Auf dem Jägerstand - Kurt J. Jaeger - E-Book

Auf dem Jägerstand E-Book

Kurt J. Jaeger

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Beschreibung

Kurt J. Jaeger erzählt heitere und spannende Jagdgeschichten. Er hat als Revierpächter und Jagdaufseher schon viel erlebt. Aus diesem reichen Erfahrungsschatz berichtet er in seinem Buch. Etwa wie nach einem erfolgreichen Pirschgang das erlegte Bockkitz aus einer Felsspalte befreit werden muss. Von der Jagd mit Flinten auf Wildschweine in Afrika, die nicht nur wegen des unbekannten Geländes zu einem echten Abenteuer wird. Von einer Drückjagd, mit ihren strengen Regeln und wie dabei ein Rucksack verloren geht, der später unverhofft wieder auftaucht. Kurt J. Jaegers Geschichten sind teils komisch, teils bewegend, aber immer authentisch.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Lektorat: Elmar Tannert, Nürnberg

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Titelfoto: © Wolfgang Kruck – Fotolia.com

eISBN 978-3-475-54397-5 (epub)

Worum geht es im Buch?

Kurt J. Jaeger

Auf dem Jägerstand

Kurt J. Jaeger erzählt heitere und spannende Jagdgeschichten. Er hat als Revierpächter und Jagdaufseher schon viel erlebt. Aus diesem reichen Erfahrungsschatz berichtet er in seinem Buch. Etwa wie nach einem erfolgreichen Pirschgang das erlegte Bockkitz aus einer Felsspalte befreit werden muss. Von der Jagd mit Flinten auf Wildschweine in Afrika, die nicht nur wegen des unbekannten Geländes zu einem echten Abenteuer wird. Von einer Drückjagd, mit ihren strengen Regeln und wie dabei ein Rucksack verloren geht, der später unverhofft wieder auftaucht. Kurt J. Jaegers Geschichten sind teils komisch, teils bewegend, aber immer authentisch.

Inhalt

Vorwort

Schlagwetter

Der Gamsbock von der Mährenalp

Gefahr im Schnee

Der Rucksack

Jagd in den Wrangell Mountains

Auf Gämse im Tiefschnee

Steinwild am Naafkopf

Pattsituation

Hirschbrunft

Mit der Flinte auf Sauen

Tragische Entscheidung

Der Abschussplan

Tod auf der Treibjagd

Tricks am Makwasa River

Vorwort

Die Jagd ist in gewissem Sinne stets auch ein Sammeln von Erlebnissen. Einzelne Jagdepisoden sind so außergewöhnlich, dass sie sich ein Leben lang im Gedächtnis eines Jägers einprägen. Ob auf einer Safari im subtropischen Afrika oder in der eisigen Kälte Alaskas, es gibt immer wieder Vorkommnisse auf der Jagd, die nicht gerade alltäglich und es wert sind, aufgezeichnet zu werden.

Manchmal sind es Fahrlässigkeit, Leichtsinn oder das Überschätzen der eigenen Fähigkeiten, was unvorhersehbare und gefährliche Situationen heraufbeschwört. Gerade in den Bergen, wo eigene Naturgesetze herrschen, ist gebührender Respekt vor den unberechenbaren Elementen angebracht. Nicht selten erweist sich selbst jahrelange Erfahrung als nutzlos.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass viele am Stammtisch erzählte Jagdgeschichten dem allseits bekannten Jägerlatein zuzuordnen sind. Meist sind es humorvoll überzeichnete Erlebnisse, die jemand zum Besten geben will. Andererseits gibt es aber auch jene Nimrode, die sich gerne mit fremden Federn schmücken und mit fantasievollen Erzählungen ins Rampenlicht rücken wollen. Ein Kenner der Materie wird jedoch schnell erkennen, mit wem er es zu tun hat, und wo die Wahrheit liegt.

In den folgenden Kapiteln werden Ereignisse geschildert, die sich tatsächlich zugetragen haben und entweder vom Autor in seinen rund vierzig Jagdjahren persönlich erlebt, oder aber gewissenhaft recherchiert wurden. Die Namen der beteiligten Personen sind teilweise ersetzt worden. Vieles hat sich in dieser Zeit im Jagdwesen verändert, manchmal zum Vorteil, manchmal aber auch zum Nachteil der Waidmänner. Ausrüstung und Waffen wurden wesentlich verbessert, um dem Jäger bessere Chancen einzuräumen. Gesetzliche Vorschriften, Tourismus oder von Forstämtern durchgesetzte Verordnungen haben die Anforderungen an die Jagd wesentlich erhöht. Die Güte der Jagd, das Urige, hat jedoch dadurch gelitten. Straßen führen heute in die entlegensten Ecken eines Reviers. Erlegtes Wild wird vielfach mit dem Helikopter vom Erlegungsplatz in den Bergen ausgeflogen, um den händischen, mühsamen und zeitraubenden Transport des Wildbrets zu umgehen.

Wurde vor etlichen Jahren die Jagdkameradschaft noch großgeschrieben, so ist das gemeinsame Erleben auf und nach der Pirsch immer weniger gefragt, obwohl ein Erfahrungsaustausch nach wie vor wünschenswert wäre. Dieser kann aber nur stattfinden, wenn man sich Zeit nimmt, zuzuhören. Die durch beruflichen Druck knapper gewordene Zeit, die der Jäger im Revier verbringen kann, erweist sich als immer gewichtigerer Faktor.

Statt des gemeinsamen Waidwerks und gemütlichen Beisammenseins nach erfolgreicher Jagd sucht jeder Jäger mehr und mehr seinen eigenen Weg und meidet auch die Diskussion mit kritischen Beobachtern oder Jagdgegnern. Vielerorts verzichten Jäger auf den Besuch des Wirthauses nach der Jagd, um dort nicht mit respektlosen Bemerkungen belästigt zu werden. Die Hoffnung, dass in nächster Zeit ein Umdenken stattfinden wird, scheint in weite Ferne gerückt.

Schlagwetter

Die Ende Juli im Rheintal herrschende Sommerhitze schien an diesem Tag unerträglich, und so entschloss sich Kurt schon am frühen Morgen, ins Alpenrevier aufzubrechen, wo er sich die dringend notwendige Abkühlung erhoffte. Dort oben im Valüna-Hochtal auf rund 1600 Metern stand zudem die Chance nicht schlecht, gleichzeitig den seit Langem gesuchten Rehbock im Erlengebüsch oberhalb der Stallung Obersäss auszumachen. Wie viele Male war er jetzt schon den schmalen Pfad dort hochgestiegen, um sich hinter einem prominenten Felsblock einzurichten. Von dort hatte er nämlich über die Schlucht des Wildbaches hinweg einen guten Einblick in den dicht mit Erlengestrüpp bewachsenen Gegenhang.

Schon einige Male hatte er den Bock im Gewirr der Stauden ausmachen können und die gut geperlten Stangen sowie die perfekte Auslage bewundert. Auch die massiven und tief gezogenen Rosenstöcke waren ihm nicht entgangen.

Das richtige Alter musste er haben, davon war Kurt überzeugt, er schätzte ihn auf vier oder fünf Jahre. Schon mehrmals hatte er mit seiner Büchse im Kaliber .243 Winchester auf ihn angelegt, aber zum Schuss war er noch nie gekommen. Nie bekam er mehr als dessen Haupt und vielleicht einen Teil des Trägers zu Gesicht, doch für einen Trägerschuss über das Kar hinweg war es einfach zu weit. Das Risiko eines Fehlschusses war ihm zu hoch. Aber jetzt, zu Beginn der Blattzeit, würde der Bock wohl eher umherziehen, und vielleicht konnte er ihn auch aus der Deckung locken.

Also packte er seine Siebensachen, verstaute sie im offenen Ford MUTT und fuhr zielstrebig der schmalen Schlossstraße folgend nach Triesenberg, wo er die Abzweigung nach Malbun nahm. Die Nachmittagshitze lag wie ein Dunstschleier über dem weiten Rheintal, und selbst der Motor seines MUTT schien mit ihr seine Mühe zu haben. Doch mit zunehmender Höhe sank die Temperatur, und als Kurt in den Steger Tunnel einbog, fühlte er sich endlich der brütenden Hitze entronnen.

Erleichtert bog er nach dem Tunnelausgang dem Saminabach folgend ins Valünatal ein. Nach dem großen Parkplatz beim Stausee zog er auf der Naturstraße eine langgezogene Staubwolke hinter sich her. Sie holte ihn beim ersten Gatter ein, als er die eiserne Sperre wegschwenkte. Ein paar Rinder neben der Straße bestaunten neugierig das Gefährt, als er den Kuhfladen ausweichend weiterfuhr. Immer enger lehnten sich jetzt die Talseiten aneinander. Links drüben stiegen sie als zerfurchte Felswand senkrecht in die Höhe. Dann hatte er die Enge hinter sich. Das Tal öffnete sich, um weiter hinten steil ansteigend im Felsmassiv des Naafkopfs zu enden.

Schon von Weitem erkannte Kurt den silberfarbenen Jeep seines Jagdkameraden Silvio, der bei der Valüner Alpsennerei abgestellt war. Als er neben ihm anhielt, war Silvio eben im Begriff, seinen Rucksack zu schultern. Nach einer freudigen Begrüßung wurden schnell Informationen über den vorgesehenen Ansitzplatz ausgetauscht. Dabei verriet Silvio, dass er den Hochstand nicht weit von hier, unterhalb vom Sand, beziehen würde. Schließlich wurde abgemacht, sich bei Einbruch der Dämmerung wieder bei der Sennerei zu treffen, um in der kleinen Gaststube vielleicht ein Waidmannsheil zu feiern. Ein letztes Winken, dann brauste Kurt mit seinem MUTT auf der Bergstraße aufwärts, dem Talabschluss entgegen.

