Auf der Suche nach dem echten Hassan - Matthias Bätje - E-Book

Auf der Suche nach dem echten Hassan E-Book

Matthias Bätje

4,9

Beschreibung

"Auf der Suche nach dem echten Hassan" ist die amüsante und sehr persönliche Abenteuergeschichte unserer Elternzeitreise durch Europa bis nach Marokko. Wir geben wichtige Tipps und Anregungen. Viele Anekdoten und Hintergrundinformationen zu Land und Leuten kaschieren den sonst üblicherweise trockenen Charakter der Ratgeberliteratur. Für uns ist es die erste große Reise für und mit unserem einjährigen Sohn. Wir wollen all denjenigen Mut machen, die schon immer einmal aufbrechen wollten und sprechen zu den Zögerern und Zauderern die planen ohne konkretes Reiseziel und mit offenem Visier loszurollen. Vor allem aber richtet sich "Hassan" an alle unschlüssigen Neueltern, die sich noch nicht darüber im Klaren sind, was sie ihrer kleinen Familie zumuten können.

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Seitenzahl: 186

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Kapitel

Vorab

Kaltstart

Von Plattfüßen, Prinzessinnen und Pilotis

Vom Reifenflicker von Girona bis nach Argentinien

Schlittenfahrt vom Torre

Lissabon

Die Störche von Cavaleiro

Von Stinkhähnen und getrockneten Seepferdchen

Jurassic Park em português

Sevilla & Ronda

Poniente & Levante

Von Tanger nach Asilah

Auf der Suche nach dem echten Hassan

Auf den Spuren von Robinson Crusoe

Von dicken Darmstädtern und blauen Blumen

Im Innern des Granatapfels

Das Tauschgeschäft mit den grünäugigen Rifkabylen

Der Crash vom Oued Farda

In Tanger mit der Röntgen-Maus

Von Cohen-Songs, Heilern und Höhlenmalerei

Kaixo Donostia

Unterwegs im Ordesa Nationalpark

Roger-Marc vom Zionskirchplatz

Durch die Camargue

Mit Tiken Jah Fakoly an der Ardèche

Vom Rheinfall zu Dr. Eisenbarth

Momentaufnahmen

GPS Daten ausgewählter Stellplätze

Für Joris

„Legen wir uns nieder am Ufer der Teiche,

damit unsere bitteren Schmerzen heilen.

Tausend märchenhafte Hoffnungen

ernähren unsere aufgewühlten und bebenden Herzen.

Hier bist du, Lachen des Frühlings.“

Théodore de Banvilles

Vorab

Dies ist die Geschichte unserer Reise an die südwestlichen Grenzen Europas und ein Stückchen darüber hinaus. Es ist die erste große Reise mit unserem kleinen Jungen und gerade deswegen ganz besonders spannend für uns. Die folgenden Seiten sollen all denjenigen Mut machen, die schon immer einmal „aufbrechen“ wollten. Das Buch spricht zu den Zögerern, die wissen möchten wie es ist, mehr als die jährlichen 2 Wochen Sommerferien in den Strandmuscheln des Kontinents darauf zu warten, bis die Erholung endlich eingesetzt hat. Das Buch spricht auch zu den Zauderern, die sich schon immer einmal trauen wollten, ohne konkretes Reiseziel einfach „loszurollen“. Vor allem aber richtet es sich an unschlüssige Neueltern, die sich noch nicht darüber im Klaren sind, was sie ihrer kleinen Familie zumuten können. Unsere Reise beginnt einen Tag nach Ostern am Zusammenfluss von Elde und Elbe in meiner Heimatstadt Dömitz. Théodores Worte klingen noch lange nach. Elternzeit! Selten gab es bei meiner Frau Katharina und mir mehr Konsens: Packen und weg. Elternzeit! Diese grandiose Erfindung öffnet reisewütigen Neueltern wie uns, Tür und Tor sofort „loszumachen“. Ist quasi staatlich verordnetes „Herumtreibertum“, fühlen uns gewissermaßen gezwungen, die Hauptstadt zu verlassen, wurden hinterhältig heraus-komplimentiert und vom Hof gejagt. Vielen Dank Joris. Französische Lebensart und wilde portugiesische Küsten sind die wackeligen Eckpfeiler eines selten unausgegorenen Reiseplans. Zum Konsens gehörte: Sich vorsichtig an eine der Fähren herantasten, die uns nach Marokko übersetzen könnte. Auch die weiteren Reisevorbereitungen halten sich im Vergleich zu früheren Fernreisen deutlich in Grenzen. Vor allem in Hinblick auf Marokko wurden die letzten Lücken im Impfbuch geschlossen, das Wohnmobil einem finalen Check-Up unterzogen und sich 2 Tage vor der geplanten Abreise dann noch mal die Hacken wundgerannt auf der Suche nach Ausrüstungsgegenständen, die wir in 3 Monaten unangetastet in den Keller schleppen werden. Mit einem Wohnmobil in Europa auf Reisen zu gehen, bedeutet so gesehen, die individuelle Mitte zu finden zwischen:

