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Seitenzahl: 185
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Michaela Vieser Isaac Yuen
Atlas der ungewöhnlichen Klänge
Eine Reise zu den akustischen Wundern unserer Erde
Eine Übersicht über alle Orte und Hörbeispiele unter
oder auf der Verlagswebsite.
Alle Texte wurden von Michaela Vieser und Isaac Yuen auf Englisch verfasst und von Michaela Vieser ins Deutsche übertragen.
Deutsche Originalausgabe
Copyright © 2023 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München
Ein Unternehmen der Média-Participations
Projektleitung: Dr. Hans Peter Buohler, Knesebeck Verlag
Lektorat: Michael Lenkeit, Stuttgart
Karte: Angelika Solibieda, Karlsruhe
Gestaltung und Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Satz: Buchwerkstatt, Bad Aibling
Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig
ISBN 978-3-95728-663-5
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
www.knesebeck-verlag.de
Gefördert durch die Akademie der Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR.
To the wolfpack
Inhalt
Vorwort
1. Der Klang des Universums: Auf der Suche nach Harmonie und Resonanz
2. Versteinerte Klangbilder: Von den singenden Säulen eines indischen Tempels
3. Uralter Schattenkrieg: Das akustische Wettrüsten zwischen Motten und Fledermäusen
4. Höhlen, Klänge und die menschliche Vorstellungskraft
5. Rekonstruktion des Paläoschalls: Wie man den Klang vergangenen Lebens zurückholt
6. Über große Entfernungen: Klangbotschaften in Luft und Wasser
7. Nachhall durch Zeiten und Schicksale: Das Klangorakel von Dodona
8. Das Lied vom Wind: Die kuriose Geschichte der Äolsharfe
9. Über den Klang definiert werden: Gedanken zur Zikade
10. Gagaku: Eine Musik, die Raum und Zeit durchdringt
11. Der singende Sand in Forschung und Literatur
12. Der Klang von Eis
13. Die wohltemperierte Demutspfeife
14. Ungezähmtes Ritual: Keening
15. Der Untergang eines Tons und eines Zeitalters: Von der Sehnsucht nach dem Nebelhorn
16. Eine Stimme, ein Echo, Stille
17. Der Klang des atomaren Zeitalters
18. Laute aus dem einst tiefsten Loch der Welt
19. Die summenden Felder: Die Bergwiesen des Altai-Gebirges
20. Außerirdisch, aber nicht außergewöhnlich: Die Fundstücke des Fantastischen
21. Aufgehorcht! Über die Dazwischen-Klänge
22. Das nicht ganz so geheime und stille Liebesleben der Fische
23. Von Stimmen, innen und außen
24. Den Spuren lauschen
25. Das Unerklärliche erklären: Das Taos-Brummen
26. Ein Quadratzoll Stille
27. Flüsterwellen, Melodiestraßen und Rolltreppen-Jazz: Von der Kunst und der Wissenschaft der zufälligen Akustik
28. Mit Schall zur Wahrnehmung: Wale und wie sie die Welt »sehen«
29. Geophonie, Biophonie, Anthrophonie: Drei Klangarten unter den sieben Meeren
30. So sollte es eigentlich nicht klingen! Bizarre Vogelstimmen auf allen sieben Kontinenten
31. Der Vibration einer Landschaft, ihrer Steine und Mineralien lauschen
32. Körperfelder: Die Arbeiten des Jacob Kirkegaard
33. ORGAN2/ASLSP: So langsam wie möglich
34. Von Wachs und Glas, Musik und Stimmen: Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Tonaufnahme
35. Der Klang der Manipulation: Sonic Warfare an der Front, in der Fabrik und vielem mehr
36. Die Goldene Schallplatte der Voyager 1: Die Botschaft der Menschheit – für wen noch mal?
Danksagung
Bibliografie
Über die Autoren
Vorwort
»Ich bin ein Zuhörer geworden.«
Bernie Krause, Bioakustiker
