanzanspruch und Popularitätsmanagement beim Zentrum für Politische Schönheit, bei Milo Rau und Friedrich von Borries
Johanna Zorn
Inframinimale Spiele der Differenz
Ein kunsttheoretisches Abtasten des Modells ›Intervention‹
Benjamin Wihstutz
Kippmomente
Über Aktivismus, Theater und Politik
Anna Raisich
Vom Glauben an die Macht der Bilder
Wie man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit kritisiert
Ulf Otto
Die Kunst der Umbesetzung
Intervention als Artikulation in Mittelreich (2017)
Marita Tatari
On the change of change
Handlung und Bühne unter gegenwärtigen Bedingungen
Kai van Eikels
Was dazwischenkommt beim Intervenieren
(Nazis, Renovierungen, alltägliches Vergessen)
Autor:innen
Im Jahr 2000 nimmt Christoph Schlingensief die FPÖ beim Wort und spielt Big Brother mit Asylsuchenden: Auf dem Platz vor der Staatsoper steht im Rahmen der Wiener Festwochen ein Wohncontainer und jede Woche wird gewählt, wer abgeschoben wird. Darüber prangt ein Plakat mit der Aufschrift »Ausländer raus«. Es entsteht eine Kippfigur aus Kunst und Politik, die die bürgerlichen Werte in den Double Bind nimmt: Wer schweigt, stimmt zu, wer stört, versteht die Kunst nicht. Jeden Tag wird vor Ort, in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung Krone und im ORF in heftiger Erregung um das Bild gestritten, das von Österreich um die Welt geht, während das Feuilleton genüsslich beobachtet, wie die individuellen und kollektiven Selbstinszenierungen in medialen Rauch aufgehen. Der Filmemacher Schlingensief zerrt das deutschsprachige Theater aus der ästhetischen wie politischen Provinzialität auf die Weltbühne und verleiht ihm das Pathos der Avantgarde. Auf den Container konnte man sich einigen, weil er als Vergleichsgröße eines Theaters der Intervention taugt, das anders politisch sein will, als es Postdramatik und Performativität gedanklich zugelassen haben.
Zugleich aber markiert dieser Container auf dem Opernplatz am Ende des 20. Jahrhunderts einen Moment, der nicht mehr der unsere ist. Die Geste der Entlarvung, die noch den Container umweht, hat einen schalen Beigeschmack bekommen (und Geschmack ist in der Ästhetik bekanntlich eine nicht unwesentliche Größe). Denn einerseits stellt sich die Frage, ob eine solche Demaskierung einer Neuen Rechten heute noch beikommen könnte, die längst die Maske hat fallen lassen und zugleich die demagogische Maskerade professionalisiert hat. Andererseits wiederum muss sich die künstlerische Maskierung, die zur politischen Demaskierung dient, inzwischen die Frage gefallen lassen, was sie für diejenigen bedeutet, deren Gesichter da als Maske dienen. Angesichts der zunehmenden Sorge um die natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelten, stellt sich heute also auch an Interventionen grundsätzlicher denn je die Frage, was von ihnen bleibt, wenn der Zirkus weiterzieht.
Intervenieren – vom lateinischen intervenire (dazwischenkommen) – bedeutet, sich einzumischen: von außen kommend, örtlich und zeitlich befristet, in Situationen, die als krisenhaft definiert werden und durch das eigene Handeln zum Guten gewendet werden sollen. Notwendig sind Interventionen daher übergriffig, stellen Souveränität in Frage, erfordern Legitimation und setzen Institutionen voraus, die über Definitionsmacht verfügen: Oberkommandos, Zentralbanken, Seelsorger, die hier im generischen Maskulin stehen bleiben, um die patriarchale Geste, die dem Eingriff innewohnt, nicht zu verschleiern – und seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Philosophen. Statt nur Interpretation fordert die elfte Feuerbach-These eben auch Intervention.1 Sie erschafft damit einen Linksintellektuellen, dessen J’accuse, das seinerseits eng mit der Konstruktion heroischer Männlichkeit verbunden ist, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts poststruktural und postkolonial dekonstruiert, sich sowohl theoretisch wie praktisch in die distribuierte Artikulation von Dissens auflöst.2 Bei Maurice Blanchot bleibt ein radikales Nein, das auf eine Not reagiert, welche die Kunst zur Antwort nötigt.3 Ähnlich entfaltet die Kunst bereits bei Herbert Marcuse ihre »magische Kraft nur als Kraft der Negation«4, bei Adorno wiederum ist sie gar das fundamental Nichtidentische, das immer das emphatische »Es soll anders sein«5 ausrufen müsse. Wichtiger allerdings als diese theoretischen Positionen der ästhetischen Negation sind seit den 1960er Jahren häufig die Aktionen feministischer Performances im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, die dem Dissens und seiner Logik der Unterbrechung die Form geben.6
In der Kunst tritt die Intervention insofern zumeist in Opposition zur Repräsentation auf. Es ist das programmatische Übergreifen in das Terrain des (Sozio-)Politischen über die Dimension des Ästhetischen hinaus und damit das Überschreiten dessen, was gemeinhin als moderne Autonomieästhetik bezeichnet wird, das Interventionen auszeichnet. In avantgardistischer Tradition relativieren sie einen bürgerlichen Kunstbegriff, der das politische Potential der Kunst gerade in ihrer kategorialen Distanz zur Politik begründet sah, und verbinden mit dem Grenzübertritt nicht zuletzt die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kunst.
Daher ist der Ein- und Übergriff der künstlerischen Intervention zuerst einmal Geste, stellt Haltung aus und ist auf die behauptete Wirksamkeit nicht angewiesen. Die Transgression der Dichotomie von Kunst und Politik ist zentral, bleibt aber temporär, so dass sie eher als ein Flirt mit der Überwindung dieser Trennung erscheint, dessen Attraktivität sich gerade aus der zeitweisen konfliktuellen, bisweilen konfrontativen Überlagerung der ästhetischen und politischen Sphäre ergibt.7 Mehr als fraglich bleibt insofern, ob der Anspruch einer künstlerischen Handlung auf »Realitätsproduktion« tatsächlich so simpel zu bewerkstelligen ist, wie es etwa das kuratorische Team der 7. Berlin Biennale 2012 rund um Artur Żmijewski nahelegte, indem es behauptete: »Wir stellen Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.«8
Denn einerseits lebt der Begriff der Intervention vom Auftrag zu Wirksamkeit, Direktheit und Transformation durch ein nunmehr explizit ins Feld des Politischen und Sozialen ausgeweitetes künstlerisches Tun, beschreibt andererseits aber ein Handeln, das notwendig im Feld des Ästhetischen verankert bleiben muss. So sind es letztlich die Ambivalenzen und Aporien der Sphäre des Ästhetischen selbst, des nur scheinbar fest umrissenen Felds der Kunst, die von Interventionen aufgestört und sichtbar gemacht werden. Das bedeutet zugleich, dass künstlerische Interventionen die Stabilität jener Institutionen, aus denen heraus sie operieren, geradezu voraussetzen.
Weil die Institutionen ihnen die Macht über die Verhältnisse, in die sie eingreifen, überhaupt erst verdanken, müssen sie notwendig zu ihnen zurückkehren, um überhaupt künstlerische Interventionen zu bleiben. Ein kurzer Blick in die Geschichte dezidiert politischer Theaterpraktiken illustriert diese komplexe Verwicklung von Distanzierung und Wiedereintritt in das Reich der Kunst: Erwin Piscator, der das politische Theater vom Begriff her erfindet, erträgt, aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, die bürgerliche Schauspielerei, die sein Beruf war, nicht mehr und wendet sich stattdessen dem Agitprop zu. Damit stellt er sich zugleich in den Dienst der Partei, eröffnet mit finanzieller Unterstützung eines Industriellen nur wenige Jahre später die Piscator-Bühne und dadurch ein Theater, das die Welt wieder, wenn auch mit neuen Mitteln, abbildet. Ganz ähnlich halten es die historischen Avantgarden, deren programmatische »Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis«9 hauptsächlich in den Stätten der Kunst verbleibt. Bereits vor ihnen ist es Richard Wagner, der im Geist der Revolution zwar das »große Gesamtkunstwerk«10 als das Kunstwerk der Zukunft erträumt, mit seinem ›Bühnenweihfestspiel‹ schließlich sogar an der Neuerfindung des Ritus arbeitet, letztlich aber doch (nur) Theater macht.