A:

Das gesamte Fahrzeug bis zur Unkenntlichkeit mit Hausrat aller Art vollzustopfen bis lediglich die Insassen plus aus reichender Luftblase noch Platz finden sollen. Oder...

B:

Schlicht und ergreifend: Gar Nichts mitzunehmen!

Wir tendierten bei Abreise zu A und ich möchte an dieser Stelle Mut zu B machen. Ein junges Münchener Pärchen (nun ebenfalls mit Kinderwunsch) macht es sich während unserer Abwesenheit als Untermieter in unserer Wohnung gemütlich und gießt freundlicherweise die Blumen. In dem folgenden, nicht immer ernst gemeinten Reisebericht möchten wir von der Schönheit und Vielfalt unserer Reiseroute durch das südliche Europa und Marokko berichten, wollen Mut machen, auch mit dem Baby „Aufzubrechen“, auf Entdeckungsreise zu gehen und die einmalige Elternzeit zu nutzen, um „Anzukommen“.

1

Kaltstart

Der norddeutsche Frühling hat es nicht eilig und macht uns die Abreise in den Süden leicht. Die vom Winter gezeichnete niedersächsische Tiefebene zieht an uns vorüber. Tante Andrea erwartet uns bei unserem ersten Stopp westlich des Harzes in Bad Gandersheim mit Hühnerfrikassee. Klein Joris bekommt eine wunderschöne Decke mit afrikanischen Motiven geschenkt. Afrika, dieser kleine Querverweis auf unser Reiseziel, kommt uns zu diesem Zeitpunkt noch reichlich abstrakt vor. Der Dieselmotor unseres siebzehn Jahre alten Wohnmobils tackert gewohnt zuverlässig vor sich hin. Das Geräusch hat uns bereits auf unserer letzten Tour über den Balkan begleitet. Damals steckte ein baugleicher Motor in einem T4-Bus, den wir nach der Geburt unseres kleinen Sohnes gegen ein komfortableres Gefährt eingetauscht hatten. Der Vorbesitzer unseres Karmann Missouri hatte einige elektrische Umbauten vorgenommen sowie ein Notstromaggregat und eine Standklimaanlage nachgerüstet. Die entsprechend überpowerte Bordelektronik führt nun allerdings dazu, dass Katharinas Beifahrerfenster nur zu bedienen ist, wenn man permanent die durchgebrannten Sicherungen wechselt. 10.000 km durch das südliche Europa und Marokko ohne Fahrtwind im Gesicht stellen eine ganz eigene Herausforderung dar. Außerdem werden wir erst Monate nach unserer Rückkehr nach Berlin endgültig verstanden haben, dass das stetig leise Pfeifen hinter den Armaturen von der aktivierten Alarmanlage herrührt, die nur nicht lauter zu hören ist, weil die Hupe ebenfalls ihren Geist aufgegeben hat. So überqueren wir diverse Ländergrenzen im Daueralarmzustand und wundern uns nur kurz über selbsttätige Klospülungen, flackernde Innenbeleuchtung oder ein regelmäßig wieder-kehrendes und unkontrollierbares „Blinkerkonzert“. Alles kein Problem, solange die Hardware zuverlässig funktioniert, denn in Anbetracht des anvisierten Reiseziels Marokko führte doch allein die „sagenumwobene“ Zuverlässigkeit des 2,5l Turbodieselmotors zur Kaufentscheidung.