Fragen Sie einen Freund: Wo ist die Erde am schönsten? Sie hören vielleicht von einem weißen Sandstrand, einem vom Wind durchwehten Tal, einer mittelalterlichen Stadt. Diese Orte mögen interessant sein, aber sie verraten nicht viel über die inneren Landschaften Ihres Freundes. Fragen Sie ihn jedoch, welche Klanglandschaft ihn bewegt hat, und Sie erhalten vielleicht eine aufschlussreichere Antwort. Eine Freundin, mit der wir diese kleine Übung durchführten, nahm uns mit auf eine unerwartete Reise: »Meine Jungs waren noch klein, ich wollte sie einfach nur aus dem Haus bringen, also schlug ich vor, in den Wald zu gehen. Es war einer dieser Novembernachmittage, an denen die Wolken tief hängen wie eine Art dicker Nebel. Plötzlich begann Wind durch die Tannenspitzen zu wehen. Es war, als ob jemand auf einer Harfe spielen würde. Und ich rief meinen Jungs zu: ›Die Bäume singen für uns.‹ Und meine Jungs nickten mit dem Kopf. Auch sie konnten es hören und fühlen. Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Dieser Klang, dieser Moment, an den ich mich jetzt erinnere.«
Die Phänomene des Klangs sind vielleicht flüchtig und vergänglich, aber die Erinnerung an sie kann ein Fenster zur Seele öffnen.
Klang ist Energie. Seine Wellen ziehen durch unseren Körper und erreichen unser Inneres. Während wir unsere Augen vor ungewollten Eindrücken verschließen können, lassen sich unsere Körper nicht völlig von den Auswirkungen des Schalls abschirmen. Ultraschall- oder Infraschallemissionen durchdringen unser Gewebe und erschüttern unsere Zellen. Lesen Sie das Kapitel über die Demutspfeife, und wie der Einsatz bestimmter Frequenzen unsere Gefühle beeinflussen und sogar manipulieren kann. Erfahren Sie, wie schwer es ist, dem Schall zu entkommen, es sei denn, Sie sind eine Motte, die Techniken entwickelt hat, mit denen sie sich der akustischen Ortung durch hungrige Fledermäuse entziehen kann. Oder machen Sie sich mit der Tatsache vertraut, dass es Wellen gibt, die durch das Universum rollen und noch nach Milliarden von Jahren von den Nachwehen des Urknalls künden.
Unsere Wissensbasis sowie die Farben, Formen und Muster, die das Geflecht unserer Welt bilden, konzentrieren sich auf unseren visuellen Sinn, so sehr, dass wir uns oft in dieser Ein-Sinn-Perspektive festfahren: Wir sehen, beobachten, entziffern, sortieren, verdrängen und stellen uns mit unserem geistigen Auge etwas vor, dabei sind unsere Körper in der Lage, so viel mehr zu erfahren und zu verarbeiten. Wir verlassen uns derart stark auf unser Sichtfeld, dass wir andere Welten nicht mehr wahrnehmen können. Ist es möglich, dass diese visuelle Überreizung uns blind gemacht hat für das, was direkt vor uns liegt?
Eine Revolution des Klangs ist im Gange. Das expandierende Feld der Akustik ermöglicht es uns, uns auf eine Vielzahl unsichtbarer Systeme einzustellen. Wissenschaftler können Energieübertragungen aus fernen Galaxien in hörbare Obertöne umwandeln. Klangkünstler nutzen Vibrationssensoren, um in die tiefsten und dunkelsten Winkel der Erde vorzudringen. Hydrophone enthüllen das pulsierende Rauschen der Flüsse und Ozeane. Doch mit dieser neuen Fähigkeit, vormals Unhörbares zu erlauschen, geht auch die Verantwortung einher, es nicht nur zu verstehen, sondern auch zu schützen – nicht selten sogar vor uns selbst.
Im Anthropozän hat die Menschheit ungewollt neue Klanglandschaften geschaffen und andere ausgelöscht. Wo einst Stille herrschte, haben wir Lärm und Chaos eingeführt, was einst voller Rhythmus, Melodie und Harmonie war, haben wir vernichtet. Diese Verluste spüren wir auch mit unseren Körpern.
Dieses Buch ist ein Versuch, die Geschichten des Klangs zu erzählen, ohne Klänge zu verwenden. Es ist eine Übung, um tiefer in die Schichten der akustischen Erfahrung vorzudringen.