ich werdenoch einen schritt weitergehenbis an den äußersten randwo meine schwestern sindwo meine brüder stehenwounsereFREIHEITbeginntMay Ayim, grenzenlos und unverschämt (1990)
»Noch einen Schritt weitergehen«, so lautet eine Zeile aus dem Gedicht grenzenlos und unverschämt der Afrodeutschen Aktivistin und Poetin May Ayim, die als Wegbereiterin für viele Schwarze und Afrodeutsche Künstler:innen sowie aktivistische Bewegungen gilt. Obwohl aus dem Jahr 1990, ist die Gedichtzeile aktueller denn je. In den letzten Monaten hat sich aber auch viel bewegt. Die Morde an den Afroamerikaner:innen George Floyd, Ahmaud Arbery und Breonna Taylor durch die US-amerikanische Polizei haben weltweit zu Solidarisierungen und Protesten geführt. Auch die deutsche Black Lives Matter-Bewegung hat zahlreiche große Demonstrationen in Großstädten organisiert, an denen sich junge Schwarze, People of Color (PoC) und weiße Menschen beteiligt haben. Es wurde gegen Rassismus im Alltag und gegen institutionellen Rassismus demonstriert, gegen Racial Profiling und gegen durch Rassismus motivierte Gewalt staatlicher Organe.1
Auch in den Mainstream-Medien wurde breit über Rassismus diskutiert und zwar in einer Form, die weder nach der Aufdeckung der rechtsradikalen und terroristischen Gruppe NSU noch während deren Aufarbeitung, bei der die Verstrickungen deutscher Staatsapparate aufgedeckt wurden, möglich war. So wurden beispielsweise die Berliner Verkehrsbetriebe kurzerhand ›übermütig‹ und wollten die U-Bahn-Haltestelle »Møhrenstraße« in die nicht weniger problematische »Glinkastraße« umbenennen, was einerseits großen Jubel, andererseits aber auch Kritik auslöste und letztlich durch den Berliner Senat widerrufen wurde. Schließlich wurde der Vorschlag von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial e.V. sowie anderen Vereinen und Initiativen, die sich bereits lange für eine Umbenennung von rassistischen und kolonialen Straßennamen durch sinnvolle Alternativen (etwa Umbenennungen nach wichtigen Schwarzen deutschen Persönlichkeiten) eingesetzt hatten, nachgegeben. Die Møhrenstrasse soll bald schon nach dem ersten Afrodeutschen Philosophen Antonio Wilhelm Amo umbenannt werden.
Nicht nur ›auf der Straße‹, auch im Theater ist plötzlich einiges möglich. Ab der Spielzeit 2020/2021 leitet Julia Wissert als erste Schwarze Intendantin Deutschlands das Schauspiel Dortmund.2 Die Benennung der politischen Selbstbezeichnung Schwarz sowie ihr Geschlecht sind notwendig, um die Diskrepanz zwischen Behauptungen und der Realität am deutschen Theater zu betonen. Denn die Statistiken verweisen immer noch darauf, dass die künstlerische Leitung von deutschen Staats- und Stadttheatern erdrückend weiß und männlich dominiert ist.
Auch der Erfolg von Anta Helena Reckes Inszenierung von Mittelreich an den Münchner Kammerspielen im Jahr 2017, die programmatisch als sogenannte »Schwarzkopie«3 der Inszenierung von Anna Sophie Mahler angekündigt wurde, ist gekoppelt an rassistische Rückschläge und kolonial-stereotype Rezeptionen seitens Theatermacher:innen und Theaterkritiker:innen. So schrieb beispielsweise Bernd Noack in der NZZ:
Man kann einen modernen farbigen Film mittels Fernbedienung in einen schwarz-weissen verwandeln; dass man dadurch auch die Zeit und die Atmosphäre des Films und um einen selber herum ändert, bleibt eine Illusion. Wenn man nun im Theater aus Weiss Schwarz macht, erzielt man einen ähnlichen Effekt: die Umkehrung der Wirklichkeit – ohne wirkliche Wirkung. Regisseurin Anta Helena Recke kann kaum vermitteln, was diese Irritation eigentlich soll. Provokation? Im Publikum sitzt niemand, den die »farblich« augenfällige Umbesetzung auch nur im geringsten stören, gar empören würde. Inhaltlich? Es ergibt keinerlei Sinn, dass der alte Bauer nicht mehr die voralpenfrische rosige Hautfarbe hat; und dass der Chor der Flüchtlinge jetzt wie eine Gruppe Migranten aus unseren Tagen aussieht, trägt auch nicht unbedingt zum tieferen Verständnis dieser eigentlich rein deutschen Geschichte bei, die von Welt- und Nachkriegszeiten, von geplatzten deutschen Träumen, von in der BRD dumpf nachhallendem Nazismus, wachsenden Vorurteilen und sexuell übergriffigen Katholiken erzählt.4
Das Postulat der »Umkehrung der Wirklichkeit«, das Noack hier bemüht, ist in Wahrheit eine Verkennung der deutschen Realität, die nicht erst seit dem Anwerbeabkommen im Jahre 1955 nicht »weiß« (als soziale Konstruktion) ist. Die Verkennung (oder bewusste Unsichtbarmachung) der Existenz von Schwarzen Deutschen, aber auch deutschen Juden und Jüdinnen, Sinti:ze und Rom:nja und weiteren Ver-Anderten als Teil der deutschen Gesellschaft, wird mit der Forderung nach Authentizität des alten Bauern mit »voralpenfrische[r] rosige[r] Hautfarbe« zusätzlich untermauert. Wenn also mit der kolonial und patriarchal gefärbten Brille die Intention der Regisseurin nur als »Irritation« und »Provokation« gedeutet wird, dann deswegen, weil nicht nur der Theaterraum immer noch als weiß imaginiert wird.
Auch die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung Eva-Elisabeth Fischer, die sowohl über die Intention der Regisseurin wie auch der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung bzw. Empowerment- Bewegung Schwarzer Menschen genau Bescheid zu wissen scheint, reproduziert rassistische und koloniale Bilder und Stereotypen:
Recke erklärt die Hautfarbe wortreich zum Politikum der Aufführung: »In Mahlers Mittelreich-Fassung werden auch nicht-deutsche Körper thematisiert ... Da bin ich gemeint, weil ich den deplatzierten Schwarzen Körper habe« – ein Zitat, dass [sic!] einen fast 60 Jahre nach der stolzen Propagierung schwarzen Selbstbewusstseins mit dem Slogan »Black is beautiful« doch ziemlich irritiert. So schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter. Dass man über die Farbschattierungen der Darsteller nachdenkt, hat mit zweierlei zu tun: Einerseits stellt sich ziemlich schnell heraus, dass deren Hautfarbe für das Bühnengeschehen völlig irrelevant ist. Denn eine ähnliche Familiensaga um Schuld, Verdrängung, Missbrauch, Flüchtlingsproblematik und Erbstreitigkeiten wäre, vom oberbayerischen Lokalkolorit, das von Mahler und folglich auch von Recke in ihrer 1:1-Einstudierung sorgfältig wegretuschiert wurde, einmal abgesehen, wohl überall vorstellbar.5
Während die Theaterkritikerin sich hier mit »Farbschattierungen« beschäftigt, die »für das Bühnengeschehen völlig irrelevant« seien, war »Hautfarbe« nie das Anliegen von Anta Helena Recke und der Inszenierung von Mittelreich. Im Gegenteil, in Interviews und in Artikeln verweist Recke darauf, dass es ihr um »das Schwarze Deutschsein«6 geht. Mit Schwarz ist eine politische und soziale Konstruktion in einem globalen Zusammenhang gemeint, die unter anderem auf die Dehumanisierung durch jahrhundertelange koloniale und epistemische Gewalt verweist.7Schwarz (mit einem großgeschriebenen S) ist eine von »Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r«8 gewählte Selbstbezeichnung.
Wenn nun die Theaterkritikerin das Schwarzsein (»So schwarz sind sie ja auch nicht«) und damit auch die Intention des Schwarzseins in Frage stellt, dann offenbart sich darin zum einen die Kontinuität der »Kolonialität von Macht und Wissen«9, indem Schwarze Menschen weiterhin als Objekte weißer Subjektivität imaginiert werden – die weiße Theaterkritikerin definiert anhand ihrer eigenen Vorstellungen, was schwarz ist und spricht den Performer:innen ihr Schwarzsein ab. Zum anderen wird sogar Schwarzes Deutschsein aus der deutschen Geschichte herausgedacht.
