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Im Jahr 2844 nach Christus: Unter dramatischen Umständen begegnet Atlan, der Lordadmiral der United Stars Organisation, seinem Sohn Chapat. Eine "Traummaschine" versetzt den unsterblichen Arkoniden und seinen verloren geglaubten Sohn in Atlans Jugendzeit, wo sie gegen den regierenden Imperator Orbanaschol III. kämpfen müssen. Orbanaschol hatte damals Atlans Vater ermorden lassen und diesem den Thron geraubt - Atlan als Kristallprinz und offizieller Thronfolger des riesigen Arkon-Imperiums entkam nur dank der Hilfe von Freunden. Verwickelt in diese Ereignisse ist auch der USO-Spezialist Sinclair Marout Kennon, der ebenfalls durch die Traummaschine in die Vergangenheit geschleudert wird. Zu jener Zeit lebte er als Lebo Axton im Großen Imperium der Arkoniden - und wird zum Intrigant von Arkon ... Enthaltene ATLAN-Heftromane: Heft 169: "Das Treffen der Einsamen" von Ernst Vlcek Heft 171: "Die Menschenjäger von Arkon" von Ernst Vlcek Heft 176: "Der Intrigant" von H.G. Francis Heft 183: "Der Mutantenjäger" von H.G. Francis Heft 195: "Im Dienste Orbanaschols" von H.G. Francis
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Seitenzahl: 741
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Nr. 32
Der Intrigant von Arkon
Aus: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO, Chamiel Senethi, Sonthrax-Bonning-Verlagsgruppe, Lepso, 1338 Galaktikum-Normzeit (NGZ)
Nachdem Atlan das frustrierende Amt des Arkonimperators am 31. Dezember 2114 an den Nagel gehängt hatte, war es für jeden Kenner der Umstände nur logisch – schrieb schon Meeca Netreok im Jahr 2391 sinngemäß in den »Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse« –, dass bald innerhalb der am 1. Juli 2115 gegründeten USO das Historische Korps ins Leben gerufen wurde. Mehr als zehn Jahrtausende persönlicher historischer Erfahrungen Atlans und die Begeisterung der Helfer und Spezialisten von Quinto-Center schufen ein riesiges Archiv und einzigartige Software, die selbstständig aus Zahlen und Zeugnissen lebendige Geschichtsinterpretation erstellte. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich Mitarbeiter aller Fachgebiete mit kindlicher Freizeit-Freude diesem Projekt widmeten. Im Bestreben, möglichst lange Zeiträume vor allem der terranischen Zivilisation zweifelsfrei zu dokumentieren, war der Lordadmiral der USO häufig bis zur Schmerzgrenze kooperativ.
Seit Atlans erstem Bericht über Atlantis an Bord der DRUSUS wurde insbesondere vom Historischen Korps eine große Zahl weiterer solcher spontanen Erzählungen aufgezeichnet. Angepasst an den jeweiligen Zuhörerkreis und die Situation, die den Erinnerungsschub hervorrief, unterscheiden sich jedoch selbst Berichte zum gleichen Thema mitunter deutlich voneinander – sei es, weil Atlan auf die Erwähnung durchaus vorhandener Querverweise verzichtete, sei es, weil die schon an anderer Stelle angesprochenen »Blockierungen« wirksam wurden. Zwangsläufig mussten diese Dokumentationen deshalb unvollständig und zeitlich schwer einzuordnen bleiben, sodass sie bestenfalls nur Mosaiksteinchen eines sehr viel größeren, komplexeren Bildes waren.
Neben diesen Einzelberichten existieren mehrere Sammlungen, die zum Teil als zusammenhängende Berichtfolge entstanden. Bei einer handelt es sich beispielsweise um die Speicherkopie des 2048 von Atlans Lehrmeister Fartuloon erstellten OMIRGOS-Kristalls. Er befreite Atlan vom Druck der Erinnerungen, genau wie er es kurz vor seinem rätselhaften Verschwinden in Atlans Jugend tat, um ihn »Dinge vergessen oder in einem anderen Licht sehen zu lassen«. Eine zweite Sammlung, die in erster Linie auf die Jugendzeit des Arkoniden einging, entstand ab März 2844 und floss 2845 in Auszügen in die »Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse« von Sean Nell Feyk ein; die dritte schließlich auf Gäa in der Provcon-Faust, veröffentlicht im Rahmen der ANNALEN DER MENSCHHEIT in den Jahren ab 3562 sowie in der von Professor Dr. Dr. Cyr Abaelard Aescunnar erstellten und 3565 herausgegebenen, in vielen Bereichen dennoch lückenhaften »Biografie Atlans«.
Aescunnar zitierte hierin Atlans Aussage, die er zu Beginn des kleinen Festes anlässlich des Endes der vor allem die Larsaf-Verbannungszeit betreffenden Berichte äußerte: »Zu Ihren, unseren, zu den ANNALEN DER MENSCHHEIT, Professor: Ich habe bis zum heutigen Tag, dem neunten März (3562), seit ich in der Katharsis nicht einmal selbst verstand, was ich redete, nicht bewusst die Unwahrheit gesagt. Aber: Fartuloons OMIRGOS-Kristall, die Befürchtung von ES, erkannt zu werden, unterschiedliche Zeitrechnungen nebeneinander, manipulierte Erinnerungen und Ähnlichkeiten und jene eigentümliche Parallelwelt, in der ich und Rico bis fast zur letzten Sekunde gefangen waren – ich weiß bis heute nicht, ob dies dem Wirken von Anti-ES entstammte –, mitunter werden auch Sie auf dem Voiceprinter und trotz der Überprüfung durch Ihre Sechstsemesterstudenten offensichtliche Fehler entdecken. Sorry. Ich konnte es nicht besser.«
Fest steht, dass der alte Arkonide über ein immenses Wissen verfügt und es viele Abschnitte seines Lebens gibt, auf die er mit deutlich größerer Zurückhaltung einging als auf andere. Neben den von ihm selbst genannten Gründen muss davon ausgegangen werden, dass er zu manchen seiner Erlebnisse schlicht und einfach nichts berichten wollte und sich teilweise sogar per »Notlüge« herausredete. Gesichert ist, dass ihn beispielsweise die Langeweile beim Rückflug von der Großen Leere der Jahre 1221 und 1222 NGZ veranlasste, mehr oder weniger intensiv an seinen »Memoiren« zu arbeiten. Leider verhinderten die Ereignisse nach der Rückkehr der BASIS zur Milchstraße, dass diese wunderbar erzählten Berichte einem breiten Publikum zugänglich wurden, denn nur wenige Kopien kamen in Umlauf.
Inzwischen gibt es allerdings einige »Updates«, die in bewährter Weise in die »Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse« eingeflossen sind: Beim langen Flug der SOL war es nicht ausgeblieben, dass Atlan in den eher unspektakulären Flugphasen mehr als eine Frage zu seinem durchaus bewegten Leben beantwortet und sich zwischendurch mal wieder etwas mit den »klaffenden Lücken« seiner Memoiren beschäftigt hatte, während sich andere Mitglieder der Crew mit allen möglichen Formen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, Training und diversen Hobbys beschäftigt hatten. Zeit genug gab es – immerhin endete der am 31. August 1290 NGZ begonnene Flug nach Chearth im Anschluss an sein Traversan-Abenteuer (das »etwas länger« als ursprünglich geplant beansprucht hatte …), letztlich ja erst mit der Rückkehr der SOL zur Erde am 24. Juni 1325 NGZ.
In vielerlei Hinsicht handelte es sich ebenfalls um eine Katharsis, vergleichbar jener nach Atlans Unfall auf Karthago II im Jahr 3561, als er, mit dem Tod ringend, tief in seinen Erinnerungen versunken war und durch die Berichte den Heilungsprozess unterstützt hatte. Neben vielen anderen Dingen hatten bei diesem bislang letzten großen Erinnerungsschub Atlans vor allem die am 14. März 1225 NGZ auf ihn übertragenen Lebenserinnerungen von Tamaron Nevus Mercova-Ban eine Rolle gespielt – immerhin 92 Lebensjahre, deren wirkliche Verarbeitung lange Zeit nicht stattgefunden hatte, weil die Gegenwart stets Atlans Aufmerksamkeit mehr beanspruchte. Somit blieben nur Verdrängung und Unterdrückung. Erst die langen Jahre der SOL-Rückreise vom Ersten Thoregon zur Erde hatten ihm Gelegenheit zur »Aufbereitung« gegeben, nicht nur was Nevus Mercova-Bans Erinnerungen, sondern auch viele, viele andere Erlebnisse betraf …
Kraumon: 32. Prago des Dryhan, 10.499 da Ark
Ischtar hatte sich keinen Augenblick von Chapat getrennt. Sie hielt das Kind im Arm und strich ihm mehrmals beruhigend über die Stirn. Mir fiel auf, dass die Schläfenadern unnatürlich aufgequollen aussahen und stark pulsierten.
Starke Anspannung, behauptete der Extrasinn. Seine Kräfte und Fähigkeiten wachsen immer schneller.
Ich ging davon aus, dass Chapat permanent mit seiner Mutter in Verbindung stand. Wie sehr er sie beeinflusste, wusste ich nicht, vermutete es aber.
Ischtar stand vor der Bodenrampe des Ultraleichtkreuzers DIRRET, den wir für sie ausgerüstet hatten. Die freiwillige Besatzung, zu der auch der Con-Treh Bel Etir Baj gehörte, hatte von mir den Auftrag erhalten, alles für Ischtar zu tun und sie überall hinzubringen, wohin sie wollte. Ich ging davon aus, dass Ark’alor das erste Ziel sein sollte, denn dort befand sich das Beiboot der MONDSCHATTEN. Kommandant Gresta Hankort war zwar noch nicht lange auf Kraumon, aber er war ein hervorragender Kommandant. Morvoner bürgte für ihn, das sagte mir genug.
»Weshalb willst du Kraumon verlassen?«, fragte ich.
