AUCH WIR SIND RUSSLAND - SWETLANA GANNUSCHKINA - E-Book

AUCH WIR SIND RUSSLAND E-Book

SWETLANA GANNUSCHKINA

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Beschreibung

"WIR BRAUCHEN SOLCHE MENSCHEN WIE GANNUSCHKINA IN DIESEN DUNKLEN ZEITEN." Aus der Laudatio zur Verleihung des Schwarzkopf-Europa-Preises 2014 Seit 1988 kämpft die Moskauer Mathematikdozentin Swetlana Gannuschkina unermütlich für die Rechte von Flüchtlingen und Vertriebenen in Russland. Die mehrfach für den Friedensnobelpreis nominierte Menschenrechtlerin hat sich niemals durch die aktuellen Entwicklungen in ihrer Heimat einschüchtern lassen. Auch nicht, als ihr Name 2006 ganz oben auf einer Todesliste russischer Nationalisten auftauchte. In ihrem Buch erzählt die Freundin der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja über ihren Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung und stellt uns vor die aufrüttelnde Frage, wie wir mit unserem großen Nachbarn in Zukunft weiter zusammenleben können. WIE IST ES, MENSCHENRECHTLERIN IN EINEM LAND ZU SEIN, IN DEM DIE SCHÄRFSTEN KRITIKER ERMORDET ODER ZUM SCHWEIGEN GEBRACHT WERDEN? Auch wir sind Russland ist zugleich Biografie und Deutung der aktuellen Situation eines Landes im Umbruch. Swetlana Gannuschkina analysiert mit großem Erfahrungsschatz ein korruptes Rechtssystem und prangert die Annexion der Krim ebenso an wie die Methoden der Regierung, den Terrorismus im Land mit Terror zu bekämpfen. Eindringlich schildert sie ihre Arbeit für Flüchtlinge und Vertriebene, aber auch den Verlust ihrer ermordeten Freundinnen Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa. Sie zeigt ein Land, in dem Unschuldige im Strafvollzug gefoltert werden und die Fremdenfeindlichkeit bedrohlich wächst. Ein Land, das sie für seine Kultur und seine Menschen liebt. Ihr Buch weist alle "Putin-Versteher" im Westen zurecht und macht klar, wie gefährlich die Politik des russischen Regimes für Europa ist. "Ohne Pathos, ohne große Worte. Und furchtlos. So agiert jemand, für den Menschenrecht ein Naturgesetz ist." Ina Ruck, ARD-Auslandskorrespondentin und Russlandexpertin über Swetlana Gannuschkina

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2. aktualisierte eBook-Ausgabe 2022

© 2015 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Motivs von © Lothar Hennig, München

Dolmetscherin: Lena Prents, Berlin

Übersetzer: Bernhard Clasen, Mönchengladbach

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub-ISBN: 978-3-95890-028-8

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

»Россия моя, Россия,Зачем так ярко горишь?«Марина Цветаева, »Лучина«, 1931 год

»Russland, mein Russland.Warum nur brennst du so hell?«Marina Zwetajewa, Der Kienspan, 1931

INHALT

VORWORTvon Alexandra Cavelius

VORWORTvon Swetlana Gannuschkina

1 Der brutale Alltag: Eine Atmosphäre von Hass und Angst vergiftet die Gesellschaft

2 Die Krim ist mein

3 Viele Pflegefälle, Grießbrei und ein schwanzwedelnder Hund

4 Befreit in der Studentenzeit:Verschieden unter Verschiedenen!

5 Meine Heirat

6 Jetzt ist Perestroika

7 Der Erste Tschetschenienkrieg und seine Folgen

8 Inquisition in Nürnberg – eine Debatte

9 Meine Sicht auf Nord-Ost

10 Das kann doch nicht sein!Sie haben Chodorkowski verhaftet

11 Mit Terroristen verhandeln?

12 Der Mord an Anna Politkowskaja

13 Die Lage in der Tschetschenischen Republik

14 Die Entführung des Nordkoreaners Jong Kum Chon

15 Du sollst nicht töten!Können wir in Frieden zusammenleben?

16 Wünsche für die Zukunft

Auszeichnungen für Swetlana Gannuschkina

Glossar

Bildnachweis

Spendenaufruf

VORWORT

von Alexandra Cavelius

Am 24. Februar 2022 hat Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Am 15. März nahmen Polizisten Swetlana Gannuschkina auf dem Weg zu einer Demonstration gegen diesen Krieg fest. »Das war das Geschenk zu meinem 80. Geburtstag«, kommentiert die Trägerin des alternativen Nobelpreises nüchtern ihre vorübergehende Verhaftung. Dieser Krieg hat alles verändert. Auch in Russland.

Im Vorfeld dieses von langer Hand vorbereiteten Blutbades hatte das oberste Gericht in Moskau die Zwangsschließung von »Memorial« angeordnet, für deren Unterorganisation sich die mehrfach preisgekrönte Menschenrechtlerin Gannuschkina seit Jahrzehnten engagiert hat. »Memorial« stand für ein offenes, menschenfreundliches sowie demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn anstrebt«, fasst Gannuschkina den Aufgabenbereich zusammen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Auseinandersetzung mit der Repressionsgeschichte der Sowjetunion, der Rehabilitierung von Opfern und der Verteidigung der Menschenrechte. Bis Ende 2021 galt »Memorial« als das moralische Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft.

Mit der erzwungenen Schließung einer der angesehensten Menschenrechtsorganisationen der Welt erweckt Putin mehr denn je die Gespenster aus Stalins Vergangenheit zu neuem Leben und stempelt Menschenrechtler als »ausländische Agenten« ab. Der russische Präsident will das Rad der Geschichte zurückdrehen, das alte russische Imperium wieder auferstehen lassen, und hetzt zu dem Zweck sein Volk gegen die freiheitlichen Systeme im Westen auf.

Bei diesem Kampf geht es Putin nicht ums Wohl seines Volkes, sondern um die Sicherung seiner eigenen Macht. Bei einer Großveranstaltung im Moskauer Luschniki-Stadion, zur Feier des achten Jahrestages der Krim-Annexion, erzürnt sich der Präsident über »Gesindel« und »Verräter«, vergleicht diese mit Mücken, die man einfach ausspuckt, während sein Sprecher im Anschluss daran mit weiteren »Säuberungen« im Land droht. Patriotische Lieder begleiten die Feier und deuten an, dass die Ukraine nicht das letzte Ziel dieses Krieges ist: »Ukraine und Krym, Belarus und Moldawien – das ist alles mein Land.«

Noch im Februar, vor der Olympiade in Peking, hat Putin zusammen mit Xi Jinping eine neue Weltordnung angekündigt, angeführt von der Kommunistischen Partei. Westliche Geheimdienstberichte weisen auf Absprachen hoher chinesischer und russischer Funktionäre hin, dass Putin erst nach dem Ende der Spiele die Ukraine angreifen sollte. Daran hat er sich gehalten. Offensichtlich hatten beide Führer nicht nur die Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung im Sinn, sondern auch einen Blitzkrieg und einen schnellen Erfolg.

Beide halten den Westen für dekadent, schwach und unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Doch die EU steht überraschenderweise geschlossener denn je zusammen und hat härtere Sanktionen erlassen als erwartet, was ihr eine große Stärke verleiht. Augenscheinlich sind die Autokraten in diesem Fall Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden.

Putin hat sich durch diesen Völkerrechtsbruch auf der internationalen Bühne isoliert und gleichzeitig in völlige Abhängigkeit Pekings begeben. Xi wird seither nicht müde, ihre gemeinsame »felsenfeste Freundschaft« zu betonen, um sich gleichzeitig vor der Welt als neutral darzustellen. Russlands Überfall auf die Ukraine könnte China als Lehrstück für die geplante Eroberung Taiwans dienen.

Was aber ist ein Treueschwur zwischen zwei Diktatoren wert? Eine solche Verbindung basiert auf tiefem Misstrauen, denn jeder weiß von dem anderen, dass er sich nur so lange an Regeln hält, wie sie für ihn selbst nützlich sind. Als mächtigster Diktator der Welt wird Xi Jinping Russlands Schwäche für seine Zwecke missbrauchen. Unter anderem exportiert China Überwachungstechnologie, um Kontrolle zu gewinnen und Kritik im Keim zu ersticken. Vorbild ist der größte Überwachungsstaat der Welt in der Provinz Xinjiang, die mit einem Netz moderner Konzentrationslager überzogen ist.

Unabhängige russische Medien haben im heutigen Russland kaum noch Chancen, frei zu berichten. Das Wort »Krieg« ist seit Kurzem verboten, stattdessen ist die Rede von einer »Spezialoperation«. Wer es als Demonstrantin auch nur wagt, mahnend ein weißes Plakat in die Luft zu halten, gilt bereits als Regimekritikerin und wird inhaftiert, wie Filmaufnahmen belegen.

Laut Umfragen unterstützen rund 70 Prozent aller russischen Einwohner diesen Krieg gegen die Ukraine. Viele kennen nichts anderes als die Staatspropaganda. Während die Regierung von einer »Entnazifizierung« in der Ukraine schwadroniert, hungert sie dort Kinder aus oder mordet ehemalige Holocaust-Überlebende.

Einige russische Bürger äußern aus Angst vor Bestrafung keine Kritik, und es wird zunehmend schwerer für alle, an Informationen über die Lage außerhalb Russlands zu gelangen. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram wurden bereits abgestellt.

Der Umbau in einen immer totalitäreren Überwachungsstaat macht es Putin möglich, diesen Krieg gegen ein unabhängiges Land weiter zu führen und schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. Seit Kriegsbeginn sterben in der Ukraine jeden Tag unschuldige Frauen, Männer, Kinder und alte Menschen auf grausame Art und Weise. Ein friedlicher Nachbarstaat wird zerbombt und ins Elend getrieben, um Land und Leute mit Gewalt dem russischen Reich einzuverleiben. In Zukunft aber werden auch immer mehr russische Mütter um ihre Kinder bittere Tränen vergießen, denn Putin hat den eigenen Nachwuchs in der Ukraine in den Tod geschickt.