Dass diese Denkmuster nicht nur in der Rezeption vorzufinden sind, sondern in den eigenen Reihen – und in diesem Fall sogar im eigenen Haus –, schildert Anta Helena Recke in ihrem Text »Uh Baby it’s a white world«:
Als im Haus allmählich bekannt wurde, dass ich diese Aneignung auf die Bühne bringe, entgegneten einige: »Hey, ich hab’ gehört, dass du Mittelreich mit Flüchtlingen umbesetzen willst. Das ist ja lustig!« Zudem wurden mir im Castingprozess immer wieder wahllos Schwarze Menschen oder Geflüchtete oder Schauspieler*innen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, vorgeschlagen. Das heißt, wenn man sagt, man besetzt Mittelreich mit Schwarzen Schauspieler*innen um, verstehen die Leute, man besetzt es mit Geflüchteten und Ausländer*innen. Hier zeigt sich das Unvermögen der weißen Kolleg*innen in der weißen Imagination selbst, sich einen Schwarzen Körper jenseits von Prekarität, Armut, Not, Exotik oder Flucht vorzustellen.10
Die weiße Imagination, in der Schwarze und weitere ver-anderte Subjekte nur eine ihnen zugewiesene Rolle und eine konkrete Funktion erfüllen, ist tief in den Strukturen des deutschen Theaters verwurzelt. Kritische Auseinandersetzung, wie sie beispielsweise durch die Theaterwissenschaftler:innen Katrin Sieg und Lisa Skwirblies geschieht, versucht diese strukturelle Asymmetrie aufzuzeigen, zu hinterfragen, aufzubrechen und neu zu denken.11
Insgesamt sind die Diskussionen um rassistische und Ausschluss produzierende Strukturen im Theater (und anderen deutschen Kulturinstitutionen) nicht neu. Spätestens seit dem Erfolg des Ballhaus Naunynstraße, das mit seinem selbstgewählten Label »postmigrantisch« in den Mainstream der deutschen Theaterszene intervenierte, wird eine größere Repräsentation der Diversität der deutschen Realität gefordert. Trotz dieses sich langsam abzeichnenden Wandels zeigt sich die Abwehrreaktion von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wie von Intendant:innen deutlich, wenn es etwa beschwichtigend heißt: »Einen Schritt nach dem nächsten!«12
Denn wenn in diesem Beitrag in der Ausgangsfrage eine Verbindung zur Black Lives Matter-Bewegung gestellt wird, dann auch um auf die Verwobenheit von Politik und Kunst, Intervention und das reine Überleben in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft für Schwarze Menschen zu verweisen. Es geht darum, die Erfahrung von Schwarzen Menschen ins Zentrum zu stellen. Daher steht entsprechend weniger die Frage, ob oder wie die weiße Imagination Schwarzes Leben in ihrer Vielfalt zulässt, sondern wie durch Intervention und Aneignung, in diesen von einer weißen Imagination besetzten Raum (im wahrsten Sinne des Wortes) eingegriffen werden kann. Dabei – und das ist Teil der Kolonialität der Strukturen, – werden diese Interventionen durch hegemoniale Narrative immer wieder strukturiert, ausgesiebt, exkludiert, vergessen und geteilt, um sie beherrschbar zu machen.
Wenn der entscheidende Moment einer postmigrantischen (und postkolonialen) Intervention im deutschen Theater immer wieder nur auf 2008 datiert wird, weil das Ballhaus Naunynstraße in jenem Jahr unter dem selbstgewählten Label »Postmigrantisches Theater« neu eröffnet hat, dann werden damit zugleich die bereits lange existierenden Strukturen von BIPoC-Künstler:innen und Aktivist:innen aus der Theatergeschichte (heraus)gehalten. Dabei waren und sind Proteste und Interventionen immer wieder wichtige Momente für marginalisierte Gruppen, um sich gegen Vereinnahmung und Fremdzuschreibungen zu wehren und Interessen und Anliegen öffentlich zu vertreten. Der Protest der Jüdischen Gemeinde Frankfurt im Jahr 1985 gegen die Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod am Schauspiel Frankfurt war in dieser Hinsicht essentiell. So konstatiert Michael Brenner in der Jüdischen Allgemeinen, dass für »das jüdische Leben in der Bundesrepublik diese Bühnenbesetzung einen entscheidenden Einschnitt« markierte.13 Zum ersten Mal, 40 Jahre nach der Shoah, traten wichtige Repräsentant:innen der Jüdischen Gemeinde in der deutschen Öffentlichkeit auf. So wurde bei der Veranstaltung EIN/AUSschlüsse und Selbstermächtigung im Kulturbetrieb, die 2017 als Teil des Akademieprogramms des Jüdischen Museum Berlin stattfand, auf die Wichtigkeit dieses historischen Moments des Aufstandes verwiesen.
Auch die historische Initiierung einer Afrodeutschen Frauenbewegung, die sich später in Form der Initiative ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland institutionalisiert hat und mit dem Aufenthalt der Afroamerikanischen Poetin und feministischen Theoretikerin Audre Lorde an die FU Berlin ihren Anfang fand, war ein entscheidender Schritt in Richtung eigener Community-Strukturen, die über die die Schwarze Community hinaus von ebenfalls großer Bedeutung war. Lorde war Mitte der 1980er Jahre als Gastprofessorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien eingeladen, wo sie selbst explizit eine Einladung an Schwarze deutsche Frauen aussprach, an ihrem Seminar teilzunehmen. Bis dahin waren Afrodeutsche Frauen, so die Historikerin Katharina Oguntoye, als Schwarze weibliche Subjekte in Deutschland isoliert. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen und -interessen, sei es als Schwarze Deutsche oder Afrikanisch-Deutsche oder Amerikanisch-Deutsche, beriefen sie sich nicht auf eine gemeinsame Identität als Schwarze deutsche Frauen.14 Die im Anschluss gegründete Bewegung ADEFRA verfolgte das selbstdefinierte Ziel, Räume für eine kollektive Auseinandersetzung mit Schwarzen Lebensrealitäten in Deutschland im Allgemeinen und mit den Existenzweisen Schwarzer Frauen in Deutschland im Spezifischen zu erschaffen. ADEFRA war angetrieben von Visionen einer Community, die einen Ort einer kollektiven Auseinandersetzung, der Wissensund Gesellschaftskritik und einer zugewandten, solidarischen Teilhabe für Afrodeutsche Frauen ermöglichte. Mit Methoden wie Theaterworkshops, Körperarbeit, kreativem Schreiben und Biografiearbeit wurden Grundlagen einer gemeinsamen Wissensgenerierung und -produktion durch eigene Selbst- und Lebensverhältnisse geschaffen. Damit deckten sie Themen auf, die in der offiziellen Geschichtsschreibung selten, und, wenn überhaupt, vorwiegend in den Fußnoten vorkommen.
Der marginalisierende Umgang mit Themen, in denen Schwarze Menschen als gesellschaftliche Handlungssubjekte zentrale Akteur:innen sind, führt zu einer Unsichtbarmachung ihrer gesellschaftlichen Beiträge. Diese Form der normalisierten, systematischen Nicht-Wahrnehmung bezeichnet die Afroamerikanische feministische Theoretikerin Patricia Hill Collins als »suppression«, ein vorsätzliches Vernachlässigen von Wissensbeständen und Wissensformen:15 »Black Women (intellectuals) create Black Feminist Thought by using their own concrete experiences as situated knowers in order to express a Black Women’s standpoint.«16 ADEFRA machte sich dies in der Aufarbeitung ihrer eigenen – Afrodeutschen – Geschichte zu eigen. Die Verzahnung von persönlichen Erinnerungen Afrodeutscher Zeitzeuginnen mehrerer Generationen sowie Gedichte, Interviews und Erfahrungsfragmente verknüpfen sich zu einer kollektiven Geschichte und leiten eine Schwarze feministische deutsche Geschichtsschreibung ein. Damit werden grundsätzliche Fragen über den impliziten wie expliziten Voraussetzungsreichtum von Historiografie aufgeworfen: Wie kann eine verdrängte und unsichtbar gemachte Geschichte ausgegraben und erzählbar gemacht werden? Aus wessen Perspektiven und Deutungen wird diese dann historisiert und innerhalb der deutschen Geschichtsschreibung kontextualisiert?
