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Werner Zillig hat in Erlangen, Tübingen und Münster Germanistik, Geschichte und Soziologie studiert und promovierte 1981 in Münster mit einer Untersuchung des Sprechakts »Bewerten«. Danach war er Hochschulassistent für Germanistische Linguistik an der Universität Münster. Er habilitierte sich mit einer Analyse der »Textsorte Anstandsbuch« und wurde Hochschuldozent an der Universität Münster. 1996 bis 2002 lebte er in Lille, danach in Igls. 2008 wurde Zillig zum Honorarprofessor für Linguistik an der Universität Innsbruck ernannt. Neben sprachDem Linguisten und SF-Autor wissenschaftlichen Forschungen erarbeitete er auch eine Bibliographie zum Anstandsbuch seit Knigge. Seine ersten belletristischen Texte publizierte er als Heinrich Werner in verschiedenen Science-Fiction-Anthologien. Die Veröffentlichung seines ersten Erzählungsbandes 1980 wurde von Herbert W. Franke unterstützt. 1984 veröffentlichte er mit »Die Parzelle« eine Utopie, in der die Gesellschaft allen Aussteigern begrenzte Gebiete zur Verfügung stellt, in denen sie straffrei mit Drogen experimentieren können. Nachdem Zillig im Nachwort seines Erzählungsbandes »Siebzehn Sätze. Das Gedächtnis« seinen Abschied vom fantastischen Genre erklärt hatte, wurde »Siebzehn Sätze« mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. In dem parallel publizierten Kurzroman »Der neue Duft« verwendete er Thomas Manns Erzählung »Der Tod in Venedig« als Schablone einer SF-Geschichte. Der Schlüsselroman »Die Festschrift« ist ein Campus-Roman in der Tradition von David Lodge.
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Seitenzahl: 538
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Michael Haitel & Jörg Weigand (Hrsg.)
AndroSF 206
Michael Haitel & Jörg Weigand (Hrsg.)
AUF DER SUCHE NACH DER FANTASTISCHEN SPRACHE
Dem Linguisten und SF-Autor Werner Zillig zum 75. Geburtstag
AndroSF 206
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: 22. Oktober 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Rainer Schorm
Fotos: Alle namentlich nicht gekennzeichneten Fotos wurden von Kerstin Gehring zur Verfügung gestellt.
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Jörg Weigand, Michael Haitel
Korrektorat: Michael Haitel, Karla Weigand
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 407 6
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 720 6
Hinweis: Das Bildmaterial zu diesem Werk findet sich ausschließlich in der Printausgabe.
Wenn ich den folgenden Text, dessen Rekonstruktion und Edition mich seit den Anfängen der 1980er-Jahre begleitet, nun den Augen der Öffentlichkeit übergebe, so nicht ohne den Hinweis darauf, dass das edierte Corpus keineswegs vollständig ist, obwohl der Text an vielen Stellen konjektiert und ergänzt wurde, um ihn überhaupt lesbar zu machen. Das hat seinen Grund. Die Originalhandschrift liegt heute unter Verschluss in der Universitätsbibliothek von G und wird aufwendig restauriert, sodass auf eine erneute Einsichtnahme derzeit nicht zu hoffen ist. Auf Jahre hin wird also die Öffentlichkeit mit dieser meiner Übersetzung sich begnügen müssen, denn ich unterließ es, eine Transkription der Handschrift anzufertigen. Um aber der interessierten Öffentlichkeit den wunderbaren Stoff nicht noch länger vorzuenthalten, habe ich mich zu einer fragmentarischen Edition der Übersetzung entschlossen. Der folgende Text bringt etwa ein Fünftel des Originals. Die Auslassungen sind zumeist gekennzeichnet. Ich danke Herausgeber und Verlag, dass sie meinen zuweilen sicherlich anstrengenden Wünschen nachgekommen sind. Eine vollständige Fassung der Vita ist in Vorbereitung, für 2025 geplant und kann unter [email protected] für ca. 12 EUR subskribiert werden.
Gegenstand des Textes VITA UUERNHERI scheint die Lebensbeschreibung eines Schriftstellers zu sein. Ob es sich um jenen Uuernherus handelt, dem vonseiten der Fachwissenschaft inzwischen mehrere Schriften zugeordnet werden,1 auch solche, deren Urheberschaft unklar war2, muss offenbleiben.
Die hier nun präsentierte Schrift enthält Lebenserinnerungen oder aber ist die Fiktion einer Lebenserinnerung. Wer mag das entscheiden? Ich-Erzähler ist ein gewisser Uuarnherus, der mit jenem Uuernherus identisch sein könnte, der, wie ich einer Eintragung im Kirchenbuch Hasslach entnehmen konnte, im Jahre 949 geboren wurde. Weitere mögliche Daten ergeben sich aus dem Text. Mit Schilderungen aus dem Jahre 1024 bricht der Text ab. Sein Verfasser hat aber wesentlich länger gelebt, denn seine Spuren zeigen sich in zahllosen zeitgenössischen Dokumenten.3 (Einige sind in den Endnoten nachgewiesen.)
Bei dem mir vorliegenden Originalmanuskript handelt es sich nicht um eine Handschrift des Autors Uuernherus aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, sondern um eine (stark korrigierende) Abschrift des Originals, die erst im späten 13. Jahrhundert angefertigt sein kann (Kürzel: A). Das Original O muss als verloren gelten. Der Schreiber von A hat vieles aus seinem Wissen in den abzuschreibenden Text gelegt, und zwar immer dann, wenn die Vorlage O ihm nicht mehr verständlich schien oder auch nur unleserlich war. Das Original (also die verschollene Version O) muss in Versen verfasst gewesen sein, was A nicht immer verstanden hat. Ich habe mich für eine Prosaübersetzung entschlossen.
Nun leset und freut euch. Die Sprache hat eine besondere Kraft. Sie kann herbeiholen, was weit entfernt ist. Sie kann gegenwärtig machen, was vergangen ist. Sie kann beschreiben, was es noch gar nicht gibt. […]
Und hier nun beginnt meine Erzählung über das Leben eines Mannes, den seine lieben Eltern Uuernherus nannten. Wer Sprache hat, kann das Buch des Lebens lesen.
Geboren wurde ich an den Namenstagen der heiligen Nunilo und der heiligen Alodia im Jahre des Herrn in einem Anwesen an dem Bach, den sie heute [Haßl]ach nennen. Meine Eltern waren liebe Eltern. Mein Großvater, der war so alt, dass niemand mehr wusste, wie alt er war, sagte einmal, dass man sich immer nur lächerlich macht, wenn man in die Zukunft zu blicken versucht. […4]. Mein Vater war aus dem letzten Feldzug versehrt heimgekommen und begleitete mein Leben nur noch 16 Jahre, eine traurige Geschichte, über die ich hier nicht sprechen möchte. Ebenso wenig über den Tod meiner Mutter, der mich tief traf. Ich war 52 Jahre alt.
Weil ich früh schon mit meinen Schwestern Irmtraut und Agnes selbstbewusst redete, riet man meinen Eltern, mich zu weisen Geistlichen zu geben, bei denen ich wohnen und das Lesen und Schreiben, das Rechnen und Philosophieren lernen sollte. So geschah es. Zuerst in der großen neuen Rodung bei der Kirchen, dann in Reitsch.
Der Pfaff, der bei uns die Messe las, sagte, dass mir doch ein Geist geschenkt worden sei, den ich nutzen solle. Deshalb, damit nicht in mir die Gabe Gottes zunichtewürde, sollte ich, falls ich Fäden oder Fasern aus dem Gewand der Philosophie ziehen oder herausreißen konnte, diese in mein Lernen und Leben einweben, damit mein vorläufiges Wissen bereichert würde. In jenem Jahr, als König Otto zum Kaiser gekrönt wurde, kam ich zu den Magistern im Castrum Babenberch. Ich lernte mehr als das Gelehrte. Ich studierte weiter in einem Ort bei alten Erlen, in [das Folgende unleserlich, vielleicht:]Buochenbach5, und in dem Jahr, als alle davon sprachen, dass Heinrich, der Herzog von Bayern, Giesela von Burgund heiratete, wanderte ich nach Castrum Twingia, wo ich gerne lebte. Später [laut Auskunft UB Tübingen: 1004], schrieb ich eine honesta scriptura über den Ort.6
Lesen und Schreiben machten mir Freude, und ich las in den Büchern, die ich fand: [folgende Stelle stark verderbt; rekonstruiert]:
»Daher fantasiert die verworrene Erinnerung und die wie bei halbdunklen Vorhängen eingeschlafene Voraussicht in Bildern der Beschäftigungen des Wachens und deutet oft Etwas an, was eintrifft. […] Schief und zweideutig geschieht die Andeutung der Zukunft, was der Traumdeuter [Rotkorff?] Räthsel nenn[t]. [.] Denn die der Vorahnung ihrer Seele eingeprägten Bilder der ihnen gewohnten Beschäftigungen gaben gelegentlich Anlass, mittelst jener Vorhersagung des Geistes das Künftige zu wahrsagen.«7
Bald erwarb ich von reichen Kaufleuten, für die ich fremde Briefe übersetzt hatte, altes Pergament, das ich gut zu nutzen wusste. Und das geschah so: Manche Kauffahrer kamen von weither, aus dem Hunnenland oder noch weiter von dort, wo die Welt beim Aufgang der Sonne endet. Die Kaufleute schrieben Briefe, die ihnen vorauseilen sollten, nach Ky-Ry[Schreibfehler?]oder in Länder, die nicht mit Buchstaben [buochenstabe] ihre Worte notieren, sondern mit Schrift-Zeichen (z. B. dem Yume-Zeichen), die sie von ihren Hausgöttern haben.8 Mit Eifer und Vorsicht schabte ich in den Geschäftsbüchern, die sie mir schenkten, die rußhaltige Schrift vom Pergament ab, bleichte das Pergament und konnte so die Seiten neu beschreiben. Auch dieser Bericht ist auf altem Pergament geschrieben, das ich gereinigt habe von Überflüssigem.9
Während viele meiner Freunde die Welt erfuhren, reiste ich in meinen Kopf und fand, was ich in der Welt nie finden würde: die Zukunft. Alles war nun für mich denkbar. Und ich konnte mir etwas ausdenken, was es nicht gab. Ich konnte weiterdenken, was erst angefangen hatte. Und ich konnte mir, wie beim königlichen Schach, vorstellen, was sein würde, wenn dieses oder jenes geschah und welche Figuren ich wie setzen müsste, um Unangenehmes zu verhindern und Angenehmes zu bestärken.
Eines Tages kam ein Lehrmeister zur mir und trug ein elfenbeinfarbenes Kästlein in beiden Händen. Er bat mich, es zu öffnen. Ich fand eine Feder in dem Kasten und Tinte. Er sagte: »Dies ist die Feder Alphatronis, übe so mit ihr, dass du sie im Schlaf bedienen kannst.« Und dann gab er mir ein kurzes Schwert und sagte: »Dies ist das Schwert Sago. Behandle es gut. Habe Mut, dich seiner zu bedienen. Zeige es und kündige an, dass du dich verteidigen wirst, wenn man dich und deine Freiheit bedroht oder beschränkt.«
Zuerst in der Zeit zwischen jenem Jahr, in dem sich Heinrich der Zänker in Sachsen zum König kiersen ließ, und jenem, in dem die Kaiserin Theophanu starb, schrieb ich, auch auf Anregung der Roswitha von Gandersheim, mit der Feder Alphatronis, vier Gespräche, und zwar Sed nos, artifices, ridemus [984]10, De Reconstructio [986], FacultatesFaesulae [989] und Sorgleris Reditus [991].11
Dann gab es ein Ritterfest am Flusse [Hasl-]Ach, ein Familientreffen, ein Turnier, und es kamen aus allen Himmelsrichtungen Ritter, weiße und schwarze, fahle und rote. Und sie stießen sich mit Lanzen vom Pferd und schlugen mit Schwertern aufeinander, und für alle ward gesorgt und ich dachte bei mir, wie eine schöne Welt aussehen könnte ohne Hunger und Not: Ich werde euch die Bewirtung auf dem Fest kurz beschreiben: Dort nun war von allem genug. Spiele, Musik, Gesang und Tanz gab es, bis in die tiefe Nacht und es sich manchmal schon der Morgenstern zeigte. Das bunte Treiben vertrieb jede Art von grauer Traurigkeit. Die helle Freude war überall groß wie die Sonne. Erhaben und schön spielte die Saitenmusi auf. Einige Spielleute erzählten Geschichten, andere sangen und wieder andere vom fahrenden Volk, die Regentänzer, zeigten verwegene Sprünge und Akrobatik mit Feuer und Schwert.
»Ach, Uuernherus, übertreibst du nicht über alle Maße?«, höre ich euch fragen. Aber so wahr ich hier auf dem Stein sitze, Bein über Bein geschlagen, es ist wahr, jedes Wort, das aus meinem Mund fließt. So ein Festival gab es weder vorher noch nachher.
[12 Unter diesem Volk sollte Gleichheit herrschen. Wo man nämlich einem viel schenkt und einem andern nichts, da wird der Neid geboren und jeder, der zu wenig bekommt, verflucht das Fest. Hier aber, das könnt ihr mir glauben, kam es zu keinem Streit, denn reiche Ritter, ehrenwerte Frauen und liebreizende Mädchen, starke Knappen und tolle Burschen, tanzende Singer und singende Springer, sie alle wurden nach gleichem Maße bewirtet. Man gab reichlich, reichlich an Gold und Stein demjenigen, der vorher gar nichts hatte, nicht mal ein Stück Brot. Sie alle bekamen reichlich viel, wie wohl niemand früher erhielt oder künftig geschenkt bekommen wird. Sowohl weiße oder schwarze Pferde gab man ihnen (keine braunen) wie Kleidung bunt bestickt mit Geschichten von Dädalus und Ikarus, der Argonauten, Herkules gab man auch denen, die nie zuvor etwas bekommen hatten.13 So sorgte der Burgherr dafür, dass nie niemand irgend neidisch wurde. Man gab ihnen allen genug. Niemand wurde nie vergessen, man gab nämlich allen mehr als genug. Das singe und sage ich euch in Reimen, so schön wie der Gesang der Nachtigall. Des Frohsinns nahm kein Ende, bis die Feier zu Ende war.«]14
Das war eine Welt, wie sie sein sollte. Wie sie sein könnte. Ich sah es, aber noch mehr träumte ich davon. Ich sah es voraus. So wandte ich mich von dem Fest ab und begann wieder, in den Büchern zu lesen.
Als ich mit anderen Scholaren die Apokalypse des Johannes las, malte ich mir aus, wie es wäre, wenn die Welt nicht unterginge, sondern besser würde. Das habe ich auch später [ca. 1009], als ich Jahre bei den Mönchen in der scuola[wohl am Standort des späteren Franz-Josef-Stifts und/oder eine Stiftung in einer Ansiedlung um das heutige Ottobrunn] Kinder und Jugendliche belehrte, beherzigt. Ich dachte, es wäre klüger, die Menschen nicht zu erschrecken, damit sie auf den richtigen Pfad kämen, sondern stattdessen ihnen zu zeigen, wie etwas sein könnte. So fing ich das Buch vom Paradies an:
[Die folgende Textstelle ist verderbt. Es hat sich aber in Hs G eine Textpassage gefunden, die der Schreiber einfach übernommen haben könnte.]15
Eines Tages kam ein Reiter [Ritter] in unsere Klause [clausura], der war so weiß, wie sein Pferd. Er kam aus dem Nebel. Der Ritter hatte mehr als Mut. Er trug einen weißen Bogen. Er hatte in vielen Schlachten gekämpft. Er kam gerade von cunic Ludwig. König Ludwig hatte seine Stadt Laon mit der schönen Kathedrale, die schon vor 400 Jahren zu Gottes Ehre erbaut worden war, zurückerobert. Dem Besatzer Hugues le Grand, Herzog von Francia, blieb nur die Zitadelle. Auf einem Schimmel saß er [der Ritter]. Die Pferdedecke war weiß mit goldenen Rändern. Der prächtige Sattel, der ihn auf dem Pferd halten wird, auch wenn ihn die Lanze trifft, war weiß. Und das Hemd, das er über der Rüstung trug, war ebenfalls weiß. Ein zweites [Hemd]war rot vom Blut, aber er wusch es in Milch aus und es wurde wieder weiß. Das Hemd wurde weißer als je zu vor. Nicht mal ein Kreuz hatte es. Das weiße Pferd musste nicht getränkt werden, und es fraß nicht, fraß weder grünes Gras noch Heu oder Hafer. Es lief lautlos und wurde niemals müde. Niemand hatte es je schlafen gesehen.
Oweh, wir armen Menschen, wir haben nicht aus uns ewige Kraft. Wenn sich unsere Kraft doch wie bei dem Pferd immer erneuern würde. Vielleicht haben wir im ewigen Leben ewige Kraft, dann bräuchten wir aus dem Bruch kein Holz und vom Köhler keine Holzkohle zu holen.
Der Ritter im weißen Gewand – wohl aus einer siegreichen [d. h. wohl unbesiegten] weißen Burg – gab mir ein Pergament, auf dem war eine Schrift zu sehen, die ich nicht zu lesen verstand. Es waren folgende Buchstaben:
Qbprrcntdmnsmpllnt
Dann verschwanden Pferd und Reiter im Nebel. Er hatte ein Buch dagelassen von Lukian. Da las ich von einer Reise zum Mond. Denn der Mond spricht helle Worte.16
Ich zog dann weiter in ein Kloster namens Monasteria. In der Bibliothek dort fand ich Bücher über Rhetorik und Grammatik und gewann Freunde, mit denen ich mich austauschen konnte. Herzog Canis Lupus, der Schwertstarke, und Magister Gotfridu, der aus Hirschlanc kam, liebten die Grammatik wie ich und wir debattierten Tag und Nacht und lehrten andere, und wir schrieben unsere Gedanken auf Papyrus. Mir leistete dabei die Feder Alphatronis gute Dienste. Ich fragte sie, ob sie mein Rätsel lösen konnten, aber statt ihrer antworteten meine Freunde und sie sagten:
»Ja: Qubprrcntdmnsmpllunt.«
Jetzt verstand ich immer noch nicht. Ich schrieb ein Buch, das danach fragte, wie wir etwas bewerten, wenn wir sprechen. […]
Wir sprachen auch von dem Plan, einmal ein Buch zu schreiben, in dem alle Worte der Sprache stehen, die wir sprachen. Alle, auch die teuflischen, fragten wir uns? Dürfen in Wörterbüchern auch die Worte von Ketzern stehen? Ja, wir fragten: »Darf man die Worte von Ketzern aussprechen?« Wenn die Antwort »nein« lautet, schreiben wir kein vollständiges, sondern ein moralisches Wörterbuch. Ich dachte aber, wir sollten alle Wörter überliefern. Wenn die Antwort »ja« lautet, tut man den schlimmen Worten der Ketzer die Ehre an, sie zu erwähnen. Sollten wir lieber darauf verzichten?
Der Streit um Wörter ist wie ein Kampf der Toren in der Kampfarena. Am Ende sterben alle Schwertnarren[vmtl. volksetymologische Übers. von: Gladiator], weil die Sieger wieder zum neuen Kampf gerufen werden. Die Menschen wissen, dass sie sterben, und sie wissen es doch nicht.
Unsere Streitgespräche fanden oft kein Ende, nicht bei rotem Wein in der Nacht, nicht bei der bläulichen Milch in der Frühe.
Ich sagte schließlich, wir müssten die Sprache da ansehen, wo sie bewirkt, was wir bewirken wollten. Ich fand ein Buch, in dem es hieß:
»Nunmehr habt ihr, wie ich glaube, verstanden, in welchem Sinne das Vielleicht gebraucht ist, damit nicht ein Wortklauber und Silbenstecher, der sich auf den Sprachgebrauch versteht1, das Wort tadle, welches das Wort Gottes gebraucht hat, und, indem er das Wort Gottes tadelt, nicht beredt, sondern stumm bleibe. Denn er redet so, wie das Wort Gottes redet, das im Anfang bei Gott war? Du sollst nicht unsere Worte in Betracht ziehen und an diesen uns geläufigen Worten jenes Wort messen wollen, welches Gott ist. Du hörst nämlich ›Wort‹ und achtest nicht darauf; höre Gott und fürchte: ›Im Anfang war das Wort.‹ Du hast die Alltagssprache im Auge und sagst bei dir: Was ist ein Wort? Was Großes ist ein Wort? Es tönt und geht vorüber, es erschüttert die Luft und schlägt an das Ohr, dann ist es nicht mehr. Höre weiter: ›Das Wort war bei Gott‹; es blieb, es verging nicht im Ertönen. Vielleicht achtest du noch immer nicht darauf: ›Gott war das Wort.‹ Wenn bei dir selbst, o Mensch, ein Wort in deinem Herzen ist, ist es etwas anderes als der Ton, allein damit das Wort, das bei dir ist, zu mir herüberkomme, sucht es den Ton gleichsam wir ein Fahrzeug. Es nimmt also den Ton an, setzt sich gewissermaßen in das Fahrzeug, durchschreitet die Luft, kommt zu mir und entfernt sich nicht von dir. Der Ton aber hat sich, um zu mir zu kommen, von dir entfernt und blieb auch nicht bei mir. Ist nun etwa das Wort, das in deinem Herzen war, beim Vergehen des Tones vergangen? Was du dachtest, hast du gesprochen, und damit zu mir käme, was bei dir verborgen war, hast du Silben ertönen lassen; der Klang der Silben hat deinen Gedanken an mein Ohr gebracht; durch mein Ohr stieg dein Gedanke in mein Herz hinab, der vermittelnde Ton ist verflogen; das Wort aber, das den Ton annahm, war, bevor du es ertönen ließest, bei dir; weil du es ertönen ließest, ist es bei mir und es hat sich von dir doch nicht getrennt. Dies erwäge, du Untersucher der Töne, wer immer du bist. Auf das Wort Gottes gibst du nicht acht, der du nicht einmal das Wort des Menschen begreifst.«17
Mir gefiel das nicht, und ich fragte, ob die Sprache nicht erst im Alltag bei sich angekommen ist.
Dann begab ich mich auf Wanderschaft. Ich kam nach Saint Quentin und ein großes Gewässer, an dem im Osten die Uthlande liegen. Ich hatte von Rungholt gehört, wollte auf die Insel. Aber der Hafen war verkettet. Zwerge standen mit großen Peitschen am Tor und schlugen jenen, der versuchte, an den Hafen zu kommen. Ich sollte Tribut zollen, hatte aber weder genug Geld noch ausreichend Gold. Da sah ich in der Ferne einen roten Ritter. Ein rotes Gewand trug er und einen Fuchs ritt er. Sein Schwert war vom Blut rot gerostet. Sein roter Bart leuchtete um seine roten Lippen. Ich ritt ihm nach, bis er in einem brennenden Wald verschwand. [.]
Ich baute ein Boot, mit dem ich über den Grund des Meeres fahren konnte. Niemand sollte mich fangen: Ich nahm dazu Lederhäute, die ich mit flinker Nadel zusammennähte und über ein fischförmiges Geflecht aus Weidenhölzern spannte, sodass ein Hohlraum entstand. Er war so groß, dass ich darin sitzen konnte. Damit ich sehen konnte, wenn ich über den Grund fuhr, nähte ich vorne eine Schweineblase ein. Innen saß ich auf einem Sattel, meine Beine steckten in hohlen Pferdebeinen, mit denen ich über Grund lief. Um zu steuern, hatte ich eine Schwanzflosse eines großen Fisches angenäht, die ich mit Seilen nach hier und nach dort zog. Da das Schiff mit Luft zum Atmen gefüllt war, musste ich es mit Steinen beschweren, damit es abtauchte. Wollte ich wieder oben auf dem Wasser schwimmen, musste ich nur ein paar Steine abwerfen, und schon stieg das Schiff aufwärts.
So fuhr ich los, mit Steinen schwer beladen. Ich fuhr am Meeresgrund. Als die Luft im Lederboot schlecht wurde, tauchte ich auf, um wieder atmen zu können. Ich orientierte mich an den Sternbildern. Die Sternbilder hatten für mich nichts Außergewöhnliches mehr an sich. Man könnte auch sagen, dass ich mich daran sattgesehen hatte. Auch an den Frauen der Sternfahrer. Ich schrieb siebzehn Sätze und die Schrift Sequere-sursum notas. Da schwor ich den Sternbildern ab. (Und blieb ihnen doch treu: Diabolus est mundior, non quia diabolus est, sed quia senex est.) Und ich schrieb De memoria. Denn diesmal ging es um etwas Ernstes. Ich wollte zu den sagenhaften Inseln im Nirgendwo, um herauszufinden, ob die Menschen leben konnten, wenn sie nicht von Gottes Hand geleitet wurden. Wurden sie dann von anderer Hand geleitet? In irgendjemandes Hand sind wir immer.
Vielleicht weil ich unkundig war und ohne Maß, wurde ich vom Wind abgetrieben und kam auf ein Eiland, auf dem die Menschen Land bebaut hatten und versuchten, ein gottgefälliges Leben in Maße, Demut und Wohlstand zu führen. Aber was war gottgefällig? Das wusste man nicht. Man musste es leben und schauen, wen Gott bestraft und wen er mit Zukunft segnet.
de coloni [Über einige Kolonisten]18
Das Land war aufgeteilt in kleine Kolonien [vgl. lat.: colonia] oder Parzell[.] [Text bricht ab. Es fehlen zwei Blätter].
Auf einer Tafel am Eingang war in flimmernder Schrift geschrieben:
»ALLE, DIE IN DER GEMEINSCHAFT DER MENSCHEN EINEN BREITEN SONDERWEG GEHEN WOLLEN, KAUFEN ODER PACHTEN EIN GEBIET UND DÜRFEN DA IHREN TRAUM AUSLEBEN. ES GIBT NUR EINE BEDINGUNG: SIE MÜSSEN IN JEDER HINSICHT FÜR SICH SELBST SORGEN. ZUSCHÜSSE VON AUSSEN GIBT ES NICHT.«
Tagelang ritt ich durch das Land der Parzellen. In einer Parzelle stand eine Pyramide, so hoch, dass die Spitze in den Wolken verschwand. Innendrin war eine Mühle, die ein Rad antrieb, das das Wasser bis in die Spitze des Turms hob, damit es herunterrieseln konnte. Kisten wurden hochgehoben, die man betreten konnte, damit man, wie auch das Wasser, nach oben getragen wurde. Es war rasant, die Himmelfahrt mal so zu begehen. Im ganzen Haus waren Schriftrollen und Bücher und Räume mit Weisen, die alles wussten. Man konnte sie alles fragen, und wenn sie etwas nicht wussten, dann schlugen sie es in den Büchern nach. An einem Tag stellte man die Frage, am nächsten Tag bekam man die Antwort. Ich zeigte einem Weisen meinen Buchenzweig mit den Schriftzeichen. Er nickte weise, schrieb etwas und gab es mir zu lesen:
QEBPERERCENTEDEMNSMPELLNT
Du musst das Weitere selbst herausfinden, sonst ist es dir nichts wert. Ich verabschiedete mich und ging weiter zu einem Torwächter. »Was ist das für ein Land hier?«, fragte ich ihn. Er antwortete:
»Wir haben Frieden hier, weil wir alles wissen und wollen, dass alle alles wissen. Wenn alle alles wissen, gibt es keine Herrschaft mehr. Es ist wie mit sich selbst Schachspielen: Du kannst dich nicht selbst betrügen. Wenn alle alles wissen, kann man niemanden mehr betrügen. Alle Urteile haben die gleiche Sachgrundlage. Und im Pyramidenhaus werden die Türen nie verschlossen, nicht am Tage nicht und nicht in der Nacht. Und nichts Unreines und Gemeines werden hineinkommen und keiner, der Gräuel tut, betrügt und lügt, kommt hinein. Und ein Strom lebendigen Wassers fließt durch die Pyramide, klar wie Kristall, mitten auf den Gängen und auf beiden Seiten des Wassers wachsen Bäume. Sie tragen zwölfmal im Jahr Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht. Und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Menschen. Überall fließt Wasser. Wir brauchen kein Holz, weil unsere Körperwärme die Pyramide wärmt. Wir essen Pflanzen, die im Haus wachsen, reichlich Wasser bekommen und das ganze Jahr von warmen Sonnenstrahlen bereichert werden. Flatternde Windmühlen fächeln frische Luft ins Haus, die langsam erwärmt wird oder, im Sommer, mit Wasser gekühlt wird. Und die Männer und Frauen sind alle gleich, weil alle alles wissen und jeder alles kann. Wenn er will.«
Gab es so etwas? Sollte es so etwas geben? Ich ritt weiter. Da begegnete mir ein bleicher Ritter. Ich sah ihn erst, als er ganz nah war. So fahl erschien er. Sein Haar hatte keine Farbe und glich seiner fahlen Haut. Er ritt ein falbes Pferd, und die Pferdedecke war aus dem Haar der Kamele. Ich lud ihn ein, das Brot, das ich noch hatte, mit ihm zu teilen, und er gab von seinem Wein, den er mit sich trug, einem Grauburgunder, dazu. Er erzählte, dass er vom Strand käme, wo er eine Spinne aus dem Meer hat steigen sehen. »Die hatte zehn Häupter mit Hörnern«, erzählte er. »Und auf ihren Hörnern saßen zehn Kronen. Und auf die Kronen waren schlimme Namen geritzt. Und ein Tier, das ich dann sah, war einem Panther gleich. Seine Füße waren wie Bärenfüße, und sein Rachen war wie ein Löwenrachen. Ich schlug mit dem Schwert auf ihn ein und sah eines seiner Häupter fallen, aber die tödliche Wunde verschloss sich sofort wieder. Kein Eingriff von außen war erfolgreich. Doch ich besiegte das Tier mit einer List, indem ich seine Gedanken bezwang. Ich stieg in seinen Riesenkopf und saß in seinem Kopf und dachte für das Tier.«
Ich hörte aufmerksam zu. Und er erzählte die Geschichte noch einmal. Und noch einmal.
Dann lud mich der fahle Ritter zum Abendmahl ein. Er zeigte auf ein Gehöft und lud mich ein. Ich sah Menschen, die auf dem Boden lagen. Sie bewegten sich ganz langsam, als würde man die Zeit dehnen. Fragte man sie, wo es zum Mundschenk ginge, antworteten sie Unverständliches. Ich sah, dass einige Pulver schluckten, statt zu essen, und andere hatten ein Rohr, an dessen einem Ende ein Mundstück und am anderen Ende ein Behältnis war, das sie in Brand gesteckt hatten. Sie atmeten den Rauch ein. Danach sangen sie Choräle. Andere aßen giftige Pilze, was ihnen aber nichts machte, oder sie tranken bitteres Rauchbier und süßen Wein. Ich fragte sie, ob sie mein Rätsel lösen könnten und sie sagten:
»Ja. Die Lösung lautet: Qaabprarcntadmnsmpllnt.«
Der Ritter sagte: »Sie verlassen das Gehöft nie, arbeiten nicht, sondern träumen, schreiben ihre Träume auf und verkaufen sie. Was sie am Träumen hindert, schreiben sie auf, um träumen zu können.«
Ich dachte: Ist meine Lebensbeschreibung etwa nur eine Traumerzählung von ihnen, die sie aufgeschrieben haben? Haben mich die rauchenden Schreiber erfunden? Wer weiß es? Bin ich gar nicht ich, sondern zusammengesetzt aus Sätzen, die nicht ich, sondern andere vorher gesprochen haben? Bin ich zu ihnen, wie die Maus im Mauseloch zu mir ist? Ich bin wie diese, und diese waren zusammengesetzt aus siebenzehn Sätzen, die nicht sie, sondern zuvor andere gesprochen hatten, solche, die vor ihnen lebten? Sind wir nicht das Geschenk der Sätze anderer? Spricht nicht die Sprache aus uns und nicht wir selbst?
Der Ritter sprach weiter: »Viele Menschen, die in Büchern lesen können, wollen ihre Träume kaufen. Und als ich einem ihrer Philosophen vorwarf, dass sie die Welt nicht erführen und keine Abenteuer bestünden, fragte er zurück:
›Was passiert, wenn du einem wilden Tier begegnest?‹ Das fragte der Philosoph.
Und ich antwortete: ›Ich gerate in Schrecken.‹ Das sagte ich.
›Woran merkst du das?‹, fragte da wiederum der Philosoph.
›Meine Hände werden feucht, mein Herz schlägt, mein Magen krampft sich zusammen.‹ Das antwortete ich. Da sagte er:
›Dann pass nun auf‹, sagte er, und er erzählte mir eine grausige Geschichte von einem Mann, der sich nachts in einen Wolf verwandelte und mit einem Tier kämpfte, das zehn Hörner hatte und sieben Häupter und auf jedem der Hörner hätten zehn Kronen gesessen. Und auf die Kronen waren schlimme Buchstaben geschnitzt qbprrcntmnsimpllnt. Meine Hände wurden feucht, mein Herz schlug laut und mein Magen krampfte sich zusammen.
›Siehst du?‹, fragte der Philosoph. ›Was ist der Unterschied zwischen Dir, der meine Geschichte gehört hat, und dem, der gekämpft hat? Zwischen dem Leser der Zeichen und dem Bezeichnenden? Finden nicht alle Abenteuer im Kopf statt? Worin besteht der Unterschied, wenn ich dir von einer Reise erzähle und wenn du reist?‹«
Sind meine Abenteuer, die zur Insel mit den Parzellen [Communis] führten, auch nur Träume? Habe ich sie nicht wirklich erlebt, das Land nicht echt durchfahren, sondern die Geschichte nur durchdacht? Was ist heute, wo ich dies schreibe, in der Erinnerung anders, in der ich, was geschah, mit dem verwechsele, was ich dachte, dass es geschah? Meine Erinnerung betrügt mich. Unterscheidet die Erinnerung zwischen Erlebtem und Erzähltem? Sie vergisst das Unangenehme und erinnert das Schöne. Sie fügt hinzu, was nie war. Was unterscheidet die Erinnerung an eine Erfahrung von der Erinnerung an die Lektüre einer Erfahrung? Ist es der Erinnerung nicht gleich?
In einer anderen Parzelle, da wohnte ganz allein in einem weißen Zelt eine junge Frau, ein Mädchen noch. Sie sah nicht aus wie die anderen Mädchen. Sie war anders. Abends kamen die Menschen aus der Umgebung zu ihr. Die Frau führte des Abends im Dämmerlicht ein römisches Theaterstück auf. Dabei tanzte sie wild und holte Menschen aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, Männer wie Weiber. Dann spielte sie mit ihnen ihr Stück. Sie spielte ihr eigenes Stück, das betitelt war: Helga Iocus Diversum. Es stellt die Geschichte dar von einem Mädchen aus weißer Zeit, das nicht als Magd auf dem Hof arbeiten, sondern vor Rittern und Kaufleuten tanzen will. Und es tanzt so schön, dass die Männer vergessen, dass es ein Mädchen ist, und dass die Frauen vergessen, dass es eine Konkurrentin ist. Dann geht das Mädchen auf Fahrt mit Gauklern, die von Burg zu Burg ziehen und Theaterstücke spielen, die allen gefallen. Wenn das Mädchen auftritt, vergessen alle, worum es in dem Stück geht und wollen nur das Mädchen spielen sehen, lustig, traurig, tragisch, verzweifelt und überdreht. Es soll Späße machen wie ein Narr und jammern wie ein Klageweib, es soll ein Mädchen sein, und doch schon schön wie eine Frau, es soll als Frau noch ein Mädchen bleiben, niedlich mit Schmollmund. Und alle jubilierten und riefen: Noch ein Stück! Noch ein Stück! Sie geben dem Mädchen Kost und für die Nacht schenken sie ihm Stroh zum Schlafen, und dann zieht das Mädchen weiter, und aus Wut, dass es weiterzieht, ziehen alle über das Mädchen her. Und es ist ganz verzweifelt, weil niemand achtet, was es kann, sondern jeder nur sieht, was es zeigt. Aber ist, was das Mädchen zeigt, nicht etwas, was niemand kann, und neiden es ihm deshalb nicht alle? Jeden Tag spielt das Mädchen das Stück, aber weil es immer andere Personen aus dem publico [im Original lat.]auf die Bühne holt, ist das Stück jeden Tag anders. Damit ist die Geschichte zu Ende.
Ich dankte dem fahlen Ritter, sagte »Lebewohl!« und zog weiter.
Da traf ich einen uralten Scholaren, der auf einem alten Pferd ritt. Der ein altes Pferd zu Tode ritt. Als ich an ihm vorbeireiten wollte, fragte der Greis mich etwas, was ich mich auch fragte: »Werden Bücher bleiben?«
Da antwortete ich: »So lange es die Schrift gibt. Und die Schrift brauchen wir: um nicht zu vergessen. Um unsere Gedanken anzusehen. Um uns zu verbessern. Um anderen zu sagen, was wir denken.«
»Aber ist die Schrift auf ein Buch angewiesen?«
»Auf etwas, worauf man sie schreibt. Das dauerhaft ist. Das man transportieren kann. Aber es wird anders kommen. Vielleicht so, wie es mal war.19 Im Buch der Bücher lesen wir: König Belschazzar gab ein großes Gastmahl für seine tausend Großen und vor den Tausend trank er Wein. In seiner Weinlaune nun ließ Belschazzar die goldenen und silbernen Gefäße holen, die sein Vater Nebukadnezzar aus dem Tempel in Jerusalem mitgenommen hatte. Jetzt sollten der König und seine Großen, seine Frauen Katharina und Jolanda [sicherlich Abschreibefehler] und Nebenfrauen daraus trinken. In derselben Stunde erschienen die Finger im Licht wie die einer Menschenhand und schrieben gegenüber dem Leuchter auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes. Der König sah den Rücken der Hand, die schrieb: ›Qebperercentedemnsmpellnt.‹ Da sah der den Geist in den Steinen, erbleichte und sagte zu den Weisen von Babel: Wer diese Schrift lesen und mir deuten kann – was er auch sei: Er soll in Purpur gekleidet werden, eine goldene Kette um den Hals tragen und als der Dritte in meinem Reich herrschen.«
Dann zog ich weiter ins Heilige Land, wo Christen, Juden und Sarazenen sich streiten, wer den richtigen Gott anbetet. […] Einen Fluss musste ich durchqueren, da warteten vor Pyramiden lange Drachen auf die, die den Fluss durchquert hatten, um sie aufzufressen. An den Ufern wuchs Papyrus, und die gefährlichen Drachen lauerten im Papyrus. So nannte man das Gebiet das Königreich des gefährlichen Papyros. Da fragte ich die Wissenschaftler, die dort lebten, ob sie mein Rätsel lösen könnten. Und sie sagten:
»Ja: Qbprrcntdmnsimpllnt.«
Dann traf ich einen Mann, dessen Frau Jolanda hieß und der ein Buch über Mondsüchtige [d. i.: Schlafwandler]geschrieben hatte. Ich fragte ihn, ob er mein Rätsel lösen kann und er sagte:
»Ja. Qboprrcntdmnosmpllnt.«
Und dann sprach er, und ich schrieb schnell mit meiner Feder Alphatronis mit:
»Denn unabänderlich ist das Irdische, mag es sich auch scheinbar verändern, und würde selbst die ganze Welt aufs Neue geboren, sie würde trotz des Erlösers Tod den Stand der Unschuld im Irdischen nicht erlangen, nicht ehe das Ende der Zeit erreicht ist.«
Dann las ich von den Taten des Merowingers […], eines schrecklichen Königs.20 Ich hätte ihn gern einmal befragt, darüber, was der Grund für seine bösen Taten war. War es möglich, mit Verstorbenen zu reden? Ich wollte herausfinden, ob Licht ein Gedächtnis hat und ob man es in eine Truhe sperren kann. Ich würde dann den Körper eines Bösen mit Licht übergießen, würde das Licht wieder einsammeln, in den Schrank legen, und wenn ich Zeit und Macht hätte, würde ich das Licht an anderer Stelle wieder ausgießen, und, weil es sich erinnert, wie es zuvor geflossen ist, würde es wieder so fließen, sodass man sehen könnte, was es einst umflossen hatte.
Alle schrecklichen Päpste, Könige und Kaiser und der Heerführer Etzel müssen dann das Licht scheuen. Denn nur im Dunkeln sieht und erkennt man sie nicht. Wenn sie aber im Licht stünden und das Licht eingefangen würde, das über sie hinweg geglitten ist, wenn es aufbewahrt und wieder frei gelassen würde, dann könnte man auch in fernen Zeiten ihre Untaten sehen. Und man könnte sie immer wieder sehen, wenn man das Licht ausgießt. Man könnte die Bösen in sicherem Rahmen auferstehen lassen, studieren und wieder wegschließen. Und man könnte sie befragen, warum sie so böse sind. Und so könnte ich alle mit Licht übergießen, das Licht auffangen und es ausgießen, wenn ich jemanden befragen will. Ich habe von solchen Geschichten in Büchern gelesen, allerdings berichteten sie von Männern, die den Schall gefangen hatten.21
Weil ich aber keinen Behälter fand, in dem ich das Licht auffangen konnte, ohne dass es durch die Ritzen entwich, begab ich mich wieder auf Wanderschaft. Ich wanderte den I*[nn]22 hinauf und kam an eine Siedlung, die die Römer Veldidena nannten.
[Die folgende Textstelle ist von so poetischem Eigensinn, dass ich in der Übersetzung die Binnenreime belassen habe. Bei der Übersetzung ziehe ich Zillig 1984/202323 heran, der eine erste, bemerkenswerte Prosaübersetzung (freilich ohne den Quellentext zu edieren) versucht hatte.]
Da lag aber über dem tiefen Tal ein vages, trauriges Licht. Ein gelblicher Glanz, der gruselnd rief. Da unten, so schien es, da ragten Turm und Kuppel aus wallendem Nebel auf. Allmählich erst, als ich das Tal mit tastenden Blicken betrat, da wurde mir Unwissendem bewusst, dass es diese Riesenhöhlen in Wirklichkeit nicht gab. Gab es Riesen? Blieb nur, dass sie sich unter dem Berg oder Hügel [Stelle verderbt; vmtl. »befanden«].24 Ich ging in die Höhle, den Bogen gespannt, das Schwert Sago in der rechten Hand [es muss sich um einen Abschreibfehler handeln] und suchte Lemuren und nach ewigen Spuren. Ich spürte früh schon die Kühle, sah durch viele Hände bekritzelte Wände, es bewegten sich, so schien's, Lemuren im wabernden Schlamm. Als ich dem hellen Tage schon um Stunden verloren war, sah ich ein rotes Feuer mit gelbem Schein. Fast im Dunkeln, in schlafender Lage und jedes Schutzes bar, sah ich den Riesen allein. War es Haymon? Ich warf einen Stein, um ihn durch solch Necken aufzuwecken, und er wühlte und brüllte und sann und begann, knackend Knochen und Glieder zu recken und zu strecken. Bleib still, ich bin allein und ohne Arg. Ich fand nur eine Frage, die brachte ich dem Riesen dar. Da lud er mich ein. Seine Beine waren wie Baumstämme, die Füße wie Schiffe, die über die weite See fuhren. Der Körper glich einer Zehntscheune und die Augen brannten im Kopf so groß wie Wagenräder. Vier Augen hatte er, in jede Himmelsrichtung eines, so sah er die ganze Welt, ohne den Hals zu wenden. Bist du der Riese Haymon?, fragte ich, und er sagte Nein. Das Wort war an diesem Ort so laut, dass es donnerte und von den Wänden Steine fielen.
Da sprach er: »Ich bin sein Neffe und Erbe, auf das nichts verderbe, was er geschaffen hat. All sein Wissen hat er in seiner Weisheit mit seinen Händen an den Wänden aufgeschrieben, damit es den Riesen und Menschen immer erhalten bleibt und nicht fault wie Papyrus und nicht bricht wie Pergament. In den ewigen Stein geritzelt, und wenn es keine Bäume und Tiere mehr geben wird, und wenn die Erde glimmt und glüht und alles versengt, und selbst wenn das Feuer erlischt, werden seine Worte an der Wand noch wahrhaft zu lesen sein.«
»Das Buch der Welt. Was sind seine großen Worte?«, fragte ich. […]
»Große Worte sind wie Sandsteinblöcke, die den Menschen erschlagen. Auch lassen sie sich türmen, ohne je den Himmel zu erreichen. Sprachverwirrung, wie einst in Babbel-Babylon, sind sie. Innen hohl. So zerfallen die steinernen Türme bald. Wie die objektive Wahrheit. Hört dazu folgende Geschichte, die die Überschrift trägt:
Vom Ursprung der Überschwemmungen.
Ein berühmter Schriftgelehrter nahm einst Sand in die Hand, und er hoffte, dass der Sand in seiner Hand umso fester würde, je mehr er die Hand zusammendrückte. Bis der Sand zu einem Stein gepresst war. Das ist ein Bild, wie es uns die Bibel lehrt, ein Gleichnis. Je mehr der Schriftgelehrte definierte und komprimierte, desto stärker sollte der Sand zu Stein werden, mit dem er die Wirklichkeit zerschlagen und als menschliche Erkenntnis wieder auftürmen wollte. Hört, wie er es machte: Er bestimmte zum Beispiel den Fluss als Wasser, das in einem Bett fließt. Aber er bedachte nicht, dass in alten Zeiten der Flussrand aus gutem Grund nicht Rand, sondern Ufer genannt worden war. Er glaubte, dass der Fluss in seinem Bett blieb, weil er Fluss so definiert hatte. Weil er Fluss als Wasser, das in einem Bett fließt, definiert hatte, glaubte er bald auch, dass es so in Wirklichkeit sein müsste. Hätte der Schriftgelehrte doch nur auf die Sprache des Alltags geschaut, dann hätte er gewusst, dass Ufer von Over kommt, also jenen Streifen Land meint, an dem der Fluss sein Bett verlassen und sich ausbreiten kann.
Die Schriftgelehrten wollten aber das Ufer der Worte befestigen. Sie wollten die Sprache in ein Begriffsbett legen, wie das Wasser im Flussbett lag. Sie wollten die Ränder der Worte bestimmen. Sie wollten beides kanalisieren, Wasser und Worte. Sie bauten Mauern um die alltäglichen Worte, doch in den Mauern war am Ende nichts. Sie nahmen den Sand der Sprache in die Hände und wollten ihn formen und zusammenpressen. Aber wenn sie die Worte in den Zwang ihrer fünf Finger nahmen, rieselte der Sand aus ihren Händen und am Ende hatten sie nichts in der Faust. Der Sand aber war auf den Boden gefallen, hatte sich verteilt, ließ sich schichten und verschieben, aufschütten und untergraben. Es wurde kein Turm gebaut, dafür aber wurden Sandburgen geschaffen, die gut vor jenen schützten, die mit leerem Köcher kamen und glaubten, sie wären voll. Sie warfen die Steine in die Sandburgen, doch die Steine blieben stumm. Sie wurden vom Sand überdeckt. Sie wurden vom Sand übergangen. Nur der Sand blieb, der sich in alles hineindrängte, den jeder spürte und benutzte, als läge er auf Brotkrumen und Salz. So lautete die Geschichte.
Und dann nahm der Neffe des Riesen Haymon ein Buch und las vor:
»Die Heimfahrt der Magier und Astronauten ist uns ernste Mahnung: Wir sollen es immer wieder bedenken, dass auch wir uns das Land suchen müssen, das uns als Erbe übereignet ist. Ich fürchte fast, du verstehst es nicht, dieses Land heißt ›Paradies‹!«25
Das könnte das Programm meines Schreibens werden, sagte er. Das Land Paradies mit Worten suchen. Ich denke auf Grund meines Wissens. Opinior futurum et utere scientia mea. Ich denke mir das Wissen aus.
Ich reiste wieder über welliges Land, an weiß schäumenden, grünen Flüssen entlang, die die Kühle aus den Bergen brachten, ich sah geschmückte Höfe und kinderreiche Weiler und kam zu den Mönchen an dem Fluss mit dem Namen Isura. Ich wohnte in einem verlassenen Kloster, das ein Walterich einst gegründet hatte. Noch heute sagen die Leute, wenn man dort lebt: Er wohne bei den Mönchen. Ich nahm eine bescheidene Hütte und lehrte, was ich gelernt hatte, die Scholaren, die vorbeikamen auf ihrem Weg von Süden nach Norden und von Norden nach Süden. Ich lehrte sie Rhetorik und Grammatik und die Sprache der Riesen. Und abends, wenn das Feuer in den verlassenen Ruinen brannte, erzählte ich Geschichten. Ich erzählte Geschichten aus der großen Höhle und aus Zeiten, die es einst gegeben haben würde. Ich schaute aus der weiten Zukunft auf die nicht ganz so weite Zukunft zurück und meinte doch immer die Gegenwart. Und ihre Begründungen. Also doch die Zukunft. Ich schrieb alles auf mit der Feder Alphatronis. So möchte ich hier einen Brief abschreiben, den mir die kluge Roswitha einst schrieb. Er beschreibt, was ich immer machen wollte. Es begann mit den Worten: »Quae ab opere arcent, eadem nos impellunt.«
[Hier bricht das Manuskript ab.]
© Nachbemerkung: In der Erzählung werden Lebensdaten, Titel, Werke, Stoffe, Motive und Gedanken von Werner Zillig© verarbeitet. Ich, der Autor, der Werner Zillig zum ersten Mal 1980 traf, habe in seinen Werken kräftig geplündert und aus ihnen zitiert. Vielleicht aber ist sogar alles nur geklaut und zitiert … und die gesamte Erzählung ist ein Plagiat und nichts ist von mir? