Atlas der verschwundenen Länder - Björn Berge - E-Book

Atlas der verschwundenen Länder E-Book

Björn Berge

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Beschreibung

Kleine Dokumente erzählen Weltgeschichte Seit Erfindung der Briefmarke im Jahr 1840 haben mehr als 1.000 Länder ihre eigenen Postwertzeichen gedruckt. Die Motive und Symbole darauf demonstrieren ihr offizielles Selbstverständnis. Die meisten dieser Staaten sind längst von der Karte verschwunden, aber die Marken gibt es noch. Sie sind Zeugnis ihrer früheren Existenz und zugleich eine Spur in die Vergangenheit. 50 Länder erweckt der Autor anhand von Dokumenten und Augenzeugenberichten wieder zum Leben. Manche Namen kennen wir, wie Helgoland, Triest oder Biafra, von anderen haben wir noch nie gehört. Manche haben lange existiert, andere nur ein paar Wochen.

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Seitenzahl: 323

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BJÖRN BERGEATLAS DER VERSCHWUNDENEN LÄNDER

Weltgeschichte in 50 Briefmarken

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Frank Zuber

Vorwort

Die Geschichte ist wie das ganze Leben kompliziert; weder das Leben noch die Geschichte ist ein Unternehmen für jene, die sich nach Einfachheit und Einheitlichkeit sehnen.

JARED DIAMOND1

Für sich selbst einen Platz in der Welt zu finden, war für mich immer so etwas wie der Sinn des Lebens.

Jeden Sommer nehme ich mir eine Woche frei, um an der europäischen Küste entlangzuwandern. Ohne Vorplanung folge ich jeder Bucht und jedem Hafen, über Strände und Deiche. Zehn Jahre habe ich bereits für die Strecke von Hirtshals bis Boulogne-sur-Mer gebraucht, und jeder Schritt hat sich wie auf einer Karte in mir eingeprägt. Ich erinnere mich an Gerüche, Farben, Geräusche und die Konsistenz des Bodens. Langsam, aber sicher erschließe ich mir so die Welt.

Mit ein bisschen Wehmut musste ich aber irgendwann einsehen, dass es mir kaum gelingen wird, die ganze Welt zu erlaufen. Natürlich könnte ich meine Taktik ändern und jeden Tag laufen, das ganze Jahr, für den Rest meines Lebens. Aber das ist weder körperlich noch sonst irgendwie möglich. Mit dieser Erkenntnis habe ich zwei Projekte begonnen, die stattdessen die Welt zu mir bringen.

Beim ersten geht es um Treibgut. Ich sammle alles ein, was an dem Kiesstrand vor meinem Haus angespült wird. Plastik, Holz, was auch immer. Beschaffenheit und Schönheit spielen keine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Gegenstände auf irgendeine Weise von der Reise zeugen, die sie zurückgelegt haben. Ihre Wege reichen mitunter um die ganze Erde und sie könnten lange, individuelle Geschichten erzählen. Ein Kleinod meiner Sammlung ist eine von Seepocken bewachsene Getränkedose mit mongolischen Schriftzeichen. Sie kann aus der Mongolei oder aus der russischen Republik Tuwa stammen. In beiden Fällen sprechen wir von Ländern oder Regionen, die selbst keine Küste haben, sodass der erste Teil der Reise über den Jenissei durch Sibirien ins Polarmeer geführt haben muss. Dass die Dose noch immer verschlossen ist, ist für mich so etwas wie das i-Tüpfelchen, obwohl Bier- oder Coladosen, die man am Strand findet, oft voll sind – sie schwimmen dank der kleinen Luftblase in der verschlossenen Dose. Ich weiß nicht, was die mongolische Dose enthält, aber eines ist sicher: An meinem Totenbett soll sie geöffnet werden.

Das zweite Projekt ist das Briefmarkensammeln. Dabei sammle ich nicht irgendwelche Briefmarken. Mein Plan ist es, mir eine Marke aus jedem Land zu beschaffen, das es nach dem Erscheinen der ersten Penny Black 1840 in England gegeben hat. Eine unbenutzte Marke ist dabei wenig spannend. Je mehr Nutzungsspuren sie zeigt, desto wertvoller ist sie für mich. Ich nehme die Marke heraus, rieche an ihr, streiche über das Papier und lecke vielleicht an der Rückseite. Der Geschmack von zersetztem Gummiarabicum, von Pflanzenstärke und Hornleim und bestenfalls von etwas Unbestimmbarem, das an all jene erinnert, die vor langer Zeit irgendwo auf der Welt daran geleckt haben, fasziniert mich. All diese Eindrücke regen meine Fantasie an.

Auf diese drei Arten erobere ich die Erde und das Leben.

Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat seinen Ursprung in Briefmarken. Es stellt eine Reihe von Ländern und autonomen Zonen vor, die nicht mehr existieren. Auf dieser Basis konnte ich wirklich aus dem Vollen schöpfen, denn weltweit haben mehr als tausend Regierungen oder Verwaltungen beschlossen, eigene Briefmarken herauszugeben. Die Marken tragen geheimnisvolle Namen wie Obock, Sedang oder Kap Juby. Namen, mit denen kaum jemand etwas anfangen kann. Andere Namen wiederum wecken Assoziationen. Bei Biafra denkt man gleich an Hunger und bei Bhopal an die Umweltkatastrophe.

Hinter all diesen teils wohlklingenden Namen stehen Geschichten von Machtausübung und Manipulation. Bei der Grenzziehung zwischen Territorien steht selten das Wohl der Bevölkerung im Mittelpunkt. Deutlich wird das vor allem in Afrika oder im Nahen Osten, wo die Landaufteilung durch die Kolonialmächte so gut wie nie Rücksicht auf die traditionellen Stammesgebiete und Volksgruppen nahm. Aber auch auf dem Balkan führte das Spiel der Großmächte in Ost und West zu einer Vermischung der Bevölkerung, die zu blutigen Konflikten geführt hat.

Briefmarken und ihre Motive zeigen deutlich, worum es in der Geschichte wirklich ging: Territorial- und Machtansprüche, Siegerposen, aber auch kulturelle Identität. Sie sind stumme Zeitzeugen, die ihre Ursprungsländer überlebt haben.

Meine Dokumentation beruht auf drei Säulen: Den Briefmarken als solchen, auf Zeitzeugenberichten und der nachträglichen historischen Deutung der Geschehnisse durch Historiker, Schriftsteller und andere Künstler.