Ischtar seufzte. »Von Wollen kann keine Rede sein, Atlan. Ich muss mit Chapat ins All starten. Unser Sohn hat eine Entwicklungsstufe erreicht, die besondere Maßnahmen erfordert. Ich muss ihn zu einer Welt bringen, auf der er unter angebrachten Bedingungen aufwachsen kann.«
Viel schlauer war ich nach dieser Aussage nicht. Weshalb sollte Kraumon keine geeignete Welt sein? Uns stand jeder technische und medizinische Komfort zur Verfügung, den das Große Imperium zu bieten hatte. »Warum nicht Kraumon?«, begann ich ohne viel Hoffnung, Ischtar doch noch umstimmen zu können. »Was meinst du mit angebrachten Bedingungen, unter denen Chapat aufwachsen muss?«
»Ich könnte dir jetzt einiges über varganische Entwicklungsprozesse verraten, Atlan, die bei Chapat durch sein Mischgenom noch verstärkt werden. Aber du würdest doch nur nach einer Möglichkeit suchen, mich in deiner Nähe zu behalten. Genau das aber ist unmöglich. Wir müssen uns wegen Chapat trennen.«
Ich fasste ihre Schulter und zog sie an mich. Nur der Kleine befand sich trennend zwischen uns, von Ischtars Arm an die Brust gepresst. Ich lächelte bitter – die Varganin wusste es sofort zu deuten.
»Ja, Atlan. Unser Sohn steht zwischen uns, im wahrsten Sinn des Wortes.«
Lautlos war Fartuloon hinzugetreten; jetzt legte er schwer die Hand auf meine Schulter. »Quäl dich nicht unnötig. Ischtar ist fest entschlossen und hat ihre berechtigten Gründe. Mach es euch nicht schwerer, als es ohnehin ist.«
Ich nickte schwermütig, sah Ischtar in die Augen. »Leb wohl! Pass auf Chapat auf. Gibt ein Lebenszeichen, sobald die Zeit reif ist; ich werde zu dir kommen.«
»Das weiß ich, Atlan. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.«
Sie drehte sich abrupt um und eilte die Rampe hinauf. Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand sie mit Chapat in der Schleuse. Kommandant Hankort grüßte, die letzten Besatzungsmitglieder gingen an Bord. In Gedanken versunken nahm ich im Gleiter Platz, der, von Fartuloon gesteuert, zum Raumhafenrand schwebte. Ich dachte an Ischtar, die Goldene Göttin, unsterbliche Varganin. Der Bauchaufschneider hielt an, ich drehte mich um. In diesem Augenblick hob das Sechzigmeterschiff mithilfe seiner Antigravprojektoren ab und stieg langsam auf. Kurze Stöße der Impulstriebwerke folgten, die DIRRET wurde schneller, raste dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Nieselregen setzte ein, während die Impulstriebwerke losdonnerten. Das Brausen der verdrängten Luftmassen rauschte und pfiff über das Landefeld, ein dumpfes Grollen erschütterte alle Zwerchfelle.
In einiger Distanz entdeckte ich eine einsame Gestalt. Auch Ra hatte den Abflug Ischtars beobachtet. Er stand reglos da, hatte den Kopf in den Nacken gelegt, während die Arme schlaff herabhingen. Der zum leuchtenden Stern gewordene Raumer war längst verschwunden, doch der Barbar starrte weiterhin nach oben. Genauso hatte er vermutlich auf seiner Heimatwelt dem Oktaeder nachgesehen. Damals, als Ischtar den Planeten der steinzeitlichen Jäger besucht hatte und Ra erstmals begegnet war. Der erste Bericht des Barbaren stand mir vor Augen, genau wie meine erste Begegnung mit der Varganin. Wie Ra war ich vom ersten Augenblick an fasziniert gewesen. Er liebte sie mit dem Ungestüm des Barbaren, während zwischen mir und ihr eine Art Seelenverwandtschaft bestand – und mich hatte sie als Vater ihres Sohn ausgewählt. Plötzlich zuckte ich zusammen, weil ein stechender Schmerz durch mein Inneres fuhr. Chapat!, signalisierte der Extrasinn. Er verabschiedet sich auf seine Weise.
Etwas wie ein höhnisches Gelächter hallte durch mein Bewusstsein; Chapat hatte mich angepeilt und strahlte seine telepathischen Impulse mit schmerzhafter Intensität direkt in meine Gedanken. Niemand außer mir hörte es, Fartuloon interpretierte meine Erstarrung als Trennungsschmerz. Ich wusste es besser, fühlte den Ansatz von Verständnis durch mein Gehirn kriechen. Ja, es war besser, dass Chapat Kraumon verlassen hatte; wäre er geblieben, hätte er für uns alle zur Gefahr werden können, dessen war ich mir plötzlich sicher. Irgendwann verstummten die Impulse, machten Totenstille Platz. Ich sah mich um – niemand war mehr in der Nähe. Die Freunde wussten, dass ich jetzt allein sein wollte.
Aus: Biografie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft); Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, Provcon-Faust, 3565 n.Chr.
… kehrte die DIRRET knapp einen Monat nach dem Aufbruch wieder nach Kraumon zurück. Wie von mir vermutet, war in der Tat Ark’alor das Ziel gewesen. Der Raumer hatte nicht einmal zu landen brauchen – während Bel Etir Baj mit einem Beiboot seine Heimatwelt anflog, reichte Ischtar ein kurzes, kodiertes Hypersignal, um die komplette Kontrolle über das Oktaederbeiboot zu gewinnen und den ferngesteuerten Start einzuleiten, den die Con-Treh nicht aufhalten konnten. Im All erfolgte dann das Rendezvousmanöver; die Varganin wechselte mit Chapat über, verabschiedete sich und war kurz darauf verschwunden.
Fast 10.900 Jahre sollten vergehen, bis ich erneut von ihr und vor allem von Chapat hörte – aber das ist eine ganz andere Geschichte …
Aus: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO, Chamiel Senethi. In: Neues Kompendium von Sekundärveröffentlichungen diverser Archive, hier: Die Traummaschine und Atlans Sohn Chapat (A-KM-163-74, A-HGF-165-74, A-HKn-167-74 und HGE-173-75), Sonthrax-Bonning-Verlagsgruppe, Lepso, 1338 Galaktikum-Normzeit (NGZ)
… erhielt Lordadmiral Atlan Anfang Oktober 2843 einen Bericht der USO-Spezialistin Nally Motcher, die auf dem Planeten Gostack im 10.262 Lichtjahre von Quinto-Center entfernten Kellehrt-System eingesetzt war und – ohne Kenntnis ihrer wahren Identität – als attraktive Haushälterin und Lebensgefährtin mit dem USO-Spezialisten Fehrndor Globus zusammenlebte, der seit dreizehn Monaten heimlich eine Relaisstation des USO-Hyperfunknetzes betreute. Um seine USO-Tätigkeit zu tarnen, betrieb Globus in der Ebene von Oopla einen kleinen kommerziellen Radio- und Hyperkomsender.
Die nicht unter Verwaltung des Solaren Imperiums stehende Paradieswelt wurde von der Solaren Abwehr (SolAb) als »Sanatorium für Revolutionäre« bezeichnet, weil sich hier junge Terraner, Arkoniden, Báalols und Akonen einfanden, die mit den politischen oder sozialen Gegebenheiten ihrer Heimat unzufrieden waren. Da die meisten dieser »Systemveränderer« nach einigen Jahren wieder abreisten, lag die Bevölkerungszahl seit dreißig Jahren konstant bei rund drei Millionen. Neben der Bewachung des Hypersenders hatte Globus dafür zu sorgen, dass das von den Unzufriedenen, Systemflüchtlingen und Weltverbesserern etablierte sensible Gleichgewicht erhalten blieb.
Als Nally Motcher Mitte September 2843 einen VHF-Funkspruch empfing (»Gold an Silber. Das Huhn hat ein Ei gelegt. Achtunddreißig-achtzehn Nord, eins-zwo-neun-zweiundachtzig West. Eierbecher können anrollen.«), war Globus alarmiert, weil der bezeichnete Ort in der Nähe des ausgehöhlten Berges lag, in dem der USO-Sender versteckt war. Er konnte dort jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Bei seiner Rückkehr überraschte er den wohlhabenden Sinker Wallaby, der mit fünf Helfern Nally Motcher entführen wollte. Da Wallaby in seinem Zorn von einem Huhn sprach, das goldene Eier legt, folgerte Globus, dass er mit dem Funkspruch in Zusammenhang stehen müsse. Er ermittelte, dass der Spruch von Gostacker gekommen war, dem fast planetengroßen Mond Gostacks mit einer Schwerkraft von 0,8 Gravos und einer dünnen Sauerstoffatmosphäre, der von Gostack aus die scheinbare Größe des vierfachen Monddurchmessers erreichte. Offenbar bezeichneten die Koordinaten eine für Wallaby wichtige Stelle des Mondes.
Mit einem USO-Raumgleiter flog Globus daher nach Gostacker. Ihn begleitete sein menschenähnlicher Roboter, den er seiner eigenen Neigung zur Kosmopsychologie entsprechend programmiert und Freud genannt hatte, weil er ständig psychologisierende Kommentare abgab. Auf der Suche nach dem Versteck Wallabys trafen die beiden in derWildnis auf eine Gruppe von zwölf Frauen, die nach einer Lagerstätte des wertvollen Schmucksteins Gostackit suchten, von der sie durch einen alten Prospektor erfahren hatten. Gemeinsam fanden sie die Gostackit-Mine, die aber bereits von Wallabys Leuten ausgebeutet wurde. Da die liebeshungrige Nunkla das Vorhaben an Wallaby verriet, gelang es nicht, dessen Gefolgsleute zu überwältigen. Globus und die Frauengruppe gerieten in Gefangenschaft.
Wallaby forderte Globus auf, ihm beim Öffnen eines Fundstücks zu helfen, auf das seine Leute bei der Suche gestoßen waren. Es war ein zehn Meter hoher und vier Meter durchmessender Zylinder von kräftiger, tiefblauer Farbe, der in einer rund sechzig Meter hohen, kuppelförmigen Höhle stand und einer unbekannten Technologie entstammte. Seine Oberfläche war von Kerben, Vorsprüngen und fühlerartigen Ausbuchtungen bedeckt. Das Gebilde reagierte nicht auf Blaster und nicht auf moderne Schweißbrenner. Es war unmöglich, ihm einen Kratzer beizubringen, und selbst mit dem stärksten Traktorfeld konnte er nicht vom Platz bewegt werden. Nur eins wurde durch primitives Abklopfen festgestellt: Das Innere bestand zum Teil aus Hohlräumen, zum Teil aus solidem Material.