In dieser Tradition sind sowohl künstlerische als auch interventionistische Auseinandersetzungen einzuordnen. Sie sind Gegendiskurse zu hegemonialen Diskursen, die die koloniale Binarität (des Eigenen und Fremden) durch ein Hinterfragen aufbrechen und einen Diskurs der Selbstrepräsentation überhaupt erst ermöglichen. Nikita Dhawan und Maria Do Mar Castro Varela verweisen darauf, dass poststrukturalistische Ansätze das Feld der Repräsentation in Frage gestellt haben. Dies bedeute jedoch nicht, dass Repräsentation nicht möglich sei, sondern dass Repräsentationen als konstruiert und machbar verstanden werden müssen.17
Eine wichtige Intervention gegen die hegemonialen Narrative von Schwarzsein ereignete sich bei der Premiere des Stücks Kampf des Negers und der Hunde18 von Bernard-Marie Koltès an der Berliner Volksbühne im Jahre 2003. Die Volksbühne unter der Leitung von Frank Castorf hatte sich entschieden, das N-Wort in ausgeschriebener Form als Banner vor dem Theater aufzuhängen. Diese Form der Bewerbung des Theaterstückes sorgte bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) sowie anderer solidarischer Künstler:innen und Aktivist:innen für Protest. Die ISD forderte, das N-Wort durch die Selbstbezeichnung Schwarz zu ersetzen.19 Die Forderung zielte auf eine Brechung oder zumindest Unterbrechung des kolonialen, da erniedrigenden und damit auch ent-menschlichenden Prozesses, der sich in dieser sprachlichen Terminologie versteckt. Stattdessen entgegnete der damalige Intendant Frank Castorf, dass das Ausschreiben des N-Wortes eine bewusste Provokation sei, die entsprechend offensiv sein müsse.20 Die Frage, an wen sich die Provokation richte und wem gegenüber tatsächlich durch die Reproduktion des kolonial-rassistischen Blicks Gewalt ausgeübt werde, wurde dabei erst gar nicht gestellt. Die Kritik an diesem (strategischen) blinden Fleck haben die Protestierenden am Abend der Premiere vor der Berliner Volksbühne mit Transparenten kundgetan, auf denen der Schriftzug »Der unbeirrte Kampf des weißen Europäers mit sich selbst« zu lesen war.21 Während dieser erste Protest gegen den Gebrauch rassistischer (und kolonialer) Mittel (hier: Sprache) im deutschen Theater vor den Toren des Theaters stattfand, wurde in den folgenden Protesten ein Schritt weitergegangen.
Die nächste wichtige Intervention fand daher im Theater, konkret im Zuschauerraum statt. Ausgelöst durch die Ankündigung einer Inszenierung von I am not Rappaport des Schlossparktheaters Berlin im Jahre 2012, in der die Plakate einen weißen Schauspieler in Blackface zeigten, hatte sich in den sozialen Medien ein großer Protest geformt, der dann zur Gründung von Bühnenwatch führte. Bühnenwatch, die sich in der Selbstdarstellung als eine Gruppe von Schwarzen, weißen Künstler:innen und Aktivist:innen of Color verstanden, haben unterschiedliche Interventionen vorgenommen. Die wohl bekannteste Intervention von Bühnenwatch fand im Deutschen Theater Berlin während einer Aufführung von Dea Lohers Unschuld statt. In Unschuld wird ein soziales Biotop inszeniert, eine kleine Stadtgesellschaft am Rande eines Meeres, in dem eines Tages zwei Schwarze Menschen (im Text als »illegale schwarze Immigranten« bezeichnet) auftauchen und diese vor Fragen nach Schuld und Verantwortung stellen. Bereits im Theatertext ist eine auf koloniale Hierarchisierung basierende Beschreibung angelegt – die Schwarzen Figuren werden auf von außen projizierte Zuschreibungen (»illegal« und »Immigrant«) reduziert. In der Inszenierung von Michael Thalheimer treten zwei weiße Schauspieler in Blackface auf, deren Schminke im Verlauf der zwei Stunden abgeht und die Bühne verfärbt.22 Joy Kristin Kalu hat in ihrem Aufsatz »On the Myth of Authentic Representation: Blackface as Reenactment« dafür argumentiert, dass Blackface als theatrale Darstellungsform durchaus eine wirksame und sozialkritische Praktik darstellen kann. Allerdings war Blackface nicht die einzige stereotype Darstellungsform, die in der Inszenierung gewählt wurde. Kalu beschreibt dies folgendermaßen:
Wenn es heute darum geht, politisches Theater zu interpretieren und zu bewerten, richtet sich der Blick oftmals zurück auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dieser Rückbezug ist damit zu erklären, dass komplexe Fragen, die mit der historischen Avantgarde vor hundert Jahren verbunden waren, in modifizierter Form wieder relevant geworden sind: Welche Chancen und Risiken liegen darin, Theater für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Wie lassen sich politische und ästhetische Dimensionen des Theaters miteinander verbinden? Kann sich das Theater mit anderen Medien (insbesondere Massenmedien) messen, wenn es um politische Relevanz und Durchsetzungskraft geht? Diese Fragen haben in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schon Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Erwin Piscator, Friedrich Wolf, Georg Lukács und viele andere beschäftigt – heute begegnen sie uns in verändertem gesellschaftlichem Kontext aufs Neue. Es ist von daher verständlich, dass sich politisch ambitionierte Theatermacher:innen und Performancegruppen wie im deutschsprachigen Raum etwa Rimini Protokoll, andcompany&Co., René Pollesch oder das Zentrum für Politische Schönheit explizit – etwa im Rahmen von Reenactments – mit Avantgarde-Positionen auseinandersetzen. Allerdings scheint das gesellschaftliche Umfeld dieser Positionen mit der heutigen Situation politischen Theaters nur schwer vergleichbar. Die politischen Konflikte waren anders ausgeprägt und insgesamt polarisierter. Das mediale Umfeld ließ dem Theater mehr Raum als heute, aber eine schnelle Mobilisierung und Vernetzung fiel in diesem Umfeld nicht unbedingt leichter als heute. Schließlich differierten die politischen Zielsetzungen.
In einem Essay mit dem Titel On Art Activism (2016) bezieht sich Boris Groys auf die vorrevolutionäre russische Avantgarde, um deren entschiedene »Dysfunktionalität« heutigen Formen angewandter und aktivistischer Kunst gegenüberzustellen. Das Revolutionäre der Kunst von Kasimir Malewitsch, Alexei Krutschonych und anderen habe gerade darin gelegen, sich konkreten Fortschritten und Optimierungsprogrammen zu verweigern und stattdessen auf eine radikale Dysfunktionalisierung des Gegebenen zu setzen. Auch in der Gegenwart möchte Groys entsprechend nur solche Positionen im engeren Sinne zur Kunst zählen, die den gesellschaftlichen Status quo nicht verbessern, sondern gänzlich verabschieden (bzw. archivieren, musealisieren) möchten:
Contemporary art puts our contemporaneity into the art museum because it does not believe in the stability of the present conditions of existence, to such a degree that contemporary art does not even try to improve these conditions. By defunctionalizing the status quo, art prefigures its coming revolutionary overthrow. Or a new global war. Or a new global catastrophe. In any case, an event that will make the whole contemporary culture, including all of its aspirations and projections, obsolete […]1
Diese Einschätzungen, die Groys im Rekurs auf die frühen russischen Suprematisten, Futuristen und Kosmisten und hier besonders auf bildende Kunst formuliert, lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Theateravantgarde übertragen.2 Weder wollten politische Theatermacher:innen in Zeiten der historischen Avantgarden die Gegenwart musealisieren, noch hatten sie den Anspruch auf eine Verbesserung der gegebenen Existenzbedingungen ganz fallengelassen. Analog zum Bemühen um Dysfunktionalisierung in der bildenden Kunst neigte aber auch die Theateravantgarde zu radikalen Gesten der Zurückweisung der herrschenden Zustände, und sie entwickelte, gerade in Deutschland, eine vitale Bindung an die Idee der Revolution. Besonders deutlich zeigte sich das in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als sich politisch engagierte Theaterleute zu den revolutionären Ereignissen in Russland und anderen europäischen Gesellschaften positionieren mussten. Auch in Deutschland suchte man nach Antworten auf die revolutionären Massenbewegungen der Jahre 1917 bis 1920 – deren Kontur allerdings nicht leicht zu greifen war: Es handelte sich um eine Kette teils politisch, teils ökonomisch motivierter Aufstände, darunter
[…] die sozialen Unruhen und »wilden« Streiks, die in den letzten Kriegsjahren ständig weiter um sich griffen und ihren Höhepunkt im politischen Massenstreik vom Januar 1918 fanden, an dem sich in Berlin über eine halbe Million, in ganz Deutschland mindestens eine Million Arbeiter beteiligten; die Umsturzbewegung vom November 1918, die weder geplant, noch von Parteiund Gewerkschaftsführungen organisiert worden war, dennoch aber Millionen mit sich riss und im ersten Anlauf einen überwältigenden Erfolg erzielte; die rasche Ausbreitung der Arbeiter- und Soldatenräte als Repräsentanten der revolutionären Bewegung in allen Teilen des Reiches und im Frontheer; die Massendemonstrationen und Streikbewegungen während der Wintermonate, wozu auch der sogenannte Spartakusaufstand von Anfang Januar zu rechnen ist, der sich aus einer planlosen Massendemonstration von über 500 000 Arbeitern in Berlin entwickelte; die Sozialisierungsbewegungen, Massenstreiks und Aufstandsbewegungen, die im Frühjahr 1919 die wichtigsten Industriegebiete des Reiches erfassten; die räterepublikanischen Experimente in einzelnen Städten und Gebieten; die Massenbewegungen innerhalb der alten und neuen Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen; schließlich der erfolgreiche Generalstreik im Kampf gegen den Kapp-Putsch, bei dem 12 Millionen Arbeiter die Arbeit niederlegten.3
Das politische Theater im Deutschland der Weimarer Republik, das zumindest in seinen antibürgerlichen, gegen das tradierte Kunst- und Theatersystem gerichteten Ausprägungen unter den Avantgarde-Begriff gefasst werden kann, wäre ohne die Revolution von 1918/19 und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Konflikte nicht vorstellbar. Wichtige Grundzüge der Avantgarde lassen sich unmittelbar auf die Revolutionserfahrung rückbeziehen. Zwei davon möchte ich hervorheben, zumal sie in eine andere Richtung weisen als Groys’ berechtigter Hinweis auf die Dysfunktionalität der historischen Avantgarden in der bildenden Kunst.