Die Briefmarken sind der eigentliche Ausgangspunkt, der konkrete Beweis für die Existenz des Landes. Natürlich ist klar, dass die Marken nicht die Wahrheit sagen. Sie stellen ein Land so dar, wie es dargestellt werden will – sauberer, liberaler, barmherziger, mächtiger oder souveräner, als es in Wahrheit ist. Briefmarken müssen wie Propagandamaterial gedeutet werden, bei dem die Wahrheit stets der Bedeutung untergeordnet ist. Gleichwohl sprechen Konsistenz, Farbe, Textur, Geruch und Geschmack der Marke oft für sich.

Die Zeitzeugen liefern Text, der in direkter Beziehung zu den Begebenheiten steht. Ihnen habe ich einen speziellen Platz eingeräumt, wie den Grundformeln in einem Mathematikbuch. Diese Berichte erwecken ein Bild zum Leben, das möglichst nah an der Realität ist. Aber man muss auf der Hut sein, denn auch hier ist »Betrug« möglich.

Die dritte und am wenigsten sichere Säule beruht auf dem Wissen, vermittelt durch Historiker und Schriftsteller, mit oder ohne politische Absichten. Diese Quellen analysieren die historischen Geschehnisse. Ich habe versucht, möglichst kritisch an sie heranzugehen, ohne sie schulmeisterlich zu kontrollieren. Historiker tendieren zu antiseptischen Jahreszahlen, während Romanschriftsteller gerne in die andere Richtung gehen.

Damit die Leser meine Deutungen überprüfen und ihre Eindrücke vertiefen können, biete ich weitere Lesevorschläge. Bei manchen Ländern weise ich überdies auf Musik oder Filme hin, und manchmal präsentiere ich auch landestypische Rezepte. Beim Schreiben dieses Buches habe ich viele lokale Spezialitäten probiert, um mich in den jeweiligen Regionen einzufinden. Die interessantesten davon haben ihren Weg ins Buch gefunden.

Zum Schluss will ich allen danken, die mir bei der Arbeit mit dem Buch geholfen haben. Neben Bibliothekaren aus aller Welt möchte ich an dieser Stelle einige Menschen namentlich nennen: Sofia Lersol Lund, Lars Mogensen, Stian Tveiten, Anette Rosenberg, Anna Fara Berge, Marie Rosenberg, Svanhild Naterstad, Trond Berge, Dag Roalkvam, Julio Perez und Gerd Johnsen.

Und bevor Sie weiterblättern, möchte ich betonen, dass das Buch keinesfalls als Reiseführer für vergessene Länder gedacht ist. Hier reden wir nämlich nicht von Pauschalreisen, sondern von langen, schwierigen Expeditionen, bei denen alle nur erdenklichen Verkehrsmittel genutzt werden müssen und die zum Teil in klimatisch extrem harte Regionen führen. Außerdem würden solche Reisen kaum näher an das Mysterium der verschwundenen Länder heranführen. Betrachten Sie das Buch lieber als eine Sammlung von Gutenachtgeschichten, die den Träumen auf die Sprünge helfen.

Bjørn Berge,

Lista, Frühling 2016

1840 ~ bis ~ 1860

ZEIT:

1816–1860

LAND:

KÖNIGREICH BEIDER SIZILIEN

BEVÖLKERUNG:

GRÖSSE:

8 703 000

111 900 km2

Müde Aristokraten und bodenlose Armut

Fleisch, lebendige Tiere, Berge von Obst und ganze Käselaibe, alles an einem großen, kegelförmigen Gerüst befestigt, das vor dem Palast des Königs in Neapel errichtet wird und den Vesuv symbolisieren soll. Das hungrige Volk darf diesen Berg erstürmen, sobald die Kanonenschüsse von den Zinnen der Festung ertönen. Auf den Balkonen stehen die längst satten Aristokraten um den fetten König Ferdinand herum und spenden dem Volk, das sich um die Leckerbissen balgt, Beifall. Dass es dabei auch mal Tote gibt, steigert den Unterhaltungswert des Spektakels.2

Die Königreiche Neapel und Sizilien hatten sich zusammengeschlossen, als Karl III. von Spanien die Vereinigung 1735 besiegelte und Neapel zur Hauptstadt machte. Im Norden erstreckte sich das Land bis an den Kirchenstaat, womit es für damalige europäische Verhältnisse ziemlich groß war.

Karls Sohn Ferdinand I. hatte 1759 im Alter von nur acht Jahren den Thron bestiegen. Als Zwanzigjähriger war er vor allem damit beschäftigt, spektakuläre Ideen für die nächste gran gala auszubrüten. Die oben geschilderte war eine der wenigen, bei der auch etwas für das Volk abfiel.

Napoleon setzte den Ausschweifungen der Bourbonen ein Ende, als er 1799 den neapolitanischen Teil des Königreichs eroberte. Ferdinand floh nach Sizilien, wo er sich mithilfe der britischen Flotte behauptete, die dort gegen Napoleon kämpfte. Dafür musste er den Briten soziale und politische Reformen versprechen. Nach dem Wiener Kongress wurde er 1816 wieder König beider Reiche. Er vergaß rasch die Reformen und regierte absolutistisch weiter, ohne Rücksicht auf die Armut in seinem Land.

Der Unmut der Bevölkerung wuchs, und es kam sowohl in Sizilien als auch in Neapel zu Revolten. Ferdinand reagierte mit einem Schreckensregime, einem Netz aus Spionen und Informanten sowie willkürlichen Strafmaßnahmen. Auch seine Nachfolger setzten diese Politik fort, insbesondere Ferdinand II., der den Spitznamen Re Bomba (»König Kanonenkugel«) bekam, nachdem er 1849 einen Aufstand in Palermo mit dem massiven – und unpräzisen – Kanonenfeuer seiner Kriegsschiffe niedergeschlagen hatte.

Die irische Schriftstellerin Julia Kavanagh reist in den 1850er-Jahren kreuz und quer durch das Königreich beider Sizilien. Sie will sich einen Jugendtraum erfüllen und die Vulkane Ätna und Vesuv besteigen, in luftigen Musselinkleidern durch die mediterrane Landschaft wandern und die Kirchen und Ruinen der zahlreichen früheren Eroberer besichtigten. Doch die romantischen Vorstellungen verfliegen rasch, und ihr Reisetagebuch berichtet stattdessen von Ungerechtigkeit, Armut, Analphabetismus und Verfall.