Bei der Abzweigung zum Waldboden hielt er kurz an. Von hier bot sich ein erster Einblick in den Steilhang oberhalb der Stallungen vom Obersäss. Auch heute vermutete er den Rehbock in der Gegend. Doch es regte sich nichts. Kein noch so kleiner braunroter Fleck leuchtete aus dem Grün des Erlengestrüpps hervor. Also fuhr er weiter die Serpentinen hoch und stellte schließlich sein Gefährt bei einer kleinen Ausbuchtung neben den alten Stallungen vom Obersäss ab. Von dort ging er die restliche Strecke zu Fuß über eine Grashalde bergwärts, bis zum Felsen, den er als Ansitzplatz ausgewählt hatte.

Eine Viertelstunde später hatte er den Felsblock erreicht und richtete sich dahinter gemütlich ein. Er wusste, dass es von jetzt an ein Geduldsspiel war. Entweder würde er den Bock ins Glas bekommen, oder aber er ging erneut als Schneider nach Hause. Ein Blick über den Gipfel des Naafkopfs zeigte die ersten brodelnden und rasch sich ausbreitenden Kumuluswolken. Etwas besorgt schaute Kurt nach Westen über den Grat des Rappensteins, wo eine dunkle Wand emportrieb. Hohe Cirruswolken hatten sich bereits vor die Sonne geschoben, und vom Alpsteingebiet her hörte er deutlich ein fernes Grollen. Offenbar war eines der üblichen Sommergewitter im Anzug. Aber noch war es nicht so weit. Falls die Göttin Diana gewillt war, ihm bald zum Jagdglück zu verhelfen, blieb noch genügend Zeit.

Er konzentrierte sich also erneut auf das Absuchen des Gegenhangs. In der Hoffnung, den Bock zu entdecken, spiegelte er geduldig in alle Lücken des Erlenbewuchs. Plötzlich zuckte er zusammen. Ein brauner Fleck war kurz zwischen Erlenstauden sichtbar geworden. War es der gesuchte Rehbock? Kurt suchte nun etwas nervös mit dem Glas die unmittelbare Umgebung ab. Die Zeit tickte dahin, ohne dass er etwas zu Gesicht bekam. Schon zeigte seine Uhr knapp vor halb acht. Es musste bald etwas geschehen, denn sollte er auf den Bock zu Schuss kommen, so musste er ihn auch noch in diesem Gewirr von Erlen finden, bevor die Dämmerung einsetzte.

Ein heftiger Windstoß ließ ihn aufblicken. Etwas besorgt sah er die kochende Wolkenbank, die sich jetzt drohend von Westen heranschob. Längst hatten sich die brodelnden Wolkentürme in unermessliche Höhen geschraubt und dort ambossförmig ausgebreitet. Ein »Cumulus Nimbus«, schoss es Kurt durch den Kopf. Er wusste, was dies zu bedeuten hatte. In Kürze würden Blitze mit gewaltigen Donnerschlägen um ihn herum in die Felsen einschlagen, und sein Gewehr würde zu einem gefährlichen Blitzableiter werden. Hier konnte in den nächsten Minuten der Teufel los sein. Kein Bock der Erde würde ihn dazu bringen, an diesem Platz zu verharren. Jetzt hieß es nur noch, sich möglichst schnell in Sicherheit zu begeben.

Schleunigst packte er daher seine Sachen zusammen, griff sich seine Büchse und hastete den Hang hinunter. Windböen griffen nach ihm, und das vor Kurzem noch helle Tageslicht wurde zunehmend düster. Plötzlich leuchtete die Gegend um ihn herum grell auf. Ein gewaltiger Donnerschlag folgte, und er fühlte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Der Geruch von Schwefel und verbrannter Erde drang in seine Nase. Dann war er bei dem Wagen. Er warf den Rucksack und das Gewehr in den Kofferraum und startete den Motor. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, raste er, halsbrecherisch die engen Kurven nehmend, die Serpentinen der Bergstraße hinunter. Dabei bewies sein MUTT wieder einmal, welch außergewöhnliches Gefährt er doch war. Die vielen Schlaglöcher und Rinnen der teilweise ausgewaschenen Schotterstraße nahm er kaum fühlbar auf und folgte präzise jeder Steuerkorrektur.

Dann schlugen die ersten schweren Regentropfen wie Kieselsteine gegen die Windschutzscheibe, trommelten auf das Stoffverdeck, prasselten fast schmerzhaft durch das offene Seitenverdeck auf Kurts Oberschenkel. Eine kurze Strecke durch einen mit Föhren und Fichten besetzten Waldstreifen schützte vorübergehend gegen die heftig fauchenden Windböen. Aufbäumend sprang das Fahrzeug aus tiefen Wasserdurchlässen hoch, klatschte voll einfedernd auf die Straße zurück. Doch jetzt hatte Kurt die Sennerei vor sich. Noch ein paar Hundert Meter, und er wäre dort in relativer Sicherheit. Inmitten hoch aufstiebenden Wassers durchfuhr er einen letzten Graben, dann kam er schlitternd vor der Sennerei zum Stehen. Mit einem Satz sprang er unter das Vordach, wo er Silvio geradezu in die Arme lief.

»Das war aber knapp«, meinte dieser mit gefurchter Stirn. »In Kürze wird hier die Hölle losbrechen. Die Schlamm- und Kiesmuren werden die Straße völlig unpassierbar machen.«

»Auf eine Nacht im Strohlager der Sennerei bin ich nicht gerade erpicht«, antwortete Kurt. »Wir sollten unbedingt versuchen, den Talausgang zu erreichen!«

Silvio nickte zustimmend und erwiderte: »Fahr du voraus. Ich bleibe direkt hinter dir!«

Es galt, keine Zeit zu verlieren. Der Regen fiel jetzt heftiger, und auf der Straße bildeten sich bereits die ersten Rinnsale. In Kürze würden sie zu reißenden Bächen anschwellen. Kurt rannte hastig zu seinem Wagen, schob sich hinter das Steuer und startete den Motor. In Sekunden war seine Hose völlig durchnässt. Das seitlich offene Verdeck hatte dem vom Wind gepeitschten Regen freien Durchlass geboten. Nicht nur die Sitze waren nass, auch im Fußraum stand bereits das Wasser. So schnell, wie es die Verhältnisse zuließen, raste Kurt mit seinem MUTT talauswärts. Mit jedem Meter schienen die Wassermassen, die herunterprasselten, anzuschwellen. Längst hatte er die Scheinwerfer eingeschaltet, denn das Tageslicht war innerhalb von Minuten einer unheimlich düsteren Finsternis gewichen. Durch die Windschutzscheibe sah er, wie sich vor ihm der schwarze Himmel gelblich färbte. Kein gutes Zeichen, dachte er.

Er hatte die Hälfte der Strecke zum Talausgang hinter sich und gerade die hölzerne Brücke passiert, die über den Bach führte, als erste Hagelkörner auf die Windschutzscheibe einprasselten. Sekunden danach war ihm die Sicht genommen. Er stemmte sich auf die Bremse, schlitterte ein paar Meter auf der überschwemmten Straße und sah mit Schrecken, wie sich jetzt ein Trommelfeuer von Hagel über die Gegend ergoss. Innerhalb von Minuten lag eine faustdicke Eisschicht über der Straße. Das Verdeck über ihm hing gefährlich durch, und das Hämmern hörte nicht auf. Die Scheibenwischer kamen ihrer Aufgabe schon längst nicht mehr nach. Er entschloss sich, das Risiko einzugehen und an der Windschutzscheibe vorbei nach vorne schauend weiterzufahren.

Hagelkörner schlugen schmerzhaft in sein Gesicht, als er sich langsam einen Weg durch das Eis bahnte, immer darauf bedacht, auf der Straße zu bleiben. Rings um ihn herum krachte und tobte es. Blitze schlugen gleißend ein. Der Höllenfürst persönlich schien Regie zu führen. Kurt ließ sich jedoch nicht beirren. Was immer es auch verlangte, er musste aus diesem Schlamassel heraus. Dann merkte er, wie der Hagelschlag plötzlich geringer wurde. Stattdessen rauschte nun der Regen, wie von einem Wasserfall gespeist, herunter und verwandelte die Straße augenblicklich in einen reißenden, mit Hagelkörnern vermischten Bach. Er fühlte sich wie auf der Kommandobrücke eines kleinen Schiffs, das durch die Fluten pflügt. Dann hatte Kurt die letzten Fichten des Bergwaldes hinter sich. Durch den dichten Regenschleier hindurch konnte er den völlig überschwemmten Parkplatz erkennen, aber auch die von den Hängen sich herunterwälzenden, schmutzigbraunen Wassermassen, welche tiefe Furchen in die Wiesen rissen.

Er schaute in den Rückspiegel, sah die tanzenden Lichter von Silvios Jeep und atmete auf. Bis hierhin hatten sie es also geschafft! Noch ein paar Hundert Meter, und sie wären in Sicherheit. Nur noch die schmale Straße entlang des Stausees bis zum Damm und dann, dem Saminabach folgend, den leicht abschüssigen Fahrweg bis zur Brücke. Längst waren seine Kleider vollgesogen und im Fußraum stand das Wasser knöcheltief. Er drückte auf das Gaspedal, steuerte konzentriert inmitten schäumender Wassermassen auf die schmale, geteerte Straße zu.