Unser erster Stellplatz liegt in die Nähe von Gießen. Oberhalb des Örtchens Nidda führt ein Feldweg zu einer Hochwiese in einen Buchenwald. Ganz in der Nähe hatte ich Mario vor einem halben Jahr erstanden. Vorneweg noch eine Sache: Autos Namen zu geben ist, grundsätzlich gesehen, eigentlich nicht mein Ding. Blech bleibt Blech. In diesem Fall musste ich jedoch gezwungenermaßen eine Art Retourkutsche anbringen: Da meine Frau verhindert hatte, dass unser Sohn, der in der Nacht vor dem Fußball-WM-Sieg 2014 geboren wurde, den Namen des Finaltorschützen erhält, weiche ich gezwungenermaßen auf unser Wohnmobil aus. Aus Angst, Miroslav Klose könnte mal wieder treffen, hatte sie sich auf nichts eingelassen. Unsere Blicke schweifen über die leicht hügelige Landschaft. Irgendwo hier muss er verlaufen, der Limes. Ein Specht hämmert sich durch die obere Etage der Baumriesen. Die Sonne verabschiedet sich ganz gemächlich. Am nächsten Morgen zeigt unsere Wetterstation eine nächtliche Tiefsttemperatur von minus 2°C an. Klein Joris weckt uns an diesem noch kühlen Morgen gegen 8 Uhr und spornt uns einigermaßen lautstark an Frühstück zu machen. Wir sind in Freiburg mit Freunden verabredet. Zur Begrüßung gibt es Bier und Apfelkuchen und einen frühlingshaften Spaziergang an der Dreisam. Der große zottelige Hund meines Freundes Emmerich stürzt sich mehrfach übermütig in die Strömung. Wild paddelnd und sichtbar am Limit schafft er es mehrfach nur mit größter Mühe, aber niemals ohne sein Stöckchen ans rettende Ufer. Er soll der einzige „Wasserhund“ auf unserer Reise bleiben. Doch dazu später mehr. Für teures Geld erwerben wir am nächsten Vormittag Adaptersysteme zum Befüllen unserer Gasflaschen. Eine überflüssige Investition, wie sich ebenfalls später zeigen wird. Außerdem sind noch einmal vierzig Euro für ein rotweißes Warnschild für den Fahrradträger fällig. Der Autor von „Gebrauchsanweisung Portugal“ hatte in Anbetracht des verrückten Fahrstils der Portugiesen sehr zum Kauf geraten.