Bevor das Schiff nach Sizilien in Neapel ablegt, strömen die Passagiere auf dem Achterdeck zusammen, um einem Jungen zuzusehen, der von Schiff zu Schiff rudert. Er ist etwa neun Jahre alt und in Lumpen gekleidet. Er balanciert auf der Mittelbank seines Bootes und führt ein kurzes Schauspiel auf, das mit einer Tarantella beginnt. Dann spielt er Clown, singt eine kurze Arie und lässt sich schließlich von einem imaginären Feind erdolchen. Er sinkt ins Boot, rollt mit den Augen und bleibt eine Weile liegen, ehe er aufspringt und seine Mütze zieht. Ein paar Kupfermünzen rasseln in das Boot.

Julia Kavanagh seufzt erleichtert auf, als das Schiff die Bucht von Neapel verlässt: »Neapel wurde kleiner und kleiner. Aus der Entfernung sah die Stadt unendlich besser aus.«3

Die Verzweiflung der Bevölkerung kam vor allem in den Städten zum Ausdruck. Auf dem Land ging man seltener hungrig zu Bett. Dort nahm das Leben seinen gewohnt feudalistischen Lauf, wie seit Hunderten von Jahren.

In der Region Cilento südlich von Neapel steigt die Landschaft hinter der felsigen Küste an. Durch Haine mit wilden Oliven, Maulbeerbäumen und Myrte gelangt man in alte Eichenwälder und schließlich über die Baumgrenze hinaus auf schneebedeckte Gipfel. Die kompakten, goldgelben Dörfer der Gegend klammern sich an Steilhänge oder auf Hügelkuppen, oft von hohen Festungsmauern umringt. Über den roten Ziegeldächern prangt nicht selten ein Adelspalast, der dem Kirchturm Konkurrenz macht, denn in luftiger Höhe bekam man weniger von dem Gestank der offenen Kloaken und der Ställe in den Wohnhäusern mit.

Heute ist der Gestank aus den Dörfern des Cilento verschwunden, doch sie sehen noch immer zeitlos aus, wie kleine Märchenreiche – und etwas Ähnliches waren sie auch. Obwohl alle der Zentralmacht in Neapel untertan waren, lagen sie in ewiger Fehde miteinander.

Das Königreich beider Sizilien bekam 1858 eigene Briefmarken. Sie sind rotbraun, wahrscheinlich mit billigem Erdpigment aus Siena gedruckt, das mit Leinöl gebunden wurde. Das Motiv ist das Wappen des Königs mit einem sich aufbäumenden Pferd und einer sogenannten Triskele aus Menschenbeinen. Das scheinbar absurde Symbol ist rechts unter dem Stempel zu sehen. Es stammt aus der Antike, als Sizilien zu Großgriechenland gehörte, und soll die dreieckige Form der Insel symbolisieren. Der Stempel ANNULLATO besagt, dass die Briefmarke benutzt und ungültig ist, es sind noch Leimreste erhalten, die leicht nach Weizen schmecken.

Das Königreich beider Sizilien bestand bis 1860, als der gerade erst gekrönte König Franz II. von Giuseppe Garibaldis Freischärlern gestürzt wurde. Garibaldi war mit Unterstützung des Königreichs Sardinien-Piemont und 1000 Mann in Sizilien gelandet, wo sich 3000 Freiwillige dem Risorgimento anschlossen. Sie nahmen zuerst Palermo ein, überquerten dann die Straße von Messina und rückten auf Neapel vor.

Der italienische Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa kannte diesen Stoff aufgrund seiner Familiengeschichte aus erster Hand. In seinem Roman Der Gattopardo (früher fälschlich als Der Leopard übersetzt) schildert er die letzten Tage des Adligen Don Fabrizio Corbera vor dem Fall Palermos. Don Fabrizio (in Viscontis berühmter Verfilmung von Burt Lancaster gespielt) ist hin- und hergerissen zwischen der alten und der neuen Zeit. Wie alle Aristokraten der Stadt, wohnt er mit Dienerschaft und Privatpriester in einem Palast mit römischen Fresken, umgeben von einem herrschaftlichen Garten. Ausgerechnet dort bemerkt er eines Tages einen fürchterlichen Gestank. Er kommt von der Leiche eines jungen Soldaten des 5. Jägerbataillons, der sich unter einen Zitronenbaum gelegt hat, um dort zu sterben.

1858: Reichswappen mit Lilien, Triskele und sich aufbäumendem Pferd

In den folgenden Nächten beobachtet die Familie, wie Garibaldis Rebellen immer mehr Feuer auf den Gipfeln im Süden und Westen entzünden. Don Fabrizios Neffe Tancredi (im Film der junge Alain Delon) beschließt, sich den Aufständischen anzuschließen. Er geht zu Don Fabrizio, der mit seiner Dogge in der Bibliothek sitzt, und begründet seine Entscheidung: »Wenn wir nicht auch dabei sind, bescheren die uns die Republik. Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«4 Der Don antwortet nicht, aber er knetet das Ohr seines Hundes so fest, dass das arme Tier aufheult.

Tancredis Abschied schürt Unruhe in der Familie, aber Don Fabrizio versucht, alle zu beruhigen. Er erklärt, wie alt und unbrauchbar die Gewehre der königlichen Armee sind. Sie sind überdimensioniert, haben keine Rillen im Lauf und kaum Durchschlagskraft.

Tancredi und der Rest der Familie überleben die Tumulte und werden Zeugen, wie Italien unter König Vittorio Emanuel II. von Sardinien zu einem Reich geeint und die Gesellschaft reformiert wird. Es gibt Schulen für alle, mehr soziale Sicherheit und ein Gesundheitswesen.

Trotzdem bleibt Süditalien lange Zeit das Armenhaus des Landes, und viele wandern nach Amerika aus.

Julia Kavanagh (1858): A Summer and Winter in the Two Sicilies

Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1985/2004):Der Gattopardo

Il Gattopardo (»Der Leopard«, 1963) Drehbuch & Regie: Luchino Visconti, nach dem o. g. Roman

Neapel wurde kleiner und kleiner. Aus der Entfernung sah die Stadt unendlich besser aus.

JULIA KAVANAGH

ZEIT:

1807–1890

LAND:

HELGOLAND

BEVÖLKERUNG:

GRÖSSE:

2200

1,7 km2

Vom geliebten Inselreich zum Bombenziel

Die beiden kleinen Inseln, die Helgoland – »Das Heilige Land« – bilden, liegen rund 70 Kilometer vor der deutschen Westküste und sind vermutlich die letzten Reste eines größeren Inselreichs. In frühchristlicher Zeit soll Helgoland neun Gemeinden und zwei Klöster umfasst haben.