Im März verurteilte ein Moskauer Gericht Gannuschkina wegen Beteiligung an einer Friedensdemonstration zu einer Geldstrafe von umgerechnet 80 Euro. Ihre Bekannten witzeln darüber mit schwarzem Humor: »Ich habe immer gedacht, dass ich ins Straflager nach ›Magadan‹ geschickt werde, wenn ich auf die Straße gehe. Aber für 80 Euro kann ja jeder demonstrieren …« Würde Gannuschkina jedoch als »Wiederholungstäterin« erneut auffallen, so drohte das Gericht, erwarte sie eine mehrfach höhere Mindeststrafe von 1200 Euro. Andere Demonstranten aber müssen heute sogar mit einem Freiheitsentzug von bis zu 15 Jahren rechnen.

Während Putin vorgibt, in der Ukraine ein »faschistisches System« zu beseitigen, bedient er sich selbst mustergültig wie aus einem Katalog faschistischer Methoden. In seinen Reden spricht er mitunter vom Niedergang und der tiefen Demütigung der Gemeinschaft, die ausgleichender Kräfte bedarf wie »Einheit, Stärke und Reinheit«, was aus seiner Sicht den Einsatz grenzenloser Gewalt rechtfertigt. Statt eines Hakenkreuzes wie einst Hitler nutzt Putin das »Z« als Symbol dieses Krieges.

Gannuschkina aber ist egal, ob das Wort »Krieg« in diesen Tagen verboten ist oder nicht. Sie wird die Dinge wie zuvor so benennen, wie sie sind. Mit ihren 80 Jahren kämpft sie weiter mutig für Frieden und Gerechtigkeit.

VORWORT

von Swetlana Gannuschkina

Putins Krieg: Die größte Tragödie meines Lebens

Dieser Krieg gegen die Ukraine ist die schlimmste Tragödie meines Landes in den 80 Jahren meines Lebens. Das ist sehr beängstigend und sehr beschämend.

Natürlich habe ich dennoch weiterhin viele Freunde in der Ukraine. Ich rufe sie an und schreibe ihnen, um herauszufinden, ob sie sicher sind. Es ist sehr schmerzhaft, als Antwort zu hören, dass unsere Granaten in der Nähe ihres Hauses explodieren. Aber ich verstehe, dass sie mich nicht beleidigen wollen. Es ist eine Tatsache, dass unsere Geschosse dort einschlagen und Menschen sterben. Und dafür sind wir verantwortlich.

Gemeinsam mit ukrainischen Menschenrechtsaktivisten arbeiten wir weiter gemeinsam an Fällen von Flüchtlingen aus Russland, die in der Ukraine Asyl suchen. Der Leiter der Charkiwer Helsinki-Gruppe, Evgeniy Sacharov, ist wie ich Mitglied des Vorstandes von Memorial International. Wir sind uns einig in der Einschätzung dessen, was jetzt geschieht. Meine ukrainischen Kollegen versuchen auch jetzt noch, mich bei meiner Arbeit mit Flüchtlingen zu unterstützen. Ich hoffe, dass ich umgekehrt auch für sie nützlich bin.

Die vergangenen Tage habe ich ununterbrochen dieses Déjà- vu-Gefühl gehabt. Immer wieder kam mir das Jahr 1968 in den Sinn, als alle Zeitungen geschrieben hatten: »Die Sowjetunion wird sich nicht in die Tschechoslowakei einmischen.« Diese Zusicherungen waren zwar nicht glaubwürdig, aber sie hatten uns doch einen Funken Hoffnung gelassen. Nur hatte die sich leider nicht erfüllt. Jetzt ist es wieder passiert. Wieder haben wir Lügen, Verbrechen und Schande. Aber dieses Mal ist es noch schlimmer. Dabei kommt mir der Autor George Orwell in den Sinn: »Krieg ist Frieden, Lügen sind Wahrheit.« Und der große Bruder wacht mit einem wachsamen Auge über uns.

Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968, die Bombardierung von Grosny in der Silvesternacht 1995 und der Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 stehen für mich in einer Reihe. Im letzteren Fall ist die Sinnlosigkeit des Geschehens am offensichtlichsten: Es gibt keine russischen Interessen in diesem Krieg. Dieser Krieg zerstört Russland eher als die Ukraine.

Zwar haben in den sozialen Netzen einige prominente Persönlichkeiten unseres Landes, wie Sportler, Künstler oder Politiker, gegen diese Aggression Stellung bezogen. Doch ich glaube nicht, dass Putin diesen Intellektuellen viel Aufmerksamkeit schenkt. Wahrscheinlich denkt er vielmehr: »Denen müsste die Regierung noch einiges beibringen, sie umerziehen«, und hält ihnen im Geist warnend den Zeigefinger entgegen.

Das ist es nun mal, was alle Diktatoren von der Antike bis zu Hitler und Stalin dachten und bis heute denken.

Was kann die russische Zivilgesellschaft tun?

Wir dürfen nicht aufgeben und keine Angst haben. Wir müssen mit den Menschen in unserem Umfeld sprechen, schreiben oder uns in den Medien äußern. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um uns gegen den Krieg auszusprechen. Natürlich müssen wir so viele Kontakte wie möglich mit unseren Gleichgesinnten außerhalb Russlands, insbesondere in der Ukraine, pflegen.

Was kann man von der Opposition im Land erwarten? Von welcher Opposition – den Kommunisten? Oder von Schirinowski?

Die Partei »Jabloko« hat sich selbst zur Partei des Friedens erklärt. Es gibt dort einige kluge Köpfe, aber der Einfluss von Jabloko ist in den meisten Regionen leider gering.

Ich weiß nicht, wie man diesen Krieg stoppen kann, denn leider hängt das von einer Person ab. Einer Person, der es irgendwie gelingt, dass ihr alle gehorchen. Nein, ich habe keine Ahnung, wie wir das beenden können, was wir dafür tun und was wir sagen müssen. Bereits 1,2 Millionen Menschen im Land haben die Petition »Nein zum Krieg!« unterschrieben. Aber wen kümmert es? Natürlich ist eine Million von 140 weniger als ein Prozent. Aber trotzdem ist es immer noch eine große Zahl von Menschen. Und man muss bedenken, dass die Menschen Angst haben. Sie haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sie haben Angst um sich und ihre Angehörigen.

Die letzten Jahre haben wir vieles einfach widerspruchslos hingenommen. Wir haben unendliche Wahlfälschungen zugelassen. Wir haben es zugelassen, dass wir keinerlei unabhängiges Justizsystem haben. Und wir haben zugelassen, dass der Freund Ihres ehemaligen Bundeskanzlers, Boris Jelzin, den Tschetschenienkrieg vom Zaun gebrochen hat. Die Welt hat dabei zugesehen. Damals hatten viele das Gefühl, dass selbst die Menschen um einen herum nicht verstanden haben, was in Russland vor sich ging, damals, als die tschetschenische Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche bombardiert wurde.

Ein Gebaren wie einst Nero in Rom: Putin braucht einen Psychiater

Es gibt nicht viele Menschen, die so mutig sind, hier in Russland auf die Straße zu gehen und sich für ihren Protest von der Polizei festnehmen zu lassen – doch es gibt sie. Viele haben es gewagt und deutlich gesagt, was sie über diesen Krieg denken. Jetzt aber hat die Regierung die einzige Radiostation, die die Wahrheit verbreitete, abgeschaltet. Es ist durchaus vorstellbar, dass sie bald die Kommunikation, die jetzt noch über das Internet möglich ist, ebenfalls unterbinden wird. Wir wissen einfach nicht, wie es weitergehen wird. Und auch nicht, wie wir dieser Zensur Widerstand leisten können.

Ich bin überzeugt, dass es in Putins innerem Kreis Leute gibt, die verstehen, was für einen Wahnsinn sie da gerade anrichten. Aber sie sind schon zu Komplizen dieses Verbrechens geworden, und deshalb halten sie den Mund. Und die Entscheidungen trifft Putin allein.

Ich weiß nicht, was man tun kann, um ihn zu beeinflussen. Doch ich habe den Eindruck, dass er einen Psychiater braucht. Als Nero der Legende nach Rom in Brand gesteckt hat, dachte er wohl, dass er als prominenteste Figur in die Geschichte eingehen würde. Und vielleicht ist auch Putin von der Idee beseelt, etwas zu tun, was die Welt vorher noch nicht erlebt hat. Um jeden Preis will er die Sowjetunion wiederherstellen, deren Zusammenbruch er als die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat.

Es ist sinnlos, darauf hinzuweisen, dass Putin von seinem Umfeld nicht gesagt wird, was wirklich vor sich geht, dass er belogen wird. Zu den unverzichtbaren Eigenschaften einer guten Führungskraft gehört es, dafür zu sorgen, dass sie die richtigen Informationen erhält. So eine Person muss in der Lage sein, sich mit Menschen zu umgeben, die ihr die Wahrheit sagen. Wenn er also nicht die richtigen Informationen erhält, liegt das in seinem eigenen Verantwortungsbereich.

Wahrscheinlich läuft die Kommunikation im Kreml aber ungefähr in diesem Stil ab:

Putin fragt: Welche Informationen haben Sie mir mitgebracht?

Sein Umfeld antwortet: Die, die Sie bestellt haben!

Trotzdem möchte ich keineswegs Putin die ganze Schuld alleine zuschieben. Das wäre doch lächerlich! Die Menschen um ihn herum sind dafür genauso verantwortlich. Und wir sind dafür verantwortlich, dass er an die Macht gekommen ist. Ganz gleich, ob wir ihn gewählt haben oder nicht. Wenn es ein »wir« gibt, definiert als Nation, als Volk, dann haben wir ihn gewählt und sind für seine Handlungen verantwortlich.