2

Von Plattfüßen, Prinzessinnen und Pilotis

Kaum losgerollt und schon in Frankreich. Wir kampieren bei Arc-et-Senans an der Lône. In der Dämmerung flitzen kleine dunkle Schatten am gegenüberliegenden Ufer zwischen den überfluteten Weidenbüschen hin und her. Bisamratten oder Biber, wir sind uns nicht einig und kochen unsere ersten Spaghetti Bolognese der Reise. Am nächsten Morgen wird unsere Aufmerksamkeit durch 2 rote Sterne in unserem Atlas auf eine vermeintliche Sehenswürdigkeit ganz in der Nähe gelenkt. Die Römer hatten hier eine Salzmine unterhalten, die in den letzten Jahren aufwendig rekonstruiert wurde. Ein kurzer Blick durch die Eisentore genügt uns, auch in Anbetracht eines stattlichen Eintrittsgeldes, und so rollen wir durch den restlichen Tag und bewundern die ausgesprochen liebliche Landschaft des Vallée du Doubs und die blühenden Hügel des Jura in der Region Franche-Comté. Abwechselnd verfluchen wir die Mautstationen an den französischen Autobahnen, um uns im nächsten Moment auf eben diesen über freie Fahrt zu freuen. Auf den parallel verlaufenden Nebenstrecken quälen sich die Autoschlangen von einem Kreisverkehr zum nächsten. Zum ersten Mal verfahren wir uns ausgerechnet in den verstopften Umgehungsstraßen von Lyon, umrunden das Ballungszentrum aus Mangel an Wendemöglichkeiten in Gänze und erreichen in den Abendstunden die noch schmale Loire südlich von Saint-Étienne. An einem Parkplatz auf einer Anhöhe über dem Fluss entdecken wir einen Pfad zum etwas tiefer liegenden Ufer. Ein bedenkliches Gefälle, spitze Steine und tief ausgewaschene Spurrillen lassen uns kurz zögern. Doch wir wollen unbedingt von der viel befahrenen Landstraße weg und so ist die Verlockung eines noch schöneren Platzes am Flussufer zu groß. In Zeitlupe taste ich mich vorwärts und erreiche nach einer gefühlten Ewigkeit den anvisierten Platz. Die Abfahrt hat sich gelohnt und so beziehen wir unseren ersten wirklich traumhaften Stellplatz. Am anderen Ufer hangelt sich alle paar Minuten ein Regionalzug an der Felswand entlang, während ich meine Angel auswerfe.

Am nächsten Vormittag wandern wir flussaufwärts an einer alten Mühle vorbei und genießen die Aussicht über das Tal der Loire. Das Thermometer zeigt bescheidene 15°C an, es beginnt leicht zu nieseln und so zieht es uns weiter in südlicher Richtung. Und auch die Sache vom Vorabend löst sich in Wohlgefallen auf. Bei meinem Versuch, die Öl- und Kühlflüssigkeit zu checken, hatte ich über eine Stunde versucht, die Motorhaube zu öffnen und in diesem Zusammenhang die komplette Hebelmechanik mehrfach aus- und wieder eingebaut. Zurück, auf nun wieder ebener Piste, lässt sich die Motorhaube überraschenderweise wieder problemlos öffnen. Bleibt zu hoffen, dass sich auch kommende „Schieflagen und Verzerrungen“ dieser Reise beziehungsweise anders geartete Sorgen in Wohlgefallen auflösen werden.

Am Samstag den 11. April erreichen wir das Zentralmassiv. Immer wieder lassen wir uns durch braune Hinweisschilder, die auf Sehenswürdigkeiten hinweisen, ablenken und ändern unsere nur grob umrissene Route laufend. Aktuell auf der N88 in Richtung Südwesten unterwegs, kommen uns jetzt häufiger riesige Wohnmobile mit braungebrannten deutschen Rentnern entgegen. Ist das die Rückreisewelle der „Marokko-Überwinterer“? Im Zuge unserer Recherchen hatten wir von vielen französischen und deutschen Pensionären gehört, die die Wintermonate südlich von Marrakesch verbringen, um sich dort zu stattlichen Wagenburgen zusammen zu rotten. Trotz ausgedehnter Vorbereitung fühlt sich unser Reiseziel Marokko weiterhin einigermaßen abenteuerlich an und so ist es seltsam beruhigend zu sehen, dass es doch einige Reisende mit einem breiten Grinsen zurück auf das europäische Festland geschafft haben. Nordafrika, immer wieder geht es uns durch den Kopf. Wir sind zwar in den letzten Tagen schon ein gutes Stück vorangekommen, doch dieses Reiseziel liegt nicht nur geographisch sondern auch in unserer Vorstellungskraft noch endlos weit weg.