Erstens war das politische Theater in Deutschland seit den (letztlich gescheiterten oder zumindest nicht überwiegend erfolgreichen) Massenbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder mit Fragen von Kollektivität und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv beschäftigt.4 Das mag trivial klingen, aber es war eine ernsthafte und komplexe Auseinandersetzung, zumal im Motiv der Kollektivität politische und ästhetische Fragen konvergierten. So rückte das Chorische in Gestalt von Sprech-, Bewegungs- und Tanzchören seit den zwanziger Jahren wieder mit ins Zentrum der Theaterpraxis, und vielen Theoretiker:innen und Kritiker:innen dieser Praxis war die Notwendigkeit bewusst, chorische Formationen auf der Bühne zu politischen Massenbewegungen auf der Straße in Beziehung zu setzen. Seit den Monaten des Umbruchs von 1918/19 konnte man in der städtischen Öffentlichkeit täglich politische Kollektive in Aktion sehen. Sowohl die Gewaltsamkeit als auch die Wirkungskraft solcher Formationen war für aufmerksame Beobachter:innen unverkennbar, ganz gleich ob sie das dynamische Geschehen in Kategorien von Masse, Klasse, Bund oder Gemeinschaft beschrieben.5
Zweitens griff die Avantgarde in ihren Formen und Inszenierungsweisen jene Spannungen, Konflikte und Kämpfe auf, die das kollektive Geschehen auf der Straße dominierten. In den unruhigen Spätjahren der Weimarer Republik seit 1929 wurde dieser Zusammenhang besonders deutlich. Kollektive waren in dieser Zeit der Straßenkämpfe und Massenaufmärsche keine in sich ruhenden Gemeinschaften oder demokratisch diskutierenden Versammlungen. Vielmehr agierten sie oft aggressiv und gewaltsam, spalteten sich häufig und brachten dann neue, radikalere Gruppen hervor, die sich gegeneinander wendeten. Darin liegt ein dissoziativer Zug der politischen Öffentlichkeit, der sich im Theater spiegelte oder sogar noch verschärfte. Die öffentliche Performanz theatraler Kollektive war eine Praxis auch und gerade der Dissoziation. Es ging darum, sich zu fokussieren und zu begrenzen, sich abzutrennen, um eine härtere Kontur für den politischen Kampf zu gewinnen.6 Dieses Bemühen um dissoziative Konturierung kann besonders am Agitproptheater aufgezeigt werden.
An Kollektivität und Dissoziation scheiden sich im politischen Theater auch heute die Geister. Wenn es darüber nachzudenken gilt, wie wirkungsvolle politische Interventionen des Theaters heute aussehen können, welche Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in gegenwärtigen politischen Konflikten zukommt, und wie Theater sich zu aktivistischen Anliegen positionieren soll, steht unweigerlich die Frage nach dem Umgang mit Kollektivität und Dissoziation im Raum. Mit Akteur:innen und Zuschauer:innen stehen sich in Theateraufführungen zwei Gruppen gegenüber, die als Kollektive aufgefasst werden können. Somit scheint Kollektivität im theatralen Dispositiv nahezu ›von vornherein‹ angelegt. Fast zwangsläufig entwirft jede Theaterpraxis Bilder eines Verhältnisses von unterscheidbaren Kollektiven. Kollektive, die zueinander in Beziehung treten, tun dies in Konstellationen, die sich zwischen Assoziation und Dissoziation bewegen. In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war klarer zu erkennen als heute, dass Kollektive im Theaterraum mit Kollektiven außerhalb des Theaters, etwa auf der Straße oder in der Fabrik, korrespondieren. In diesen Korrespondenzen liegen politische Möglichkeiten und durchaus auch Interventionschancen. Diese ergeben sich – damals wie heute – an den verschiedenen Grenzen des Theaterdispositivs: Bühne und Zuschauerraum, Vorderbühne und Hinterbühne, Aufführungsraum und Außenraum, Raum der körperlichen Ko-Präsenz und mediale Erweiterungen etc. Es ist ein Spiel mit Kollektiven – auf der Bühne, vor der Bühne und hinter der Bühne; innerhalb und außerhalb des Theaters –, die alle auf keinen Fall in eins gesetzt werden dürfen, aber in wechselnde Verhältnisse zueinander geraten, und diese Verhältnisse können, darin liegt ihre politische Qualität, assoziativ oder dissoziativ gestaltet werden. Interventionen können auf die Konvergenz, aber auch auf die Trennung von Kollektiven abzielen.
Die späte Weimarer Republik war die paradigmatische Zeit einer dissoziativen Politik, die im Sinne Carl Schmitts auf Freund-Feind-Oppositionen basierte und in der die verschiedenen Lager oft mit paramilitärischen Mitteln auf eine klare Trennung vom politischen Gegner setzten.7 Chantal Mouffe würde von einer antagonistischen Politik sprechen, die immer weniger ins Demokratisch-Agonale transformiert werden konnte.8 Das politische Theater war von dieser Polarisierung einerseits unmittelbar betroffen, andererseits trug es selbst aktiv zu einer Verschärfung der politischen Gegensätze bei. Für linke Theatermacher ergab sich eine doppelte Frontstellung: Die NSDAP, seit den Septemberwahlen von 1930 zweitstärkste Partei im Reichstag, sorgte vor allem mit den großstädtischen Gruppen der SA, die sich auf Straßen- und Saalschlachten spezialisiert hatten, für eine ständige gewaltsame Bedrohung gegen linke politische Versammlungen und mithin auch gegen entsprechende Theateraufführungen.9 Zugleich mussten politisch engagierte Theaterleute aber auch in dem erbitterten Konflikt zwischen SPD und KPD Position beziehen, denn die parteipolitischen Trennlinien verliefen mitten durch die proletarischen Milieus.
Ein paradigmatisches Beispiel für dissoziative Interventionen mit den Mitteln des Theaters sind die kommunistischen Agitproptheater-Truppen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Die Beschäftigung mit ihnen liegt heute näher als früher, denn seit einigen Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum wieder viel beachtete Theatergruppen, die in der Tradition des Agitproptheaters situiert werden können. Diese Gruppen teilen mit den Agitproptruppen der Jahre um 1930 folgende Charakteristika: Sie verstehen sich als Kollektive; sie arbeiten in großer Nähe zu politischen Bewegungen oder als Teil dieser Bewegungen; sie haben keine Angst vor klaren Botschaften; und sie suchen ihr Publikum außerhalb des Theaters, zum Beispiel auf der Straße oder, was die Gegenwart anbelangt, im Internet.10
Um 1930 gab es in Deutschland rund 300 Agitproptheater-Gruppen, die sich dem Organisationsspektrum der KPD zuordneten. In der Regel bestanden sie aus einzelnen professionellen Theaterleuten (Schauspielern wie Wolfgang Langhoff, Autoren wie Friedrich Wolf, Regisseuren wie Maxim Vallentin) und einer überwiegenden Mehrheit von jüngeren Leuten aus dem Arbeitermilieu, von denen die meisten arbeitslos waren und sich von daher ganz in den Dienst der agitatorischen Theaterarbeit stellen konnten. Die Interventionen dieser Theatergruppen sahen folgendermaßen aus: Sie gestalteten Nummernprogramme aus satirischen Kurzszenen, politischen Liedern und didaktischen Sprechchören, die auf die aktuelle politische Situation eingingen oder als Teil einer politischen Kampagne der KPD oder einer ihrer Vorfeldorganisationen funktionierten. Mit diesen Programmen fuhren die Gruppen in die Arbeiterbezirke, manchmal aber auch in kleinbürgerliche Wohnviertel und am Wochenende in die ländliche Umgebung der Großstädte. Wenn die Agitproptruppen in Hinterhöfen, auf der Ladefläche ihres Auftrittswagens oder in Gasthaussälen auftraten, trafen sie auf ein Publikum, dessen Probleme und Themen sie unmittelbar adressieren und dessen Haltung sie beeinflussen wollten.