Noch immer konnten die Scheibenwischer der Wassermassen nicht Herr werden. Und so orientierte er sich stets mit einem Blick an der Windschutzscheibe vorbei nach vorne. Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und im Fußraum seines MUTT stieg das Wasser unaufhaltsam. Jetzt hatte er den Stausee hinter sich. Rechts konnte er schwach das Turbinenhaus erkennen. Das letzte Stück bis zur Brücke lag demzufolge vor ihm. Schon wollte er sich schon entspannt zurücklehnen, als er durch den Regenschleier hindurch etwas durch die Luft wirbeln sah. Ein Baumstamm schlug vor ihm auf die Straße, schnellte hoch und verschwand in den dreckigbraunen Wassern des wild schäumenden Saminabaches. Und dann sah Kurt mit Schrecken, wie sich vor ihm, keine zwanzig Meter entfernt, Felsbrocken in einer Schlammlawine treibend über die Straße ergossen.

Vom steilen Hang links vor ihm wälzten sich in aufgerissener Erde weitere Schlammlawinen mit großer Geschwindigkeit der Straße und dem Bach entgegen, schoben teils große Steinbrocken mit sich und ließen diese hinter sich auf der Straße liegen. Und immer wieder schlitterten vom Bannwald oberhalb der Wiese geschlagene Baumstämme den Hang herunter, krachten auf die überflutete Straße, rutschten in den brodelnden Bach. Ein Durchkommen schien hier völlig unmöglich.

Kurt wägte ab. Er kannte seinen MUTT, wusste um dessen Fähigkeiten im Gelände, die nicht zuletzt auf der wasserdichten Licht- und Zündanlage beruhten. Wie viele Wetten hatte er schon gegen die japanischen Geländewagen, Jeeps und Land Rovers gewonnen, weil sein MUTT so agil, leicht und mit allen möglichen Differenzialsperren ausgerüstet war! Sollte er es also wagen? Er konnte einzelne Felsbrocken erkennen, die aus dem Schlamm herausragten, sah auch die Holzstämme, die es nicht bis ins Bachbett geschafft hatten und nun halb verborgen unter dem Geröll lagen. Sie würden wohl das größte Problem sein, überlegte er. Kurz entschlossen zog er die Sperren für die beiden Differenziale und legte den ersten Gang ein, der als Geländegang ausgelegt war. Er wusste, dass es ein sehr gewagtes Unterfangen war und dass dabei vieles schiefgehen konnte. Schließlich obsiegte aber seine Risikofreude.

Das Steuer fest umklammernd trat er auf das Gaspedal und ließ die Kupplung los. Heulend drehte der Motor hoch und beförderte ihn mitten ins Geschehen. Schlamm spritzte hoch, schwappte über die Kühlerhaube, wusch klebrig über die Windschutzscheibe. Ein Schlag warf den Vorderwagen hoch, Metall knirschte, und der MUTT kippte nach rechts. Nur nicht in den Bach, dachte Kurt, denn er wusste, dass er damit verloren wäre. Er riss das Steuer herum und drückte das Gaspedal voll durch. Wühlend richtete sich der Wagen wieder auf, kletterte gleich darauf über einen Baumstamm, tauchte erneut in die dreckige Brühe, die sich nun beim Einstieg in den Wagen und über Kurts Oberschenkel ergoss. Links schwappte der Dreck hinein, und rechts floss er wieder hinaus. Den rechten Fuß unverrückbar auf dem Gaspedal, saß er mitten in der Brühe. Er wurde hin- und hergeschleudert, während der MUTT sich wie von selbst einen Weg durch die Masse von Felsen, Geröll und Schlamm suchte. Mehrmals drohte er in den Bach zu rutschen, und nur mit Gewalt und heulendem Motor kam er immer wieder nahe an die Stützmauer heran, die bergseits den Fahrweg eingrenzte. Polternd schlug ein von oben herabstürzender Fels hinter ihm in den Schlamm ein. Dreck und Gestein prasselten auf das straff gespannte Stoffverdeck. Heftige, knirschende Schläge erschütterten das Chassis, schüttelten vehement das Lenkrad in Kurts Händen. Und noch immer wühlte sich der MUTT unverdrossen durch den Schlamm, über die versteckt darunter liegenden Felsbrocken und Baumstämme. Es schien nichts zu geben, was ihn aufhalten konnte.

Kurt sah jetzt das Stahlgeländer der Brücke, drehte scharf nach rechts ab und fuhr geradewegs in die gurgelnden Wassermassen. Der Saminabach hatte die Brücke völlig überflutet. Unter dem Druck der Strömung rutschte der MUTT nach links und drohte, gegen das Geländer der Brücke gedrückt zu werden. Nur mit Mühe konnte Kurt den Wagen unter Kontrolle bringen. Doch dann schoss der Ford aus der brodelnden Lawine hinaus auf die breite und geteerte Straße, wo er, von Wasser umspült, erst einmal stehen blieb. Erst jetzt begannen Kurts Hände zu zittern, und er spürte zum ersten Mal schlottrig die Kälte der durchtränkten und völlig verdreckten Kleider am Leib. Er war gerettet!

Doch dann schaute er sich um. Wo war Silvio geblieben? Nirgends konnte er dessen silbrig grauen Jeep sehen. War er in den reißenden Saminabach gespült worden? Kurt wollte schon aussteigen, um nachzusehen, als er den Wagen heranrollen sah.

»Verdammt, wo kommst du denn her?«

»Ich bin einen Umweg gefahren und dann beim Damm auf die andere Seite des Saminabaches gelangt. Von dort drüben kann man die verheerende Verwüstung sehen, die durch das Schlagwetter verursacht wurde!«

»Gut gemacht, Silvio! Wie du siehst, bin ich den direkten Weg gefahren, aber frage mich nicht, wie ich da durchgekommen bin.«

»Ich habe den Anfang deiner Odyssee gesehen, und das hat mir gereicht. Ich wäre da niemals durchgekommen.«

Kurt nickte bedächtig. Er hatte gerade erlebt, wie knapp man einer Katastrophe entrinnen kann.

Silvio meinte, dass man nach diesem Unwetter erst einmal im Bergstübli einen Schnaps zu sich nehmen sollte. Aber Kurt lehnte ab. Lieber wollte er sich der verdreckten Kleider entledigen und dann ein heißes Bad nehmen.

Und so fuhren sie ins Tal, wo ihre Wege sich trennten, Kurt ins Unterland und Silvio nach Triesen, wo das Schlagwetter Hunderte von Kubikmetern Schlamm vom Bergdorf Triesenberg bis ins Dorf gespült hatte.

Noch tagelang war die Feuerwehr damit beschäftigt, die überfluteten Keller und Garagen auszupumpen.

Der Gamsbock von der Mährenalp

Noch war es stockdunkel, als Ossi mit seinem Geländewagen beim Haus seines Jagdgenossen Kurt in Eschen vorfuhr, der ihn bereits ungeduldig erwartete und nach einer kurzen Begrüßung seinen vollgepackten Rucksack samt Gewehr in den Wagen schob. Dann ging es durch leere Straßen in Richtung Feldkirch. Der österreichische Zöllner an der Grenze hing verdächtig vornübergebeugt über seinem Schreibtisch, hob nur ein wenig den Kopf und winkte die beiden Frühaufsteher nur müde weiter. Hin und wieder leuchteten ihnen die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeuges entgegen. Auf der Fahrt wurde kaum ein Wort gesprochen. Es schien, als ob beide in einer Art von Dämmerzustand die Zeit nutzen wollten, um die teilweise verlorene Nachtruhe nachzuholen.

Nach knapp einer halben Stunde bog Ossi nach links ab und folgte einer zwischen Föhren und Fichten verlaufenden Waldstraße. Im Osten über dem Arlbergmassiv zeigte sich zaghaft ein grauer Streifen am Firmament. Dann drehte der Wagen auf einen kleinen Kehrplatz ein. Im Scheinwerferlicht reflektierten die Rücklichter eines dort abgestellten Autos, daneben rekelte sich die Gestalt des örtlichen Jagdaufsehers vor der Kühlerhaube. Die beiden Jäger aus dem Liechtensteinischen waren dort angekommen, von wo der Aufstieg auf die Alp Märe beginnen würde. Es folgten ein freudiges Händeschütteln und mit einem Blick in den Nachthimmel das Rätseln, ob der Tag das versprochene gute Wetter halten würde.

Jagdaufseher Toni mahnte zum Aufbruch, schließlich wollte man die Kammlinie möglichst früh erreicht haben. Von dort durfte man den Anblick von möglichen Abschussgämsen erwarten. Also wurden die Rucksäcke und Gewehre geschultert, die Bergstöcke hervorgeholt und im Lichtstrahl der Taschenlampen der beste Übergang über den wild zerklüfteten Wildbach gesucht. Stolpernd erreichte die Gruppe schließlich die gegenüberliegende Uferböschung, von wo es ohne Übergang auf rutschigem Pfad extrem steil aufwärts durch eine mit senkrechten Felsen durchzogene Wand ging. Knorrige, sich in der spärlichen Erde verkrallende Fichten boten immer wieder einen willkommenen Halt gegen das Abrutschen.

Es wurden zunehmend kurze Atempausen nötig, um den nun rasenden Puls zu beruhigen. Ohne eine gewisse Strecke zum Einlaufen wurde der plötzliche, fast senkrechte Aufstieg zu einer Höllenqual. Beinmuskeln drohten zu kollabieren. Doch nach einer halben Stunde wurde ein kleines Plateau erreicht. Der Schweiß brannte in den Augen, aber gemäß Toni lag das Schlimmste nun hinter ihnen. Von hier führte der Pfad in Serpentinen stetig aufwärts. Der Himmel verblasste zunehmend, und im Osten leuchtete bereits rötlich gelb der Horizont über den Tiroler Bergen. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen wie Blitze über die fernen Gipfel brechen.