Als Wallabys Techniker das Gebilde mit einem Sechzehn-Bit-Kode zu öffnen versuchten, verlängerte sich ein Tentakel des Zylinders und zerstörte den Rechner. Erst als Wallaby ihm zwanzig Prozent des zu erwartenden Gewinns zusicherte, war Globus bereit, ihn mit Freud zu unterstützen. Als Freud nach vergeblichen Versuchen Zwanzig-Bit-Kodes abstrahlte, erfolgten Explosionen, die das Höhlendach zum Einsturz brachten. Der geheimnisvolle Zylinder stand nun auf dem höchsten Punkt der Kuppe, die der Berg jetzt bildete; das von ihm ausgehende Leuchten hatte an Intensität gewonnen, als sich eine schmale, doppelt-mannsgroße Öffnung bildete. Wallaby gab sofort Anweisung, Globus zu überwältigen und Freud zu zerstören, doch die überraschend auftauchende Nally Motcher hinderte seine Leute daran.
Zitat Bericht USO-Spezialistin Nally Motcher: … trat ein nackter Mann aus dem Zylinder, der Lordadmiral Atlan ähnelte, aber jünger war und eine bronzefarbene Haut hatte. Er nannte sich Chapat! Während er den Hang hinunterschritt, begann sich der blau leuchtende Zylinder zu verformen und löste sich in vier große Teile auf, die sich ihrerseits weiter verformten und am Ende der Metamorphose zu Kampfrobotern wurden. Sie folgten in respektvollem Abstand auf dürren Beinen dem jungen Mann, der wortlos mit einer umfassenden Handbewegung auf Wallabys Leute und die Frauen deutete. Sofort ruckten die Waffenarme der Roboter in die Höhe, erzeugten Geräusche, vergleichbar einem Schocker – und im nächsten Augenblick lagen die Bezeichneten bewusstlos am Boden.
Der Fremde trug auf der Handfläche der rechten Hand einen blauen Spitzkegel, von dem ein intensives blaues Leuchten ausging und der in halber Höhe eine umlaufende flache Kerbe aufwies. Der Basisdurchmesser betrug etwa fünf Zentimeter, die Höhe rund sieben Zentimeter. Der Mann starrte vor sich hin, schien geistesabwesend. Ich sah Fehrndor an, dass er von der beeindruckenden Aura, die den Fremden umgab, beeinträchtigt wurde. Es kostete ihn Mühe, laut zu fragen: »Wer bist du?«
»Ich bin Chapat. Ich bedarf vorübergehend deiner Hilfe, und du wirst sie mir nicht versagen.«
Ich wusste, dass Fehrndor etwas gegen Leute hatte, die nach Belieben über ihn verfügen wollten. Ich sah ihm an, dass er widersprechen wollte. Doch der fremde Zwang hielt ihn gefangen. Sogar ich, obwohl nicht direkt betroffen, fühlte die Impulse, die mit fast hypnotischer Kraft aus Chapats Bewusstsein in das Fehrndors flossen. »Hier sind Gute und Böse versammelt. Ich konnte sie schon aus dem Innern meines Fahrzeugs voneinander unterscheiden. Die Bösen sind bewusstlos. Tue mit ihnen, was du für gut hältst, aber schaffe sie mir aus den Augen. Danach werden wir sprechen.«
Er setzte sich auf ein Felsstück, das die Lawine zurückgelassen hatte, stützte das Kinn in beide Hände und versank wieder in den Zustand der Abgekehrtheit. Fehrndor machte sich nicht die Mühe, ihn ein zweites Mal anzusprechen, sondern wandte sich mir zu …
Nun erst erkannte Fehrndor Globus, dass Nally Motcher, die mit einer Space-Jet aus dem USO-Depot nach Gostacker geflogen war, ebenfalls USO-Spezialistin und auf Gostack eingesetzt war, ohne dass er davon Kenntnis gehabt hatte.
Die Abfertigung der Gefangenen war Routine. Sinker Wallaby und seine Leute, die Frauen eingeschlossen, wurden an Ort und Stelle zurückgelassen. Sie mochten zusehen, wie sie ihr umgekipptes Kleinraumschiff wieder flottbekamen. Wallaby hatte sich zumindest des Verbrechens der Freiheitsberaubung schuldig gemacht. Aber Fehrndor Globus wusste, wie wenig aussichtsreich es war, auf Gostack jemand gesetzlich verfolgen zu lassen. Also gab er Wallaby und seinen Leuten die Chance, zum Planeten zurückzukehren, und verließ sich darauf, dass die auf Gostacker erlittene Blamage dafür sorgen würde, dass sie nicht wieder zu frech wurden. Bezüglich Nally hatte er jetzt, da er wusste, dass sie eine USO-Spezialistin war, weniger Sorge. Sie würde sich gegen Wallaby zu wehren wissen, falls er seine Zudringlichkeit erneuerte.
Nunkla musste sich Wallabys Gruppe anschließen. Das war für beide, Wallaby ebenso wie Nunkla, eine zusätzliche Strafe. Bis zur Rückkehr nach Gostack würden sie einander die Hölle heißmachen. Nunklas Genossinnen wurden befreit. Von ihrer Space-Jet aus, die nicht weit vonFehrndors Raumgleiter entfernt gelandet war, rief Nally einen auf Gostack ansässigen Fährdienst an und ließ ihn wissen, dass auf Gostacker eine Gruppe abenteuerlustiger Frauen gestrandet sei, die dringend nach Hause wollten. Das Fahrzeug, mit dem sie nach Gostacker gekommen waren, sei bei der Landung havariert und nicht mehr zu gebrauchen. Der Fährdienst wurde angewiesen, mit seinem Fahrzeug unmittelbar an der Stelle zu landen, an der früher der Felsen mit dem Eingang der Höhle gewesen war.
Zitat Bericht USO-Spezialistin Nally Motcher: Nachdem Chapats Weisung in dieser Art Folge geleistet worden war, drängte der Fremde darauf, den »Ort der Zwietracht«, wie er ihn nannte, so rasch wie möglich zu verlassen, und erkundigte sich bei Fehrndor: »Du hast ein Raumfahrzeug, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Ich muss reisen. Wirst du mich mit deinem Genossen begleiten?« Er deutete auf Freud.
»Wir werden dich begleiten.«
Chapat blickte zur Seite und bemerkte, dass die vier Kampfroboter, die aus dem Zylinder entstanden waren, ihm noch immer folgten. Er machte eine kurze Handbewegung und sagte einfach: »Ich glaube, wir brauchen sie nicht mehr.«
Die Roboter hielten mitten in der Bewegung inne, wurden zu kleinen Nebelwölkchen, die in den blauen, wolkenlosen Himmel hinaufstiegen und sich rasch auflösten. Fehrndor und ich hatten plötzlich einen ganz enormen Respekt vor der Technologie der Zivilisation, der Chapat entstammte. Es verstand sich wie von selbst, dass wir die Fahrzeuge tauschten. Chapat hatte keine Andeutung darüber verloren, wohin die Reise gehen solle, aber es war anzunehmen, dass sein Ziel außerhalb des Gostack-Systems lag. Die Space-Jet verfügte über einen Linearantrieb, der Raumgleiter dagegen war nur für interplanetarische Distanzen geeignet. Wir verabschiedeten uns abseits, außer Sichtweite des nackten Fremden und des ewig neugierigen Freud, der in den vergangenen Stunden merkwürdig ruhig gewesen war, sodass zu erwarten stand, dass er in den nächsten Minuten zu umso größerer Geschwätzigkeit erwachte.
»Ich warte auf dich«, sagte ich. »Lass mich nicht allzu lange warten!«
»Niemand hasst das Warten so sehr wie ich«, antwortete Fehrndor und nahm mich dabei in die Arme. »Du und ich … wir werden es nicht lange ohne einander aushalten müssen.«
Ich kletterte in den Raumgleiter, aktivierte jedoch, während das schnittige Fahrzeug steil in den blauen Himmel stieg, die Fernbeobachtung einer zurückgelassenen Mikrosonde, sodass ich wenigstens noch einige optische und akustische Eindrücke aufzeichnen konnte. Die Space-Jet stand am Fuß des Felshügels. Mithilfe eines Kodegebers öffnete Fehrndor das Schleusenluk, die kurze Bodenrampe glitt automatisch heraus. Chapat schritt darauf zu und betrat sie, als habe er zeit seines Lebens nichts anderes getan, als an Bord terranischer Raumfahrzeuge zu reisen. Bevor er jedoch die Schleuse betrat, hielt er an, streckte die rechte Hand aus und musterte das seltsame kreiselförmige Gebilde, das er noch immer wie ein Kleinod bei sich trug. Fehrndor stand hinter ihm, konnte seine Neugierde nicht mehr länger zügeln und fragte: »Was ist das?«
Chapat antwortete lange nicht, starrte den blauen Kreisel an. Als er schließlich den Mund öffnete, brachte er Worte mit traurigem Klang hervor. »Das«, sagte er schwer, »ist Ischtars Kreisel. In den Worten eurer Sprache: das Ischtar-Memory.«
Damit ging er weiter und trat in die Schleuse. Hinter Fehrndor aber murmelte Freud: »O mein Gott, er hat einen Ischtar-Komplex …« – Das waren die letzten Worte, die ich aufzeichnen konnte. Leider war es mir nicht möglich, den Kurs der Space-Jet zu bestimmen. Entgegen den Dienstanweisungen der USO wartete ich, ohne einen Bericht abzuschicken, doch bis heute hat sich USO-Spezialist Fehrndor Globus weder gemeldet, noch ist er zurückgekehrt. Deshalb habe ich mich entschlossen, USO-I Quinto-Center zu informieren …
Von der Nachricht alarmiert, versuchte Lordadmiral die Spur seines vermeintlichen Sohns aufzunehmen, von dem er fast elftausend Jahre zuvor zum letzten Mal gehört hatte. Zunächst erfolglos, obwohl ihm die Möglichkeiten seiner Organisation zur Verfügung standen.