Am erfolgreichsten waren die Gruppen offenbar dort, wo sie in einem Milieu agierten, dem sie selbst angehörten. Allerdings entwickelten sie mit ihrer Arbeit einen eigenen Lebensstil, der sie von großen Teilen selbst des kommunistischen Arbeitermilieus unterschied: Die Truppenmitglieder verbrachten oft viele Stunden des Tages zusammen, bildeten Wohngemeinschaften, und in diesen Wohnungen gestalteten sie die Kostüme, Requisiten und Texte für ihre Auftritte. Es war ein kommunitäres Leben im Stil einer Produktionsgenossenschaft, die sich in den Dienst zentral gesteuerter Kampagnen zu stellen bereit war. Es wurden Agitationsziele definiert und im Zuge dessen politische Konstellationen und Konfliktlagen beschrieben, in die hinein man mit der eigenen Theaterarbeit zu intervenieren beabsichtigte. Der Erfolg solcher Interventionen ließ sich an einfachen Parametern ablesen: ob es zum Beispiel gelungen war, Spenden für die Familien inhaftierter Genossen zu sammeln, Abonnements für eine Verbandszeitschrift zu vermitteln oder neue Mitglieder für die sogenannten ›Roten Verbände‹ der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition zu werben. Der Erfolg ließ sich leicht ablesen, aber er stellte sich nach 1930 immer seltener ein.
Auffallend ist nämlich, dass das interventionistische Agitproptheater der KPD schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in eine Krise geriet. Zwar berichtete die KPD-Presse immer wieder hymnisch über fulminante Auftritte der Truppen und schrieb ihnen beeindruckende Resonanz zu. Aber die intensiven Diskussionen, die zur selben Zeit von Theoretikern und Praktikern dieses Theaters über politische, ästhetische und technische Fragen geführt wurden, legen einige Skepsis nahe. Vor allem seit 1931 war in diesem Diskurs immer häufiger von einer Krise die Rede, deren Symptome auf verschiedenen Ebenen situiert wurden. Auf einer Konferenz des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschland im April 1931 wurde erstmals ausführlich über eine sogenannte »Programmkrise« diskutiert.11 Vertreter von Agitproptruppen aus unterschiedlichen Regionen des Reiches gestanden ein, dass ihr szenisches Repertoire nach den dicht gedrängten Wahl-kampf- und Kampagneneinsätzen der Jahre 1930/31 erschöpft sei.12 Stand eine Truppe – wie in Wahlkampfzeiten üblich – fast allabendlich auf der Bühne, so fand sie kaum Gelegenheit, ihr Programm zu aktualisieren und neue Nummern einzustudieren. Der Anspruch, auf tagesaktuelle Probleme des Publikums einzugehen, wurde auf diese Weise schleichend unterhöhlt. Während die Truppenvertreter vor allem Zeitmangel für diese »Programmkrise« verantwortlich machten, suchten Kritiker und Funktionäre tieferliegende Ursachen in Theoriedefiziten: Vielen Truppen, so die Klage, seien marxistische Positionen nur vage bekannt.
Auf ästhetischer Ebene richtete sich die Kritik an den Agitproptruppen gegen einen zunehmenden ›Schematismus‹ in der Wahl der Darstellungsformen. Viele Beobachter bemängelten, dass die politische Revue wie auch das chorische Kollektivreferat zu ›Schablonen‹ erstarrt seien, die »von außen an den jeweiligen politischen Stoff herangeklatscht«13 würden. Es herrsche eine fatale Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, wenn man etwa »die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit 1917 in einer Kurzszene« abhandle oder »die Schrecken des Krieges mit Kindertrompeten«14 imitiere. In der Zeitschrift Das Rote Sprachrohr, dem wichtigsten Organ der Agitpropbewegung, wurde die Neigung der Truppen zu stereotypen Allegorien und Abstraktionen kritisiert:
Und hier kommen wir an den wesentlichen Mangel unserer bisherigen Arbeitsmethode. Wir haben dargestellt: den Kapitalisten (meistens mit einem dicken Bauch und einem Geldsack drum), den Bonzen, die Justiz usw. – Abstraktionen, Begriffe, die auch in unserem Kopf nicht der Ausgangspunkt eines Gedankenganges waren, sondern ein Endresultat; wir haben nicht unseren Gedankengang auf der Bühne dargestellt und dadurch in der gleichen Weise wie in unserem eigenen Kopf den Begriff im Zuschauer entwickelt, sondern wir haben ihm Endresultate, feststehende Begriffe, grob gesagt, um die Ohren gehauen.15
Mit ähnlichen Argumenten forderte der Dramatiker Friedrich Wolf nach 1931 eine grundsätzliche Abkehr vom Prinzip des Nummernprogramms und plädierte stattdessen für abendfüllende Theaterstücke: Komplexere politische Zusammenhänge, so Wolf, seien in Kurzszenen nicht zu vermitteln.16 Auch die schauspielerischen Leistungen wurden im Fachdiskurs als mangelhaft empfunden. In einer Resolution forderte der Bundestag des Arbeiter-Theater-Bundes die Truppen im Mai 1932 dazu auf, mit arbeitslosen Berufsschauspielern Kontakt aufzunehmen, um sich an deren Kenntnissen zu schulen.17 Zu befürchten stand, dass sich die dramaturgischen und ästhetischen Defizite der Agitproptruppen auf der Wirkungsebene negativ bemerkbar machen würden. Tatsächlich setzte sich im Agitpropdiskurs die Einschätzung durch, dass es um die Wirksamkeit der Truppen nicht allzu gut bestellt sei. Viele von ihnen, so der kritische Tenor nach 1931, verbreiteten Langeweile, überfrachteten ihre Darbietungen mit Zahlen und Fakten und versagten vor der Aufgabe, ihr Publikum nicht nur kognitiv, sondern auch emotional anzusprechen.18 Speziell außerhalb der angestammten Parteimilieus, bei Auftritten vor Kleinbauern, Angestellten und Mittelständlern, erzielten die Truppen offenbar nur geringe Resonanz. Friedrich Wolf analysierte dieses Problem 1933 in einem Rückblick auf seine Arbeit mit dem Spieltrupp Süd-West:
Gewiß, man rief dem Publikum zu: »Links, links, links, Prolet!« Aber damit machte man den Kleinbauern und Angestellten bloß kopfscheu. War er vielleicht ein »Prolet«, ein Glied der Arbeiterklasse? Man nahm in Parolen und Behauptungen Dinge vorweg, die gerade dem deklassierten Angestellten, dem ausgepowerten Kleinbauern erst bewiesen werden mußten ... ein folgenschwerer Irrtum, der lange unsre Arbeit in Fragen der »Einheitsfront« hemmte.19
Vielen Truppen haperte es an der Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse ihres jeweiligen Publikums flexibel einzustellen. Der Kontakt zu den Zuschauenden war zu flüchtig und punktuell, als dass eine nachhaltige Bindung hätte erreicht werden können. Zum Eingehen längerfristiger Verpflichtungen – wie etwa eine Zeitschrift zu abonnieren oder einem Verband beizutreten – waren viele Zuschauer:innen allein auf der Basis eines einmaligen Aufführungserlebnisses nicht bereit. Die Truppen hätten wohl einzelne Wohnviertel und Dörfer regelmäßiger bearbeiten müssen. Stattdessen blieb es meist beim einmaligen Milieukontakt, der noch dazu unzureichend vorbereitet wurde.