Idyllische Landstraßen und kurvenreiche Mittelgebirgspässe in der Auvergne führen uns weiter durch typisch französische Provinzmetropolen wie Le Puy-en-Velay und Mende. Immer wieder stellen wir uns dieselbe Frage: „Verweilen und die Gegend erkunden oder Strecke machen?“ Einige Kilometer fahren wir über bunt blühende Hochebenen. Die Landschaft erinnert uns sehr an die Gegend rund um die azurblauen Plitvicer Seen in Kroatien. Alles wird felsiger und die Piste schlängelt sich in ein tiefes Tal. Es wird immer enger zwischen oberer rechter Dachkante und den gefährlich nahen Felsüberhängen. Ein entgegenkommender Laster oder Reisebus wäre hier eine interessante Herausforderung. Unten ist mittlerweile ein tiefblaues Rinnsal zu erahnen und dutzende Kurven später erscheinen allmählich die hellroten Dächer von Sainte-Enimie. Wie auf einem romantischen Ölgemälde liegt das Dorf zu unseren Füßen. Sehnsuchtsort der Pilger und Wanderer. Laut Reiseführer gehört der kleine Ort zu den schönsten Dörfern Frankreichs: Der Sage nach sollte die heilige Enimie, eine merowingische Prinzessin, gegen ihren Willen verheiratet werden. Kurze Zeit später wurde sie von einer unschönen Hautkrankheit befallen, die dem Bräutigam sehr missfiel. Auf Anraten eines Engels kam sie nach Sainte-Enimie und badete in der Tarn, woraufhin sie schnell von der Lepra gesundete. Verließ sie jedoch das Tal, kamen die Beulen zurück. So blieb sie, baute ein Kloster und machte Werbung für Anti-Aging-Cremes. So zumindest meine grobe Zusammenfassung.

Auf dem Parkplatz des Dorfes unterhalb eines alten Viaduktes finden wir einen grandiosen Stellplatz für unser Wohnmobil. Anders als ein paar Monate später bei der Tour de France verirren sich nur ein paar wenige Camper auf der großen Ebene zwischen Fluss und den etwas erhöht angelegten Cafés des Dorfes. Ungeduldig und eiskalt zieht die Tarn vor unseren Füßen vorbei, um hinter mächtigen Felsen lautstark in der Tiefe zu verschwinden. Beim Sprung in das kalte Wasser machen wir mit der starken Strömung Bekanntschaft und werden eisig „gewaschen“. Hinweisschilder weisen auf das amüsante Angelverbot für Menschen hin, „die in der körperlichen Verfassung sind, auch weiter talabwärts, in unwegsamem Gelände“, zu fischen. Frei nach dem Motto: Wer angeln will und noch klettern kann, muss klettern, um zu angeln. Ich fühle mich nicht angesprochen, besorge mir in einer Art „Madame Emma Laden“ passende Köder und fange mal wieder: „rien“.

Außerdem lernen wir mal wieder unfreiwillig dazu. Ausgleichskeile sollten nur an der Vorderachse verwendet werden! Beim Versuch, die schiefe Parkfläche am Fluss mit Keilen auszugleichen, rutscht einer der Keile unter dem Hinterreifen weg, sodass das Wohnmobil mit vollen Tanks und wahrscheinlich deutlich mehr als drei Tonnen auf den glatten Beton knallt. Beim beschaulichen Abendessen am plätschernden Bach bemerken wir dann den abnehmenden Reifendruck und pünktlich bei Sonnenuntergang bewundern wir unseren ersten Plattfuß der Reise. In den folgenden Minuten zeigt sich dann die geballte Kompetenz und Fürsorge des ADAC. Wir werden telefonisch zu einer lokalen Dépendance durchgestellt. Die freundliche Französin macht uns einen Reparaturtermin für den nächsten Morgen an Ort und Stelle und verhindert so, dass ich mich noch in der Nacht hektisch und ungelenk ans Werk machen kann. Ein paar Stunden später wechselt uns dann ein gut gelaunter Tunesier den rechten Hinterreifen und erzählt uns nebenbei von seinen fünf Kindern, die er auf diese Weise satt machen muss. Wir müssen uns beim Trinkgeld schwer bremsen, so erleichtert und froh sind wir, dass uns der Plattfuß nicht in den engen Serpentinen oberhalb des Dorfes erwischt hat.

Beim Blick auf die heutige Reiseroute geht mir der Ort Millau nicht mehr aus dem Kopf. Wurde hier nicht diese wahnwitzige Brücke gebaut? Das grandiose Viaduc de Millau von Norman Foster ist mit 2460m die längste Schrägseilbrücke der Welt. Mit einer maximalen Pfeilerhöhe von 343m ist sie das höchste Bauwerk Frankreichs. Unter einen der sieben Pfeiler würde locker der Eiffelturm passen. Schon aus großer Entfernung zu erkennen, spannt sich dieses gewaltige Bauwerk schnörkellos über das an dieser Stelle breite Tal der Tarn und lässt den Verkehr von Paris in Richtung Barcelona deutlich besser fließen. Ziel- jedoch nicht orientierungslos steuern wir auf der A75 in Richtung Béziers. Und immer, wenn wir nicht weiter wissen oder schlicht zu faul sind, uns mit potentiellen Highlights an der Strecke zu beschäftigen, halten wir auf die Küste zu. In den Abendstunden erreichen wir ein ebenfalls ziemlich einzigartiges Bauprojekt an der französischen Mittelmeerküste. Die Fahrt führt über einen langen Damm in Richtung Küste. Vorbei an riesigen Schwemmlandebenen und endlosen Sportboothäfen erreichen wir ein komplett aus Holz errichtetes schachbrettartig angelegtes Dorf aus hunderten Pfahlbauten, französisch Pilotis. Die Hütten von Gruissan Plage unterscheiden sich erst auf den zweiten Blick in ihrer individuellen Bemalung und maritimen Dekoration. Manche Besitzer haben die Wände mit allerlei angeschwemmtem Strandgut geschmückt. Von einem deutschen Pärchen, welches seinen lahmen Hund im selben Kinderwagen vorbeischiebt, wie wir ihn haben, erfahren wir den Grund der untypischen Bauweise. Eine Sturmflut hatte das gesamte ursprüngliche Dorf zerstört und beim Neuaufbau hatte man sich zu dieser speziellen Bauweise hinreißen lassen, um vor etwaigen zukünftigen Wetterkapriolen gewappnet zu sein. In der jetzigen Nebensaison wirkt alles seltsam verlassen und verwildert. Der Ort besitzt eine fast mystische Atmosphäre, hat einen ganz eigenen besonderen Charme und so ignorieren wir den offiziellen Stellplatz für Wohnmobile am Ortsrand und übernachten zwischen den vordersten Pilotis und der bröckelnden Promenade. In den Morgenstunden ist alles in dichten Küstennebel getaucht. Die Sicht liegt unter fünfzig Metern. In Richtung Meer ist nur die Spitze eines einsamen Rettungsturms zu erahnen. Als trüge der vom Meer kommende Dampf das Dach des Turms mit sich. Ein magischer Morgen. Zurück vom Joggen erscheint Kathi plötzlich wie aus dem Nichts auf der Uferpromenade und hält Joris und mir stolz die noch warmen Croissants entgegen.

3

Vom Reifenflicker von Girona bis nach Argentinien

Im Westen zeigen sich eine Woche nach unserer Abreise bereits die ersten Ausläufer der Pyrenäen und einzig die ungewohnten Verkehrsschilder machen uns darauf aufmerksam, dass wir bereits auf spanischem Boden unterwegs sind. Im Grenzgebiet fallen die südöstlichen Ausläufer der Berge bis auf das Niveau der Côte Vermeille ab. Etwas südlich von Girona, aber spätestens bei Lloret de Mar, beginnt der „Stein gewordene Traum aller Baulöwen und Betonverkäufer“ an der Costa Brava. Wir verzichten auf den Anblick von öden Uferpromenaden, die schamlos jeden noch so zarten Bewuchs zu verhindern wissen und halten mit Scheuklappen auf Barcelona zu. Wichtigster Tagesordnungspunkt ist heute die Reparatur des defekten Reifens. Wir durchforsten die Industriegebiete der katalanischen Stadt Girona auf der Suche nach einer Autowerkstatt. Werden fündig, aber höflichst gebeten, nach Ablauf der Siesta, in drei Stunden, wiederzukommen. Der große Supermarkt in der Nähe ist beinahe menschenleer. Gefühlt kaufen wir für die restlichen neuntausend Kilometer ein und verstecken uns vor der Hitze mit unseren Pausenbroten unter den überdachten Mitarbeiterparkplätzen. Die Werkstatt liegt in einem verwahrlosten Außenbezirk und ist eingerahmt von leer stehenden Autohäusern mit umgekippten Mülltonnen vor den Toren. Die Werkstatt hingegen überrascht durch Sauberkeit und Professionalität. Trotz einiger Verständigungsprobleme versucht man uns nicht einen teuren neuen Reifen zu verkaufen, sondern repariert zeitaufwendig den defekten. Die einstündige Reparatur wird vom Meister persönlich, mit stolzer Mimik und katalanisch-zackiger Eleganz ausgeführt. Filmreif das Ganze. Jeder Handgriff des kleinen Mannes im viel zu großen Blaumann wird mit chirurgischer Präzision ausgeführt. Resultat tausendfacher Wiederholungen. Die große verrußte Felge und der defekte Mantel wirken schwerelos in seinen Händen, wie das rote Tuch des Toreros in der Stierkampfarena. Auch fünfzehn Minuten im Wasserbad ist das Loch im Reifen nicht gefunden. Dies scheint ihn jedoch keineswegs aus der Ruhe zu bringen. Schließlich weisen winzige Bläschen auf den Defekt hin. Auch jetzt, im Moment des vermeintlichen Triumphs, keine Reaktion beim stolzen Spanier. Nur ab und zu blickt er zur Wand. Und nur dann ist ein geringfügiges Grinsen zu erahnen. Dort hängt „das weiße Ballett“, seine Mannschaft von Real Madrid, im Selbstverständnis beste Fußballmannschaft der Welt. So wie sie den Ball elegant durchs Mittelfeld trägt, hat er sich eben um unseren Hinterreifen „gekümmert“. Auf dem Poster entdecke ich auch das Gesicht des geheimen Strategen der Mannschaft. Dann grinse ich ebenfalls. Es ist Toni Kroos von der Ostseeküste. In Girona, der uralten katalanischen Studentenstadt, befindet sich nicht nur der Billigflughafen von Barcelona, sondern auch die Kathedrale Santa Maria, an der jahrhundertelang gebaut wurde. Sie besitzt das größte gotische Kirchenschiff der Welt. Im Inneren des Bauwerks aus der Zeit Karls des Großen ist es gute 25°C weniger heiß als im Freien. Nur dieser Umstand scheint die circa zehn Schulklassen wach zu halten, die durch die Gewölbe grölen. Das zweite Highlight der Stadt schenken wir uns an diesem Tag und vielleicht kommen wir eines Tages, wenn Joris den Löffel gerade halten kann, zurück und versuchen herauszufinden, warum das El Celler de Can Roca wiederholt zum besten Restaurant der Welt gewählt wurde.