Der Baumbestand lichtete sich, nur noch einzelne Föhren begleiteten den Steig zur Baumgrenze, und dann kam nackter Fels. Der Pfad wurde schmaler, schmiegte sich eng an senkrechte Felswände, wand sich durch Abbrüche und endete schließlich auf einer spärlichen Grasnarbe. Sie hatten den untersten Rand der Alp erreicht. Ein paar Hundert Höhenmeter über Steilstufen und an einer kleinen Alphütte vorbei mussten sie sich noch aufwärtsquälen. Dann hatten sie es endlich geschafft. Vor ihnen lag die Kammlinie, von der sie eine hervorragende Einsicht in ein Hochtal hatten, das sich unter ihnen nach Westen zog. Keine Wolkentürme störten den erwachenden Tag. Auf über 2000 Metern Höhe erlebten sie einen wunderschönen Sonnenaufgang mit Blick über den Arlberg, die Schweizer Alpen und die Lechtaler Gipfel. Zunächst aber wechselten sie die nass geschwitzten Hemden und griffen dann zum Fernglas, um die Berghänge nach Gämsen abzusuchen.

Doch am gut einsehbaren Gegenhang, der jetzt von den ersten Sonnenstrahlen erleuchtet wurde, konnte auch nach Minuten genauen Absuchens kein Wild festgestellt werden. Die Bühne war leer.

»Die haben sich in den Schatten zurückgezogen«, meinte der Jagdaufseher Toni. »Abwarten, möglicherweise tauchen sie plötzlich auf unserer Talseite bei den Felsen dort drüben auf.«

Er meint wohl diese hausgroßen Granitklötze, die auf halber Hanghöhe ein Labyrinth von schattigen Passagen mit überhängenden Felsen bieten, dachte Kurt und widmete sein Augenmerk nun vermehrt diesem Ort. Er schreckte hoch, als Ossi ihn plötzlich in die Rippen stieß und hinter ihn deutete.

»Schau mal da runter in die Steilwand!«

Toni und Kurt drehten sich langsam um und blickten über den kaum einen Meter entfernten, senkrecht abfallenden Abbruch, der mehrere Hundert Meter tiefer in ein Geröllfeld überging. Noch weiter unten zeigte sich das Dorf Dalaas im Klostertal wie eine Miniaturdarstellung. Für einen Moment konnten die beiden nicht glauben, was sie da sahen. Keine fünfzig Meter entfernt standen, wie aufgereiht und an die Felswand geklebt, vier kapitale Steinböcke. Obwohl diese jetzt auf die über ihnen flüsternden Berggänger aufmerksam geworden waren, zeigten sie absolut keine Scheu.

»Da siehst du wieder einmal, wie die vier Altväter da unten ihre Überlebenschancen einschätzen«, sagte Ossi nach einer Weile.

»Was meinst du?« Kurt zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ist doch klar, ein Abschuss von hier würde den Bock ein paar Hundert Meter tiefer als Gulasch enden lassen, und die gute Trophäe wäre bestimmt nur noch in kleinen Einzelteilen zu finden.«

Toni nickte bedächtig. »Irgendwann treten sie aus der Wand heraus, um zu äsen, und dann wäre der Augenblick gegeben. Jetzt sind sie aber sowieso noch geschützt, und sie scheinen das auch zu wissen.«

Sieht danach aus, dachte Kurt und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Gruppe von Felsblöcken zu, die etwa dreihundert Meter entfernt wie riesige, bizarre Gedenksteine im Schattenhang eingebettet lagen. Aber dort regte sich noch immer nichts. Der Wind stand gut und konnte daher unmöglich die Gämsen gewarnt haben. Toni war inzwischen damit beschäftigt, den Gegenhang erneut mit seinem Spektiv zu inspizieren, derweil Ossi mit seinem Glas das Hochtal absuchte.

Plötzlich ruckte Toni zusammen. Mit einem festen Griff fasste er den neben ihm sitzenden Ossi an der Schulter. »Teifi eini, da schau mal hinein. Der sollte passen. Er ist wohl gerade aus seinem Lager hochgekommen.«

Ossi ließ sein Glas in den Tragriemen fallen und versuchte einen Blick durch das eingestellte Spektiv. Auch Kurt richtete sein Glas in die ungefähre Richtung.

»Was meinst du, Toni?«, fragte Ossi nervös.

»Hat vielleicht um die acht Jahre herum. Wir müssen den Bock noch etwas genauer ansprechen.«

Jetzt hatte auch Kurt die Gams als kleine dunkle Figur in seinem 7-x-42-Swarovski. Aber ohne Spektiv war ein genaueres Ansprechen unmöglich. Also versuchte er sein Glück ebenfalls mit einem Blick durch das 30-fache Fernrohr. Er musterte den starken Träger, die leicht verwaschenen Zügel und den starken Körperbau der Gams. Acht Jahre hatte Toni gesagt. Das könnte in etwa hinhauen, wägte er ab und schätzte erneut die Höhe der Krucken.

»Ich würde sagen, der hat schon fast ein Jahrzehnt auf dem Buckel. Der Rücken hängt nämlich schon etwas durch«, mutmaßte Kurt und überließ Toni erneut den Blick durch das Spektiv. Der nahm sich Zeit, schien unschlüssig, murrte leise vor sich hin. Hin und wieder wackelte er mit dem Kopf oder schürzte seine Unterlippe.

»Könntest recht haben, Kurt. Wenn du willst, Ossi, könnten wir versuchen, den Bock anzugehen. Allerdings haben wir von hier überhaupt keine Deckung, und der Bock könnte jeden Augenblick abspringen.«

»Dann probieren wir’s von hier. Mit einer guten Auflage und meiner neuen Blaser-Büchse sollte es möglich sein«, sinnierte Ossi.

»Ich schätze die Distanz auf etwas unter 300 Meter, aber wenn du glaubst, du kriegst das hin mit deiner Blaser, dann wohlauf.«

Ossi überlegte nicht lange. Der Bock hatte stark verpechte und hohe Krucken. Eine wahrhaft großartige Trophäe. Es würde ein etwas waghalsiger Schuss werden, aber bei diesem Licht und der ganz leichten Brise sollte es möglich sein. Also rutschte er hinter seinen Rucksack, legte die Kipplaufbüchse drauf und schob eine .270er-Winchester ins Patronenlager. Währenddessen legte sich Toni hinter sein Spektiv, um den Einschlag und die Wirkung der Kugel zu sehen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Ossi seiner Sache sicher war. Dann bellte endlich der Schuss, hallte mit donnerndem Echo von den steilen Felswänden, verlor sich in der kühlen Morgenluft.

»Überschossen!«, kläffte Toni. »Die Kugel ist etwa 30 Zentimeter über der Gams ins Geröll eingeschlagen.«

»Verdammte Scheiße, ich kann diese leichte Büchse nicht ruhig halten. Bei jedem Herzschlag springt mir das Fadenkreuz aus dem Ziel«, entrüstete sich Ossi, merklich sauer ob des Fehlschusses.

»Der Bock steht«, flüsterte Toni jetzt aufgeregt. »Er ist nur ein paar Schritte vorgezogen und verharrt wieder. Er wundert sich wohl, was das Ganze soll. Versuch es noch mal.«

Ossi hatte bereits eine neue Patrone in den Fingern, die er jetzt hastig lud. Durch das Zielfernrohr konnte er deutlich beobachten, wie trotz fester Auflage das Fadenkreuz auf dem Bock herumtanzte. Es schien einfach unmöglich, auch nur einen Augenblick auf dem Blatt zu verharren. Und wieder verfluchte er in Gedanken die neue Büchse, die ihm vor ein paar Tagen vom Verkäufer in höchsten Tönen aufgeschwatzt worden war. Supergenau sei sie und auch superleicht, daher speziell für die Bergjagd geeignet. Das Schussbild, das er ihm nach Montage des Zielfernrohrs gezeigt hatte, schien dies auch zu beweisen. Drei eng beieinanderliegende, kreisrunde Löcher und vier Zentimeter über dem Zentrum der Anschussscheibe waren da zu sehen gewesen.

Endlich brach der Schuss. Die Büchse schlug hoch, und Toni am Spektiv stieß einen handfesten Fluch aus. »Himmel, Arsch und Zwirn, wieder gefehlt«, zischte er gut hörbar. »Diesmal knapp über der Schulter in die Legföhren! Er hat sich jetzt schräg nach oben abgesetzt. Mit etwas Glück bleibt er vielleicht noch mal stehen.«

Ossi biss sich auf die Lippen und legte zur Vorsicht schon mal eine Patrone nach. Er verstand die Welt nicht mehr. Klar wusste er, dass er etwas nervös war, aber beim Schuss hatte er stets die Nerven behalten. Doch es war wie verhext. Mit diesem Gewehr schien dies unmöglich. Etwas war oberfaul an dieser neuen Büchse.

»Der Bock verharrt etwa dreißig Meter höher und blickt zurück. Schnell, du kannst es noch einmal probieren«, informierte Toni, der die kurze Flucht der Gams durch das Spektiv beobachtet hatte. Innerlich war er am Boden zerstört. In all den vielen Jagdjahren hatte er so ein Dilemma mit Ossi noch nicht erlebt. Was war denn bloß los? Er blickte hinüber, um zu sehen, wie dieser sich erneut zum Schuss bereit machte.

»Immer mit der Ruhe, Ossi. Halte etwa zehn Zentimeter über die Gams. Ich schätze, die 270er ist dann genau auf dem Blatt.«

Als ob ich das nicht selber wüsste, dachte der Schütze und versuchte ein weiteres Mal mit viel Ärger im Bauch, das Fadenkreuz ins Ziel zu bringen. Kurt hielt sich gerade noch die Ohren zu, als bereits der Schuss brach. Das war aber schnell, dachte er für sich und schaute hinüber zu Toni, der angestrengt durch sein Fernrohr starrte. »Er liegt. Du hast ihn genau aufs Blatt getroffen«,

schrie dieser hocherfreut auf.