Die verschiedenen Problemkomplexe verdichten sich in der Gesamtschau zu einer umfassenden Krisendiagnose. Die Interventionen des Agitproptheaters funktionierten offenbar nicht richtig – oder nicht mehr richtig. Die Appelle dieses Theaters wirkten auf das Publikum disparat oder sogar widersprüchlich: Einerseits bezogen sich die Truppen auf das Ideal proletarischer Solidarität und bemühten sich um einen engen Kontakt und ein gemeinschaftliches Einvernehmen mit ihrem Publikum. Andererseits produzierten sie häufig Spaltungen und Trennungen; darin liegt die dissoziative Seite ihrer Arbeit. Das Agitproptheater war konfrontativ, oft auch schon im szenischen Auftritt: Man stellte sich in einer Reihe frontal zum Publikum auf und konfrontierte die Zuschauer:innen mit chorisch vorgetragenen Belehrungen und Forderungen. Man sah sich als eine Avantgarde im Lenin’schen Sinne, die dem Publikum vorangehen zu können glaubte. Den Zuschauer:innen aber ideologisch einen Schritt voraus zu sein, bedeutete auch, sich von diesem Publikum programmatisch und performativ abzutrennen, sich ihm mehr zu konfrontieren als zu assoziieren. Es ging den Truppen um Organisation, Assoziation und die Bildung revolutionärer Gemeinschaften, aber dem standen trennende und dissoziative Impulse gegenüber, gerade bei der Arbeit in sozialen Milieus, die nicht unmittelbar die eigenen waren. Die konkreten Interventionen wirken seltsam blockiert in einem unauflösbaren Bündel aus assoziativen und dissoziativen Kräften.
Einige der Kritikpunkte, die man aus der Debatte um das Agitproptheater der frühen dreißiger Jahre nur zu gut kennt, begegnen in der Diskussion um politisches Theater heute in abgewandelter Form wieder. Dabei geht es, grob gesagt, um die Vermittelbarkeit von aktivistischen und ästhetischen Ansprüchen.
Hinter der »Programmkrise« verbarg sich der Vorwurf, dass die kurzen Szenen, Songs und Sprechchöre zu plakativ, brachial und simplifizierend gestrickt seien, um ein Publikum ernsthaft überzeugen zu können. Tatsächlich waren die Szenen nach einem einfachen Schwarz-weiß-Schema gebaut: Es war für das Publikum immer auf den ersten Blick erkennbar, wie sich Gut und Böse verteilten. Es gab ausbeuterische Kapitalisten und tapfere Arbeiter, skrupellose Hausbesitzer und hilflose Mieter, brutale Polizisten und friedliche Demonstranten, dumme Nazis und schlaue Kommunisten. Auch heute findet sich in Bezug auf aktivistische Theaterformen oftmals die Einschätzung, diese müssten notgedrungen mit brachialen Zuspitzungen arbeiten. Dahinter kann die interpassive Haltung eines ›Wir wissen es natürlich besser‹ stehen:20 Für uns selbst ist die Darstellung zwar zu plakativ, aber es gibt andere Zuschauer:innen, andere Zielgruppen, die solche Vereinfachungen goutieren oder auf diese zum besseren Verständnis angewiesen sind. Schon in der Krisenzeit nach 1930 brach sich bei einzelnen Theatermachern die Erkenntnis Bahn, dass hinter einer solchen Sichtweise eine überhebliche, jedenfalls nicht schmeichelhafte Einschätzung des eigenen Publikums steht.
Heute zeigt sich unter den Praktiker:innen eines Theaters der Intervention oft ein Hadern mit der Frage, ob man die eigene Praxis als Kunst bezeichnen darf oder warum dieser Praxis der Kunstbegriff nicht von allen zugebilligt wird. Im Agitproptheater hielt man es eher mit der lässigeren Haltung eines Piscator oder Brecht, die auf den Kunstbegriff als solchen keinen gesteigerten Wert legten und nicht der Meinung waren, dass politisches Theater ein solches Prädikat nötig hätte. Gleichwohl war die ästhetische Dimension der Programme bei den Truppen ein ständiges Thema. Die Form der Aufführungen, die gewählten Gesten der Adressierung, die Gestaltung der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum wurden deshalb immer wieder kritisch befragt, weil Zweifel an deren Wirksamkeit blieben. Damit verband sich auch eine Professionalisierungsdebatte: Wie erfolgversprechend war es, politisches Theater mit Leuten zu machen, die zwar engagiert bei der Sache waren, aber keine wirkliche Theaterausbildung genossen hatten? War es wichtiger, Laien aus der Bewegung umfassend in die Theaterpraxis einzubinden, oder sollte man versierte Profis nach vorne schieben, weil diese wirkungsvoller in Kontakt mit dem Publikum treten könnten?
Hinter solchen Besorgnissen steht die Ahnung, dass auch aktivistische bzw. agitatorische Theaterdarbietungen am Ende vom Publikum einem ästhetischen Urteil unterzogen werden. Dies geschieht unabhängig von der Intention der Macher und ist kein Privileg besonders gebildeter oder kunstinteressierter Zuschauer:innen. Es geht um Gesichtspunkte wie: Ist die Darbietung gelungen? Spielen die Darsteller:innen überzeugend? Ist das Geschehen auf der Bühne interessant, aufregend, anrührend? Aus solchen Fragen ergeben sich Urteile, die nicht auf den politischen Gehalt oder die Botschaft der Aufführung bezogen sind. Trotzdem werden auch die aktivistischsten und agitatorischsten Interventionen, wenn es künstlerische Interventionen sind, fast unweigerlich zum Gegenstand einer ästhetischen Beurteilung durch das Publikum. Nicht immer ist diese Richtung der Beurteilung der politischen Wirkung des Dargebotenen zuträglich.
Das ästhetische Urteil entfaltet auch eine eigene soziale Dynamik. In der ästhetischen Erfahrung können assoziative und dissoziative Impulse wirksam werden. Schon Kant hat auf den Drang hingewiesen, Geschmacksurteile mit anderen zu teilen:
[…] wenn jemand aber etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu: er urteilt nicht bloß für sich, sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge. Er sagt daher, die Sache ist schön; und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urteil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmahlen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen.21
Auch Sianne Ngai hebt in ihren Essays über die zeitgenössischen ästhetischen Attribute »cute«, »interesting« und »zany« (Our Aesthetic Categories, 2012) darauf ab, wie bedeutsam in gesellschaftlicher Hinsicht unser Bedürfnis ist, über Geschmacksurteile zu sprechen und andere in unser Empfinden einzubeziehen. Sie beschreibt weitreichende soziale Wirkungen, die an ästhetische Urteile geknüpft sind:
To judge something or someone »cute« is to simultaneously eroticize and infantilize that object/person. While interesting art is serial or ongoing and comparative and dialogic […], to performatively call something »interesting« (often with an implicit ellipsis, »interesting …«) is to highlight and extend the period of an ongoing conversation. The judgment of the object as »interesting« with all its glaring conceptual indeterminacy, almost seems designed to facilitate the subject’s formation of ties with another subject: the »you« whose subsequent demand for concept-based explanation might be read as the feeling based judgment’s secret goal.22
Auf diese Weise können ästhetische Gemeinschaften, aber auch starke Aversionen gegen Subjekte entstehen, die unser Urteil nicht teilen können oder wollen. In der Reflexion politischer Ästhetik sollte diese dissoziative Dynamik nicht unterschätzt werden. Dass sich die Darstellungspraxis einer Agitproptruppe, einer aktivistischen Straßentheater-Gruppe oder eines politisch engagierten Performance-Kollektivs immer auch einer ästhetischen Beurteilung unterziehen muss, ist für die politische Wirkung dieser Praxis folgenreich. Denn in dieser Beurteilung, die stets mit affektiv grundierten Erfahrungen einhergeht, entstehen neue soziale Bindungen und Distanzen oder werden bestehende Gefühle der Zugehörigkeit und Abgesondertheit verstärkt.