Eine Art, dieses Buch zu lesen, besteht darin, seinen Titel zu beherzigen – als einen Atlas, der von Ort zu Ort führt. Eine andere besteht darin, seiner Struktur zu folgen, die chronologisch aufgebaut ist, von den ersten Wellen, die im Universum aufgeworfen wurden, bis zu den Übertragungen, die unsere Spezies in die ferne Zukunft ausgesandt hat. Dazwischen: die Schreie seltsamer Tiere, das Summen geheimnisvoller Energien, heilige Klänge und zeitlose Töne, weite Strecken der Stille und des Atmosphärischen, Lieder von Erde, Wind und Eis. Wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen hilft, sich auf einige der Klangwunder einzustimmen, die auf diesem turbulenten Planeten und darüber hinaus zu finden sind.
Michaela Vieser & Isaac Yuen
1. Der Klang des Universums: Auf der Suche nach Harmonie und Resonanz
Holmdel, New Jersey, USA / Perseus-Galaxienhaufen, 240 Millionen Lichtjahre entfernt / Das TRAPPIST-1-System, 39 Lichtjahre entfernt im Sternbild des Wassermanns
1964 verwendeten die Radioastronomen Arno Penzias und Robert Wilson eine kommerzielle Antenne in Holmdel, New Jersey, um den Raum zwischen den Galaxien zu erforschen. // Zu ihrem Leidwesen tauchte bei ihren Messungen ein konstantes, schwaches Grundrauschen auf. Egal, worauf sie ihr Gerät richteten – ob auf einen Galaxienhaufen, Überreste von Supernovae oder New York City –, immer war da dieses atmosphärische Störgeräusch. Der mutmaßliche Verdächtige: Ein Taubenschwarm, der sich im Inneren der heliumgekühlten, sorgfältig kalibrierten Antenne niedergelassen hatte. Anfängliche Versuche, die Tauben umzusiedeln, erwiesen sich als erfolglos und wurden schließlich von einem Techniker mit einer Schrotflinte beendet – wobei weder Penzias noch Wilson jemals die Verantwortung für die Erteilung des Schießbefehls übernahmen. // Aber das Rauschen blieb. Nach Monaten der Fehlersuche wandten sich die Forscher an den Physiker Robert Dicke. Gemeinsam stellten sie fest, dass sie das Erbe einer gewaltigen, vor 13,8 Milliarden Jahren stattgefundenen Explosion aufgespürt hatten. Für ihre zufällige Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung, des Nachleuchtens, das die Theorie des Urknalls bestätigt, erhielten Penzias und Wilson 1978 den Nobelpreis für Physik. // Um diesen ältesten aller Töne zu hören, muss man nicht unbedingt das mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Gebäude in New Jersey besuchen. Es genügt, einen leeren Kanal in einem x-beliebigen Radio oder alten analogen Fernseher einzustellen – und schon vernimmt man inmitten des Rauschens und der statischen Störungen eine Spur der Geburt des Universums. Wilson bewahrt sich noch immer eine Aufnahme dieses Klangs auf seinem Mobiltelefon auf. Manche haben ihn mit dem Tosen des Ozeans verglichen, überwältigend, unergründlich. Andere sehen ihn als weißes Rauschen, das alle Sorgen übertönt, ein Wiegenlied, das in eine süße, kurzfristige Form des Vergessens entführt.