»Waidmannsheil!«, ergänzte Kurt, erlöst vom angespannten Warten auf einen Treffer aus Ossis neuer Büchse. Er konnte sehen, wie der Bock ein paar Meter durch die karg stehenden Legföhren talwärts rutschte, dann aber hängen blieb.

»Diese hochgelobte, aber beschissene Büchse werfe ich ins nächste Tobel hinunter«, lamentierte Ossi zähneknirschend. »Da lob ich mir die alte Steyr, mit der ich immer ruhig ins Ziel fahren konnte.«

»Diese Blaser ist für dich und dein nervöses Getue einfach zu leicht«, stellte Kurt fest, nachdem er die neue Büchse in den Händen balanciert und ein paar Ziele anvisiert hatte. »Mit diesem Ding darfst du beim Zielen keinen Schnaufer tun, sogar der Herzschlag kann das Fadenkreuz aus dem Ziel bringen.«

Toni hatte gespannt zugehört und dann die Büchse ebenfalls kritisch inspiziert. An Ossi gewandt, sagte er: »Kurt hat da sicher etwas Wichtiges bemerkt. Ich denke auch, dass eine Büchse ein gewisses Gewicht haben sollte, um das Pochen des Herzens zu kompensieren. Diese Kipplaufbüchse ist bei anstrengender Bergjagd für den schnellen Schuss zu leicht.«

Ossi schnaubte etwas Unverständliches und nahm das Gewehr wieder an sich. Ob er es wirklich ins nächste Tobel hinunterwerfen wird?, fragte sich Kurt. Er konnte es nicht glauben. Wahrscheinlich würde er versuchen, beim Büchsenmacher einen Tausch vorzunehmen.

»Ich hole jetzt die Gams. Ihr beide bleibt besser hier und weist mich ein. Man kann auch nie wissen, ob der Bock nicht plötzlich wieder hochkommt!«, rief Toni, während er in langen Sprüngen den Hang abwärts eilte. Bald stieg er den Gegenhang hoch. Hin und wieder blieb er stehen und schaute zurück. Dann gab ihm Ossi mit ausgestrecktem Arm die Richtung vor. Inzwischen machte sich Kurt daran, ebenfalls ins Tal abzusteigen. Toni konnte alle Hilfe brauchen, um den Bock vom Talgrund zum Grat hochzuziehen. Er war denn auch dankbar, als Kurt am Fuße des Hanges auf ihn wartete. Neugierig fühlte dieser die verpechten Schläuche, versuchte die Jahrringe zu zählen.

»Ich komme auf neun Jahre«, meinte er nach einer Weile mit einem Blick auf den neben ihm knienden Toni.

»Schon möglich. Bei einem ersten Blick dort oben beim Anschuss hab ich ihm sogar zehn gegeben.«

»Auch recht. Da hat Ossi aber wirklich Dusel gehabt. Schießt zwei Mal daneben und hat dann noch die Chance auf einen dritten Versuch. Das kommt nicht häufig vor«, sinnierte Kurt, während er noch den Ausschuss kontrollierte. »Das Nosler Geschoss hat leider eine Rippe erwischt, aber der Schaden hält sich in Grenzen.«

Toni brummte etwas von »bedeutungslos« und klappte sein Schweizer Militärmesser auf.

»Du könntest mir die Vorderläufe halten. Dann geht’s etwas schneller.«

Kurt kam dem Wunsch gerne nach. Minuten später war die blutige Arbeit verrichtet. Über ihnen kreisten bereits ungeduldig zwei Kolkraben, die es auf die Innereien abgesehen hatten. Toni war heilfroh, dass Kurt anschließend kräftig mithalf, den Bock den Hang hinaufzuziehen. Schweißgebadet erreichten sie schließlich die Kammlinie, wo Ossi, wie auf glühenden Kohlen sitzend, wartete.

»Und, hat er das Alter?«, wollte er schon von Weitem wissen. Toni hob bloß seinen Daumen in die Höhe. Er war zu abgekämpft, um eine Antwort zu geben. Und so kam Ossi ihnen entgegen und half ihm auf den restlichen Metern zum Rastplatz. Dort versuchte auch er, sorgsam die Jahrringe an den Schläuchen zu zählen. Wegen der verhärteten Harzschicht gefegter Legföhren, dem sogenannten Pech, blieb es aber eher ein Ratespiel.

»Könnte wohl das Alter haben«, äußerte er nach einer Weile.

»Und verflucht schwer ist er auch. Der wiegt ausgenommen immer noch an die 30 Kilo«, kommentierte Toni schwer atmend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann aber ging er ein paar Schritte Hang hinab und schnitt einen Zweig von einer Legföhre, den er über die schweißende Schusswunde strich. Inzwischen kramte Kurt einen Flachmann, gefüllt mit bestem Zwetschgenwasser, aus seinem Rucksack, um dem Waidmannsheil die nötige Unterstützung zu geben.

Ossi kannte das Prozedere. Mit ernster Miene nahm er den Schützenbruch von Toni entgegen und steckte ihn auf seinen Hut.

»Waidmannsheil auf deinen guten Bock, Ossi!«

Ossi lächelte, als er Tonis ausgestreckte Hand fasste. »Waidmannsdank, Toni. Dianas Wohlwollen war anscheinend auf meiner Seite.«

Kurt hatte bereits drei kleine Zinnbecher randvoll angefüllt und teilte sie aus.

»Waidmannsheil!«

Mit einem kurzen Zug gossen sie sich den Inhalt in die Kehle. Toni bestätigte sogleich mit einem Kopfnicken die Qualität des Zwetschgenwassers. »Hausgebrannt? Die richtige Medizin zum Erfolg. Wohl bekomm’s.«

Die Sonne wärmte jetzt aus einem wolkenlosen Firmament. Eine leichte Brise wehte vom Tal hoch. Von den fernen Schweizer Berggipfeln leuchtete der erste Schnee im Kontrast zum blauen Hintergrund. Es war einer der seltenen Novembertage in den Bergen, die sich mit angenehmer Temperatur und stahlblauem Himmel ein letztes Mal gegen den baldigen Winter zu wehren schienen. Eine fast unwirkliche Stille lag über dem Hochtal. Nur das Krächzen einzelner Dohlen störte von Zeit zu Zeit die Ruhe.

»Wenn man da so sitzt und in dieser Stille die Berge auf sich einwirken lässt, könnte man religiös werden«, sagte Kurt plötzlich. Man konnte ihm ansehen, dass er meinte, was er sagte. »Irgendwann werde ich vielleicht darüber schreiben.«

»Eine gute Idee, aber das haben andere schon lange getan. Ganghofer war nur einer von vielen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber man erlebt es immer wieder anders.«

Für eine ganze Weile fiel kein Wort. Sie alle schienen nachzudenken und sich den wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Rücken hinzugeben. Die Zeit spielte keine Rolle. Diesen Tag wollte man bis zum Schluss genießen. Nach der Ruhestörung durch die Schüsse würde die Jagd auf die Gämse erst einmal vorbei sein. Kurts Absicht, ebenfalls zum Schuss zu kommen, musste notgedrungen auf den Nachmittag verschoben werden. Bis dahin würde sich das Wild wohl wieder beruhigt haben und möglicherweise wieder ins Tal einwechseln.

Der trockene Boden fühlte sich angenehm warm an und lud dazu ein, die Zeit mit einem Mittagsnickerchen zu vertreiben. Binnen Kurzem waren Ossis schnarchende Atemzüge zu vernehmen, und auch Kurt gab Töne von sich, die an einen auftauchenden Seehund erinnerten. Nur Toni blieb tätig, indem er den Gamsbock zur nächsten Legföhre schleppte und ihn, mit Ästen zugedeckt, in deren Schatten auslüften ließ. Dann aber gönnte auch er sich ein erholsames kurzes Schläfchen.

Es war früher Nachmittag, als Toni wieder erwachte und seine Jagdkameraden wachrüttelte.

»Es ist Zeit für einen Aser. Danach müssen wir langsam wieder nach Gämsen Ausschau halten.«

Schlaftrunken setzten sie sich zusammen und holten aus den Rucksäcken die Vorräte, die ihre Frauen sorgfältig eingepackt hatten. Salami, Landjäger, Käse, hartgesottene Eier und Brot wurden auf bunten Tüchern ausgelegt und durch diverse Getränkeflaschen und Bierdosen ergänzt. Man aß schweigend mit stetem Blick auf die steilen Hänge des Hochtales.

»Jetzt fehlt nur noch ein Espresso mit einem tüchtigen Schluck Grappa«, meinte Kurt plötzlich.

»Schnaps haben wir genügend. Es fehlt nur der Kaffee«, sagte Toni. Dabei zog er eine unscheinbare, unetikettierte Flasche aus dem Innern seines weiten Rucksackes. »Echt hausgebrannter Trester als Dessert!«

Kurt nickte anerkennend und bestand darauf, sogleich eine Kostprobe zu bekommen. Die Stimmung war bald auf dem Höhepunkt. Witze machten die Runde, und Toni erzählte von Erlebnissen, die er in letzter Zeit auf der Jagd gemacht hatte. Die Zeit verging im Nu, und Kurt mahnte zur Vorsicht. Er wollte die Gelegenheit zu einem passenden Stück Wild nicht verpassen. Eine Chance bot sich ihm mit einem Mal, als Toni, durch sein Spektiv spähend, nach links deutete: »Dort drüben, eine einzelne Gams.«

Alle Gläser richteten sich augenblicklich in die genannte Richtung, und Kurt konnte plötzlich den dunklen Körper erkennen, der sich durch die Legföhrenbestände auf eine offene Grasfläche zubewegte.