Nicht zufällig funktionierten die Aufführungen der Agitproptruppen um 1930 wohl am besten dort, wo man nicht nur politische Überzeugungen, sondern auch Freizeitgewohnheiten und ästhetische Präferenzen teilte: in den Vereinslokalen und Versammlungen der eigenen Partei, Gewerkschaft oder Kulturorganisation. Die Hoffnung, mit konfrontativen Darbietungen bei einem den Akteuren unvertrauten Publikum auf dem Lande reüssieren zu können, mussten die Truppen spätestens Anfang der dreißiger Jahre aufgeben. Überhaupt erwies sich die direkt parteipolitische Mobilisierung durch Theater als schwierig. Gerieten die Programme zu didaktisch, die chorischen Rezitationen zu langatmig, dann sprang der Funke beim Publikum nicht über; versuchte man es dagegen mit einem komisch-unterhaltsamen Zugang, wurde schnell der Vorwurf der Oberflächlichkeit oder Geschmacklosigkeit erhoben. Die theatrale und damit indirekte Kommunikation mit einem oft zufällig zusammengewürfelten Publikum barg mehr Risiken als etwa die Auftritte geschulter Agitationsredner, die ihre Ansprachen mit viel Erfahrung flexibel an unterschiedliche Publikumsreaktionen anpassen konnten. Den Darsteller:innen ohne professionelle Ausbildung, die ja die Mehrheit in den Agitproptruppen stellten, waren solche spontanen Anpassungen ihrer standardisierten Nummernprogramme dagegen oftmals nicht möglich. Anders als den reisenden Kampagnen-Rednern fiel es ihnen auch schwer, skeptische Teilnehmer:innen im Publikum zu identifizieren und durch Blickkontakt direkt anzusprechen.
Politischer Aktivismus durch Theater hat bis heute mit den Tücken geschmacklicher Vorlieben und Idiosynkrasien zu kämpfen. Das Zentrum für Politische Schönheit, das eine ästhetische Kategorie im Namen führt, ist dafür ein viel diskutiertes Beispiel. Obwohl oder gerade weil man die politischen Ziele der Gruppe durchaus teilt, kann einen beim erstmaligen Sehen wie auch beim wiederholten Betrachten der Aktionen ein ungutes Gefühl beschleichen: Lebende Tiger im Käfig vor einem Theater und die Rede von Geflüchteten, die sich ihnen zum Fraß vorwerfen lassen wollen (Flüchtlinge fressen – Not und Spiele, 2016); eine inszenierte islamische Bestattung auf einem Berliner Friedhof als Kunstaktion (Die Toten kommen, 2015); eine Stahlsäule mit (angeblicher) Asche von Opfern des Nationalsozialismus als Installation vor dem Reichstagsgebäude (Sucht nach uns!, 2019) – solche Gesten können nicht nur als ethisch ambivalent und politisch zweifelhaft, sondern leicht auch als geschmacklos empfunden werden: zu viele Sarg-Attrappen, zu viele pathetische Statements, zu schnelles Springen zwischen Themen und Sensationen. Die ästhetischen Zweifel, die die brachialen szenischen Bilder auslösen, wirken sich auf die politische und ethische Einschätzung der jeweiligen Aktion sicherlich aus. Wenn man eine Darstellung als forciert, plump oder auch nur technisch misslungen bewertet, wird es schwierig, die politischen Forderungen wohlwollend oder zumindest unbefangen zu prüfen, die sich in dieser Darstellung artikulieren. Für eine Theatergruppe erreicht das Zentrum für Politische Schönheit beeindruckende Publizität, aber ob diese Publizität tatsächlich die politischen Anliegen der Gruppe voranbringt, erscheint fraglich. Von ästhetischen Aversionen können Abstoßungsreaktionen ausgehen, und dieser dissoziative Effekt kann sozial so stark wirken, dass die gewünschte Solidarisierung schwach bleibt oder sogar ganz ausbleibt.
Der enge Zusammenhang von ästhetischen, politischen und ethischen Beurteilungsvorgängen in der Erfahrung von Kunstwerken gestaltet sich auch für soziale, therapeutische oder pädagogische Theaterprojekte kompliziert. In solchen Projekten erhofft man sich vom Prozess der Erarbeitung einer Theaterinszenierung, d. h. von der Probenarbeit mit ihren verschiedenen Elementen – vom Konzeptionsgespräch über die szenische Rollenarbeit bis hin zu Feedback-Runden – soziale, therapeutische oder pädagogische Effekte für die Teilnehmenden. Auf diese Weise sollen Interventionen in konkrete gesellschaftliche Konflikte oder individuelle Problemlagen möglich werden. Nicht immer streben solche Produktionen eine öffentliche Aufführung an, denn nicht an Zuschauer:innen, sondern an die beteiligten Akteur:innen richtet sich das Wirkungsversprechen. Häufig wird eine Aufführung vor Publikum aber doch gewünscht, weil sie durch öffentlichen Zuspruch und Applaus eine willkommene Anerkennung für die Mitwirkenden verspricht. Diese kann anders ausfallen als erhofft, sobald die Spielenden in der Aufführungssituation zu Objekten von affektiven Geschmacksurteilen der Zuschauenden werden. Werden die Darsteller:innen in diesem Zuge etwa, wie Sianne Ngai es nahelegt, erotisiert oder infantilisiert (›süß‹, ›niedlich‹) oder zum Ausgangspunkt eines Gesprächs, an dem sie selbst nicht teilnehmen können (›interessant‹), dann hat sich die Intervention in einer Weise verselbständigt, die weder politisch noch therapeutisch kalkulierbar ist. Umgekehrt kann sich das Publikum in eine reservierte oder gar überhebliche Haltung geradezu gedrängt sehen, wenn therapeutische oder pädagogische Theaterarbeiten von sich aus – etwa durch offensiv vorgetragene Kunstansprüche – den Vergleich mit professionellen Theatergruppen herausfordern. Insofern kann es eine Intervention auch gefährden, wenn sie vom Publikum vorwiegend als ästhetisches Ereignis wahrgenommen (und beurteilt) wird.
Das wirft die Frage auf, um was für eine Art von Praxis es sich bei theatralen Interventionen handelt. Ein wichtiger Faktor ist die Mitwirkung von Laien, die für ihre Arbeit oftmals nicht entlohnt werden, weil sie zum Beispiel als Patient:innen ein Theatertherapie-Angebot wahrnehmen oder als Teilnehmer:innen an einem partizipativen Projekt mitwirken. Die künstlerische Praxis, wenn sie als solche definiert wird, bleibt bei solchen Projekten ohne materielle Vergütung – dies umso mehr, als auch die Anleiter:innen/facilitators von den finanzierenden Institutionen häufig explizit für ihre pädagogische, soziale oder therapeutische Tätigkeit bezahlt werden – und nicht für ein künstlerisches Schaffen. Die Aufführung wird dadurch keinesfalls entwertet, zumal sich der Wert eines ästhetischen Objekts nicht einfach an Art und Umfang der aufgewendeten Arbeit bemisst. Trotzdem verbleibt bei Produktionen, die ausdrücklich der Intervention, der Anwendung oder dem Engagement gewidmet sind, ein leiser Zweifel über ihren Wert: Die Darbietung ist funktional, erfüllt ihren Zweck, aber ist sie auch Kunst? Wenn man keinen Eintritt bezahlen muss, können dann wirklich Künstler:innen am Werk sein? Dieser Zweifel am künstlerischen Status des Gebotenen interferiert mit möglichen politischen Wirkungen. Denn Zuschauer:innen, die – womöglich en passant, auf der Straße, am Rande einer Demonstration etc. – mit einer theatralen Intervention konfrontiert sind, werden diese, sobald sie sie als Theater identifiziert haben, auch auf ihren ästhetischen Wert befragen. Diese Fragerichtung wird wie von selbst aktiviert und ist relativ unabhängig von der sozialen Herkunft oder kulturellen Vorprägung des:der Zuschauenden: Wenn wir Theater sehen – ganz gleich wo – fragen wir uns: Wie gefällt mir das? Wie gut oder schlecht ist das gemacht? Fällt die Antwort negativ aus, dann ist die politische Wirkung beeinträchtigt.
Künstlerische Interventionen unterscheiden sich von anderen, derartigen Interventionen im Feld des Politischen vor allem dadurch, dass die Ausführenden als Künstler:innen gelten und deshalb die besonderen Bedingungen des Kunstmarktes bzw. des künstlerischen Feldes mit ins Spiel kommen. An diesem Punkt liegt einmal mehr ein Vergleich mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahe, denn auch sie wirkten, etwa im Kontext von Agitation und Propaganda, an Kampagnen mit, die mehrheitlich von nicht-künstlerischen Akteuren (aus dem Bereich des Journalismus, der Öffentlichkeitsarbeit, der Partei- und Gewerkschaftsadministration) gestaltet wurden. Denkt man an die großen politischen Kampagnen der Weimarer Republik, dann ergibt sich der Eindruck, dass die Beiträge von Künstler:innen insgesamt nicht mehr und nicht weniger erfolgreich waren als andere Teile derselben Kampagnen (Flugblätter, Reden, politische Kundgebungen).