Ergänzende Randnotiz: Nach seinen Abenteuern an der Seite der Varganin Kythara im Jahr 1225 NGZ flossen mehrfach Bemerkungen Atlans in seine Berichte ein. Seiner Meinung nach handelte es sich bei dem blauen Zylinder, in dem Chapat auf Gostacker erwachte, um einen von Ischtar reaktivierten Kardenmogher oder um ein Einzelmodul beziehungsweise Teilsegment dieses varganischen »Allzweckaggregats«.
In ihrer Basisform waren die Kardenmogher sechzig Meter lange und fünfzehn Meter durchmessende blaue Metallröhren und in dieser Form häufig mit kannelierter Außenseite ausgestattet. Von der Funktion her galten sie als fast ultimative Waffen, mit der ganze Planeten entvölkert werden konnten. Andererseits waren es auch multifunktional einsetzbare Allzweckgeräte und als solche beispielsweise in der Lage, in kürzester Zeit sogar Städte aus dem Boden zu stampfen; sie ersetzten hierbei ganze Kriegsflotten, Transportsysteme und Verwaltungen, konnten sich in Einzelmodule unterschiedlicher Größe aufspalten, formenergetisch projizierte Zusatzteile erstellen und den immensen Energiebedarf unter anderem durch Sonnenzapfung sicherstellen.
Eine der Sekundärformen glich der eines 24-zackigen doppelten Kegelstumpfes, sodass das Aussehen einem sogenannten geradverzahnten doppelten Kegelrad entsprach. Selbst Atlan kam nicht umhin, die erstaunliche Vielseitigkeit dieser Gebilde überaus anerkennend zu kommentieren: Unzählige Module bis hinab zur Größe im Mikro- oder gar Nanobereich sowie scheinbar nahezu in beliebiger Gestalt projizierbare Formenergie-»Auswüchse« und ermöglichten eine Flexibilität, die kaum noch zu steigern war. Sofern die Energieversorgung gesichert war, schienen einem Kardenmogher kaum Grenzen gesetzt. Es musste deshalb davon ausgegangen werden, dass auch der als »Ischtar-Memory« umschriebene Spitzkegel Bestandteil des Kardenmoghers war – quasi die Spitze des Eisbergs als im Standarduniversum verstofflichter Teil, während der Rest entmaterialisiert gelagert wurde oder Bestandteil einer in den Hyperraum ragenden Raum-Zeit-Nische war.
Als Erbauer der Kardenmogher galt der Vargane Ezellikator, dessen Sicherheitskodes es »in sich haben«, Zitat Kythara: Ich hatte vor langer Zeit mehrfach mit diesem verschrobenen Kerl zu tun. Er war zwar ein Genie – aber eines, das knapp vor dem Wahnsinn stand. Irgendwann drehte er dann komplett durch und brachte sich um, indem er die Droge benutzte. Das Kyrachtyl gewährleistete ihm den sanften Tod, die gezielte Lösung des Bewusstseins von der körperlichen Hülle. – Ein Vorgang, der als »Freisetzung ins Kyriliane« umschrieben wurde; das varganische »Kyriliane« stand für »das Ganze«, »Alles«.
Erst der auf dem Medienplaneten Kantanong im Blowsmitt-System eingesetzte USO-Spezialist Leutnant Hessefy wurde auf den jungen Fremden aufmerksam, der dem Lordadmiral der USO in so auffallender Weise ähnelte. Chapat hatte sich, wohl um zu Geld zu gelangen, mit der Galactic Music Corporation eingelassen. Dabei entstand eine Musikaufnahme, von der Hessefy sagte: »Dieses Lied erzeugt eine derart euphorische Stimmung, dass ich vermute, dass es parapsychisch wirksam ist. Ich bin gekommen, um das überprüfen zu lassen.«
Als sich Atlan die Aufnahme vorspielen ließ, erkannte er überrascht die Stimme Ischtars – und er entschloss sich, persönlich dieser Spur zu folgen. Er flog zum 27.736 Lichtjahre von Quinto-Center entfernten Planeten Kantanong und erfuhr in der Künstleragentur Arctyre exclusive, dass Chapat inzwischen offiziell von Alfo Zharadin engagiert wurde und mit der TRAUMPALAST zur exklusiven Ferienwelt Broelgir im 2583 Lichtjahre entfernten Giffar-System geflogen war, die von einer halben Million Kolonisten und mehr als einer halben Million steinreicher Gäste bewohnt wurde. In seinem Hotelzimmer wurde der Arkonide durch sein fotografisches Gedächtnis gezwungen, sich daran zu erinnern, wie er in seiner Jugendzeit auf dem Planeten Frossargon die Varganin Ischtar traf, von ihr verführt wurde und mit ihr Chapat zeugte.
Atlan teilte der USO unter dem Kodewort Magellan mit, dass er weitere private Nachforschungen anstellen wolle, und buchte in der Maske und unter dem Namen Paul Morris auf der SANTA VERENA von Käpten West Eis eine Passage zum Planeten Broelgir, um dort seinen Sohn zu suchen.
Der hochintelligente Alfo Zharadin war aus der Verbindung zwischen einem Terraner und einer Mervanerin hervorgegangen. Es kam äußerst selten vor, dass aus einer solchen Verbindung Kinder entstanden – und wenn, waren sie immer geschlechtslos. Der Dreiundvierzigjährige verstand sich jedoch als Mann; nur 1,55 Meter groß, unter Standardgravitation aber einhundert Kilogramm schwer, hatte er einen unförmigen, fischhäutigen Körper und einen haarlosen Kopf mit der Form einer Kugel. Als Besitzer und Chef der TRAUMPALAST herrschte er über seine Angestellten und Untergebenen wie ein absolutistischer Feudalherr über seine Leibeigenen.
Zharadins 1100 Meter hohes Raumschiff glich einem der Zirkus-Spezialschiffe – geformt als Aufeinanderfolge von Kegelstumpf mit 800 Metern Bodendurchmesser, Zylinder und Bugkugel –, hatte jedoch anstelle von Futtermagazinen und Tierställen Traummaschinen und Illusionsgeräte an Bord. Den Platz der Zuschauerränge im Manegentrichter nahmen Kabinen ein, deren psychoaktiv-paramechanische Hauben mit den besonders programmierten Illusionsmaschinen verbunden waren. Da die von ihnen vermittelten Träume des Vergessens Abhängigkeit erzeugen konnten, lebten auf vielen Planeten, die von der TRAUMPALAST besucht wurden, Illusionssüchtige.
Unmittelbar bevor die TRAUMPALAST bei Herieva landete, der einzigen Stadt Broelgirs, ließ Zharadin das Ischtar-Memory durch einen Taschendieb gegen eine Nachbildung austauschen, während sich Chapat mit der jungen Loo in einer Illusionskabine aufhielt. Den echten Kegel baute Doktor Sassu zwischen Speicher und Gehirnwellengeräten der Traummaschinen ein. Bei einem ersten Test der neuen Schaltung wurde der Techniker Thars in einem Traum auf einem arkonidischen Planeten in einen Streit verwickelt, im Traum erschossen – und starb auch in der Realität an einer Schussverletzung, die offenkundig von einem uralten Nadler hervorgerufen wurde. Es war jedoch kein Einschuss zu entdecken.
Als Chapat Zharadin wegen des Diebstahls zur Rede stellte, wollte ihn der Halbmervaner ergreifen lassen, doch der junge Mann floh und verließ die TRAUMPALAST. Chapat schmuggelte sich in einen Lastengleiter ein, der nach Herieva flog. Da ihn Zharadins Männer unerbittlich jagten, sprang er schließlich ins Meer und schwamm zum Boot einer jungen Frau: Kerilla Vhotan nahm den Unbekannten, der ihrem Jugendschwarm Atlan so auffallend glich, in ihr Haus auf und wurde Chapats Geliebte.
Atlan-Morris suchte nach der Landung auf Broelgir die TRAUMPALAST auf. Zharadin erklärte ihm, Chapat habe ihn betrogen und sei geflüchtet. Nachdem er vergeblich nach seinem Sohn gesucht hatte, wurde Atlan am frühen Abend des 30. Oktober 2843 auf Kerilla Vhotan aufmerksam. Von ihr erfuhr er, dass Chapat in die TRAUMPALAST zurückgekehrt sei, um das Ischtar-Memory zu holen. Chapat tappte bei dem Versuch, in der Maske eines alten Mannes zu Zharadin vorzudringen, in eine Falle. Atlan folgte ihm in seiner Morris-Maske, doch auch er wurde von Zharadin durchschaut und ebenfalls gefangen genommen …
Broelgir, an Bord der TRAUMPALAST: 31. Oktober 2843
Mein Erwachen war, als tauche ich aus einer unendlichen Tiefe wieder auf. Ich öffnete die Augen nicht und versuchte, meine Lage festzustellen, ohne mich zu verraten.
Du bist gefesselt, meldete sich der Extrasinn.
Meine Handgelenke, die Oberarme, die Oberschenkel und die Knöchel waren fest mit breiten, gepolsterten Stahlbändern an der Unterlage befestigt. Ein Versuch, mich loszureißen, war mehr als zwecklos. In meinen Venen fühlte ich Kanülen; Pflaster hielten die dünnen Nadeln. Ich sah nichts, als ich die Augen öffnete. Die Haube der Träume hatte sich bereits über meinen Kopf geschoben, aber ich war noch bei vollem Bewusstsein.
Eine weit entfernte Stimme sagte ruhig und unbetont: »Er ist wach. Schiebt die Haube hoch.«
Es war nicht die Stimme Zharadins. Summend bewegte sich jenes Ding, das den Schall und das Licht fernhielt und mit stumpfen Sensorspitzen die Kopfhaut berührt hatte. Ich blinzelte im Licht der Tiefstrahler, sah zwei Männer. Einer war Alfo Zharadin. Er sah mich lange an und sagte dann triumphierend: »Drehen Sie Ihren Kopf nach rechts.«
Ich gehorchte, fühlte mich unendlich elend. Ich hatte verloren und musste für meinen Leichtsinn und Eigensinn zahlen. Dort drüben lag Chapat, schien tief zu schlafen.