»Kannst du erkennen, was es ist?«

Toni schüttelte den Kopf. Noch war er nicht sicher, ob es ein Bock oder ein einzelnes weibliches Stück war. Doch dann verhielt die Gams kurz und schaute sich am Rand der Legföhren um.

»Ein Bock«, zischte Toni überzeugt. »Eng gestellt. Den könnte ich zum Abschuss freigeben.«

Kurt hatte seine Büchse bereits in Griffnähe. »Wie alt schätzt du ihn ein?«

Toni ließ sich Zeit. »Schätzungsweise etwa genauso alt wie der von heute Morgen. Die Zügel sind schon ziemlich verwaschen«, gab er schließlich zur Antwort. »Mach dich bereit. Es sind etwas über 150 Meter.«

Kurt war bereits in Bauchlage, hatte seinen Rucksack vor sich aufgebaut und seine Mauser-Büchse darauf gelegt. Langsam schob er die 7-mm-Remington-Magnum mit dem Verschluss aus dem Magazin ins Patronenlager. Im neunfachen Zielfernrohr konnte er jetzt deutlich die eng stehenden Krucken erkennen.

»Warte noch, bis er breit steht«, warnte Toni. »Jetzt – blas ihn um!«

Kurt fuhr mit dem Fadenkreuz knapp hinters Blatt und zog den Abzug langsam durch. Noch im Hochschlagen des Laufes konnte er sehen, wie der Bock auf den Schuss hin zusammenklappte und sich talwärts überschlug. Von den Felswänden schlug das Echo des Schussknalls donnernd zurück, verlor sich dann widerhallend talauswärts. Blitzschnell lud er nach und fasste mit dem Fadenkreuz erneut die nun liegende Gams. Aber der Bock blieb regungslos liegen.

»Waidmannsheil!«, jubelte Ossi, und Toni schlug dem Schützen kräftig auf die Schulter.

»Guter Schuss. Da rührt sich nichts mehr«, doppelte Toni nach. Kurt sicherte gleich seine Mauser-Büchse und folgte Toni den Hang abwärts. Zusammen zogen sie die Gams zu der nahen Felsgruppe, wo Toni sofort mit dem Aufbrechen begann. Kurt versuchte derweil, die Jahrringe an den Krucken zu zählen.

»Ich komme nur auf sieben Jahre«, sagte er stirnrunzelnd.

»Spielt auch keine Rolle. Es war sowieso ein Abschussbock«, beruhigte Toni, nachdem er die Krucken ebenfalls einer näheren Prüfung unterzogen hatte. Von der nächsten Legföhre schnitt er zwei Zweige herunter, steckte einen davon der Gams in den Äser und übergab den andern Kurt gemäß altem Waidmännischen Ritual. Danach zogen sie den Bock zusammen zum Grat hoch und legten ihn zum Auskühlen neben den sichtlich schwereren Bock von Ossi.

Der Gratulation von Ossi folgte sogleich eine Runde Vogelbeerschnaps, und dann setzten sie sich ins knappe Gras. Kurt war überglücklich, hatte sich doch das Warten gelohnt. Ossi hatte seinen Erntebock, und er selbst durfte sich über einen guten Abschuss freuen. So etwas musste gehörig gefeiert werden. Noch war ein stärkender Aser angesagt, bevor man die beiden Gamsböcke den langen Weg ins Tal trug. Fröhlich schwatzend saßen sie beim Essen, als Kurt mit einem vielsagenden Blick seinen Rucksack zu sich zog. Zur großen Überraschung der Jagdgefährten hielt er kurz darauf eine Flasche Wein in der Hand.

»Ein Pinot Noir aus dem Wallis. Gerade richtig, um unseren Erfolg zu feiern.«

»Eh, langsam, Kurt. Wir müssen heute noch gesund ins Tal gelangen«, feixte Ossi, während Toni freudig mit der flachen Hand auf seine Schenkel schlug.

»Das lass ich mir gefallen. Ein würdiger Abschluss ist es allemal, und das Tragen des schweren Gamsbocks wird dadurch wesentlich leichter«, meinte Toni hell auflachend. Kurt zog den Korken, roch gewohnheitsmäßig daran und goss dann zufrieden den Wein in die Plastikbecher, die er mitgebracht hatte.

Die Zeit verging und der Inhalt der Flasche ging zur Neige. Sie entschlossen sich zum Aufbruch, denn die Sonne näherte sich schon dem hohen Säntismassiv im Westen.

»Ich muss noch schnell meine Hosen kehren«, klagte Toni plötzlich etwas verlegen. Rasch verschwand er hinter der nahen Felsgruppe, um seinem Bedürfnis nachzukommen. Kurt schien darauf gewartet zu haben, denn er sprang auf und sammelte in der näheren Umgebung größere Felsbrocken auf, die er flugs zu den im Schatten abgelegten Gämsen trug.

»Was hast du vor?«, fragte Ossi verwirrt.

»Toni wird uns wieder einmal zeigen wollen, wie man eine Gams zu Tale trägt. Ich will es ihm heute nur ein bisschen schwerer machen«, antwortete Kurt mit einem schadenfrohen Grinsen. Hurtig packte er die Steine ins Innere von Ossis aufgebrochenem Gamsbock und schnürte hastig die Läufe zusammen. Dann zog er das Tier die paar Meter zum Rastplatz. Ossi hatte gespannt Kurts Aktion beobachtet, aber er gab dem Versuch, Toni einen gewichtigen »Bären« aufzubinden, wenig Chancen. Er würde es beim Aufbinden auf seinen Rucksack garantiert bemerken. So viel ließ er Kurt denn auch wissen.

»Keine Sorge«, meinte dieser, »wir zeigen unsere Hilfsbereitschaft, indem wir anbieten, den Bock für ihn bei seinem Rucksack einzuhaken, wenn er ihn schon auf dem Rücken hat.«

»Wenn er es aber später mitkriegt, wirst du schleunigst das Weite suchen müssen«, gab Ossi leise lachend zu verstehen. Dann stieß er Kurt in die Seite. »Er kommt.«

»Oh, wie ich sehe, habt ihr den Bock schon transportfähig gemacht«, sagte Toni anerkennend, als er die festgeschnürten Fesseln von Ossis Gams bemerkte.

»Nun, wir dachten, diese Arbeit könnten wir dir abnehmen. Wir haben ja noch einen langen Weg bis ins Tal«, sagte Kurt mit ernster Miene. »Sobald du den Rucksack umgebunden hast, hängen wir dir den Bock am Haken ein.«

So wurde es denn auch gemacht.

»Der ist schwerer, als ich dachte«, ächzte Toni. Er zog die Schultergurte zurecht und wartete, bis Kurt seinen Bock am Zugseil hatte. Dann zogen sie langsam los. Zuerst über die leicht abfallende Alpwiese, dann an senkrechten Felsen entlang steil abwärts. Hier blieb Toni das erste Mal schnaufend stehen.

»Verdammt, der Bock hat aber ein Gewicht drauf! Ist mir vorhin beim Bergen vom Gegenhang gar nicht so aufgefallen.«

»Nun, da habe ich dir noch mit dem Ziehen geholfen«, beschwichtigte Kurt, der für die kurze Rast ebenfalls dankbar war, denn seine Gams versuchte beim Ziehen stets, über den schmalen Pfad hinaus und hangabwärts wegzuschlittern. Er musste sich mit Ossi als Bremser gewaltig anstrengen, um sie wieder auf den Weg zu bringen. Fünf Minuten später waren sie wieder steil abwärts unterwegs. Immer öfter klagte Toni nun über das Gewicht auf seinen Schultern. Er konnte diese Schwierigkeiten nicht verstehen. War vielleicht der gestrige Abend in der Wirtshausstube schuld an seiner momentanen Schwäche? Sicher, es waren ein paar große Bier gewesen, die er sich im Kreise seiner Berufskollegen genehmigt hatte. Vielleicht waren es aber auch die paar Schnäpse gewesen, die danach vom Nachbartisch spendiert worden waren und sich nun rächten.

Wie viele Male hatte er ähnlich große Gämsen von der Mährenalp zu Tal getragen, und nie hatte ihn dies so fertiggemacht. Seine Knie begannen schon zu zittern. Immer häufiger blieb er daher ächzend stehen, um die Rucksackträger auf den Schultern zurechtzurücken. Er konnte es nicht fassen, dass die aufgebundene Last beim Abwärtssteigen ihm so sehr in die Knie schoss. Er schwor sich, dem Wirtshaus von nun an fernzubleiben, sollte er am nächsten Tag wieder mit einem Gast zur Gamsjagd hochsteigen müssen.

Ein Dutzend Meter hinter Toni kämpfte Kurt immer wieder mit seiner vom Pfad rutschenden Gams, obwohl sie von Ossi mit einem um die Hinterläufe geknüpften Seil gebremst wurde. Es war ein qualvoller Abstieg, der nur mit der Aussicht auf ein kühles Bier im Tal erträglich schien. Endlich hatten sie das kleine Plateau über dem fast senkrechten Abhang zum Flussbett des Bergbaches erreicht. Eine kleine Pause schien angebracht. Toni nützte die Zeit, um endlich seine Last am Rücken für ein paar Minuten loszuwerden.

Hoffentlich schaut er jetzt nicht nach der Gams, dachte Kurt entsetzt. Ossi hingegen hatte sogleich ein schadenfrohes Grinsen um seine Lippen, als er an die Möglichkeit dachte. Sein Jagdkumpan Kurt würde wohl mit oder ohne Gams schleunigst das Weite suchen müssen, um Tonis Rache zu entgehen. Aber dieser hatte andere Sorgen. Gurgelnd goss er den Rest in seiner Wasserflasche in die Kehle und lehnte sich dann zurück.