Doch welche anderen Entitäten ertönen inmitten dieser Geräuschkulisse aus den Tiefen des Kosmos? Die meisten von ihnen scheinen nicht für menschliche Ohren bestimmt zu sein. Etwa die Schallwellen, die von einem superschweren schwarzen Loch im Zentrum des Perseus-Galaxienhaufens erzeugt werden – ganze 57 Oktaven tiefer als das mittlere C und eine Million Milliarden Mal unterhalb unseres Hörbereichs. Ein konstantes B, und das bereits seit 2,5 Milliarden Jahren – vielleicht ist es gut, dass sich Schall im Vakuum nicht ausbreiten kann. // Um in die unendliche Leere hineinlauschen zu können, müssen wir auf indirekte Mittel zurückgreifen, indem wir andere Formen von Emissionen – Licht, Röntgenstrahlen, Radio- und Gravitationswellen – in etwas umwandeln, das wir wahrnehmen können, um daraus Muster und Bedeutungen abzuleiten. Mit Sonifikation bezeichnet man diesen Prozess der Transformation von Daten in hörbare Signale. // Die Gruppe SYSTEMS Sound hat zwei Ziele: 1. Die Übersetzung des Rhythmus und der Harmonie des Kosmos in Musik und Klang. 2. Inspiration und Bildung sowie die Förderung von Menschen mit Sehbehinderungen, um ihnen einen Zugang zur Astronomie zu ermöglichen. Ihr Projekt »Universe of Sounds« wurde in Zusammenarbeit mit dem Chandra X-Ray Center der NASA entwickelt und soll die Zuhörer durch die klangliche Interpretation von Teleskopbildern zu Orten und Phänomenen führen, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. So lauscht man etwa dem Zusammenspiel von Klängen, die den vier vom explodierten Stern Cassiopeia A verstreuten Elementen zugeordnet sind. Man hört das Arrangement von Blechbläsern, Streichern und Holzbläsern, das von der wirbelnden Neutronensternmaschine im Herzen des Krebsnebels stammt. Man nimmt die unheimlichen Trillertöne wahr, die durch die Umwandlung von Licht und Röntgenstrahlen bei den Säulen der Schöpfung entstanden. Diesen kalten, atonalen Emanationen der Weltraum-Sonifikation ästhetische Qualitäten zu entlocken, ist sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft – ein Mittel zum Verständnis und zur Wertschätzung.
Vielleicht kann die klangliche Schönheit in der Bewegung selbst erkannt werden. So glaubte Pythagoras von Samos, Lautenspieler, Theoretiker und Kopf hinter dem Konzept der musica universalis, auch als »Sphärenharmonie« bekannt, dass sogar die Entfernungen zwischen Sternen und Planeten in Musik übersetzt werden können. »Es herrscht eine Geometrie im Stimmen der Saiten. Es liegt Musik in den Abständen der Sphären.« // Ein moderner Pythagoras der Erde wäre enttäuscht zu erfahren, dass unser Sonnensystem keine derartigen Melodien hervorbringt, zumindest nicht für menschliche Ohren; die Umlaufbahnen unserer acht Planeten sind zu ausgedehnt, um ein angemessenes Hörerlebnis zu erlauben. Ein etwaiger Pythagoras im Planetensystem TRAPPIST-1 dagegen wäre hocherfreut zu entdecken, dass dessen sieben Planeten in orbitaler Resonanz zueinander stehen. Für jeweils zwei Umläufe des äußersten Planeten kreist der nächste innere Planet dreimal und der übernächste viermal, es folgen 6, 9, 15 und schließlich 24 Perioden – Verhältnisse, die für SYSTEMS Sound sehr einfach in Musik umzusetzen sind. Zusätzliche Schnörkel kann man einfügen, indem man mit dem kostenlosen TRAPPIST-1-Sonifikationsmodell auf ihrer Website spielt: Ein Trommelschlag jedes Mal, wenn ein Planet an einem anderen vorbeizieht, um die Anziehungskraft zu veranschaulichen. Ein zusätzlicher Beat, um die schwankende Helligkeit des Zwergsterns zu berücksichtigen. Das Ergebnis klingt fast wie ein komponiertes Stück, wie ein gestimmtes Sonnenorchester. // Stand heute haben Wissenschaftler über 5000 Exoplaneten entdeckt; eine Zahl, die sich etwa alle zwei Jahre verdoppelt. Vielleicht werden wir in nicht allzu ferner Zukunft auf ein System stoßen, das in perfekter Harmonie schwingt und die Musik in den Bewegungen der Sterne genau so erahnen lässt, wie es sich der alte Philosoph, der auf der Suche nach dem Sinn in den Himmel blickte, vor so langer Zeit erträumt hat.