»Chapat«, murmelte ich. Er ist in der Gewalt dieses weißhäutigen Geschlechtslosen.
»Richtig. Ihr Herr Sohn. Er träumt. Niemand von uns weiß, wo er sich wirklich befindet, Lordadmiral«, sagte Zharadin höhnisch. Der schlanke Mann neben ihm sah ihn nur an und schwieg. Zwischen seinen Zähnen steckte eine unangezündete Zigarre.
»Was habt ihr mit ihm gemacht, ihr Schufte?«, knurrte ich wütend.
»Er träumt. Er ist in einer lebensechten Illusion gefangen, weil wir zwischen unsere Leitungen das Ischtar-Memory geschaltet haben. Es sendet fremdartige, aber höchst wirksame Impulse aus.« Zharadin hob die Hand und trat nahe heran. »Hätten Sie einen Spiegel, würden Sie sehen können, dass Sie wieder wie Atlan aussehen. Tatsächlich, die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden ist bemerkenswert. Ich persönlich zweifle nicht daran, dass es Ihr Sohn ist. Passen Sie auf: Wir haben einen Versuch mit zwei Freiwilligen laufen lassen. Sie wurden in eine fremde Umgebung versetzt. Sie war sehr echt, obwohl die beiden Versuchspersonen nicht schliefen, sondern alles im vollen Wachen erlebten. Einer wurde – in der Illusion – angegriffen und erschossen. Er starb. Leider nicht nur in der Illusion, sondern auch in der Wirklichkeit! Früher oder später wird sich in Ihren gemeinsamen Träumen ein ähnlicher Effekt einstellen. Sie sehen, wir brauchen Sie nicht einmal zu töten. Sie töten sich selbst in Ihrem Traum. Passen Sie also auf, dass Sie nicht in gefährliche Situationen geraten.«
Ich keuchte auf. »Ist das die Wahrheit, oder wollen Sie mich erschrecken, Sie Kretin?«
Zharadin ließ jetzt die Maske der Beherrschung und der Zurückhaltung fallen. Er genoss diesen Triumph. Die United Stars Organisation war sein persönlicher Gegner, denn die Süchtigen auf vielen Planeten würden früher oder später entdeckt werden. Dadurch, dass er mich, den Chef dieser Machtgruppe, und zudem auch noch meinen Sohn in seiner Gewalt hatte, war er überlegen und konnte frei handeln. Er zweifelte nicht daran, dass Chapat mein Sohn war. Aber natürlich hatte er keine Beweise. »Es ist die Wahrheit.« Er stemmte die Hände in die Seiten. »Sie werden es in Kürze selbst herausfinden.«
Chapat träumte oder befand sich in einer Illusion. Langsam glitt die Haube wieder über den Kopf des jungen Mannes in der Verkleidung eines Greises. Ich lag ruhig da und sah ein, dass ich im Augenblick keine Chance hatte. Nicht die geringste Möglichkeit bot sich; ich war machtlos – und Zharadin freute sich sichtlich. Das Geschäft lief hier auf Broelgir zweifellos hervorragend. Viele Personen kamen zum zweiten oder zum dritten Mal – und waren jetzt bereits süchtig. Zharadin konservierte uns sozusagen durch das Lebenserhaltungssystem, das außerdem den konstruktiven Vorzug hatte, leicht transportiert werden zu können.
»Warum quälen Sie ihn?«
Fast mitleidig blickte mich der Geschlechtslose an. »Ich quäle ihn nicht. Aber ich habe auch kein Mitleid. Sehen Sie mich an. Ich bin zeit meines Lebens ein Ausgestoßener gewesen. Und jetzt habe ich die Macht über andere Menschen. Ich benutze sie.«
»Ich kann es nicht ändern«, sagte ich müde und erschöpft, spürte das Gewicht des Zellschwingungsaktivators auf der Brust. Dieses Gerät hatten sie mir also nicht genommen.
»Nein.«
»Früher oder später schlägt auch Ihre Stunde. Ich halte Sie für intelligent genug, das selbst zu wissen.«
»Aber bis zu diesem Punkt tue ich alles, was in meiner Macht steht, da können Sie sicher sein.«
Er schnippte mit den Fingern. Langsam senkte sich die Haube über mich. Ich wurde immer müder und begann einzuschlafen. Und plötzlich, mit dem letzten Rest des Wachbewusstseins, wusste ich, dass ich der Illusionsmaschine völlig ausgeliefert war; weder Logiksektor noch Mentalstabilisation oder Monoschirm halfen. Mein Bewusstsein schwand. Selbst der Extrasinn schwieg …
Chapat: Er fand sich plötzlich in einem seltsamen Garten wieder. Doch es war kein Garten, wie er ihn kannte. Seine Erinnerung sagte ihm, dass er sich gerade noch an Bord der TRAUMPALAST befunden hatte, bedrängt von Zharadin und seinen Leuten, die ihn mit Gewalt unter die Haube der Illusionsmaschine steckten …
… und jetzt träumte er von diesem seltsamen Garten, der ganz und gar unwirklich war. Da war die Fremdartigkeit der Pflanzen. Aber auch, wie sie arrangiert waren, und die Tatsache, dass sich einige Meter höher eine Decke spannte, ließen diese Umgebung unrealistisch erscheinen. Dazu kam noch die Musik. Und vereinzelt waren andere Geräusche zu hören, die aber immer verstummten, wenn er lauschte. So als wolle sich jemand vor ihm verstecken. Was war das für ein Traum? Eine Hoffnung keimte in ihm auf, entflammte vehement. Er wusste, dass die Illusionsmaschine durch das Ischtar-Memory und die ihm innewohnendenKräfte programmiert und verändert worden war. Er wusste, dass das, was er sah und erlebte, ein Traum war. Dennoch hatte er den Eindruck, als befände er sich in der Realität.
»Mutter?«, fragte Chapat in die Stille hinein, die nur von einschmeichelnden Klängen unterbrochen wurde. Warum bekam er keine Antwort? Er war sicher, dass da noch jemand war. Andererseits – wenn es sich bei seinem Erlebnis nur um einen Traum handelte, war es, der Unlogik der Träume gehorchend, ganz normal, dass er keine Antwort erhielt. Er streckte den Arm nach einer handtellergroßen Blume aus, berührte zaghaft ein rosafarbenes Blütenblatt. Die Blüte bot einen leichten Widerstand. Plötzlich verkrampfte sich seine Hand. Er umschloss damit die Blüte, riss sie vom Stängel, zerquetschte sie in seiner Hand. Die Blüte war real! Er öffnete die Hand und blickte auf die zerknitterten Blütenblätter. Es war eine Affekthandlung gewesen. Impulsiv, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm hatte er nach der Blume gegriffen. Und jetzt fühlte er sie. Konnte man so real träumen? Plötzlich ertönte von irgendwo eine Stimme. Jemand rief etwas Unverständliches. Chapat wirbelte herum, sah niemanden. Aber dann bemerkte er hinter einem Strauch eine Bewegung.
»Mutter?«, fragte er wieder. »Ischtar?« Atmen. Das Scharren von Füßen. Er rannte zu dem Strauch, sah eine Gestalt in einem bunten Umhang flüchten. Chapat hielt an, wollte den Unbekannten nicht erschrecken, indem er ihn verfolgte. »Mutter, wenn du es bist …«
Er vollendete den Satz nicht, vernahm in seinem Rücken raunende Stimmen, lauschte und stellte fest, dass sich die Stimmen in einer unbekannten Sprache unterhielten. Nur – seltsam, dass er dennoch einige Wortfetzen verstand. Es dauerte nicht lange, dann hatte sich sein Gehör so weit verfeinert, dass er einen ganzen Satz aufschnappen konnte: »Eine ganz verkorkste Seele, der alte Knabe …«
»Mutter?«, fragte Chapat jetzt in der anderen Sprache. »Ich bin es, dein Sohn.«
Er lauschte. Jemand kicherte schrill. Ein anderer, zweifellos ein männliches Wesen, sagte: »Ja, das mit der verkorksten Seele ist unbedingt richtig. Wenn ein so alter Knabe nach seiner Mutter ruft, stimmt einiges mit ihm nicht. Wenden wir uns einem anderen zu …«
Chapat wurde bewusst, dass mit »alter Knabe« nur er gemeint sein konnte. Noch immer trug er die Maske, die ihn zu einem alten, schnurrbärtigen Mann machte. Aber wie war das möglich? Eine Wechselwirkung seines Bewusstseins mit der Illusionsmaschine oder dem Ischtar-Memory? Er sah in der Richtung eine Bewegung, aus der die zwei Stimmen gekommen waren, machte einen Schritt, blieb wieder stehen. Zwei grotesk anzusehende Wesen warfen ihm, Grimassen schneidend, seltsame Blicke zu, entfernten sich. Beide waren humanoid, groteskwirkten sie nur durch ihre Maskerade. Das eine Wesen war eine Frau. Sie trug überhaupt keine Kleider, sondern war am ganzen Körper raffiniert geschminkt. Das Gesicht war eine Maske aus leuchtendem Rot und Grün, die Augen waren gelb eingefasste Ovale. Der Mann trug einen Phantasiehelm, an dem überall sinnlose Mechanismen in Bewegung waren. Sein Gewand war lang und wallend, vom unteren Saum hingen kleine, goldene Glöckchen, die melodisch bimmelten. Er trug eine Halskrause, die mechanische Elemente aufwies und mit dem Helm verbunden war.
Als hätten diese beiden das Startzeichen gegeben, tauchten jetzt überall ähnlich seltsame Gestalten aus Verstecken auf. Chapat wurde von ihnen mehr oder weniger ignoriert. Die Blicke einiger erwiderte er herausfordernd und angriffslustig. Das brachte ihm aber nur ein, dass man ihm aus dem Weg ging und die Augen vor ihm senkte. In welche skurrile Gesellschaft war er da geraten? Was für einen unsinnigen Traum bescherte ihm das Ischtar-Memory?