Die Nordsee hat unaufhörlich an Helgoland genagt und manchmal auch gierig zugeschlagen, wie im Jahr 1721, als die Insel durch einen Sturm endgültig in zwei Teile zerbrach. Der kleinere Teil war danach nicht mehr als eine Sandbank. Der andere stemmte sich weiterhin mit seinen Sandsteinklippen gegen die von Nordwesten heranrollenden Wellen – war aber nicht mehr als einen Quadratkilometer groß, an der höchsten Stelle gerade einmal rund 50 Meter hoch und nur spärlich mit Gras bewachsen.

Die Insel erscheint auf den ersten Blick wirtschaftlich uninteressant. Aber dank ihrer Lage an der Schifffahrtsroute zu den mächtigen Hansestädten an Elbe und Weser war die Inselgruppe stets begehrt. Zuerst diente sie als Stützpunkt für Piraten, später als Heimat für Lotsen und Fischer. Nachdem sie über mehrere Jahrhunderte abwechselnd von Dänen und Deutschen besetzt gewesen war, wurde sie 1807 ohne Gegenwehr von den Engländern eingenommen, nachdem Dänemark eine Allianz mit Napoleon eingegangen war. Für die Briten ging es bei dieser Annexion darum, Kontakte und Handelsverbindungen mit dem europäischen Festland aufrechtzuerhalten.

Die Insel wurde dabei auch zu einer Basis der Spionage gegen Napoleon, der inzwischen die gesamte vor der Insel liegende Küste besetzt hatte. Für Lotsen gab es in dieser Zeit kaum Bedarf, so dass viele von ihnen für die Engländer zu arbeiten begannen. Die meisten von ihnen konnten mit verbundenen Augen vor der Küste navigieren, sie kannten die Sandbänke, die ständig ihre Form veränderten. Ziele wie Brunsbüttel, Cuxhaven oder auch das elbaufwärts gelegene Glückstadt waren für sie kein Problem.

1850 gab eine englische Offizierstochter das Buch Heligoland5 heraus. Es beruht auf ihren Kindheitserinnerungen aus den Jahren um 1820.

Das Buch erzählt die traurige Geschichte vom Tod ihrer Eltern durch Lungenentzündung. Es beschreibt aber auch eine unbesorgte, sichere Kindheit auf der Insel. Die Lebensbedingungen der Offiziersfamilien waren gut. Sie bewohnten eigene kleine Häuser und hatten Dienstboten und Köche. Das Postschiff brachte jede Woche frisches Fleisch und es gab mehr Mehl, Hafer, Erbsen, Reis und Rum als eine »normale« Familie verbrauchen konnte. Darüber hinaus hatten die wohlhabenden Bürger auch Zugang zu exotischen Waren. Viele der früheren Lotsen schmuggelten Waren aus den britischen Kolonien nach Deutschland und exquisite deutsche Lebensmittel in die andere Richtung.

Die Autorin berichtet aber auch über die beiden Dörfer auf der Hauptinsel: Oberland am westlichen Kamm und Unterland im Flachland vor dem Hafen im Südosten. Die Kaianlagen in Unterland waren größeren Schiffen vorbehalten, die Boote der Fischer wurden nach den Ausfahrten jeweils wieder auf den Strand gezogen. Die kompakte Bebauung bestand aus schmalen zwei- bis dreistöckigen Häusern mit steilen Giebeln in den schmalen Straßen. Im Gegensatz zur traditionellen friesischen Bauweise waren die Häuser nicht aus rotem Ziegelstein errichtet, sondern aus Holz. Abgesehen von weichem Sandstein gab es nichts auf der Insel. Alles musste vom Festland herübergesegelt werden, und Ziegelsteine sind schwer.

Ein Großteil des Insellebens fand auf der steilen Treppe zwischen den beiden Dörfern statt. Hier trafen sich die Männer, rauchten und tauschten die letzten Neuigkeiten aus, während die Frauen zum Melken aufs Hochland gingen oder mit ihren Brotkörben und schweren Wasserkrügen hin und her liefen. Sie trugen lange, scharlachrote Kleider, im Winter ergänzt durch einen Mantel, dessen Kapuze so fest zugebunden wurde, dass nur die Nasenspitze und die Augen zu sehen waren. »Die Männer tragen extra grobe Hosen, die so weit genäht sind, dass sie wie Unterröcke aussehen. Dazu viel zu offene Hemden mit riesigen Holzknöpfen, und auf dem Kopf kleine, enge Mützen.«6

Traf man sich auf der Straße, grüßte man sich mit einem »Moin«. Verbreitet war der lokale Dialekt Halunder, eine Variante des Friesischen. Auch die Namen der Frauen waren eigenartig: sie endeten meist auf o, zum Beispiel Katherino, Anno und Mario.

Eine der wenigen Begebenheiten, die den beschaulichen Inselalltag aus dem Rhythmus brachten, war der Zug der Stare, Drosseln und Schnepfen, die im Frühjahr und Herbst auf der Insel zwischenlandeten. Dann ließen die Bewohner alles stehen und liegen und gingen auf die Jagd. Alte und Junge, Frauen wie Männer griffen zu Netzen, Hacken und Spaten und rannten zu den höher gelegenen Wiesen oder den Sandbänken.

Die Zeit der Napoleonischen Kriege war eine Zeit des Wohlstands für die Inselbewohner. Nach der Unterzeichnung des Kieler Friedens 1814 kam die Schmuggelei mehr und mehr zum Erliegen. Und als England 1821 seine Soldaten von der Insel abzog, war es auch mit dem Handel vorbei. Die Lagerhäuser wurden geleert und die Kaufleute verließen Helgoland.

Danach wohnten noch etwa 2200 Menschen auf der Insel. Irgendwann hatte dann jemand die verrückte Idee, auf den Tourismus zu setzen. Doch so verrückt war die Idee gar nicht. Schon einige Jahre zuvor hatten britische Ärzte festgestellt, dass Salzwasserbäder eine äußerst heilsame Wirkung hatten. Kalte Salzwasserbäder. Und wenn es etwas gab, was Helgoland das ganze Jahr hindurch im Überfluss hatte, dann kaltes Salzwasser. Die Bevölkerung konzentrierte sich auf den Fremdenverkehr, und schon 1826 war die Insel ein immer bekannter werdender Bade- und Kurort für wohlhabende Bürger aus England, Preußen, Polen und Russland.