2. Versteinerte Klangbilder: Von den singenden Säulen eines indischen Tempels
Vittala-Tempel, Hampi, Indien / CERN, Genf, Schweiz / Nationalmuseum Neu-Delhi, Indien
Die Felsen von Hampi sind alt, selbst für Steine. Kein Vulkan hat sie ausgespuckt, keine tektonische Bewegung hat sie in die Höhe gehoben: Die Granitblöcke, die diese südindische Landschaft prägen, sind Teil eines sogenannten Inselbergs, die Kruste eines Kontinents, der vor 3,6 Milliarden Jahren existierte. Während alles um sie herum durch Wind und Wetter verwitterte, haben diese geschliffenen Überreste ihren festen Stand behauptet. Geologen kommen ins Schwitzen, wenn sie diese Geschichte aus der unermesslichen geologischen Zeitskala erzählen. // »Die Ausmaße dieser Stadt schreibe ich hier nicht auf, weil man nicht alles von einem Punkt aus sehen kann, aber ich stieg auf einen Hügel, von dem aus ich einen großen Teil davon überschauen konnte; (…) Was ich von dort aus sah, schien mir so groß wie Rom und sehr schön anzuschauen«, schrieb der portugiesische Missionar Domingo Paes im 16. Jahrhundert nach seinem Besuch in der Stadt Vijayanagara, dem heutigen Hampi. »Die Menschen in dieser Stadt sind so zahlreich, dass ich sie nicht aufzählen möchte, weil ich fürchte, dass man es für märchenhaft halten könnte.« Er führt die vielen Baumhaine im Stadtgebiet auf, die Wasserläufe, die zwischen den Häusern hindurchfließen, freut sich darüber, dass die Stadt genügend Nahrungsmittel für alle hergibt, und schwärmt von ihren lebhaften Basaren. Damals war nur Peking größer. // Imperien sind nicht von Dauer. Was einst Vijayanagara war, liegt heute über eine Fläche von 16 Quadratmeilen verstreut. Doch selbst im hellen Tageslicht wirkt die einstige Stadt noch immer mythisch und magisch. Wenn die Strahlen der untergehenden Sonne die Felsen und Ruinen in goldene und aprikosenfarbene Töne tauchen, ist es, als würden die Steine zu singen beginnen. // Und genau das tun sie. In den Überresten des einstigen Vittala-Tempels tragen 56 musikalische Granitsäulen aus dem 14. Jahrhundert das Dach des heiligen Gebäudes. Wenn man sie mit den Fingern leicht anschlägt, erklingen sie wie Zimbeln, Trommeln oder Muschelschalen. Einige schwingen sanft wie Flöten und Harfen. Andere wie das Jaltarang, ein klassisches indisches Instrument, bei dem mit Wasser gefüllte Schalen unterschiedlicher Größe bei Anschlag jeweils einen anderen Ton erzeugen. Während manche der Säulen in den sieben indischen Tönen von Saptaswara hallen, folgen andere dem System der fünf Töne. // Es wäre sogar möglich, klassische Ragas auf dieser klingenden Architektur zu spielen. Ihr Prinzip ist schwer auf andere musikalische Kontexte zu übertragen, es heißt, Ragas würden den Geist der Zuhörer »färben«. Im Hinduismus geht man davon aus, dass diese Musikstücke ihre eigene natürliche Existenz in dieser unserer Welt innehaben. Die Musiker sollen ihre Melodien und Lieder nicht erfinden, sondern ihre Qualitäten entdecken und erforschen. Ragas können ein Tor öffnen, um den Verstand und das Bewusstsein zu befreien, was die Zuhörer in die Lage versetzt, Moksha zu erlangen, also den Kreislauf der Wiedergeburten ein für alle Mal zu durchbrechen. Daher wird die klassische indische Musik nicht als Ware betrachtet, sondern als spiritueller Weg, den der Musiker seinem Publikum weist. // Es ist noch immer ein Rätsel, wie die Wissenschaftler, Alchemisten und Architekten des alten Reiches von Vijayanagara die musikalischen Säulen konstruierten und sie wie Synthesizer einsetzten, sie also bereits vorhandene Klänge reproduzieren oder völlig neue erschaffen ließen. Als heutige Soundingenieure den Ort untersuchten, entdeckten sie, dass einige der angeschlagenen Säulen mit so niedrigen Frequenzen widerhallten, dass sie das menschliche Ohr überhaupt nicht wahrnehmen kann. Diese Schallwellen interagieren mit den umliegenden Pfeilern und bringen sie zum Zittern, wodurch eine Resonanz entsteht, entfacht durch das akustische Wechselspiel – eine ganz eigene Klanglandschaft erschaffend, die sich aufgrund ihrer durch sich selbst ausgelösten Schöpfung lebendig anfühlt. // Das Ryōjin hishō (Lieder, die den Staub zum Tanzen bringen) ist eine Sammlung japanischer Lieder aus dem 12. Jahrhundert. Die Muster, die der Staub hinterlässt, wenn er sich absetzt, nachdem er von der Musik aufgewirbelt wurde, bezeichnen Akustikforscher