»So ein Kreuz«, stöhnte er leise. »Noch diese Steilwand hinunter, dann können wir endlich die Gämse auf meinen Wagen laden.«

»Und in der Arvenstube des Wirtshauses den Jagderfolg mit einem kühlenden Gerstengebräu begießen«, ergänzte Kurt. Er schien in bester Stimmung zu sein, hatte Toni es doch bis dahin unterlassen, die Gams auf seinem Rucksack näher zu untersuchen.

Nach geraumer Zeit schlüpfte Toni wieder in die verschwitzten Träger seines Rucksackes und raffte sich mühsam hoch. »Los, gehen wir es an. Bald wird es dunkel. Die Zeit drängt. In dem Steilhang ist es verflucht rutschig. Vorsicht ist also angesagt.«

»Wir halten Abstand«, versprach Ossi. »Sollten wir ins Rutschen kommen, kannst du hoffentlich noch ausweichen.«

Es war wohl der schwierigste Teil des Abstiegs, genauso anstrengend wie der Aufstieg am Morgen. Doch nach einer knappen Viertelstunde standen sie aufatmend am Ufer des rauschenden Bergbachs. Hier nahm Kurt seine Gams auf den Rücken, und dann querten sie zusammen den schmalen Damm auf die andere Seite, wo die Fahrzeuge standen. Sogleich schälte sich Toni den Rucksack samt Gams von den Schultern und stellte ihn stöhnend neben sein Auto.

»Mein Gott, bin ich froh, endlich wieder hier zu sein. Mit der schweren Gams auf dem Rücken schien der Weg mit jedem Schritt länger zu werden«, klagte er. Zugleich hakte er die Gams vom Rucksackgestell und begann, die zusammengebundenen Läufe der Gams zu lösen. Kurt aber hatte sogleich in sicherem Abstand seine Gams abgelegt. Mit Unschuldsmiene sich reckend, beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus, wie Toni die Gams auf dem Boden ausstreckte. Unschlüssig schien er abzuwägen, warum die von allen Innereien befreite Gams ein solch hohes Gewicht haben konnte. Neugierig zog er den Brustkorb auseinander. Nur einen Augenblick danach weiteten sich entsetzt seine Augen. Im Innern der Gams griffen seine Hände in einen Haufen Felsbrocken.

Es wurde auffallend still in der einfallenden Abenddämmerung. Während Ossi mit nicht zu übersehender Gelassenheit und aufgesetzter Unschuldsmiene das Tun des Jagdaufsehers beobachtete, ging Kurt wohlweislich hinter ihm in Deckung. Die beiden brauchten nicht lange zu warten, bis Toni reagierte. Ein Aufschrei hallte plötzlich durch den Föhrenwald. Dann setzte eine Tirade von heimischen, schlecht bekömmlichen Kraftausdrücken ein. Mit einer jähen Drehung starrte Toni auf Ossi, dem er eine solche Schweinerei eigentlich gar nicht zutraute. Dieser zog unschuldig die Schultern hoch, seine Augen aber deuteten hinter ihn.

Toni begriff sofort den Zusammenhang. Aber auch Kurt wusste, was es geschlagen hatte. Er setzte sofort zu einem rekordverdächtigen Spurt in den bereits dunkel werdenden Wald an. Hinter ihm entlud sich ein Ausbruch nicht gerade salonfähiger Derbheiten. Kurt gab Toni knappe zwei Minuten Zeit, um sich wieder zu beruhigen, wohl wissend, dass dies alles nur eine Gaudi war und Toni bereits ähnliche dumme Streiche hinter sich hatte. Als er sich vorsichtig wieder näherte, saßen Toni und Ossi neben den Gämsen auf dem Boden und lachten lauthals.

»Du willst ein Freund sein? Ein mieses Stück bist du!«, tönte es Kurt lautstark entgegen. »Das werde ich dir in irgendeiner Form schon noch heimzahlen. Da waren sicher an die 20 Kilo Steine in der Gams.« Toni schien außer sich, aber das Zwinkern in seinen Augen verriet, dass er den bösen Scherz bereits verziehen hatte.

Jetzt wurden die beiden Gämse schnell auf Tonis Wagen gebunden, und dann ging es schnurstracks zum nahen Wirtshaus, um den großartigen Jagdtag in der Arvenstube mit einem Bier und ein paar Stamperln Vogelbeerschnaps zu beenden.

Gefahr im Schnee

In der letzten Novemberwoche hatte sich bei Nordstaulage seit Tagen ein zunehmend höherer Schneeteppich gebildet. Nur im Tal hatte er sich nicht halten können. Auch an diesem Wochenende stauten sich einzelne Stratuswolken an den schroffen Berghängen östlich des Rheins. Aber die Niederschläge hatten aufgehört, und zwischen den Lücken in den Wolken zeigte sich zaghaft der azurblaue Himmel. Heute Morgen würde es wohl ein idealer Tag für die Jagd auf die Wintergämsen sein, dachte sich Kurt und wählte die Nummer seines Jagdaufsehers Christian.

Dieser schien den Anruf schon erwartet zu haben, denn er zeigte sich keineswegs überrascht, dass wenigstens einer der Pächter des Reviers Valüna die günstige Gelegenheit zur Gamsjagd am Schopfe packen wollte. Er versprach denn auch, sich in zwei Stunden am Treffpunkt einzufinden, um Kurts Vorschlag zu entsprechen, im Gebiet Obere Gapfahl nach Gämsen Ausschau zu halten. Allerdings hatte auch er keine Idee, wie hoch der Schnee auf einer Höhe von 2000 Metern sein würde und ob sich dort oben auf der Alp wegen der Tags vorher herrschenden starken Winde vielleicht große Verwehungen befanden. Falls dies der Fall war, mussten die Steilhänge wegen Lawinengefahr unbedingt vermieden werden.

Entgegen der bisherigen Erfahrungen war Christian dieses Mal pünktlich am Treffpunkt, und Kurt stieg in dessen mit Schneeketten versehenen Land Rover um.

»Hast du eine Ahnung, wie weit wir mit dem Wagen kommen werden?«, wollte Kurt wissen.

Christian schob das zerkaute Mundstück seiner Pfeife in den anderen Mundwinkel und murmelte etwas von »möglicherweise bis zum Waldboden«. Das würde bedeuten, dass sie von dort ein langer und strenger Aufstieg bis zur Oberen Gapfahl erwartete, überlegte Kurt. Aber er sagte nichts, sondern gab das Zeichen zur Abfahrt. Trotz des knapp wadentiefen Schnees kamen sie gut voran und auch, als sie die seit über zwei Monaten geschlossene Alpkäserei Valüna passierten, fuhren sie immer noch ohne große Probleme vorwärts. Danach allerdings begann die Bergstraße merklich anzusteigen. Vor dem Kühler staute sich langsam der Schnee. Kurt war froh um jeden Meter, den sie mit dem Land Rover weiter kamen. Ihn grauste vor dem langen Aufstieg zu Fuß durch den tiefen Schnee.

Und dann pflügten sie durch kleine Schneeverwehungen, die ein vorzeitiges Ende der Fahrt ankündigten. Christian schaltete in die Untersetzung und der Wagen kroch im Schneckentempo weiter die verschneite Straße entlang, fraß sich mit den Ketten durch den Föhrenwald immer höher und drehte beim großen Lawinengang am Talabschluss nach rechts ab. Minuten später fuhren sie auf die Alp Waldboden.

Hier machte Christian einen kurzen Halt, um die Situation vor ihnen abzuschätzen. Der Schnee war jetzt knietief, und die schmale Bergstraße, die von hier steil weiterführte, war nicht mit Schneestangen markiert und bot zudem wenig Ausweichmöglichkeiten. Ein seitliches Abrutschen konnte einen Überschlag über abschüssiges Gelände mit unabsehbaren Folgen bedeuten. Christian haderte, und selbst Kurt zweifelte sehr am Weiterkommen.

Er wollte schon eine entsprechende Bemerkung machen, als Christian die Pfeife aus dem Mund nahm und sie umständlich an seinem Bergschuh ausklopfte.

»Vielleicht schaffen wir es noch bis zum Brunnen bei den alten Tannen, dann aber ist es wohl aus und vorbei. Schon jetzt schieben wir den Schnee vor dem Kühler her. Sollten wir bei einer Verwehung aufsetzen, nützen uns auch die Ketten nichts mehr.«

Kurt nickte mit krauser Stirn. »Probieren könnten wir es trotzdem. Was meinst du?«

Christian schob seine Pfeife erneut zwischen die Zähne, legte den ersten Gang ein, und dann krochen sie mit heulendem Motor langsam weiter. Dampf quoll an den Seiten des Vorderwagens hervor, und hin und wieder wälzte sich der Schnee über die Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe. Ein paar Mal musste Christian auch ein paar Meter zurücksetzen, weil er nicht mehr weiterkam. Dann gab er Gas, preschte in die Schneewand und die Räder mit den Schneeketten fraßen sich weiter. Die kleine Ausbuchtung mit dem Brunnen, den sie als voraussichtliches Endziel festgelegt hatten, blieb zurück. Sie fuhren weiter bergan, nahmen noch zwei Serpentinen und saßen dann unweigerlich fest. Keinen Zentimeter ging es mehr weiter.

»Ende der Fahnenstange«, sagte Kurt mit einem zynischen Grinsen. Da er bergseits aussteigen musste, kam er nur mit Mühe durch die vom Tiefschnee gehemmte Tür. Schließlich stand er bis zum Gesäß im Schnee und kämpfte sich nach hinten, um dort seine Ausrüstung aus der Hecktür zu nehmen. Rucksack, Gewehr, Feldstecher, Wollmütze, Handschuhe und Bergstock, an all das musste gedacht werden, denn wenn sie den Aufstieg erst hinter sich hatten, war eine schnelle Rückkehr zum Wagen nicht mehr möglich.