Nach diesen ersten spanischen Eindrücken müssen wir an diesem Tag „nur“ noch einen Stellplatz in Barcelona finden. Die vollkommen wirre Streckenführung unseres Navigationsgeräts wird nur noch davon übertroffen, dass am Zielort kein Campingplatz sondern ein Wochenmarkt zu finden ist und wir uns in den engen Gassen zur Rushhour ziemlich verfranzen. Müde, genervt, verschwitzt und mit leerem Wassertank suchen wir in der großen Stadt nach einem Platz für die Nacht. Wir verfügen weder über eine Karte noch über ein funktionierendes Navi und die Akkus der Handys sind leer. Kathis Besonnenheit und Talent, aus einer verzwickten Lage stets etwas Positives zu gewinnen, lassen mich dennoch am Steuer nicht verzweifeln und führen uns schlussendlich doch an ein Ziel. Der Campingplatz 3-Estrellas liegt am westlichen Stadtrand und ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Mit 38€ wird es die teuerste Übernachtung der Reise bleiben und das in unmittelbarer Nachbarschaft zum Internationalen Flughafen. Das Gegenteil von idyllisch ist auch die Lage zwischen Autobahn und Strand. Einziger Ausweg vom Campingplatz in die City ist eine haarsträubende Autobahnabfahrt. Daneben führt ein fünfzig Zentimeter schmaler Trampelpfad zwischen Leitplanke und Campingplatzmauer zur Bushaltestelle. Mit den Fahrrädern in die Stadt zu radeln, kann man von hier leider vergessen.

Wir lernen unsere Nachbarn Nina und Oliver kennen. Beide sind echte Sylter und immer auf der Suche nach guten Wellen. Wir bewundern ihren liebevoll ausgebauten Bulli und sitzen bis spät in die Nacht hinter dem Maschendrahtzaun, der den Campingplatz zum Strand hin begrenzt. Gemütlich tauschen wir Geschichten von daheim aus und hören von ein paar sehr interessanten Reisezielen an der südportugiesischen Küste. Am nächsten Morgen müssen wir unseren Kinderwagen einigermaßen abenteuerlich über die Leitplanke heben. Mit dem Linienbus geht es in die Stadt. Wir sind längst noch nicht akklimatisiert und von oben brennt der Planet. Auf halber Strecke werden Joris Augen plötzlich ganz groß und eine uns bestens bekannte Duftnote macht deutlich, warum wir plötzlich viel Platz neben uns im Bus haben. Nina rüstet uns noch schnell mit der perfekten Besichtigungsroute aus und schon befreien wir klein Joris auf der Rambles, der beliebtesten Bummelmeile Barcelonas, von seiner Windel. Neben dieser landen aufgrund der umfangreichen Kontamination auch seine restlichen Klamotten im Mülleimer. Hier, im Epizentrum des spanischen „Taschendiebstahlgewerbes“ zwischen Barri Gòtic und El Raval wechseln sich Souvenirstände, Straßencafés und Ticketschalter ab, an denen man die Eintrittskarten für die Spiele des FC Barcelona für 250€ kaufen kann. Das Pflaster des Bürgersteigs glänzt in der Sonne und in den Platanen kreischen kleine grüne Papageien. Wir biegen ins chinesische Viertel ab. Überall lungern schräge Gestalten herum, die uns aus dem Augenwinkel beobachten. Kathi kauft ein paar Mitbringsel in den winzigen Geschäften, während ich das Gefühl habe, den bereits üppig behängten Kinderwagen vor den skeptischen Blicken der gelangweilten Tagelöhner beschützen zu müssen. Wir wollen uns einen Überblick über die Stadt verschaffen und erklimmen den Montjuïc. Was für ein Panorama! Wie unterschiedlich die Baustile und Ambitionen der Architekten. Wie unterschiedlich die zeitgeschichtlichen Einflüsse. Mit welchem pompösen Übermut wurden hier Plätze angelegt, mit welcher Selbstverständlichkeit riesige