als Kymatik, ein Phänomen, das bereits von Galileo Galilei während des Zeitalters der Renaissance oder von Robert Hooke während der Epoche der Vernunft erforscht wurde. Doch erst heute integrieren Künstler wie Björk die Kymatik als Erweiterung und Visualisierung ihrer Musik und beobachten dabei, welche Muster entstehen, wenn Schallwellen leichte Materie bewegen. // Die Decke über den Säulen des Vittala-Tempels in Hampi ist mit blumen- oder mandalaähnlichen Steinmetzarbeiten verziert. Es wird vermutet, dass die Ornamente Darstellungen der Klangwellen sind, die in dem jeweiligen Raum entstehen. Jeder Raum trägt zu einer anderen klanglichen Erfahrung bei, jeder Raum bereitet den perfekten Boden für eine bestimmte Schallblüte. Eine Momentaufnahme der Bewegung von Zeit, Materie und Energie. // Es heißt, vor seiner Hochzeit mit Parvati meditierte der Gott Shiva in Hampi. Als sich das Paar schließlich vereinigte, ließen die Götter Aurum, Goldpartikel, auf die Landschaft regnen, die seither jeden Tag im Morgen- oder Abendrot sichtbar werden. Als Rayleigh-Streuung würde die Wissenschaft das heute bezeichnen. Jeder Sonnenauf- und -untergang eine neue Kymatik, eine neue Blüte des Gesangs der Welt. // In Hampi werden die goldfarbenen Felsbrocken liegen bleiben, bis Regen und Wind sie abtragen. Wenn nur die Vyalas, die Steinstatuen, die den Eingang zu den Musiksäulen bewachen, sprechen könnten. Als Löwe, Greif, Tiger oder Elefant im Kampf symbolisieren sie den Triumph des Geistes über die Materie. //
Eine der eindrucksvollsten Bronzefiguren, die je geschaffen wurden, ist der tanzende Shiva Nataraja, der sich heute im Nationalmuseum von Neu-Delhi befindet und aus den Jahren 1099 bis 1199 stammt. Dargestellt ist Shiva als Gott des Tanzes, wie er durch das Universum schwingt und den Ananda Tendava, den Tanz der Glückseligkeit, vollführt. Von seinem Kopf gehen Wellen aus, die sich zu einem Heiligenschein vereinen, während die Schwingungen seiner Trommel Materie, Energie und Klang sortieren. Eine Nachbildung dieser Statue wurde am Eingangstor des weltgrößten Forschungszentrums für Teilchenphysik aufgestellt, des CERN in der Schweiz. Shiva, so heißt es, wird tanzen bis zum Ende des letzten Tages und auch diesen durchtanzen – bis zum Neuanfang, angeleitet von einem uralten Klang.
3. Uralter Schattenkrieg: Das akustische Wettrüsten zwischen Motten und Fledermäusen
Bracken Cave, Texas, USA / Southwestern Research Station, Arizona, USA
Wenn die Sonne an einem warmen Sommertag untergeht, beginnt am Nachthimmel ein epochaler Krieg. Ohne den amerikanischen Neurowissenschaftler Robert Galambos, der 1944 den Begriff »Echolotung« prägte, um zu beschreiben, wie Fledermäuse durch das Aussenden von Ultraschallrufen und die Verarbeitung von Echosignalen jagen, wären wir vielleicht nie in diesen nächtlichen Konflikt eingeweiht. Seine Entdeckung fiel in eine Zeit, in der ein anderer Konflikt scheinbar endlos währte und Nationen gerade den strategischen Wert der Wahrnehmung von Objekten erkannten, die jenseits des sichtbaren Bereichs liegen. // Die erste Demonstration eines technischen RADARs (Radio Detection and Ranging) zur Erkennung von Flugzeugen fiel auf den 26. Februar 1935 in Daventry. Das von Fledermäusen verwendete Bio-Radar wird dagegen bereits seit fünfzig Millionen Jahren entwickelt. Neueste fossile Funde stützen die Theorie des Flügelflugs vor dem Blindflug, was bedeutet, dass die Vorfahren der Fledermäuse zuerst den Flug entwickelten, bevor sie die Welt ausschließlich mithilfe von Schall navigierten. Fliegen ist ein kalorienintensives Unterfangen, und die Echoortung mag es den Fledermäusen ermöglicht haben, den nahrungsreichen Nachthimmel für sich zu erschließen. // Besonders Motten haben sich für viele insektenfressende Fledermausarten als ideale Beute erwiesen. Millionenstarke Kolonien mexikanischer Freischwanzfledermäuse fliegen jeden Frühling aus der Bracken Cave in Texas, um sich an den saisonalen Schwärmen von Baumwollkapselwurm-Motten zu laben. Mit einer Flughöhe von bis zu drei Kilometern und einer horizontalen Höchstgeschwindigkeit von mehr als 160 Kilometern pro Stunde übertrifft das Leistungsprofil von Freischwanzfledermäusen das von Mauerseglern und Schwalben bei Weitem. Ungeschätzt, unbemerkt und in der Dunkelheit zu Hause, sind Fledermäuse die wahren Phantomflieger des Tierreichs.
Was kann eine bescheidene Motte gegen solch hoch entwickelte Jäger ausrichten? Eine ganze Menge, wie sich herausstellt. In der Natur wie auch in langwierigen Kriegen führen Maßnahmen zu Gegenmaßnahmen. Es gibt über 100 000 Mottenarten auf der Welt, und viele davon haben ganz spezielle Abwehrmechanismen gegen diese ihre tödlichsten Feinde entwickelt. Einige haben einen Sinnesapparat hervorgebracht, mit dem sie das Klicken und Zirpen der echolokalisierenden Fledermäuse im Flug wahrnehmen können, sodass ihnen gerade genug Zeit bleibt, im nächtlichen Luftkampf abzutauchen oder aufzusteigen. Die Große Wachsmotte besitzt die wohl empfindlichsten Ohren überhaupt und kann Frequenzen von bis zu 300 kHz wahrnehmen – die Grenze des menschlichen Hörvermögens liegt bei 20 kHz. Sie ist sogar in der Lage, selbst die höchsten Quiekgeräusche der Percivals Kleinohr-Dreizackblattnasen-Fledermaus zu erfassen, mit 212 kHz ein wahrer Fledermausrekord. // Manche Motten, die völlig taub sind, haben sich für eine andere Strategie entschieden: Sie verhalten sich absolut unauffällig. Der Biologe Marc Holderied von der University of Bristol entdeckte, dass der pelzige Thorax der ohrlosen Suraka-Seidenmotte ankommenden Ultraschall absorbiert und unlesbare Signaturen an die sie jagenden Fledermäuse zurückschickt. Des Weiteren entdeckte er, dass die Flügel der chinesischen Tusar-Motte eine Metastruktur aus individuell aufeinander abgestimmten Schuppen aufweisen, die die Resonanz nutzen, um mindestens drei Oktaven Schall zu verschlucken – ein komplizierter, unglaublich dünner akustischer Mantel, der Fledermäuse hungrig und Materialingenieure ratlos zurücklässt.
Sollten sich Früherkennung und Tarnung als unzureichend für die Abwehr von Fledermäusen erweisen, nutzen einige Motten ein System aus Schallschatten und aktiver Störung. Die Amerikanische Mondmotte hat Hinterflügel entwickelt, die sensorische Phantome erzeugen und so die Fähigkeit der Großen Braunen Fledermäuse behindern, ihre lebensnotwendigen Körperteile zu treffen. Die Motte mit dem Namen Bertholdia trigona wiederum ist in der Lage, eine Reihe von Klicklauten auszusenden, die das Timing der ankommenden Mausohrfledermäuse durcheinanderbringen, sodass diese ihr Ziel knapp verfehlen. »Fledermäuse fangen zehnmal mehr lautlose Motten als klickende Motten«, so der Verhaltensökologe Aaron Corcoran von der Southwestern Research Station in Arizona. // Allerdings existiert nur ein kleines Zeitfenster für eine effektive Störung. Das Klicken der Motten muss innerhalb von ein bis zwei Millisekunden erfolgen, um das Ortungssystem der Fledermäuse zu beeinträchtigen: Eine hauchdünne Spanne zwischen Gefressen-Werden und Davonflattern, um einen weiteren Tag zu überleben.