1869−1871: Relief von Königin Viktoria

Die politischen Verhältnisse im Europa des 19. Jahrhunderts führten dazu, dass die Insel ihre strategische Bedeutung für die Briten langsam verlor. Trotzdem wurden bald darauf eigene Briefmarken gedruckt. Wie für britische Besitztümer üblich, mit dem Konterfei von Königin Victoria. Auffällig ist die Zweifarbigkeit der Briefmarke, was hohe Ansprüche an den Druck stellte. Rot und grün auf weißem Papier. »Grün ist das Land, Roth ist die Kant. Weiss ist der Sand. Das sind die Farben von Heligoland«, wie es auf einer Postkarte von Leopold von Sacher-Masoch heißt. Außerdem wurde Victorias weißer Kopf als Relief geprägt. Das Papier wurde dafür auf eine lederne Unterlage gelegt und die Druckplatte mit zusätzlichem Gewicht nach unten gedrückt. Mein Exemplar ist eingerissen und durch viele fettige Finger gegangen. Ich nehme einen herben Geruch wahr, wenn ich vorsichtig an der Marke reibe. Es ist eine der ersten Ausgaben aus dem Jahr 1867 und das Porto ist in englischen Schilling angegeben. Nach 1875 wurden daraus deutsche Pfennige, was die Annäherung an das deutsche Festland erkennen lässt.

1890 boten die Engländer Helgoland den Deutschen im Tausch gegen das deutsche Protektorat Witu an der Küste Ost-Afrikas an. Die Deutschen griffen zu und vereinfachten den Namen von Heligoland zu Helgoland. In der Folge errichteten sie eine Marinebasis, die in beiden Weltkriegen große Bedeutung bekommen sollte. Gleichzeitig wurde der Tourismus am Leben erhalten.

In der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs wurde die Insel durch einen englischen Luftangriff in Schutt und Asche gelegt, und nach dem Krieg übernahmen die Briten die Insel aufs Neue. Helgoland war da nicht mehr als eine Mondlandschaft.

1952 ging die Insel wieder an Deutschland zurück. Abgesehen von einigen Bombenkratern finden sich auf der Insel kaum historische Spuren.

M. L’Estrange & Anna Maria Wells (1850): Heligoland Or Reminiscences Of Childhood: A Genuine Narrative Of Facts

Alex Ritsema (2007): Helgoland, Past and Present

Die Männer tragen extra grobe Hosen, die so weit genäht sind, dass sie wie Unterröcke aussehen. Dazu viel zu offene Hemden mit riesigen Holzknöpfen, und auf dem Kopf kleine, enge Mützen.

M. L’ESTRANGE

ZEIT:

1784–1867

LAND:

NEW BRUNSWICK

BEVÖLKERUNG:

GRÖSSE:

193 800

72 908 km2

Geköderte Immigranten

Eine der elf Marken, die in der britischen Kolonie New Brunswick herausgegeben wurden, ist das erste Postwertzeichen, das ein Dampfschiff zeigt. Sie erschien 1860, und das Schiff ist wahrscheinlich die SS Hungarian, ein Transatlantikdampfer der britischen Allan Line. Es war ein Jahr zuvor vom Stapel gelaufen und beförderte von Anfang an Immigranten von den Britischen Inseln in die Neue Welt. Nachdem die Ernte in Irland zum wiederholten Mal von der Kartoffelfäule vernichtet wurde, stieg die Zahl der Auswanderer beträchtlich. Die Dampfschifffahrt hatte die Reisezeit von über dreißig auf gut zehn Tage reduziert, aber die Reeder waren verpflichtet, Wasser und Proviant für die doppelte Zeit an Bord zu nehmen, um für Unwetter gerüstet zu sein. Als günstigste Zeit für die Überfahrt galt der Spätfrühling.

Weniger günstig sind Jahreszeit und Wetter, als die SS Hungarian an einem Abend im Februar 1860 in einem Sturm die amerikanische Küste erreicht. Die Sicht ist schlecht, und wie so viele Schiffe vor ihr, rammt die Hungarian eine der unheimlichen Klippen bei der Insel Cape Sable Island an der Südspitze von Nova Scotia. Von der Küste aus kann man sehen, wie die Schiffbrüchigen sich an dem gewölbten Rumpf festhalten, aber heftiger Wind und hohe Wellen verhindern jede Rettungsaktion. Alle 205 Menschen an Bord kommen ums Leben.7

Aber auch für die Einwanderer, die es bei früheren Überfahrten in das ruhige Fahrwasser hinter Nova Scotia geschafft hatten, war der erste Eindruck der neuen Heimat enttäuschend. In den Fjordarmen hing oft dichter Nebel, und der Tidenhub betrug bis zu 16 Meter. Die Küste machte einen brutalen, unfruchtbaren Eindruck, ähnlich der Westküste Norwegens. Der Naturforscher Moses Henry Perley beschrieb die Verzweiflung, die einen Einwanderer bei der Ankunft ergreifen konnte:

Die nackten Klippen und abgestuften Felsen aus Granit oder anderem harten Gestein und die monotonen Föhrenwälder machen zunächst einen öden, trostlosen Eindruck. Man könnte meinen, dass hinter dieser schroffen Küste nur unfruchtbares Land und Armut zu finden seien.8

Doch schon im nächsten Absatz mildert Perley das Schreckszenario ab, denn sein »Handbuch für Einwanderer nach New Brunswick« sollte Siedler in die Kolonie locken. Gleich hinter der Küste verwandle sich die Landschaft, schreibt er, und das westatlantische Klima werde milder. Er zitiert aus dem Rapport eines Major R. E. Robinson an die britische Regierung: »Das Klima, den Boden und die Ressourcen New Brunswicks kann man nicht hoch genug loben. Die Wälder, Flüsse und Seen sind so schön wie nirgendwo sonst in der Welt.«9 Perleys Kollege, der Landvermesser Alexander Monro, bestätigt dies:

[…] ein gesundes Klima, exzellenter Boden für landwirtschaftliche Zwecke, unerschöpfliche Wälder mit wertvollem Nutzholz, zugänglich durch eine lange Küstenlinie und schiffbare Flüsse, immense Mineralvorkommen und eine Binnen- und Küstenfischerei ohnegleichen.10

Dass das Leben in der Kolonie auch seine Schattenseiten hatte, lässt sich erahnen, wenn Perley schreibt, es gebe selten mehr als vier Schneestürme im Jahr. Außerdem sei der Schnee aufgrund der niedrigen Temperaturen nur halb so schwer wie daheim in England. Auch die Gefahr durch Wölfe und Bären spricht er an. Hingegen nennt er die indianische Urbevölkerung, die Mi’kmaq, nur in einem Nebensatz. Der Stamm war zwar befriedet, aber noch immer verbittert über die großen Verluste in den Kriegen gegen die Franzosen im 18. Jahrhundert.

Die Mi’kmaq waren Nomaden. Sie verbrachten die Sommer am Meer, wo sie fischten, Eier sammelten und Gänse fingen. Im Winter jagten sie im Inland Elche. Das Fleisch wurde getrocknet und die Felle zu Kleidern, Werkzeug oder Unterlagen für die Wigwams verarbeitet. Ein Wigwam war eine kuppelförmige Konstruktion aus armdicken Baumstämmen, die mit Birkenrinde bedeckt wurde. Um die harten Winter zu überstehen, wurden die Wände innen mit einer Schicht aus gewebten Binsenmatten isoliert.

Die Indianer hielten Abstand zu den Siedlern, deren Anzahl mit jedem Einwandererschiff stieg, doch es wurde immer enger für sie. Ihre Jagdgebiete schrumpften, und das leicht zugängliche Feuerwasser forderte seinen Tribut.

Die Schiffe der Einwanderer legten in St. John an, einer improvisierten Siedlung aus kleinen Holzhäusern, die innerhalb kurzer Zeit zur wichtigsten Stadt der Kolonie wurde. Nach der Ankunft mussten die Passagiere mindestens 48 Stunden auf dem Schiff bleiben, um die Einfuhr ansteckender Krankheiten zu verhindern. Wer Krankheitssymptome hatte, musste auf die Quarantänestation. Wenn »Geisteskranke, Idioten, Blinde oder Krüppel« unter den Passagieren gefunden wurden, musste der Kapitän eine Strafe von 75 £ bezahlen, was die betreffenden Personen drei Jahre lang versorgen sollte. Alle anderen Einwanderer kamen rasch durch die Kontrollen und quartierten sich fürs Erste in der Stadt ein.

An den ersten Abenden gab es step dance im Lokal bei der Kirche. Manche fanden Arbeit in den Schiffswerften von St. John und Miramichi, andere warteten auf den nächsten Treck ins Landesinnere, zum Beispiel in die Provinzen Northumberland, Gloucester und Kent. Die Neuankömmlinge waren nicht wählerisch, sondern ersteigerten auf den monatlichen Auktionen das erstbeste erhältliche Land. Der Richtpreis lag bei drei Schilling pro acre (ca. 4000 m2) und konnte auch durch Arbeitseinsatz im Wegebau bezahlt werden.11

1860: Transatlantikdampfer, wahrscheinlich die SS Hungarian der britischen Allan Line

Der Wikinger Leif Eriksson hatte bereits im frühen 11. Jahrhundert in Neufundland auf der gegenüberliegenden Seite des Sankt-Lorenz-Golfs eine Siedlung errichtet, doch als offizieller Entdecker New Brunswicks im Jahr 1534 gilt der Franzose Jacques Cartier. Die französischen Kolonisten konzentrierten sich hauptsächlich auf die Eroberung der Indianergebiete im Inland, während die Briten das Inselreich vor der Küste besetzten, wo sie die Kolonie Nova Scotia (Neuschottland) gründeten. Von dort stießen sie weiter nach Westen vor. Das von Frankreich gewonnene Gebiet wurde 1784 zur eigenen Kolonie und bekam den Namen New Brunswick, nach dem Fürstentum Braunschweig, aus dem König George I. stammte. Die Grenze zum US-Bundesstaat Maine im Süden wurde erst 1842 nach dem sogenannten Aroostook-Krieg gezogen, der trotz seines Namens ein rein diplomatischer Konflikt blieb. 1867 trat die Kolonie der Kanadischen Konföderation bei. Viele waren gegen den Anschluss, weil sie eine Vernachlässigung der Randgebiete befürchteten. Sie bekamen zunächst recht, doch um die Jahrhundertwende erlangte die Holzwirtschaft als Grundlage der rohstoffhungrigen Papierindustrie erneut Bedeutung.

Heute ist New Brunswick Kanadas einzige Provinz, in der Schulunterricht auf Englisch und Französisch angeboten wird. Die Holzindustrie ist noch immer ein wichtiger Wirtschaftszweig, während die Fischbestände stark eingebrochen sind. Von den Mi’kmaq leben nur noch wenige Tausend.

Alexander Monro (1855): New Brunswick; with a Brief Outline of Nova Scotia, and Prince Edward Island.

Moses Henry Perley (1857): A Hand-Book of Information for Emigrants to New-Brunswick

Wilson D. Wallis & Ruth Sawtell Wallis (1955): The Micmac Indians of Eastern Canada

Die nackten Klippen und abgestuften Felsen aus Granit oder anderem harten Gestein und die monotonen Föhrenwälder machen zunächst einen öden, trostlosen Eindruck. Man könnte meinen, dass hinter dieser schroffen Küste nur unfruchtbares Land und Armut zu finden seien.

MOSES HENRY PERLEY

ZEIT:

1856–1875

LAND:

CORRIENTES

BEVÖLKERUNG:

GRÖSSE:

6000

88 199 km2

Briefmarken aus der Bäckerei

Der norwegische Schriftsteller und Journalist Øvre Richter Frich reiste Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Provinz Corrientes in Argentinien und ließ später einige seiner Räuberromane in dieser Gegend spielen. Im Buch Kondoren (»Der Kondor«) beschreibt er die wogende, blühende Grassteppe in der Pampa, aus der nur vereinzelt hohe Disteln herausragen.

Sie wuchsen wie kleine Bäume und konnten mehrere Meter hoch werden. Wie gepanzerte, unverwundbare Krieger rückten sie langsam auf der fruchtbaren, nicht genutzten Erde vor […] in die die Viscachas, Präriehunde12, ihre unterirdischen Fallgruben bauten. Und in den riesigen Sümpfen Corientes’ streunen Affen, Vampire und kleine, tropische Krokodile umher, die es auf die kleinsten Indianerkinder abgesehen haben«.13

Der perfekte Schauplatz also für spannende Romane. Die bedrückende Stimmung spürte auch der Norweger Georg Wedel-Jarlsberg, als er zehn Jahre später auf seiner Reise durch diese Gegend ausgeraubt wurde. Als er den Diebstahl melden wollte, nahm ihn der Gouverneur diskret zur Seite und gestand ihm mit Schweiß auf der Stirn: »Die Bevölkerung von Corrientes ist im ganzen Land berüchtigt, die meisten gehören der romanischen Rasse an, sie sind feige, aber gerissen und rachsüchtig.14

Durch lokale Rebellionen und Befreiungskämpfe zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Argentinien nach der 300-jährigen Zugehörigkeit zur Kolonialmacht Spanien beinahe selbstständig geworden. Es folgte eine von Bürgerkriegen und inneren Auseinandersetzungen geprägte Zeit.

Die größten Probleme gab es zwischen den Provinzen im Binnenland und denen an der Küste. Streitpunkte waren vor allem die Nutzung der Flüsse und die Aufteilung der gewaltigen Weideländer in der Pampa. Auch nach der Unterzeichnung der argentinischen Verfassung im Jahre 1853 gingen die Konflikte weiter und führten schließlich zu einem Konglomerat weitgehend autonomer Provinzen.

Eine dieser Provinzen war Corrientes im Nordosten von Argentiniens Inland. Die Landschaft bildet dort sanfte Terrassen, die gut für den Anbau von Tabak und Baumwolle geeignet sind. Viehzucht ist wegen der hohen Temperaturen und der Feuchtigkeit nicht mehr möglich. Corrientes ist nach der größten Stadt der Region benannt, die bereits 1588 auf einem Höhenzug im Osten des Flusses Paraná gegründet wurde. Der Name war eine Kurzform von San Juan de Vera de las Siete Corrientes – »San Juan de Vera an den sieben Strömen«, was auf die schwierigen Strömungsverhältnisse an den sieben Landzungen zurückgeht, die an dieser Stelle in den Fluss ragten.

Die Stadt lag an den Reiserouten der Jesuiten zu ihren Missionsgebieten in den Anden und an den Quellflüssen des Amazonas. Im 19. Jahrhundert wuchs sie beträchtlich. Es gab mehrere Kirchen, in Pastellfarben gestrichene Steinhäuser im Kolonialstil und unzählige Jakaranda- und Orangenbäume.

Schon 1856 gab Corrientes – als erste der argentinischen Provinzen – eigene Briefmarken heraus. Die Auseinandersetzung mit der Küstenprovinz Buenos Aires über die Handelsrechte auf den Flüssen war wiederaufgeflammt, und mit dem eigenen Postwesen wollte man Stärke zeigen. Gleichzeitig fehlte es aber an Geldscheinen und kleinen Münzen unter 8 Centavos. Deshalb sollten die Briefmarken gleichzeitig als Porto und Zahlungsmittel dienen.

Die Aufgabe fiel Pablo Emilio Coni zu. Er war seit einigen Jahren Direktor der Provinzdruckerei, hatte aber wenig Erfahrung in der Herstellung von Druckplatten. In dieser Situation meldete sich der Bäckergehilfe Matias Pipet und erklärte, dass er bei einem italienischen Graveur in die Lehre gegangen sei.15 Betrachtet man das spätere Resultat, bekommt man unweigerlich den Eindruck, dass er es wahrscheinlich nur leid war, Empanadas aus Maniokmehl zu backen.

Es gibt keine Erklärung dafür, warum das Motiv ein Plagiat der ersten französischen Marke aus dem Jahr 1846 war. Sie trug das Profil von Ceres, der römischen Göttin für Ackerbau und Fruchtbarkeit. Vielleicht wollte die Provinzregierung einfach ihre Sympathie für die Zweite Französische Republik ausdrücken. Allerdings haben wir es hier mit einer grobkörnigen Nachbildung zu tun. Zwar wurde die Qualität von Gravur zu Gravur etwas besser, aber Pablo Emilio Coni war mit dem Resultat alles andere als zufrieden. Trotzdem brachte er die Marken aus purer Not in Umlauf.

In Corrientes herrschte akuter Papiermangel, sodass die Marken auf kleinen, aus Packpapier geschnittenen Bogen gedruckt wurden. Die Druckfarbe war schwarz, das aus Zuckerrohr hergestellte und zum Teil vorher schon benutzte Papier blassblau, blaugrau oder grünblau.

Bei den ersten Ausgaben war der Wert in einem Feld unten auf der Marke angegeben, das auf den späteren Druckplatten von 1860 weggekratzt wurde. Von da an sollte die Farbe des Papiers den Wert der Marke angeben, und zu der Farbpalette gesellten sich Rosa und Hellgelb. Meine Marke stammt aus dieser Zeit. Die rosa Farbe repräsentiert vermutlich einen Wert von drei Centavos.

Die Briefmarkenproduktion endete 1878 mit der Verstaatlichung des argentinischen Postwesens. Sowohl vor als auch nach dieser Zeit wurden etliche Fälschungen produziert, die allesamt eine bessere Qualität als das Original aufweisen. Das würde dafür sprechen, dass meine Marke echt ist.

1860: Ceres, römische Göttin für Ackerbau und Fruchtbarkeit. Eine Kopie der ersten französischen Briefmarke aus dem Jahr 1846

Im 20. Jahrhundert wurde Corrientes als landwirtschaftlicher Raum immer bedeutender. Trotzdem war die Provinz noch eine der ärmsten Argentiniens. Zwei Prozent der Bevölkerung besaßen rund 50 Prozent der Grundfläche, da die wenigen Großgrundbesitzer sich kategorisch gegen alle Landreformen gewehrt hatten. Am wichtigsten war die Romero-Feris-Familie, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen Großteil der Tabakindustrie kontrollierte und die gesamte Provinz wie ihren eigenen Betrieb bewirtschaftete.16 Dies änderte sich erst 1991. Nach Wahlen mit umstrittenen Ergebnissen hatten sowohl die Lokalbevölkerung als auch die Regierung Argentiniens genug. Der damalige Gouverneur »Tato« Romero Feris wurde gefeuert und wegen Unterschlagung öffentlicher Mittel inhaftiert und angeklagt.

Empanadas mit Rindfleisch und Maniokmehl (10 St.)

Teig: 500 G MANIOKWURZEL 180 G MAISMEHL SALZ

Füllung: 50 G GRÜNE PAPRIKA100 G ZWIEBELN1 ZEHE KNOBLAUCH25 G BUTTER250 G RINDERHACK1 HARTGEKOCHTES EI½ TL KREUZKÜMMELSALZ UND PFEFFER

Zubereitung Teig: Maniokwurzel schälen, in Salzwasser gar kochen und zu Püree stampfen. Maismehl und Salz einkneten bis man einen festen Teig bekommt.

Zubereitung Füllung: Grüne Paprika mit Zwiebeln und Knoblauch in der Pfanne in Butter anbraten. Fleisch hinzufügen. Mit Salz, Pfeffer und Kreuzkümmel würzen. Hart gekochtes Ei hacken.

Den Teig zu Kreisen von ca. 13 cm Durchmesser ausrollen, Füllung darauf platzieren und mit gehacktem Ei belegen. Halbmondförmig zusammenklappen und Teigtaschen schließen. Dann in Öl goldbraun braten.

Joseph Criscenti (1993): Sarmiento and His Argentina

Heinrich Trachsler (1839): Reisen, Schicksale und tragikomische Abenteuer eines Schweizers während seines Aufenthaltes in den verschiedenen Provinzen Südamerikas […] in den Jahren 1828 bis 1835: Ein schätzbares Unterhaltungsbuch […]

Die Bevölkerung von Corrientes ist im ganzen Land berüchtigt, die meisten gehören der romanischen Rasse an, sie sind feige, aber gerissen und rachsüchtig.

GEORG WEDEL-JARLSBERG

ZEIT:

1846–1906

LAND:

LABUAN

BEVÖLKERUNG:

GRÖSSE:

9000

92 km2

Alkohol gegen Malaria

Wenige Kilometer vor der Nordwestküste Borneos liegt die Insel Labuan. Bis auf den Hügel Bukit Kubong, der sich auf bescheidene 148 Meter über den Meeresspiegel erhebt, ist Labuan komplett flach.

Als die Briten erwogen, die fast menschenleere Insel in Besitz zu nehmen, war sie komplett mit Dschungel bewachsen und praktisch nicht passierbar – es sei denn, man fand einen Weg durch das Labyrinth der Sümpfe. Aber sie war für einen Hafen geeignet, von dem aus man die vielen Piraten in Schach halten konnte, die im Südchinesischen Meer ihr Unwesen trieben. Als am Bukit Kubong auch noch Kohlevorkommen entdeckt wurden, zögerten die Briten nicht länger.

Heiligabend 1846 unterzeichnete Sultan Omar Ali Saifuddin II. von Brunei ein Abkommen, das den Briten die Herrschaft über Labuan und die angrenzenden kleinen Inseln gab. Obwohl die winzige Insel für den mächtigen Sultan kein großer Verlust war, kann man davon ausgehen, dass er unter gewissem Druck stand. Es wird behauptet, britische Kriegsschiffe hätten gedroht, den Palast des Sultans zu beschießen, wenn er nicht unterschreiben würde. In Wirklichkeit handelte es sich eher um eine Art Schutzvertrag.

An der Ostküste errichteten die Briten rasch ein Administrationszentrum, das den wenig originellen Namen Victoria bekam. Von dort konnte man die Küste von Brunei und die über 4000 Meter hohen Berge im Norden Borneos sehen. Man lud Kolonisten ein oder holte sich weniger freiwillige Siedler aus den Straflagern der Kronkolonien Hongkong und Singapur. Kurz darauf zählte die Bevölkerung Labuans 9000 Menschen.

Schon bald stellte sich heraus, dass die neue Kolonie einige Nachteile hatte. Nachdem der Monsun immer wieder Flutwellen in die Bucht getrieben hatte, musste ein Teil Victorias versetzt werden. Das Klima war insgesamt feuchter als erwartet, und es war vor allem heiß. In den Sommermonaten fiel das Thermometer nie unter 30 Grad.

Die Bedingungen waren wie geschaffen für Malariamücken, sodass viele Siedler der Krankheit zum Opfer fielen. Das einzige Gegenmittel war Chinin aus Chinarinde, aufgelöst in bitterem Tonic Water – was wesentlich genießbarer war, wenn man es mit Gin mischte.

Labuan war deshalb nie sonderlich beliebt in der britischen Marine, die für Landgang und Kohlevorräte lieber andere Orte anlief. Der Ort verkam zu einem abgelegenen Nest.

Sollte es zu jener Zeit Tiger auf Labuan gegeben haben, gehörten diese vermutlich der heute ausgestorbenen Unterart der Java-Tiger an. Vielleicht lagen sie am Waldrand auf der Lauer und sahen zu, wie die Kolonialverwaltung langsam, aber sicher von innen heraus verrottete.

Wer nicht zu alkoholisiert oder krank war, lag mit den anderen in Streit. Dabei ging es um alles nur Erdenkliche: von der Mitgliedschaft im Englischen Club bis zu den wirklichkeitsfernen Handelsplänen von Gouverneur James Brooke, dem »weißen Rajah« von Sarawak (Nord-Borneo). Brooke war eher Abenteurer als Geschäftsmann, wie der britische Flottenadmiral Henry Keppel bestätigte: »Mein Freund Brooke versteht so viel von Wirtschaft wie eine Kuh von einem sauberen Hemd.«17

Wie so oft behielten die Briten eine steife Oberlippe. Die Fassade war intakt, als 1879 eine schwedische Expedition unter der Leitung des Polarforschers Adolf Erik Nordenskiöld in Victoria anlegte. Sie hatten mit dem umgebauten Walfänger Vega als Erste die Nordostpassage durchquert und waren nun auf dem Heimweg.

Nordenskiöld fand alles in bester Ordnung vor. Er äußerte sich optimistisch über den Kohleabbau und betrachtete die Insel als ideale Basis zur Erforschung von Borneos Geologie. Auf seinen Touren entlang der Küste fand der Schwede mehrfach verlassene Pfahlbauten, die ein Stück vom Ufer entfernt im Wasser standen:

Dieselben waren zur Flutzeit vom Wasser, zur Zeit der Ebbe aber von dem trockenen, hier aller Vegetation baren Strand umgeben. […] Im Großen und Ganzen hatte das Haus Ähnlichkeit mit einem Holzkäfig, zu welchem der geringste Windhauch überall Zutritt hat. Der Fußboden war sehr biegsam und nachgebend, zugleich aber so schwach, dass man nicht ohne Furcht, jeden Augenblick hindurchzufallen, darauf gehen konnte.18

Er wunderte sich über den Standort, nahm aber an, die Mücken seien auf dem Wasser weniger lästig als an Land.