Jetzt war Christian an der Reihe. Schnaubend wie ein Dampfross kämpfte er sich eine steile Halde hoch durch den Schnee. Kurt folgte etwas bequemer in dessen Spur. Trotz der Kälte standen bald die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn, und mehr als einmal musste er einen Halt einlegen, um Atem und Puls unter Kontrolle zu bringen. In der Zwischenzeit pflügte Christian weiter voran, bis sie an einem Geländedurchgang ankamen. Eine Handbreit schauten hier noch ein paar Zaunpfähle aus dem Schnee, verrieten die ungefähre Schneehöhe. Kurt kannte den schmalen Pass. Er führte geradewegs einen Wasserlauf entlang auf das Plateau der Oberen Gapfahl.

»Am besten, wir steigen rechts hoch, dann haben wir einen ersten Überblick über die Alp«, schlug Christian vor. Kurt nickte bloß. Zu sehr war er mit dem Schnappen nach Luft beschäftigt, als dass er eine Antwort hätte geben können. Das Vorwärtskommen im tiefen, jungfräulichen Schnee war Schwerstarbeit und zerrte heftig an seinen Kräften. Aber nach einer kurzen Pause nahmen sie den Anstieg über die rechte Flanke in Angriff. Eine Viertelstunde später hatten sie endlich die Hochalp vor sich. Noch behinderten ein paar vom Schnee eingedeckte Felsblöcke die freie Sicht auf die entfernte Kammlinie des Kolmes. Also schlichen sie gebückt weiter, bis sie die kleine Jagdhütte sahen, die an der talseitigen Kante zur Valüna stand. Dahinter konnten sie einen windgeschützten Geländeabbruch einsehen, der, wie Kurt wusste, im Winter gerne von Gämsen angenommen wurde.

Hinter einem Felsen richteten sie sich ein und suchten die Hänge mit ihren Gläsern ab. Christian zuckte plötzlich zusammen. Hastig zog er sein Spektiv hervor und peilte den besagten Geländeabbruch an, wobei er etwas Unverständliches murmelte.

»Eine nichtführende Geiß«, flüsterte er dann. »Am linksseitigen Rand des Abbruchs steht sie und knabbert an dort freiliegenden Gräsern.«

Kurt schwenkte hinüber. Deutlich sah er jetzt den fast schwarzen, sich im Schnee deutlich abzeichnenden Körper der Geiß, deren Alter er allerdings mit seinem 8x42 nicht genau einschätzen konnte. Er tippte jedoch auf knapp zehn Jahre. Seine Vermutung wurde kurz darauf von Christian bestätigt.

»Eine alte, nicht führende Geiß und deutlich über zehn Jahre alt. Die kannst du schießen.«

»Von hier aus? Das sind bestimmt an die dreihundert Meter, wenn nicht mehr«, beanstandete Kurt. »Wir müssen näher heran.«

»Keine Chance. Du siehst ja selbst, von hier ab gibt es keine Deckung mehr, und im Schnee hat sie uns sofort ausgemacht. Es muss von hier aus geschehen oder gar nicht.«

Kurt überlegte. Der Fels bot ihm eine sichere Auflage für die Blaser, und das Geschoss der selbst geladenen 7-mm-Remington fiel auf diese Distanz und Höhe über Meer wohl höchstens etwas mehr als eine Handbreite. Er platzierte seinen Rucksack auf den Stein, legte die Büchse darauf und drehte das Zielfernrohr auf 9-fach. Die Gamsgeiß zeigte ihr Blatt etwas schräg, aber durchaus günstig für einen Schuss. Und so zog er den Schaft an die Schulter, hielt den Zielstachel über dem Blatt auf ihre Rückenlinie und zog den Abzug durch. Der Schussknall rollte durch den Schnee gedämpft über das Plateau, und drüben im Abbruch rutschte die Gams leblos über die schneebedeckte Geröllhalde.

»Waidmannsheil!« Christian stand auf und klopfte Kurt auf die Schulter. »Guter Schuss. Gezirkelt auf dem Blatt. Ich habe den Einschlag des Geschosses durch das Spektiv genau beobachten können.«

Mit einem tiefen Schnaufer rappelte Kurt sich aus dem Schnee hoch. »Jetzt brauche ich erst mal einen Schnaps!«

Er nahm den Flachmann aus dem Rucksack und goss ein. Als er sah, dass sein Jagdaufseher mit dem Stopfen seiner Pfeife beschäftigt war, leerte er den Inhalt schon mal selbst.

»Waidmannsdank«, sagte er prustend und schüttelte sich. »Scharfer Tabak.«

Christian fummelte umständlich mit einem brennenden Zündholz an seiner Pfeife und blies kurz darauf eine übel riechende Wolke in die klare Bergluft. Dann nahm er den kleinen Schnapsbecher grinsend entgegen.

»Es ist noch viel zu früh für einen Abstieg«, meinte er mit einem Blick zu seinem Jagdherrn. »Wie wär’s, wenn wir noch zum Kamm des Kolmes hochsteigen würden? Von dort haben wir einen perfekten Einblick in die Wanghöhe und das Alpeltli hinunter. Wer weiß, vielleicht sehen wir noch einen guten Bock.«

»Ich bin dabei«, entgegnete Kurt enthusiastisch. Die Möglichkeit, mit einem reifen Gamsbock die heutige Jagd abzuschließen, juckte ihn ohne Ende. Also packten sie ihre Sachen wieder ein und machten sich auf den beschwerlichen Weg an der Jagdhütte vorbei zum Abbruch und zur Gamsgeiß, die an dessen Fuß lag. Es war, wie Christian vorausgesagt hatte, eine alte Geiß mit guter Auslage und gezählten 14 Jahrringen. Ein erster Kolkrabe kreiste schon hungrig über ihnen, als Christian die Geiß ausweidete und die Innereien ein Stück weit wegwarf. Dann legte Kurt zum Schutz gegen einen roten Räuber seinen wollenen Schal über den Kadaver.

»Am besten, wir lassen die Geiß hier liegen und nehmen sie auf dem Rückweg mit«, schlug Christian vor. Dagegen war nichts einzuwenden, und so begannen sie den mühsamen Aufstieg zur Kammlinie des Kolmes. Immer wieder hielten sie inne und glasten die umliegenden Berghänge ab. Aber es war wie verhext. Keine Gams weit und breit. Nach einer halben Stunde hatten sie es geschafft. Sie standen auf der Kammlinie und blickten über die mehr als hundert Meter senkrecht abfallende Felswand hinunter aufs Alpeltli, wo sich auf fast 1800 Metern Höhe die zweite Jagdhütte befand.

»Wie wär’s mit einem kleinen Aser?«, fragte Kurt. Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er, seinen Rucksack auszupacken. Währenddessen suchte Christian immer wieder die steilen Hänge unter der Felswand mit seinem Fernglas ab.

»Da unten auf dem vorstehenden Felsenkopf haben sich tagsüber schon immer Gämsen eingestellt. Es könnte sein, dass sie dort unter den Föhren im Lager sind und warten, bis die Sonne ihre Schatten wirft. In Kürze wird es so weit sein.«

Kurt ließ sein Messer fallen und kroch auf dem Bauch zur Kante vor.

»Vorsicht!«, mahnte Christian. »Der Wind hat den Schnee über die Kante hinaus verfrachtet. Der überstehende Teil könnte bei Belastung jeden Moment abbrechen.«

Kurt nahm die Warnung ernst, aber ohne bis zur Kante vorzukriechen, konnte er die besagte Stelle gar nicht einsehen. Also robbte er langsam vor, bis er die fast senkrecht unter ihnen befindliche Felseninsel einsehen konnte. Er realisierte die latente Gefahr, in der er sich befand, aber das Jagdfieber hatte ihn gepackt, und falls dort eine Gams herumstand, wollte er sie sehen. Er blickte lange durch sein Swarovski-Glas, spähte in jede noch so kleine Nische zwischen den verschneiten Föhren. Doch plötzlich zuckte er zusammen. War das dort am Rande einer Latsche nicht eine Gams im Lager?

»Christian, dort im oberen Bereich des Felsens, bei den paar eingeschneiten Latschen, ist eine Gams im Lager. Kannst du sie mal mit dem Spektiv einschätzen?«

Etwas überrascht zog dieser sein Spektiv aus und suchte, hinter der Abbruchkante stehend, am Bergstock angeschlagen, nach der besagten Stelle. Es schien unendlich lange, bis Christian eine Beurteilung wagte.

»Ein guter Bock. Starke, leicht verpechte Schläuche. Das Alter stimmt, aber von hier kannst du nicht schießen. Zudem ist der Bock noch im Lager.«

»Dann warten wir ab. In zwei Stunden sinkt die Sonne hinter dem Goldlochspitz. Bis dahin kommt der Bock bestimmt hoch«, gab Kurt verbissen zur Antwort. Er wusste, dass jetzt möglicherweise langes Warten angesagt war. Geduld war nicht unbedingt eine seiner Stärken, doch da er nun wusste, dass sich da unten ein guter Bock befand, fügte er sich. Er musste nur mit seiner Büchse bereit sein. Wenn der Bock aus seinem Lager hochkam, würden es vielleicht nur ein paar Sekunden sein, bevor dieser sich entschied, hinter der Felseninsel zu verschwinden.

Kurt griff sich seine Blaser-Büchse und schob sich langsam auf der Schneewechte vor.

»Das kannst du vergessen, Kurt«, warnte Christian. »Die überhängende Wechte kann bei der Belastung jeden Augenblick abbrechen, und dann hast du nur noch Zeit für ein kurzes Stoßgebet.«