Wie es weitergehen wird, ist unklar. Klar ist nur eins: Wir werden uns noch sehr lange dafür zu verantworten haben. Das muss jeder Einzelne von uns verstehen.

Zu lange haben wir weggesehen, zu lange hat der Westen mit Putin geflirtet

Natürlich ist es gut, dass Putin endlich auf der Sanktionsliste steht. Aber es kam zu spät. Zu lange hat der Westen mit ihm geflirtet und versucht, seine Wünsche zu erfüllen. Den Ereignissen in der Vergangenheit wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat Höflichkeit mit Schwäche verwechselt und nun völlig den Sinn für die Realität verloren. Dieser Mann versteht und schätzt nur Stärke. Mir scheint, die Zeit, in der man diese Stärke hätte zeigen können, wurde verpasst.

Welche anderen Mittel hätten die Demokratien nutzen können, um Putin in seine Schranken zu weisen? Ich bin keine Politikerin und kann diese Frage nicht genauer beantworten. Im Moment müssen wir die Ukraine auf jede erdenkliche Weise unterstützen.

Meine Botschaft an die Ukraine lautet: »Haltet durch, Freunde! Ihr verteidigt jetzt nicht nur eure Unabhängigkeit und eure Werte, ihr kämpft auch für den Weltfrieden und die Demokratie als solche.« Aber habe ich das Recht, dies dem ukrainischen Volk zu sagen? Ich, die ich für den Einmarsch meines Landes in die Ukraine mit verantwortlich bin, habe dieses Recht nicht. Und wir müssen die nächsten Generationen um Vergebung bitten, weil wir diesen Krieg nicht verhindert haben.

Und was würde ich der internationalen Gemeinschaft mitteilen? Ich kann mir nur wünschen, dass sie bei der Auswahl ihrer Freunde in Zukunft vorsichtiger ist und mehr darauf achtet, was ein Staatschef in seinem Land tut. Nur ein ständiger Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft und die öffentliche Kontrolle einer Regierung können sicherstellen, dass Moral und Werte erhalten bleiben und Vorrang vor politischen und wirtschaftlichen Interessen haben.

Vor zwei Jahrhunderten äußerte General Carl von Clausewitz: »Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Es ist an der Zeit, dass sich die Menschheit von dieser These und diesem Mittel löst. Der Preis, den wir für eine solche Politik zahlen, ist zu hoch.

Die Mehrheit der Russen muss man nicht erst davon überzeugen, dass wir kein anderes Land angreifen dürfen. Glauben Sie nicht, dass die Russen das nicht verstehen. Aber die Propaganda ist nicht untätig und arbeitet ständig daran, die Unterstützung der Menschen für diesen Krieg zu gewinnen. Es ist bequemer, auf diese Weise zu leben, als sich in jeder Sekunde für das Geschehen verantwortlich zu fühlen oder aus Angst, in eine schwierige Situation zu geraten, gar nichts mehr zu tun. Man darf nicht die Zahl der Menschen überschätzen, die die Maßnahmen der Regierung wirklich unterstützen. Aber ich muss ständig an die Worte eines Liedes von Alexander Galich denken: »Wenn du schweigst, wirst du als Henker enden!« (https://www.youtube.com/watch?v=lHYA2F_8Y9w)

Wie wird das enden? Was wird noch geschehen? Mit Russland und in Russland? Dieser dunkle Fleck wird für lange Zeit an der russischen Geschichte haften bleiben. Wenn mit dem Ende des Krieges die Zeit Putins vorbei ist, werden wir ein neues Leben und neue Beziehungen innerhalb Russlands und zu anderen Ländern aufbauen. Nicht nur wir in Russland werden unsere Fehler zugeben müssen. Aber es gibt leider noch eine andere Möglichkeit.

Und über die will ich lieber nicht nachdenken.

1 DER BRUTALE ALLTAG: EINE ATMOSPHÄRE VON HASS UND ANGST VERGIFTET DIE GESELLSCHAFT

Es ist schon lange her, es war im Jahr 2006. Ich weiß nicht, an welchem Tag ich davon erfahren habe, dass ich im Internet auf einer Todesliste stehe. Aber ich weiß noch, wie ich davon erfahren habe. Ich erhielt einen Anruf von einem jungen Mann, der mir verschiedene Fragen stellte.

»Stimmt es, dass Sie Swetlana Gannuschkina heißen?« »Stimmt.« »Stimmt es, dass Sie aktive Antifaschistin sind?« »Ja, selbstverständlich, wie kann jemand, der in Russland aufgewachsen ist, der hier lebt, wie kann der kein Antifaschist sein? Unsere Großväter und Väter haben den Faschismus besiegt …« Der Kerl hat daraufhin versucht, mir zu erklären, dass heutzutage Antifaschisten schlechte Menschen seien. Solche, die das russische Volk nicht liebten.

Ich widersprach. »Nein«, sagte ich. »Das ist nicht wahr. Wir helfen allen, die verfolgt, diskriminiert, ausgebeutet, misshandelt werden. Und unter denen, denen wir helfen, sind viele Russen.«

Wie ich später erfuhr, war dies auch der Grund, warum ich von den Betreibern der Website auf die Todesliste gesetzt worden war. Das Gespräch verlief dermaßen blödsinnig, dass ich endlich nachgefragt habe: »Warum rufen Sie mich überhaupt an?« Er antwortete: »Wieso? Na, Sie sind doch zum Tode verurteilt worden.«

Da ich das nicht sofort verstanden hatte, fragte ich: »Wer?« »Ja, haben Sie das denn nicht gesehen?« »Nein, nein«, antwortete ich, »keiner hat mich davon in Kenntnis gesetzt.« »Dann schauen Sie sich doch die Seite von ›Der russische Wille‹ im Netz an. Sie stehen da als Nummer eins ganz oben.« Ich war verblüfft. »Und warum rufst du mich jetzt an? Willst du nachprüfen, ob dieses Urteil wirklich vollstreckt werden soll?« Darauf antwortete er: »Ja, schon, so in der Art.« Letztendlich hat er dann doch von seinem Plan Abstand genommen.

Der junge Mann stand offensichtlich der neofaschistischen Bewegung des Landes nahe, deren Anhänger häufig solche Seiten im Netz betreiben. Scheinbar wollte er sich aber zunächst vergewissern, ob die Informationen im Netz auch richtig waren. Höflich erkundigte er sich nach meiner politischen Haltung. Wie ich aussah, wusste er ja bereits von dem Foto, das neben meiner Anschrift und Telefonnummer veröffentlicht war: kurze graue Locken und starke Brille auf der Nase.

Weiter wollte er in Erfahrung bringen, was ich als Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation »Komitee Zivile Unterstützung« genau machte. Ich erwiderte, dass unsere Organisation sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetze und die erste in Russland gewesen sei, die Flüchtlingen und Vertriebenen Hilfe anbot, und zwar juristisch, psychologisch und medizinisch.

Auf dieser im Internet kursierenden Liste standen acht Personen; unter ihnen waren Sergej Kowaljow, der Vorsitzende der Gesellschaft »Memorial«, ein Dissident der alten Garde, und die bekannte Journalistin Jewgenija Albaz. Allen Namen waren Fotos, Adressen und das Urteil selbst beigefügt. Mehrere Jahre geisterte diese Liste durch das Internet, war auf verschiedenen Internetadressen zu finden. Zusammen mit meinen Kollegen habe ich mich an die Staatsanwaltschaft gewandt und sie aufgefordert, nachzuprüfen, ob man es hier nicht mit einem Aufruf zum Mord zu tun habe. Hier lägen außerdem Propaganda für Terrorismus und eine menschenfeindliche Ideologie vor, hatten wir argumentiert. Die Staatsanwaltschaft reichte unser Schreiben weiter an den FSB, den Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation. Dort wurde es erneut geprüft. Schließlich erhielten wir einen abschlägigen Bescheid, denn der FSB schätzte uns letztendlich nicht viel anders ein als Wladimir Putin Anna Politkowskaja nach ihrer Ermordung. »Einige von Ihnen sind weiten Schichten der Bevölkerung bekannt, trotzdem ist die Einschätzung von Ihnen in der Gesellschaft nicht eindeutig. Tatsächlich ist Ihr Einfluss auf die Gesellschaft der Russischen Föderation sogar gering.« So hatte das Antwortschreiben des FSB gelautet. Was nur sollten diese Worte bedeuten? Hieß das, dass man Menschen, die nicht einflussreich sind und wenig bedeuten, mit dem Tode bedrohen darf?

Doch der Staatsanwalt bestand auf Ermittlungen, und so wurde die Angelegenheit den Ermittlungsbehörden des Innenministeriums übergeben. Ich wurde zu einem Gespräch mit einem Ermittler geladen. Dieser fragte mich, ob ich nicht Angst habe, dass die Drohung vielleicht umgesetzt werden könnte. Ich antwortete: »Sie müssen diese Frage so stellen, wie das vom Gesetz verlangt wird. Sie hätten demnach fragen müssen: ›Halten Sie diese Drohung objektiv für eine reale Bedrohung?‹ Und auf diese Frage kann ich antworten: ›Ja.‹« Anschließend hatten wir ein Schreiben des Innenministeriums erhalten. Darin hieß es, man habe sich entschieden, kein Verfahren einzuleiten, »da es nicht möglich ist, die Personen näher zu bestimmen, die strafrechtlich verfolgt werden müssen«. Leider ist das eine nur allzu typische Antwort, die wir immer wieder erhalten, wenn wir Anfragen wegen Tschetschenen stellen. Eine Antwort, die wir immer dann erhalten, wenn man einfach nicht ermitteln will. Doch in der Sache mit der Todesliste wäre es einfach gewesen, herauszufinden, wer hinter diesen Aufrufen steht. Man hätte sich nur die Mühe machen müssen, die entsprechende Internetseite aufzurufen, um dort die Gesichter der Betreiber anzusehen. Damit waren unsere Bemühungen erschöpft, von staatlicher Seite Schutz zu finden.

Dieser Schutz kam dann von anderer Stelle, nämlich von den Internetprovidern. Einige Provider hatten sich in dieser Sache mit ihren Kollegen unterhalten, auf deren Servern die Mordaufrufe gehostet worden waren, und in der Folge hatten sie die Nationalisten aufgefordert, diese Listen aus dem Netz zu nehmen.

Es gab viele solche Listen von Feinden der Nation oder des russischen Volkes. Man kann sie heute wieder im Internet finden, allerdings beinhalten derartige Listen mittlerweile keine Fotos und Adressen mehr. Doch potenzielle Mörder brauchen weder Foto noch Adresse. Sie brauchen nicht einmal eine Liste. In meinem Adressbuch stehen die Telefonnummern von Personen, die in der postsowjetischen Zeit aufgrund ihrer menschenrechtlichen Arbeit, ihrer Arbeit als Journalist oder Rechtsanwalt ermordet wurden. Und sie alle waren auf keiner Liste verzeichnet. Einer dieser Ermordeten war Nikolai Girenko, der in Prozessen immer wieder gegen Rechtsradikale ausgesagt hatte. Am 19. Juni 2004 hatte man ihn erschossen. Eine Woche vor diesem Mord war auf der Internetseite »Russische Republik« das »Todesurteil Nr. 1« veröffentlicht worden. Doch die Staatsanwaltschaft hatte es abgelehnt, gegen den Verantwortlichen dieser Seite vorzugehen. Dieses »Urteil« kann man auch heute noch im Internet finden, wie auch eine Liste von 100 »Feinden« des russischen Volkes. Viele auf dieser Liste sind nicht mehr am Leben. Das letzte Opfer war Boris Nemzow.

Vor nicht allzu langer Zeit sind auch Drohungen gegen einen meiner Kollegen laut geworden, der auf dem Gebiet Menschenrechte in Zentralasien arbeitet, doch die Rechtsschutzorgane unternehmen keine Maßnahmen zum Schutz der Bedrohten.

Gleichzeitig ist auch zu sagen, dass in den letzten Jahren einige nationalistische Banden zerschlagen worden sind, unter ihnen auch die Bande »Woewodinaq-Borowikowa«. Sie hat neben der Ermordung von Nikolai Girenko auch den Mord an einem achtjährigen tadschikischen Mädchen namens Churscheda Sultamnowa zu verantworten. Die Verbrecher hatten ihr elf Messerstiche zugefügt. Dem Anführer dieser Gruppe, Dimitri Borowikow, hatte man bei seiner Festnahme in den Hals geschossen. Die Umstände dieser Festnahme müssten eingehend untersucht werden. Wenig später tauchten in unserer Organisation mehrere Drohbriefe auf, alle angeblich in seinem Namen. 2011 wurden die Bandenmitglieder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

Erst kürzlich fand in Moskau ein Prozess gegen die Organisation BORN (Kampfgruppe russischer Nationalisten) statt. Diese Gruppe war 2008 gegründet worden und ist für den Mord an mindestens sieben Personen verantwortlich, unter ihnen auch der Rechtsanwalt Stas Markelow, der seine Menschenrechtsarbeit bei »Memorial« begonnen hatte. Damals war er noch Student und trug einen Zopf im Nacken. Und ein weiteres Opfer dieser Bande war Nastja Baburowa, die ein Praktikum bei der Nowaja Gaseta absolviert hatte.

Machen Drohungen Angst?

Ob mir solche Drohungen Angst machen? Ich nehme sie einfach zur Kenntnis als einen Teil der Realität. Vielleicht bin ich deswegen so, weil mir eigentlich noch nie etwas wirklich Besorgniserregendes zugestoßen ist.

Natürlich weiß ich, dass hinter derartigen Drohungen Leute stehen, die zu allem in der Lage sind. Doch wenn es sowieso klar ist, dass ich nicht viel für meine eigene Sicherheit tun kann, warum sollte ich dann noch allzu viel darüber nachdenken und Angst haben?

Angst ist ein physiologisches Gefühl, das bei den Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Ich habe schon ein langes Leben hinter mir und oft schon über den Tod nachgedacht. Aber natürlich ist es seltsam, wenn ein Mensch, der über den Tod nachgedacht hat, Überlegungen anstellt, wie man ihn wohl in seinem Hausflur töten könnte.

Im Januar 2005 war ich mit Anna Politkowskaja unterwegs, wir wollten gemeinsam zu einer Konferenz, die vom finnischen Parlament organisiert worden war. Thema der Konferenz war die Frage, wie sich der Konflikt in Tschetschenien friedlich regeln lassen könnte. Plötzlich erhielt ich einen Anruf. Der Anrufer redete wirres Zeug, drohte mir. Normalerweise legen derartige Anrufer immer gleich den Hörer auf. Doch dieser Mann blieb dran, schwieg einfach nur. Ich fragte ihn: »Na, hast du dich jetzt endlich ausgesprochen, mein Lieber?« »Ja.« »Dann alles Gute, mein Täubchen.« Und er verabschiedete sich mit ruhiger Stimme. Wahrscheinlich war es gar nicht seine Idee gewesen, mich anzurufen, wahrscheinlich hat er nur irgendjemandes Befehl ausgeführt. Eine meiner Kolleginnen fragte mich: »War das dein geliebter Enkel?« »Nein, das war ein junger Mann, der mir gedroht hat, mich zu ermorden.« Derartige Drohungen nehme ich nicht so ernst. Wer wirklich töten will, der ruft nicht noch vorher an.

Wir können doch nicht den Menschen, die bei uns Hilfe suchen, einfach sagen, dass wir unser Büro nun schließen, weil wir Angst haben und gerade in einer Depression stecken. Das ist der entscheidende Punkt in der Menschenrechtsarbeit: Wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht mehr zurück.

Immer wieder werde ich gefragt, wie es eigentlich gekommen sei, dass ich Menschenrechtlerin geworden bin. Und ich antworte dann immer: »Menschenrechtler ist man erst dann, wenn man von seinem Umfeld so genannt wird.« Schließlich ist Menschenrechtler ja keine Berufsbezeichnung. Das ist vielmehr eine ganz bestimmte Sicht von der Welt und von dem Platz, den man in dieser Welt einnimmt. Ich denke, was wir haben, ist ein Verantwortungsgefühl für die Menschen um uns herum.

Der Mord an Boris Nemzow

Anna Politkowskaja hätte keinen großen politischen Einfluss in Russland gehabt. So abfällig äußerte sich Wladimir Putin nach dem Mord an der international bekannten Journalistin. Viele schlossen aus seinen Worten, dass der Staat folglich nicht der Auftraggeber sein könne. Doch Boris Nemzow hatte ganz offensichtlich politischen Einfluss.

Drei Stunden vor seinem Tod um acht Uhr abends am 27. Februar 2015 war Nemzow vom Sender »Echo Moskau« interviewt worden. Und dabei sprach er aus, was derzeit die Menschen besonders beunruhigt: der im Osten der Ukraine entfachte Konflikt. Und er machte Putin auch direkt verantwortlich. Seiner Überzeugung nach, so Nemzow, sei auch unsere Armee an diesem Konflikt beteiligt. Nemzow hatte einen unabhängigen Bericht unter der Überschrift: »Putin. Krieg« veröffentlicht. Dieser Bericht war nach seinem Tod veröffentlicht worden. »Nun ist es Aufgabe der Opposition, aufzuklären und die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit ist: Putin ist Krieg und Krise«, hatte er auf seiner Facebook-Seite am 31. Januar geschrieben. Und gegenüber dem Sender »Echo Moskau« nannte er Putin einen »pathologischen Lügner«.

Boris Nemzow hatte die Bürger aufgerufen, am Anti-Krisen-Marsch »Der Frühling« teilzunehmen, der für den 1. März um 14 Uhr in Marino, einem am Rand von Moskau gelegenen Stadtteil, stattfinden sollte. Die Moderatorin hatte Nemzow noch vorgeworfen, er sehe das zu positiv »vor dem Hintergrund des endlosen Blutes und schrecklichen Krieges«. Nemzow hatte gehofft, dass eine starke Bewegung im Volk »die Situation Richtung Frieden wenden und den Kreml ernüchtern« werde. Ja, das wollte er, das Volk mit seinem Optimismus anstecken, aber die Entwicklung war eine andere.

Um halb zwölf Uhr nachts wurde auf Nemzow auf der Großen Moskwa-Brücke das Feuer eröffnet. Ein Unbekannter feuerte aus einer Pistole mehrmals von hinten auf Boris Nemzow, vier Kugeln trafen ihn in den Kopf, das Herz, die Leber und den Magen. Der oder die Täter flohen.

Ich kam in jener Februarnacht erst spät nach Hause und fuhr wie üblich meinen Computer hoch. Als Erstes schlug mir die Meldung entgegen, dass Boris Nemzow erschossen worden sei. Sofort hatte ich die Bilder unserer ersten und nun auch letzten persönlichen Begegnung in der US-amerikanischen Botschaft im Kopf. Anlässlich der Verabschiedung des damaligen Botschafters Michel McFault unterhielt ich mich dort mit meinem Kollegen Kowaljow von »Memorial«, als Nemzow auf uns zusteuerte. Trainiert und sportlich wirkte er, voller Lebenskraft und sehr optimistisch gestimmt.

Wenn in einem Menschen das Leben nur so sprudelt, ist es schwierig, nicht ebenfalls optimistisch zu werden, obwohl die politische Realität das Gegenteil vermittelt. Was für eine Energie er ausstrahlte! Und mit einem Schlag hatte irgendein Unmensch dieses sprudelnde Leben ausgelöscht.

Der Mord an Boris Jefimowitsch Nemzow, symbolhaft, inszeniert wie ein Schauspiel – das war nicht nur ein Mord an einem Menschen, das war auch eine Herausforderung für die Gesellschaft.

Als Hintergrund für die Tat vermute ich die öffentliche Sympathie, die Nemzow für seine Äußerungen zur Ukraine entgegengebracht wurde. Seine Worte haben viele Vertreter der Staatsmacht sehr nervös gemacht. Und sie hatten Grund zur Nervosität, denn die Logik von Putin ist nicht berechenbar. Der Wunsch, sich die Ostukraine anzueignen, ist auch wirtschaftlich unsinnig; wir haben doch jetzt schon mehr als genug Probleme in Russland. Wie sollen wir nur aus diesem schrecklichen historischen Fehler wieder herauskommen, aus diesem Verbrechen?

Trauermarsch: »Der schlimmste Feind Russlands sitzt im Kreml!«

Anstelle des geplanten Marsches »Der Frühling« fanden am 1. März in verschiedenen Städten Trauermärsche zur Erinnerung an Nemzow statt. In Moskau kam es zu einem genehmigten Trauermarsch im Stadtzentrum.

Zehntausende Menschen aus allen Altersgruppen gingen mit Rosen und Nelken in den Händen in den Reihen der Trauernden. Wir überquerten die Große Moskwa-Brücke und hinterließen Blumen an dem Ort, an dem er getötet worden war. Die Miliz und die Sonderpolizei OMON überwachten die Veranstaltung.

Direkt neben mir lief ein älterer Herr. Er sagte mir, dass seine Frau ihm verboten habe, an dem Trauermarsch teilzunehmen. Sie habe gesagt: »Dich können sie genauso töten wie Nemzow.« Viele waren tatsächlich sehr verängstigt. Ein Mann sagte zu einem anderen: »Ich bin gekommen, um den Machthabern zu zeigen, dass wir viele sind.«

Auch die jungen Leute waren emotional sehr mitgenommen. Alle hatten lange gewartet, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzen konnte.

Wenn sich in dieser aufgeheizten Stimmung irgendwer als Führungspersönlichkeit gesehen hätte, wäre es ihm vielleicht sogar möglich gewesen, diese Menge Richtung Kreml zu lenken. Die Leute riefen in Sprechchören: »Der Hauptfeind ist im eigenen Land, und er sitzt im Kreml!«

Die drei Säulen der Propaganda

»Glaubt Putin daran, was er selbst sagt, oder weiß er, dass das Lügen sind?«, fragen mich immer wieder Journalisten. In meinen Augen unterscheidet Putin nicht die Lüge von der Wahrheit. Das ist typisch für einen ehemaligen Geheimdienstler. Typisch für eine Institution, welche die Lüge als Produkt hervorbringt. Man macht dort keinen Unterschied zwischen »Gut« und »Böse«, zwischen »Wahrheit« und »Lüge«.

Und worauf beruhen denn die hohen Umfrageergebnisse für Putin und seine Propaganda?

Erstens: Durch den Zerfall der Sowjetunion fühlte sich das russische Volk erniedrigt. Auf einmal aber hieß es: »Wir bauen das große Reich wieder auf! Jetzt haben wir Russland die Krim wieder zurückgeholt.« Daran glauben die Menschen, wird ihnen doch damit das Gefühl ihrer Würde wiedergegeben. Die Einverleibung der Krim hat das Selbstwertgefühl vieler Menschen angehoben.

Zweitens: Warum ist es für uns so wichtig, zu behaupten, dass in der Ukraine Faschisten an der Macht sind? Der Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg ist ein heiliges Kapitel in der Geschichte unseres Landes. Tatsächlich hat das Volk damals eine heroische Haltung an den Tag gelegt. Im kollektiven Gedächtnis ist dieses Ereignis noch sehr stark verankert. Jeder wusste: Wir stehen auf der Seite des Guten, mal abgesehen von einigen Details, wie man auf diese Seite gelangt ist. Die Menschen glauben, dass wir heute erneut gegen den Faschismus kämpfen, und sie sind bereit, dafür jegliche Schwierigkeit auf sich zu nehmen. Erwähnenswert ist dabei, dass am 4. November 2014 die Faschisten in unserem Land das erste Mal seit vielen Jahren nicht durch Moskau marschieren durften. Wenn man es ihnen nämlich erlaubt hätte, hätten die Menschen sich natürlich die Frage gestellt: »Warum kämpft ihr gegen den Faschismus in der Ukraine, während gleichzeitig eure eigenen Faschisten marschieren?« Das hätte alles nicht zusammengepasst.

Drittens: Wir helfen unseren Brüdern, den Russen, die im Osten der Ukraine leben und die heute von den Nationalisten oder Faschisten unterdrückt werden.

Das sind die drei Stützpfeiler der Kreml-Propaganda. Sie werden mithilfe der Massenmedien in den Köpfen der Menschen verankert.

Man erzählt die unglaublichsten Geschichten. So wird von einem Mann berichtet, dem, nur weil er Russisch gesprochen hatte, in den Kopf geschossen wurde. Den Gipfel bildete die Erzählung einer Frau aus Donezk. Sie habe angeblich mit eigenen Augen gesehen, wie ukrainische Soldaten einen Jungen gekreuzigt hatten. Man habe ihn an ein Brett genagelt, und das alles habe sich vor den Augen der weinenden Mutter abgespielt. Diese habe man dann an einen Panzer gebunden und hinter diesem hergeschleift. Es ist schon lange nachgewiesen, dass diese Geschichte eine Lüge ist.

Leider entstehen in allen Konflikten immer wieder die seltsamsten und unglaublichsten Gerüchte. Sie prägen sich tief in das Denken der Menschen ein und werden gewissermaßen Teil des nationalen Gedächtnisses. Da kommt man auch mit Logik nicht weiter.

Jetzt haben wir eine gespaltene Gesellschaft. Die Spaltung geht durch die Familien und Freundeskreise; sie trennt Menschen, die sich gestern noch nahe waren.

So hatte sich beispielsweise eine junge Journalistin wegen der Krim heftig mit ihrer Mutter gestritten. Und dieser Konflikt heizte sich immer mehr auf. Irgendwann einmal sagte eine Freundin zu der Journalistin: »Was ist dir eigentlich wichtiger – deine Position zur Krim oder deine Mutter?« Daraufhin vermied die junge Frau weitere politische Auseinandersetzungen mit der Mutter.

Ich wollte, der Westen würde die Ukraine vor der russischen Aggression schützen, aber der Westen ist selbst Opfer der meisterhaft geführten Propaganda geworden. Ich will, dass dieser Krieg beendet wird.

Als ich auf meiner letzten Ukraine-Reise am Flughafen in ein Taxi gestiegen bin, war das Erste, was der Fahrer zu mir gesagt hat: »Sie denken wahrscheinlich, dass wir hier alle Faschisten sind.« »Nein, nein, so denke ich nicht«, antwortete ich. »Aber denken nicht viele Menschen bei euch so?« »Leider ja.« »Sagen Sie ihnen: Das ist nicht wahr. Wir haben ein gutes Verhältnis zu den Russen. Ich bin selbst Halbrusse. Mein Vater und mein Bruder leben in Russland. Verstehen Sie, ich bin 45, und ich bin Scharfschütze. Als der Krieg ausbrach, hat mein Sohn gesagt: ›Bitte, gib mir dein Wort, dass du nicht zum Kämpfen gehst.‹ Aber was bleibt mir denn übrig? Und ich werde seither von einem Traum verfolgt, dass ich durch die Zielscheibe meines Gewehrs das Gesicht meines Bruders sehe.« Ohne falschen Pathos erwecken zu wollen, aber in der Stimme des Mannes haben Tränen mitgeklungen. Russlands Beteiligung an den militärischen Handlungen in unserem Nachbarland halte ich für ein Verbrechen. Und dieses wird immer ein Fleck in unserer Geschichte sein.

2 DIE KRIM IST MEIN

Auf die Frage: »Wem gehört die Krim?«, habe ich eine sehr einfache Antwort: »Die Krim ist mein.« Mein Großvater Grischa mütterlicherseits, der mit vollem Namen Grigori Egorowitsch Prochorow hieß, wurde 1885 auf der Krim geboren. Er lebte in dem Dorf Kurzy, in der Nähe von Simferopol. Sein Vater wiederum, ein Russe, stammte aus einem russischen Dorf und seine Mutter aus einem estnischen. Auf der Krim gab es völlig unterschiedliche Dörfer: russische, estnische und ukrainische. Diese sind wohl entstanden, weil Katharina die Große irgendwann versucht hatte, die Krim mit Christen zu besiedeln. Meine Urgroßmutter war die Tochter eines schwedischen Pfarrers. Dieser heilige Mann hat sie für die Entscheidung, einen Russen zu heiraten, verflucht. Mag sein, dass der Russe ein Trinker war, aber geliebt haben sich die beiden auf jeden Fall. Doch der Fluch des Vaters wirkte offenbar. Meine Urgroßmutter wurde von ihrem geliebten Russen 18-mal schwanger, jedoch erreichten 16 ihrer Kinder das erste Lebensjahr nicht.

Erst auf dem Sterbebett hat der Pfarrer seiner Tochter verziehen. Nach seinem Tod brachte sie noch, obwohl sie nicht mehr jung war, zwei Kinder zur Welt, eine Tochter und einen Sohn. Das jüngere Kind war mein Großvater Grischa. Er wurde als sehr schwaches Baby geboren, aber er hat überlebt und ein langes Leben geführt. Er war schön, mit goldenen lockigen Haaren, der zudem wunderschön singen konnte.

Mit 15 Jahren nahm mich Großvater Grischa das erste Mal in sein Dorf Kurzy mit. Er selbst war etwa im gleichen Alter das erste Mal wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet worden. Danach ließ er die Revolution ruhen und machte sich mit dem Schiff auf den Weg nach Amerika. Dort auf dem Deck waren einmal »Cowboys aus Amerika« und Italiener aneinandergeraten. Plötzlich hatte einer der Italiener ein Messer gezückt, woraufhin sich Großvater Grischa in die Schlägerei einmischte und aufseiten der Cowboys kämpfte.

Dort in Amerika schloss mein Großvater Kurse in Finanzbuchhaltung ab und wurde ein hoch qualifizierter Buchhalter.

Als jedoch seine Mutter schwer erkranke, kehrte er nach Russland zurück. Wieder wurde er zum Revolutionär, wieder war er viel unterwegs in Sachen Aufbau der »Republik Noworussia«. Das war 1905. Die Revolution hatte man niedergeschlagen, und nachdem mein Großvater seine Mutter beerdigt hatte, siedelte er nach Baku über. Dort führte ihn das Schicksal mit der jüdischen Familie Bekker zusammen. Auch diese Familie war, wie viele jüdische Familien, sehr revolutionär eingestellt. Von den sechs Schwestern dieser lauten Familie hatte sich mein Großvater ausgerechnet für die stille Anja entschieden, die Medizin studierte und der jegliche Politik absolut fremd war. Später wurde sie seine Frau.

In diesem Haus verkehrte auch ein gewisser Iosif Koba (Dschughaschwili), der sich später Stalin nannte. Mein Großvater hielt zu den Menschewiki, war Anhänger von Plechanow. Zu diesem Zeitpunkt waren Menschewiki und Bolschewisten noch zusammen. Mein Opa und Stalin hatten gleichzeitig eine Parteizelle geleitet. Meine Uroma, Fejga Bekker, die in ihrem Haus viele Menschen aufgenommen hatte, konnte Koba nicht ertragen. Sie sagte, er sei ein sehr schlechter Mensch und voller Falsch. Jedem würde er nach dem Mund reden.

Dank seiner organisatorischen Fähigkeiten wurde mein Großvater Grischa bald der Manager eines Mühlenwerkes. Für die damaligen Verhältnisse hat er gut verdient. Und in seiner Freizeit besuchte er regelmäßig die Familie Bekker.

1914 heirateten Grischa und Anja. Sie musste dafür den christlichen Glauben annehmen. Die Logik war einfach: Entweder ließ der Großvater sich beschneiden, oder die Großmutter trat zum Christentum über. Das Letztere erschien einfacher.

Nach der Eheschließung wandte sich der Großvater etwas enttäuscht von der revolutionären Tätigkeit ab.

Wurzeln besitzen

Mit meinem Großvater Grischa habe ich alle unsere Verwandten besucht, und überall mussten wir Borschtsch und Wareniki, gefüllte Teigtaschen, essen. Das war recht anstrengend, kann ich sagen.

Tante Maria war Lehrerin von Beruf. Durch sie habe ich viel über den Zweiten Weltkrieg und die Krimtataren erfahren. Nach dem Krieg seien die tapferen Männer mit Orden zurückgekehrt, berichtete sie. Doch niemand empfing sie, denn ihre Frauen und Kinder waren verschwunden. Sie wussten nicht, dass Stalin sie 1944 nach Sibirien hatte deportieren lassen. Mehr als ein Drittel dieser Menschen starben dort an Hunger, Erschöpfung und seelischer Qual.

Zum ersten Mal habe ich mich da gefragt, welche Rechte ein Staat besitzt. Zu Hause habe ich mit meinen Eltern darüber gesprochen. Sie rechtfertigten nicht die Deportation, aber sie versuchten, diese zu erklären. »Ja, manche Tataren haben sich auf die Seite der Deutschen gestellt … und ja, dafür wurden sie verbannt.«

Tante Maria hatte keine Schlussfolgerungen gezogen, nichts bewertet; sie hatte sich einzig, voller Schmerz, an das Leben ihrer Nachbarn in diesem Dorf erinnert. An eine Frau, die mit ihr zusammen in der Schule gearbeitet hatte und die mit der Tochter auf der wochenlangen Fahrt, eingepfercht im Viehwaggon, umgekommen war.

So kam es, dass ich schon als Kind die einfache Wahrheit für mich formulierte: »Der Staat darf nicht über die Völker verfügen.« Vielleicht habe ich mich damals zum ersten Mal als Bürgerin dieses Landes verstanden, weil ich zum ersten Mal Schmerz und Scham für die eigene Heimat empfunden habe. Und aus diesem Gefühl der Nähe zu den Menschen im Dorf meines Großvaters ist genau damals mein Gefühl für meine Wurzeln entstanden.

Noch oft bin ich in meinem Leben auf der Halbinsel am Schwarzen Meer gewesen. Mein Vater, der sich im Krieg eine offene Form der Tuberkulose zugezogen hatte, machte jedes Jahr im Sommer eine Kur an der »russischen Riviera«, um das mediterrane Klima zu genießen. Mutter und ich begleiteten ihn. Viele Jahre später, als die Sowjetunion zerfallen war, habe ich meinen Enkelsohn mit auf die Krim genommen.

Der Umstand, dass die Krim an die Ukraine übergegangen war, hatte keinen Einfluss auf mein Verhältnis zu diesem Ort. Ich hatte nicht das Gefühl, dass man mir etwas weggenommen hatte. Die Krim war, ist und wird immer mir gehören. Das ist deswegen so, weil uns gehört, was wir lieben und womit wir unsere frühen Erinnerungen verknüpfen. Außerdem ist Koktebel mit dem silbernen Zeitalter unserer Literatur verbunden, mit dem Namen von Woloschin, und – dies ist für mich wichtiger – mit dem Namen Zwetajewa. Ich fühle meine kulturelle Verbundenheit mit diesem Ort.

Heute wissen wir von dem Memorandum aus dem Jahr 1994, als sich Russland und die Ukraine unter der Garantie der USA und Großbritanniens geeinigt haben, dass die Ukraine auf den Status einer Atommacht verzichtet und Russland sich gleichzeitig verpflichtet, keine Änderung von Grenzen anzustreben. Wenn ich daran denke, ergreift mich erneut ein Gefühl der Scham. Und deswegen habe ich auf der Demonstration gegen die Einverleibung der Krim im März 2014 gesagt: »Uns gehört das, was wir lieben und wofür wir Verantwortung empfinden, und nicht das, was wir mit geschmiedeten Stiefeln betreten.« An dieser Demonstration hatten sich einige Tausend beteiligt. Als ich auf der Tribüne stand und vor mir die Massen von Menschen sah, dachte ich, sie seien endlos. Auch Nemzow ist auf dieser Demonstration aufgetreten. Es waren viele Menschen dort, die Mitgefühl mit der Ukraine hatten. Und viele waren dort, die der Ukraine und Russland Freiheit wünschten.

Acht Nationalitäten in einer Person

Ich bin fest mit der russischen Kultur verbunden, aber ich verspüre kein Bedürfnis, meine ethnische Zugehörigkeit bestimmen zu lassen. Wenn man weit genug zurückblickt, könnte ich in meinem Stammbaum allein acht Nationalitäten feststellen. Wenn ich meine Nationalität in die entsprechende Spalte eines Dokuments eintragen muss, schreibe ich: »Ich besitze keine.« Andernfalls müsste ich alle acht hinschreiben. Ich würde sogar in der Spalte »Nationalität« nicht »ich besitze keine«, sondern »ich brauche keine« vermerken. Diese bunte Mischung in mir betrachte ich als großen Reichtum.

Lange habe ich über die Verbindung zwischen den Generationen und den Zeiten nachgedacht. Heute spricht man oft davon, dass wir eine andere Moral haben, dass die Menschen anders leben und fühlen als früher. Aber mir scheint es, dass viele Generationen meiner Vorfahren die gleiche Moral hatten wie ich und in etwa gleich lebten. Ich denke, wir haben viele Gemeinsamkeiten, was die Einstellung zum Leben und den eigenen Platz in der Welt angeht, obwohl sich die Zeiten von den heutigen unterscheiden und die Situationen andere waren. Die öffentliche Moral ändert sich vielleicht, aber es bleibt auch etwas, was die Menschen vereint.

Nur was ist das? Ich denke, dass fast allen meinen Vorfahren eine gewisse materielle Askese eigen war. Askese ist natürlich nicht immer eine gute Sache, dennoch ist sie auch mir eigen. Wenn dir das Leben etwas anbietet, musst du dich zwischen »haben« und »sein« entscheiden. Und für mich hat letztlich das »Sein« Vorrang vor dem »Haben«. Und etwas zu viel zu haben ist mir ebenfalls unangenehm.

Immer hielt man es für wichtig, etwas Nützliches und Sinnvolles für die Menschen zu tun. Meine Großeltern und meine Urgroßeltern entstammten unterschiedlichen Schichten, gehörten jedoch alle zur Intelligenzia. Die Mutter meines Großvaters väterlicherseits, Olga Mascharowa, entstammte einer verarmten Familie. Sie und ihr Mann, Boris Michailowitsch Gannuschkin, ein Landarzt, lebten zunächst in dem Dorf Novoselka im Gubernium Rjasan und danach in dessen Hauptstadt Rjasan. Der Urgroßvater war der Direktor des Kinderheims von Alexandrina. Noch heute besitzen wir ein Küchentuch, in das einige Worte der Dankbarkeit an ihn eingestickt sind.

Biografen berichten, Boris Michailowitsch stamme väterlicherseits aus einer ländlichen jüdischen Familie. Welcher Herkunft seine Mutter, also meine Ururoma, Anna Nikolaiewna war, weiß ich nicht. Ich habe jedoch ein Schreiben von ihr an meine Uroma Olga. Das Schreiben fand sich als winziger Zettel in einem Täschchen, das man gewöhnlich ins Theater mitnimmt. Und darin beklagt sie sich darüber, dass meine Uroma auf sie böse sei. Ein ewiges Problem familiärer Beziehungen.

Über die Großmutter, die eine psychiatrische Klinik aufbauen will

Großmutter Sofia Wladimirowna hatte mit 20 das erste Mal geheiratet, eine Tochter bekommen und sich fast sofort wieder scheiden lassen. Was hieß hier Scheidung? Jeder ging wieder seiner eigenen Wege. Das waren die freien Zeiten, als die Traditionen auseinanderbrachen. Babuschka interessierte sich für Medizin. Ich mutmaße, dass sie von einer Erzählung Tschechows sehr beeindruckt war, und zwar von Das Krankenzimmer Nummer 6.

Diese Erzählung vermittelt eine sehr gute Vorstellung davon, wie es damals in der russischen Psychiatrie zugegangen ist. Manchmal waren Erkrankte in einer derart schlechten Verfassung, dass es den Familienangehörigen kaum möglich war, sie bei sich zu Hause zu behalten. Andererseits gab es keine Unterbringungsmöglichkeiten, und wenn, dann nur unter übelsten Bedingungen in Krankenhäusern, durchaus mit denen in Gefängnissen vergleichbar. So gründete Großmutter eine Aktiengesellschaft, mit deren Unterstützung sie eine Klinik für psychisch Kranke aufbauen wollte, und zwar ausgerichtet an den höchsten Standards, wie sie damals schon in Europa gängig waren.

Mit ihren Aktionären, die selbst alle psychisch kranke Angehörige in ihren Familien hatten, erwarb sie ein Grundstück und begann, das Gebäude zu errichten. Allerdings stellte sich bald heraus, dass auf der Baustelle noch kein Kanalanschluss gelegt war. Sofort, so erzählte meine Großmutter, habe sie ihr blaues Kleid übergestreift, auf ihre platinblonden Haare einen großen Sommerhut mit vielen Blumen darauf gestülpt und den Gouverneur aufgesucht. Als sie in der Pferdekutsche zurücktrabte, sah sie, dass die Baustelle bereits wieder in Betrieb genommen worden war. Stellen Sie sich diese Geschwindigkeit vor, mit der die Anweisungen aus der Verwaltung umgesetzt wurden! So etwas würde heute nie funktionieren.

So erbaute Großmutter dieses Krankenhaus. Oft betonte sie, dass dort eine besonders moderne Scharko-Dusche eingebaut werden sollte, von der das Wasser nach allen Seiten spritze. Für sie bildete dies die Spitze aller technischer Raffinesse. Sie war zwar voller Energie und Elan, doch planen und kalkulieren konnte sie nicht. Dabei verlor sie ihr ganzes Vermögen. Das heißt, auch die Aktionäre hatten ihr Geld in den Sand gesetzt.

Der Diagnostikapparat oder eine Koryphäe auf dem Gebiet der Psychiatrie

Zu diesem Zeitpunkt war Großmutter Sofia mit meinem Großvater Piotr bekannt, der damals bereits eine Koryphäe auf dem Gebiet der Psychiatrie war. Sie hatte ihn eingeladen, damit er sie bei diesem Bauprojekt beriet. Wenn ich richtig verstanden habe, verband die beiden damals bereits eine Affäre. Mein Großvater war klein, mit einem dicken Bauch und einer großen Nase. Sein Übergewicht hatte er seiner Vorliebe für Süßigkeiten zu verdanken, aber irgendwie hatte er es geschafft, Großmutter zu bezirzen.

Meine Oma betonte mit einem gewissen Stolz, dass sie mindestens hundert Mal hübscher sein wollte als ihr Mann. Damit alle sehen, was für einen Wert er doch hat! Man sagt: »Die Frauen lieben mit den Ohren.« Und Großvater war natürlich ein Meister darin, mit Worten zu bezaubern.

Zeitlebens blieb das Paar in der Ehe beim »Sie«. Sie haben einander respektvoll in der Höflichkeitsform mit Vor- und Vatersnamen angeredet. Zum Beispiel sagte Großmutter: »Aber Piotr Borisowitsch, früher haben Sie doch das und das zu mir gesagt.« Und er antwortete: »Aber Sofia Wladimirowna, damals befand ich mich in einem Zustand ähnlich dem eines Pfaus, als ich meinen Schwanz und meine Federn im Zuge der Eroberung eines Weibchens aufgespreizt habe!« Das erfuhr ich alles von meiner Mutter. Von ihr weiß ich auch, dass Großmutter ihn daraufhin gefragt hatte: »Na gut, und wie viel Zeit brauchen Sie überhaupt, um eine Frau zu erobern?« Er antwortete: »Zwei Wochen Gespräch.«

Großvater hat sich vermutlich so wichtiggemacht, weil seine erste Frau, Ada Gannuschkina, eine Schriftstellerin, ihm einen Korb gegeben hatte. Als er im Ersten Weltkrieg von der Front nach Hause kam, ließ ihn seine Frau aus Bohème-Kreisen wissen: »Piotr Borisowitsch, Sie müssen ankündigen, bevor Sie nach Hause kommen. Jetzt habe ich einen anderen gefunden.« Wenn diese Frau keinen Liebhaber gehabt hätte, hätte es uns alle nicht gegeben.

Und so war meine Großmutter Sofia bankrott, die Aktiengesellschaft auseinandergebrochen, aber das Krankenhaus Nr. 12 in Moskau wurde trotzdem fertiggestellt – und zwar mit der besagten Scharko-Dusche. Als die Aktionäre erfuhren, dass alles in andere Hände überginge, stürzten sie sich wie Raubtiere auf Großmutter. Wütend warfen sie ihr vor, dass sie unfähig sei, Menschen zu führen. Wahrscheinlich stimmte das auch, aber immerhin hatte sie doch das Krankenhaus für deren Angehörige errichtet.

Bei einer dieser Auseinandersetzungen saß mein Großvater still in einer Ecke und beobachtete das ganze Szenario mit dem Blick eines weisen Mannes. Wegen seiner genauen Beobachtungsgabe bezeichneten ihn Freunde und Bekannte auch als »Diagnostikapparat«. Gesagt aber hat er nichts. Seine geliebte Sofia hatte mehr Geld ausgegeben, als vorhanden war. Das ist ein Grund, warum ich selbst heute in meinen beiden Organisationen auf jede Art von Tätigkeiten verzichte, die Profit erwirtschaften könnten. Sonst würde ich wahrscheinlich auch alle in den Bankrott treiben.

Bei Großmutter wurde alles gepfändet, wie es hieß, bis zu den Nachthemden. Sie hatte sich mit Großvater darüber nicht verständigt. Dafür war sie zu stolz. Ohne weitere Worte reiste sie stattdessen mit einem anderen Verehrer, ebenfalls einem Mediziner, zwei Jahre lang durch Europa. Nach einiger Zeit merkte dieser jedoch, dass etwas nicht stimmte. »Sofia Wladimirowna, wir müssen uns trennen. Ich merke, Sie sind noch immer in den Professor Gannuschkin verliebt.« Dann brachte er – ein vornehmer Mensch – Großmutter nach Hause.

Als Großmutter zurück nach Russland kam, soll sie gleich bei der ersten Begegnung meinem Großvater an den Kopf geworfen haben, dass er sie damals im Stich gelassen hatte. »Wie konnten Sie bei dieser Sitzung der Aktionäre schweigen, da ich so tief beleidigt wurde?« Mein Großvater gab zurück: »Es hat sich nicht gelohnt, die Kraft aufzubringen, um diesen Menschen zu antworten.«

Das muss sich im Jahr 1919 abgespielt haben. Dazwischen lag die Oktoberrevolution, die sich auf das Leben dieses Paares kaum merklich ausgewirkt hatte. Großvater hatte mit Oma Sofia nicht nur eine Frau geheiratet, die bereits ein Kind in die Ehe mitbrachte, sondern auch einen Ehemann, der unter einer fortgeschrittenen Erkrankung litt. Meine Großmutter war der Meinung, dass sie dessen Erkrankung verschuldet habe, weil sie ihn verlassen hatte, und hielt es für ihre Pflicht, ihn zu pflegen. Sie hat ihn in ein Zimmer unserer Wohnung einquartiert, zusammen mit ihrer gemeinsamen Tochter. Vermutlich hatte Großvater sich darauf eingelassen, weil dieser Mann auch auf psychiatrische Hilfe angewiesen war. Am Ende allerdings überlebte der Schwerkranke Opa Piotr um viele Jahre.

Großmutter Sofia war bereits 42 Jahre alt, der Großvater 45, als ein Jahr nach der Hochzeit ihr gemeinsamer Sohn, mein Vater Alexej Petrowitsch Gannuschkin, das Licht der Welt erblickte. In diesem Alter noch Kinder zu bekommen war damals sehr selten.

Über meinen Großvater Piotr Gannuschkin sind viele biografische und wissenschaftliche Arbeiten geschrieben worden. Großmutter hat sich derweil mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Sie hielt sich für ein Medium und war spirituell sehr bewandert. Sie schaffte es, sich in Trance zu versetzen und sich mit Geistern zu unterhalten.

Es gibt ein Theaterstück von Leo Tolstoi, das heißt »Früchte der Aufklärung«. Darin geht es um die spirituellen Séancen reicher Leute und wie sich die Bediensteten darüber lustig machen. Mein Vater und meine Mutter haben sich später dieses Stück angeschaut. Das ist eigentlich eine Komödie. Alle im Publikum haben sich kaputtgelacht. Nur mein Vater konnte nicht lachen und stöhnte: »Oh Gott, das sind ja meine Mutter und Onkel Kostja!«

Um Großmutter Sofia herum passierten ständig irgendwelche fantastischen Geschichten. Mein Großvater war ein sehr guter, tiefsinniger Psychologe und der Ansicht: »Lass das! Das schadet der Psyche, wenn man sich diese spirituellen Seiten so stark aneignet. Das sind die Tiefen unseres Unterbewusstseins, die noch nicht erforscht sind.«

Hetzkampagne gegen den Großvater

1933 ist Großvater auf dem Operationstisch gestorben. Er litt unter Darmkrebs und wusste davon, wollte aber nicht ins Krankenhaus. Diese Abneigung gegenüber medizinischen Behandlungsmethoden wurde auf meinen Vater und danach auch auf mich weiterübertragen. Wir haben unsere Gründe dafür, weil wir viel zu oft krank waren in bestimmten Zeiten.

Großmutter erzählte, dass der alte Herr sich immer wieder auf den dicken Bauch geklopft und dabei gesagt habe: »Sofia Wladimirowna, mein Krebslein wächst hier weiter, immer weiter.« Erst als sein Darm verschlossen war, legte er sich in die Klinik. Der Chirurg, sein Freund Alexej Wasiljewitsch Martinow, konnte nicht schnell genug operieren. Das Narkosemittel musste Großvater zweimal verabreicht werden, bis es wirkte. Die zweite Dosis aber hat sein Herz nicht mehr verkraftet. Die Leute sagten, der operierende Arzt sei schon nicht mehr der Jüngste gewesen, seine Hände seien nicht mehr so geschickt gewesen für eine derartige Operation. Es kann sein, dass dem so war.

Später gab es Spekulationen darüber, ob Großvater ermordet worden sei – wie viele andere unter Stalin. Wir in der Familie glaubteb aber nie daran, dass Derartiges geschehen war. Stalin war von dem Arzt und Mitglied der Akademie der Wissenschaften Bechterew untersucht worden. Dieser hatte bei Stalin Paranoia diagnostiziert. Danach starb Stalin unter seltsamen Umständen.

Eine andere Sache ist die, dass mein Großvater tatsächlich so hätte enden können wie zahlreiche Menschen jener Zeit. Eine Hetzkampagne gegen ihn hatte bereits eingesetzt. Großvater hatte nämlich zwei Artikel veröffentlicht, einen über erworbene Invalidität und einen anderen darüber, wie man die Gesundheit von Parteiaktivisten erhalten könne. Er hatte geschrieben, dass solche Menschen traumatisiert seien, bis zum Niveau der Behinderung. Daraus ließ sich die Schlussfolgerung ableiten, dass diese Menschen in ihren führenden Parteifunktionen nicht nur das eigene Leben gefährdeten, sondern auch eine Gefahr für ihr Umfeld darstellten.

Für seine beiden Artikel erntete mein Großvater deutliche Unmutsbekundungen. Man beschuldigte Piotr Borisowitsch, er würde eine schnelle Entwicklung des Staates verhindern. Und diejenigen, die diese Hetzkampagne losgetreten hatten, waren ausgerechnet Schüler von ihm gewesen.

Mein Großvater starb 1933 im Alter von 58 Jahren. Dass er so früh gestorben ist, war auf eine Art gut gewesen. Vielleicht hat das ihn und seine Familie vor Repressalien bewahrt. Vielleicht hat sein Tod uns das Leben gerettet.

Heute tragen ein Institut, ein Krankenhaus und ein Stück des Flussufers Großvaters Namen.

Vaters Neffe Schenja soll Spitzel werden

Mein Vater ist mit dem Tod seines Vaters erwachsen geworden. Da war er zwölf Jahre alt. Als Professorensohn besuchte er noch ein Jahr lang die bekannte MOPSch, eine Moskauer »Musterschule«. Mit ihm waren dort noch sehr viele andere Kinder berühmter Eltern eingeschult. Die Besonderheit der Schule bestand darin, dass an ihr hervorragende Bildung durch eine hoch qualifizierte Lehrerschaft angeboten wurde. Die Klassenkameraden waren untereinander eng befreundet.

Viele von Vaters Mitschülern kamen Ende der 1930er-Jahre im Zuge der »Säuberungen« hinter Gitter; dorthin waren sie den bereits ermordeten Eltern gefolgt.

Auf dem Sparbuch waren der Familie von Opa Piotr noch 30 Rubel geblieben. So lebten sie von der kargen Rente meiner Oma und der anderer Verwandter. Fortan hat sich Vater um seinen Neffen Schenja gekümmert, der mit seiner Mutter bei uns wohnte und nur fünf Jahre jünger war als er selbst. Schenja war schon früh ein von Gott begnadeter Künstler gewesen. Diese Gabe hatte er von seinem Vater geerbt, dem Künstler und Fotografen Alexander Grinberg. Er wurde 1936 ein Opfer der Stalin’schen »Säuberungen«. Man bezichtigte ihn der »Pornografie«, weil er ein Nacktmodell fotografiert hatte. Deswegen nahm sein Sohn Schenja den Namen von Babuschka an, also unseren Namen Gannuschkin.

Das Ganze spielte sich folgendermaßen ab: Im Krieg haben Geheimdienstler des NKWD den 17-jährigen Schenja eine Zusammenarbeit vorgeschlagen. Weinend bat er Großmutter, ihm zu helfen. Doch die Begabung meiner Großmutter, irgendwo anzurufen, Beziehungen ins Spiel zu bringen und zu verhandeln, wurde hier außer Kraft gesetzt. Sie konnte nichts erreichen, hat aber trotzdem noch viel herumtelefoniert. »Mein Enkel kann so etwas nicht tun. Er hat einen anderen Charakter.« Aber dort sagte man ihr: »Nein, Genossin Gannuschkina. Wir werden ihm eine Lektion erteilen.«

Mitten im Krieg kehrte Artjom Sergejew, ein ehemaliger Mitschüler meines Vaters und Sohn des legendären Bolschewisten Fjodor Sergejew, für einen kurzen Heimaturlaub zurück. In der Partei nannten sie ihn nur »Artjem«. Ihm zu Ehren wurde eine Stadt im Gebiet Donezk »Artjomsk« benannt. Ihm erzählte man die Geschichte.

»Kein Problem, er kann mit mir an die Front kommen!«, hat Artjom angeboten. Das hat der 17-jährige Schenja dann auch gemacht. Lieber Soldat als Spitzel.

An der Front war Schenja Schriftführer. Von dort schrieb er einen Brief an Großmutter mit der Bitte, er möchte ihren Namen annehmen. Großmutter antwortete: »Nein, warum möchtest du den Namen von Piotr Borisowitsch Gannuschkin. Dann nimm doch meinen Mädchennamen an.« Vater aber rügte sie: »Mutter, schämst du dich nicht? Er ist an der Front. Wenn ihm etwas zustößt, würdest du dir das nie verzeihen.« So schrieb Großmutter: »Der adlige und großherzige Aljoscha ist bereit, dir seinen Namen zur Verfügung zu stellen.«

Schenja hat dem Namen dann auch alle Ehre gemacht. Er wurde ein sehr bekannter Künstler. Und mit seinem neuen Familiennamen stellte ihm auch niemand mehr unangenehme Fragen nach seinem Vater, der ein Opfer der Säuberungen geworden war. Als Alexander Danilowitsch nach Moskau zurückkehrte, half Schenja dem Vater in allen Fragen des Alltags. Und der Mann, der immerhin 88 Jahre alt wurde, hatte auch viel Unterstützung nötig.

Später wurde ein Freund meines Vaters, Artjom Sergejew, zum General ernannt. Er war Stalins Zögling und bis zu seinem Tod von dessen großartigen Fähigkeiten überzeugt, obwohl so viele seiner Freunde unter dessen Führung getötet oder gequält worden waren. Zu seinen Mitschülern aber stand Artjom ein Leben lang treu.

Wie Großvaters Akte in Baku im Kamin landete

Mein Großvater Grigori Egorowitsch Prochorow hatte zwar seine revolutionäre Tätigkeit aufgegeben, aber er blieb weiter in Baku und geriet dort in Gefahr. Im Rahmen der Vernichtung aller Volksfeinde besaß der Geheimdienst NKWD die Möglichkeit, auch auf die Archive aus der Zarenzeit zuzugreifen. Dort ließen sich die Menschen ausfindig machen, die in den Anfangszeiten der Revolution politisch aktiv gewesen waren. Seit der Oktoberrevolution wurden die Menschewiki von den Bolschewiki als Feinde verfolgt.

In diesen Archiven fand Großvater eine Mitarbeiterin, die ihn darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass ihr Gatte abkommandiert war, sie zu bespitzeln. Großvater hielt es für seine Pflicht, seinen Arbeitgeber Kuliew zu benachrichtigen, dass er ausspioniert werde. Daraufhin lud Kuliew diesen Polizeiagenten und meinen Großvater zu sich nach Hause ein. Zu dritt saßen sie in einem Zimmer, das Kaminfeuer prasselte. Auf Bitte von Kuliew brachte der Agent die Akte mit, die man über meinen Großvater angelegt hatte. Kuliev schlug sie gar nicht erst auf, sondern warf sie sofort ins Feuer. Der Spitzel war entsetzt: »Wie konnten Sie das nur tun? Wissen Sie denn nicht, was jetzt mit mir passiert?« Kuliew blieb gelassen. »Sie brauchen hier keine unnötigen Worte zu verlieren. Sagen Sie einfach, was das kostet.« So war diese Akte verschwunden.

Zu Sowjetzeiten wurde Großvater ein paarmal festgenommen. Meine Mutter erinnerte sich daran, wie sie ihm regelmäßig die Essenspakete in die Untersuchungshaft gebracht hat. Doch da es über ihn keine Akte gab, ließ man ihn schließlich in Ruhe.

Etwa in den 1930er-Jahren lud das Finanzministerium meinen Großvater nach Moskau zu einem Vorstellungsgespräch ein. Doch Oma war dagegen. Sie war leidenschaftliche Ärztin, sprach Aserbaidschanisch, fuhr viel durch die Dörfer und behandelte sehr gerne die Menschen dort.