Mutter, was bezweckst du mit diesem Traum?, riefen seine Gedanken intensiv. Keine Antwort. Und so kam Chapat immer mehr zu der Überzeugung, dass diese Geschehnisse nur bedingt mit Ischtar zu tun hatten. Zharadins Illusionsmaschinen hatten die Entfaltung irgendwelcher Kräfte des Ischtar-Memorys bewirkt, sie vielleicht aufgeladen oder was auch immer. Aber war das alles wirklich nur ein Traumerlebnis? Die Blume hatte er berühren können. Er trug noch seine Maske. Und wie stand es mit den Personen?
Da war ein großer, schlanker Jüngling, der Chapat verstohlen beobachtete, aber erschrocken wegblickte, als er sich ertappt fühlte. Er trug ein eng anliegendes, weißes Gewand. Sein Gesicht, die Hände und die unter dem Hosensaum hervorschauenden nackten Füße waren grellbunt geschminkt. Sein Mund war schmal, aber nach oben gewölbte Striche mit roter Farbe gaben ihm den Ausdruck eines Grinsens. Bunte Ringe verliehen den melancholisch blickenden Augen einen Funken von Fröhlichkeit. Chapat ging auf ihn zu. Der Junge begann leicht zu zittern, sah aus, als wolle er flüchten, bringe aber die Kraft dazu nicht auf. Als Chapat bis auf einen Schritt an ihn herangekommen war, erstarrte der Junge zur Bewegungslosigkeit, sein Mund war verkrampft. Chapat räusperte sich und fragte: »Darf ich Sie berühren?«
Er sagte es in der anderen Sprache, sodass er verstanden werden konnte. Doch anscheinend hatte ihn der Junge missverstanden. Er taumelte, riss den Mund krampfartig auf, ein Röcheln kam aus der Kehle. Seine Glieder begannen konvulsivisch zu zucken. Die Umstehenden wichen erschrocken zurück. Als Chapat den Stürzenden auffangen wollte, schrie jemand: »Nicht berühren! Er würde es nicht überleben.«
Der Junge fiel in ein Blumenbeet. Chapat wurde von starken Armen zur Seite gezerrt. Es waren zwei Roboter vom Aussehen bizarr stilisierter Skelette, die den Jungen auf eine Antigravtrage legten und mit ihm verschwanden. Die Neugierigen verstreuten sich in alle Richtungen, verschwanden hinter den Blumenarrangements, tuschelten miteinander. Kein Zweifel, dass sie den Vorfall diskutierten.
»Er hat sich übernommen, der arme Junge«, hörte Chapat eine Frau ohne besondere Anteilnahme sagen.
»Es wird noch mehr Opfer geben«, sagte jemand anders. »Ich finde, wenn man sich nicht in der Lage fühlt, unter Leute gehen zu können, sollte man lieber zu Hause bleiben. Nicht wahr, meine Liebe?«
»Ja, ja. Diese Seelendemaskierungen sind, wie soll ich sagen, irgendwie obszön. Mein Oglund nennt alle, die daran teilnehmen, pervers – und schließt sich in seinen eigenen Wänden ein.«
»Ihr Oglund ist dekadent.«
»Freilich, das ist er. Darum höre ich nicht auf ihn.«
»Man kann zu diesen Treffen stehen, wie man will. Ein gesellschaftliches Ereignis sind sie auf jeden Fall. Man sieht Leute, die sonst das ganze Jahr über kaum aus ihren Unterkünften kommen …«
Chapat belauschte das Gespräch nicht weiter, als er zwischen den Pflanzen einen weißhaarigen Mann sah, der ungeschminkt war und ihm wie ein rettender Engel erschien: die einzige normale Person in einer Horde Verrückter! Chapat eilte auf ihn zu. Der andere hatte ihn ebenfalls längst entdeckt, taxierte ihn mit intelligenten Augen. Als Chapat ihn erreicht hatte, sprach ihn der andere in Interkosmo an.
»Chapat? Ich bin Atlan.« Ich packte ihn am Arm und führte ihn durch den künstlich angelegten Garten. Sein Äußeres entsprach der Maskierung als Greis, wie ich sie bei ihm unter der Illusionsmaschine gesehen hatte: Er trug Mokassins, ausgebeulte Hosen, deren Säume ausgefranst waren, sowie einen unmodernen halblangen Rock. Ein mächtiger, nach unten gezogener Schnurrbart, tiefe Runzeln im Gesicht und eine altertümliche Brille mit dicken Gläsern vervollständigten die Maske. »Wir erregen bereits einiges Aufsehen. Komm, wir suchen uns einen verschwiegenen Platz, wo wir unsere Lage ungestört besprechen können.«
»Wo sind wir hier? Was sind das für Leute, die sich schminken wie Clowns? Träumen wir nur? Oder sind diese Erlebnisse Realität? Sind Sie in Fleisch und Blut hier? Oder bilde ich mir das nur ein?«
Ich machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Eins nach dem anderen. Gehen wir methodisch vor und untersuchen wir eine Frage nach der anderen.«
Wir fanden hinter dem künstlichen Garten einen Korridor, folgten ihm und probierten unser Glück an einer Reihe von Türen, bis wir einen wohnlich eingerichteten, aber verlassenen Raum betraten. Der Inhaber dieser Wohnung »vergnügte« sich wahrscheinlich mit den anderen Maskierten im Garten.
»Gut«, stimmte Chapat zu, »beschäftigen wir uns also zuerst mit einer Frage. Wo sind wir?«
Er schien in keiner Weise überrascht zu sein, mich anzutreffen. Auch auf mein Aussehen ging er mit keinem Wort ein. Chapat zog die Brille aus und legte sie achtlos ab.
Ischtar-Memory hatte er das geheimnisvolle Gerät genannt, mit dem es Zharadin möglich gewesen war, seine Traummaschinen so zu programmieren, dass sie eine ganz neue Qualität von Träumen hervorbrachten. »Träume«, die den Träumenden in eine Fantasiewelt versetzten, die auf einer realen Welt basierte, und die sich wiederum auf die reale Welt auswirkten. Beispielsweise dann, wenn der Träumende in seinem Traum starb. In diesem Fall starb auch sein an die Traummaschine angeschlossener Körper.
»Ich ahne es bereits. Aber ich möchte mir zuerst Gewissheit verschaffen, bevor ich darüber spreche. Gehen wir noch weiter zurück. Wie sind wir hergekommen?«
Chapat erzählte, wie ihm Zharadin das Ischtar-Memory entwendet hatte, er auf Broelgir flüchtete und sich bei Kerilla Vhotan versteckte. Nachdem er Maske gemacht hatte, kehrte er an Bord der TRAUMPALAST zurück, fiel Zharadin in die Hände und wurde in die Illusionsmaschine gesteckt, deren »Programmierung« auf dem Ischtar-Memory beruhte.
Ich nickte, erzählte meinerseits, wie ich Chapat auf eigene Faust bis nach Broelgir gefolgt war. Als ich mit Zharadin konfrontiert wurde, wollte ich den Besitzer der TRAUMPALAST bluffen. Doch dieser wusste, dass ich ohne Wissen und Unterstützung der USO handelte, und überließ mich dem gleichen Schicksal wie zuvor Chapat. »Die Frage, ob wir träumen oder die Realität erleben, lässt sich wohl nicht hundertprozentig beantworten«, fuhr ich fort. »Zharadins Illusionsmaschinen können nur Traumerlebnisse vermitteln, aber durch das Ischtar-Memory ist ein unbekannter Faktor hinzugekommen, der diese Träume mehr als realistisch erscheinen lässt. Wenn ich einen Gegenstand dieser Traumwelt berühre, kann ich ihn spüren. Ich fühle, ob er kalt oder warm ist. Ich kann mir die Finger daran verbrennen. Nehme ich ihn in die Hand, hat er für mich Gewicht.« Ich klopfte gegen die Wand. »Sie ist für mich so fest, als bestünde sie aus Materie. Schlage ich mit aller Wucht dagegen, kann ich mir die Knöchel brechen. Die Wand ist für mich undurchdringlich.«
»Also Realität!«
Ich wiegte den Kopf. »Für uns! Ganz möchte ich mich nicht festlegen. Sagen wir es lieber so, dass diese Wand, alles in dieser Welt, auch die Lebewesen der gleichen Gesetzmäßigkeit wie unsere derzeitigen Körper unterworfen sind.«
Chapat betastete sich. »Warum bemühen Sie sich, die Dinge zu umschreiben, Atlan? Glauben Sie etwa, dass wir nicht in unseren eigenen Körpern hier sind?«
Ein Stich fuhr durch meine Brust, als er mich siezte. Aus seinem Bericht war hervorgegangen, dass er sehr wohl um meine Person und seine äußere Ähnlichkeit mit mir wusste. Mit keinem Wort jedoch gab er sich als mein Sohn zu erkennen, obwohl es in dieser Hinsicht keinen Zweifel gab. Er war jener Chapat, den ich, von Ischtar verführt, damals mit der Varganin gezeugt hatte. Leider reagierte mein fotografisches Gedächtnis nur mit vagen Bildern, die Erinnerung an Details fiel mir schwer; eine Folge von Fartuloons OMIRGOS. Wie schon auf Kantanong beschränkte sich mein derzeitiges Wissen auf unvergessliche Schlaglichter.
Ich unterlag damals Ischtars Ausstrahlung, an Bord ihres Oktaederraumers auf dem Planeten Frossargon. Während Farnathia vor Eifersucht halb krank war, während alle anderen Freunde aus dem Schiff getrieben wurden, verführte Ischtar – was ihr leicht und schnell gelang – mich, den jungen Kristallprinzen. Diese Stunden sind noch heute frisch in meiner Erinnerung. Ich spüre ihre Haut unter meinen Fingerspitzen, ich weiß, wie sich ihr Haar anfühlte, ich erinnere mich an die Höhepunkte unserer Leidenschaft. Ich habe es damals nicht geglaubt – aber sie sagte, dass wir einen Sohn zeugen würden. Sie kenne das Geheimnis des ewigen Lebens und würde es an ihn weitergeben. Unser gemeinsamer Sohn werde Chapat heißen …
Das waren ihre Worte gewesen. Zuerst hatte ich mich gegen die Verführung gewehrt. Aber etwas wie ein hypnotischer Bann zwang mich damals, mich von ihr verführen zu lassen. Mein Widerstand war nicht sehr echt und nicht ehrlich, aber ich wollte Ra nicht verletzen, dessen Leidenschaft ihn halb wahnsinnig gemacht hatte. Und als ich das Schiff verließ, erschöpft und glücklich, aber skeptisch und in der Vorahnung kommender Gefahren und Auseinandersetzungen, drehte ich mich um und sah Ra, der den riesigen Eber ritt und auf mich zupreschte. Ich konnte nicht mehr ausweichen, obwohl ich mit der Schnelligkeit reagierte, die mich Fartuloon gelehrt hatte. Ra ritt mich nieder und verletzte mich schwer. Und während ich hilflos dalag, musste ich zusehen, wie Farnathia und Ischtar miteinander kämpften. Ischtar erschoss Farnathia, die starb, ohne mir zu verzeihen. Ischtars geheimnisvolle Geräte heilten mich in kurzer Zeit, während Vorry den Eber besiegte und Rabetäubt zurückschleppte. Der Wahnsinn war für kurze Zeit in unserer kleinen Gruppe ausgebrochen.
Einziger Vorteil der »OMIRGOS-Blockade« war, dass ich nicht augenblicklich in den unwiderstehlichen Erzählzwang fiel und zum hilflos plappernden Torso wurde.
»Auch darauf kenne ich keine endgültige Antwort«, sagte ich bedächtig. »Als mich Zharadins Leute zur Illusionsmaschine zerrten, sah ich dich – deinen Körper – unter der zweiten Traummaschine liegen. Obwohl du zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig auch schon hier gewesen sein musst. Einigen wir uns also darauf, dass wir mit unserem Ich-Bewusstsein hier sind. Der Körper, in dem unser Ich jetzt ist oder diesen Körper prägt, könnte somit auch eine naturgetreue Materieprojektion sein – materialisiert in der realen Welt und nicht nur Bestandteil einer Traumwelt oder Illusion oder wie immer man es nennen will.«
Ich hatte Vergleichbares schon einmal erlebt, einschließlich einer Versetzung durch Raum und Zeit. Vom fotografischen Gedächtnis wurden die damaligen Erklärungen reproduziert, die am 19. April 2422 von Professor Arno Kalup im Gespräch mit Shannon Gonska und anderen Wissenschaftlern an Bord der IMPERATOR abgegeben wurden; ihre Stimmen traten in mein Wachbewusstsein.
»… vermutlich ist Ihr Bewusstsein nun mit größerer Bewegungsfreiheit ausgestattet, um nicht zu sagen, mit einem höheren Grad der Bewusstheit … Damit verbunden ist vielleicht eine Entfernung von diesem Ort und Ihrem Originalkörper. Sofern Sie dann trotzdem die Wahrnehmung eines Körpers haben, dürfte dies nur bis zu einem gewissen Grad eine Halluzination sein – vergleichbar den Phantomschmerzen bei Amputationen. Im Extrem könnte sich die Wahrnehmung zu einem Pseudokörper mit eigener Stofflichkeit ausweiten; in diesem Fall müsste von Bilokation gesprochen werden.
… ist das Phänomen der Bilokation keineswegs neu oder so ungewöhnlich, wie es im ersten Moment erscheint. Weltweit und aus allen Epochen gibt es Berichte über das gleichzeitige Erscheinen eines Menschen an zwei oder mehr Orten. Bekannteste Beispiele sind von Antonius von Padua, Pythagoras, Alfons von Liguori oder auch Padre Pio aus Apulien überliefert. Im Allgemeinen erklärte man das Muster eines Doppelkörpers mit Halluzinationen, Illusionen oder Pseudohalluzinationen; nur im Okkultismus dachte man an ein materielles Substrat dieser Erscheinung. Die materialistisch geprägte westliche Weltsicht leugnete natürlich solche Phänomene, die fernöstliche dagegen sah darin nichts Besonderes.
Im Indischen umschrieb der Ausdruck svecchot-krânti die Fähigkeit,den eigenen Körper zu verlassen; tibetisch yi-kyu-lü: ein ›Geist-, Wunsch- oder Gedankenkörper‹; der Sanskritbegriff mâyâ-rûpa stand für einen ›reinen Trugkörper‹ und umschrieb das ätherische Gegenstück zum physischen Körper, entsprechend dem ›Astralleib‹ der Theosophie. Und der ›Körper der Entzückung‹, wie die wörtliche Übersetzung des Sanskritwortes sambhogakâya lautete, den man auch mit ›inspirationellem Körper‹ umschrieb, war nicht nur ein Produkt der Inspiration, sondern – ich zitiere – ›ebenso ihre fortwirkende Gestaltungskraft als Ausdruck transzendenter Wirklichkeit, die in die individuelle Erscheinungsform des sichtbaren Körpers verwandelt wird‹.
Nebenbei: Wenn in den östlichen Lehren von Leere oder Nichts gesprochen wird, ist damit vielmehr die potenzielle Möglichkeit gemeint, eine Sphäre des Unentfalteten, in der trotzdem die Gesetzlichkeit aller Dinge und Erscheinungen quasi keimhaft beschlossen liegt. Es entspricht dem physikalischen Konzept höherer Symmetrie beziehungsweise einer Virtualität, die das Mögliche beinhaltet, aber erst bei bestimmten Bedingungen faktisch zum Ausdruck bringt. Quantenphysiker sprechen beispielsweise von virtuellen Teilchen, wenn diese innerhalb der von der Unschärferelation beschriebenen Grenzen entstehen und wieder vergehen …«
»… Projektionskörper? Bilokation?«, fragte Shannon Gonska, von irritiertem Murmeln der anderen begleitet, das plötzlich in meinem Kopf anschwoll.
Arno Kalup lachte. »Eine Frage der Definition, Verehrteste. Um was handelt es sich bei dem, was Sie als Ihren Leib betrachten? – Ein ausnehmend hübsches Exemplar, das nur nebenbei! Wenn Sie jetzt mit Begriffen wie Materie oder feste Masse antworten, laufen Sie in die Falle. Denn Materie ist bei näherer Betrachtung nichts anderes als ein wolkiges Gebräu aus Molekülen und Atomen. Und diese wiederum bestehen aus Elementarquanten, die im Verhältnis zum übrigen Volumen nur einen Bruchteil beanspruchen. Nur unseren Sinnen erscheint das Ganze als fest und massiv!
Nimmt man nun die These, dass alle Materie, welche als einander äquivalente Teilkomponenten Masse und Energie umfasst, also alle Materie ihren Ursprung im übergeordneten Kontinuum hat, dann muss ein Hyperquant, ins Standarduniversum projiziert, hier als entsprechende konventionelle Wechselwirkung samt ihren Ausdrucksformen erscheinen, sich ›materialisieren‹ oder ganz allgemein manifestieren. Somit ist es kein großer Schritt, so etwas künstlich zu bewerkstelligen: Man nehme Hyperquanten in passender Konfiguration, und es erscheint der dazugehörende Projektionskörper. Weil er als künstliches Produkt vermutlich nur metastabil ist, das heißt, der Anregungszustand also in Abhängigkeit von der Zeit erneuert oder aufgebessert werdenmuss, dürfte der Begriff Materieprojektion im Unterschied zur natürlichen Materie gerechtfertigt sein. Sie konnten meinen Ausführungen bis hierher folgen?«
»Arroganter Macho!«
»Man dankt; ich nehme es als Kompliment.« Der Spott war stechend; Kalup, wie er leibt und lebt. »Weiter: Eine andere These sagt, dass letztlich alle Materie im Kosmos Ausdruck einer solchen Hypermatrix sei, die letztlich für Bewusstes Sein stehe. Im Kleinen die Teilbewusstseine von Einzelindividuen, als komplexe Ganzheit im holistischen Sinne das hinter allen stehende Kosmische Bewusstsein. Und unsere Körper seien folglich nichts anderes als die materialisierte Form von Bewusstsein, das sich in unserem Wahrnehmungssystem Manifestierende. Oder, um ein Beispiel zu gebrauchen: Das eigentliche Wesen ist Wasser im chemischen Sinne; die Freiheitsgrade des jeweiligen Kontinuums bestimmen den physikalischen Aggregatzustand. Masse wäre demnach verfestigtes und starres Eis, Energie flüssiges Wasser, und Dampf steht für die hyperphysikalische Form als höhergeordnete Symmetrie, die keine Auszeichnung kennt, aber alle als Potenzial in sich birgt.«
»Verstehe. Dampf mit dem größten Freiheitsgrad kennzeichnet beim Symmetriebruch die niedere Struktur und bevorzugt Richtungen. Aus allseits frei beweglichen Wasserdampfmolekülen formen sich Tropfen mit räumlich kompakter Form, und beim Eiskristall wird die achsengerechte Struktur offensichtlich, analog zu den Achsen von Raum und Zeit in unserem Kontinuum. Und das heißt …?«
»Konsequent zu Ende gedacht: Die Hyperkonfiguration eines Individuums manifestiert zwar einen Körper in Raum und Zeit, kann aber bei passender Voraussetzung die Freiheitsgrade höherer Symmetrie nutzen. Genau das ist es, denke ich, was Lordadmiral Atlan zurzeit erlebt: Sein Bewusstsein nutzt jenes Potenzial, das ihm auf Hyperniveau zu eigen ist. Dadurch wird der Originalkörper ›entrückt‹, während an anderem Ort oder in anderer Zeit, denn wir müssen die Akausalität des Hyperraums berücksichtigen, metastabile Ausdrucksformen manifestiert werden, eben bilokative Projektionskörper! Problematisch könnte allerdings die Reintegration ins ›Original‹ sein …«
»Daran könnte etwas Wahres sein«, sagte Chapat – erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich Kalups Erklärungen sinngemäß auch laut ausgesprochen hatte. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Angenommen, wir sind wirklich nicht in unseren ureigensten Körpern hier – und Ihre Beobachtung scheint das zu bestätigen –, angenommen, unser Bewusstsein wurde nur in eine Materieprojektion verpflanzt oder lässt die Materieprojektion entstehen, materialisieren oder wie auch immer. Dann brauchen wir nur diese Scheinkörper … hm, aufzugeben, und unser Bewusstsein würde sofort wieder in unsere Körper in den Illusionsmaschinen zurückkehren.«
Ich runzelte die Stirn. »Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen. Zharadin hat diesbezüglich einige Andeutungen gemacht. Er sagte, dass einer der Techniker bei einem Experiment in der Traumwelt den Tod fand. Und Zharadin warnte mich, dass, würde ich im Traum mein Leben verlieren, auch in der Realität tot sei.«
»Ein Bluff!«, behauptete Chapat.
»Möglich. Aber die Probe aufs Exempel möchte ich nicht machen. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das durch dein Ischtar-Memory ausgelöst wurde. Ich jedenfalls weiß nicht genügend über das Ischtar-Memory, um Spekulationen über seine Möglichkeiten anstellen zu können.«
Während ich das sagte, beobachtete ich Chapat. Er wich meinem Blick aus. »Das alles bringt uns nicht weiter«, rief er schließlich ungehalten. »Lassen wir das Ischtar-Memory aus dem Spiel, es kann uns nicht weiterhelfen. Ich habe nicht die geringste Verbindung zu ihm. Für mich sind diese Geschehnisse fantastisch, geradezu unfassbar. Aber dennoch habe ich das Gefühl, dass alles real ist. Nicht nur mein Körper, sondern auch die gesamte Umgebung.«
»Mir ergeht es ebenso. Gehen wir deshalb davon aus, dass wir für jede unserer Handlungen die Konsequenzen wie in der Realität tragen müssen. Ein falscher Schritt kann den Tod bedeuten. Seien wir also vorsichtig.«
»Damit stehen wir wieder am Anfang: Wo sind wir?«
Ich betrachtete ihn zweifelnd. »Weißt du es wirklich nicht? Du beherrschst doch die Sprache dieser Leute.«
»Das schon, aber ich weiß nicht, um welche Sprache es sich handelt. Könnte ich Rückschlüsse auf unseren Aufenthaltsort ziehen, wenn ich es wüsste?«
»Allerdings.« Ich ging Richtung Tür. »Sehen wir uns etwas um, solange wir noch die Möglichkeit haben. Irgendwann wird man entdecken, dass wir Fremde sind, und uns unter die Lupe nehmen. Bis dahin möchte ich wenigstens herausgefunden haben, wo genau – und vor allem in welcher Zeit wir uns befinden.«
Chapat folgte mir auf den Korridor. »Wollen Sie mir denn nicht verraten, um welche Sprache es sich handelt?«
»Arkonidisch. Satron! Same Arkon trona – hört Arkon sprechen.«
Als wir den leicht geschwungen verlaufenden Korridor entlanggingen, kamen uns Maskierte entgegen. Es waren Einzelgänger, die sich abwandten, als sie an uns vorbeikamen. Nur einer, ein Mann mit einer violetten Perücke und einem Spiegel vor dem Gesicht, blieb stehen und kehrte uns sein Spiegelgesicht zu, als wir an ihm vorbeikamen. Mit gedämpfter Stimme erkundigte er sich: »Sie suchen Kontakt?«
»Zumindest suchen wir nicht die Einsamkeit«, antwortete ich im Vorübergehen. Als ich mich nach einer Weile umdrehte, stand der Unbekannte mit der Spiegelmaske immer noch da und starrte uns nach. Wir erreichten den Lift. Die Kabine hielt, die Türhälften glitten auf. Drinnen stand ein von Kopf bis Fuß in einen Kapuzenmantel verhülltes Wesen. Als wir zustiegen, flüchtete die vermummte Gestalt mit einem spitzen Schrei in den Korridor.
»Ist das ein Irrenhaus?«, wunderte sich Chapat, als wir im Lift hinauffuhren.
»Ja und nein«, sagte ich knapp.
»Ein Irrenhaus auf einer Arkonwelt?«, bohrte Chapat weiter.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn man will, kann man vermutlich den ganzen Planeten als Irrenhaus bezeichnen. Richtiger ist aber, dass du die eigenwillige Mentalität der Arkoniden nicht verstehst.«
Wir stiegen auf dem Dach des Gebäudes aus dem Lift. Auch hier war ein kunstvoller Park angelegt worden. Es war Nacht. Nun ja, das, was im Zentrum eines Kugelsternhaufens mit dicht gedrängt stehenden Sonnen »Nacht« war – eine »helle Dämmerung«, die sich nur verdunkelte, sobald Wolken aufzogen. Auf den Arkonplaneten, fast im Zentrum des Kugelsternhaufens gelegen, wo die Sterne teilweise nur Lichtwochen voneinander entfernt waren, wurde es nie dunkel. Sogar am Tag waren neben Arkon etliche weitere Sonnen zu sehen. Am wolkenlosen Himmel bildeten die vielen nahen Sterne unbekannte Konstellationen. Ich blieb stehen, blickte nach oben. »Eigentlich hätte ich erwartet, bekannte Sternbilder zu sehen«, murmelte ich beunruhigt. »Aber anscheinend ist es tatsächlich schlimmer, als ich dachte. Nicht nur der Raum bildet eine Barriere zu unserer Realität, sondern auch die Zeit …«
»Sie sprechen dauernd in Rätseln«, sagte Chapat ungehalten. »Wissen Sie nun, wo wir sind, oder nicht?«
Ich setzte mich wortlos in Bewegung. Chapat folgte mir mit verkniffenem Gesicht, sah in diesem Moment wirklich wie ein schrulliger, mürrischer alter Mann aus. Zwischen den Büschen und Sträuchern tauchten gelegentlich Maskierte auf, manchmal zu zweit und zu mehreren, zumeist aber allein; sie warfen uns scheue Blicke zu. Ich ging mit Chapat zum Rand des Daches. Eine fünf Meter hohe Panzerplastwand, die oben noch zusätzlich durch eine Energiebarriere abgesichert war, trennte uns von dem Abgrund. Ich setzte mich auf einen großen Felsbrocken aus Urgestein, hinter dem in einem schmalen Rinnsal ein künstlicher Bach gurgelte. Chapat stellte sich an die Panzerplastwand, stützte die Hände dagegen und blickte auf das herrliche Panorama hinaus, das sich ihm bot.
Etwa hundert Meter unter uns war ein mit vielen Scheinwerfern beleuchteter Park mit Wiesen, Bauminseln und geometrisch angeordneten Kieswegen. Dazwischen standen trichterförmige Gebäude, die fensterlos und ungefähr so groß waren wie das Gebäude, auf dessen Dach wir uns befanden. Diese Bauten glichen mit der Spitze in den Boden gebohrten Kreiseln, durchmaßen an ihren Sockeln etwa dreißig Meter, am oberen Abschluss mit dem flachen Dach jedoch gut siebzig Meter oder mehr. Umlaufende Terrassen formten den Innenhof des Trichters. In der Ferne schwangen sich im Osten Berge zu einer lang gestreckten Gebirgskette empor. Sicher war ich mir nicht, aber es konnte sich durchaus um das Shuluk-Ahaut-Gebirge handeln, das dem Bogen der östlichen Küste des Sha’shuluk-Sichelbinnenmeers folgte.
Chapat drehte sich kurz zu mir um. »Diese Gebäude erinnern mich an mein Ischtar-Memory«, sagte er scheu, als erscheine ihm dieser Vergleich selbst absurd. »Ist es vielleicht möglich, dass ein Zusammenhang besteht …? Ich meine, kann diese Traumwelt nach den Daten des Ischtar-Memorys geformt worden sein?«
»Deine Unwissenheit ist geradezu beängstigend.« Ich deutete durch die Panzerplastwand. »Was du siehst, ist eine typische arkonidische Siedlung, die Trichterbauten sind Wohnhäuser. Wenn ich richtig zähle, sind insgesamt zwölf über den Park verstreut. Eine beachtliche Zahl. Es handelt sich hier also um eine mittelgroße Stadt.«
»Eine Stadt nennen Sie das?«, wunderte sich Chapat.
»Du hast recht, der Ausdruck Stadt ist unzutreffend. So etwas gibt es auf Arkon Eins nicht. Auf dem Wohnplaneten der Arkoniden ist alles dezentralisiert.«
»Wir sind demnach auf Arkon Eins. Sind Sie sicher?«
»Ziemlich. Ich kenne diesen Planeten zu gut, um mich zu täuschen. Und dennoch erscheint mir vieles fremdartig.«
»Natürlich, weil diese Welt – mag sie auch noch so sehr Arkon Eins ähneln – nur das Produkt eines Traumes ist.«
Ich ging darauf nicht ein. »Um die Mentalität der Arkoniden, denen wir begegnet sind, besser verstehen zu können, musst du erst einmal mehr über ihre Gesellschaftsordnung wissen.« Ich machte eine Pause, und als Chapat schwieg, fuhr ich fort: »Ich sagte schon, dass auf Arkon Eins alles dezentralisiert ist. Die Wohnsiedlungen sind locker über den ganzen Planeten verstreut, Energiestraßen und Rohrbahnen verbinden sie miteinander. Dazwischen liegen ausgedehnte Parks, durch die man oft tagelang wandern kann, ohne einem anderen Arkoniden zu begegnen. Die Arkoniden sind in vieler Hinsicht Einzelgänger und legen sehr viel Wert auf die Intimsphäre des Individuums. Natürlich ist das im Allgemeinen nicht so krass, dass alle Arkoniden ein Eremitendasein führen, sonst wäre das Große Imperium rasch zerfallen. Eine Zivilisation ohne Kontakte der Individuen wäre nicht denkbar, zumindest nicht für humanoide Wesen in diesem Stadium der Evolution. Aber viele Arkoniden meiden zwischenmenschliche Kontakte. Das führte dazu, dass sich viele so sehr abgekapselten, bis sie weltfremd und krank wurden; gerieten sie in große Personenansammlungen, bekamen sie hysterische Anfälle, sofern sie nur berührt wurden.«
»Ich verstehe. Unter solche Neurotiker und Psychopathen sind wir geraten. Es scheint sich hier um eine Wohnsiedlung zu handeln, in der man all diese schrulligen Typen zusammengepfercht hat.«
Ohne nachzudenken, fügte er auch die Satron-Begriffe Gradschep und Porang hinzu. Ich grinste. Gradschep entstammte dem Essoya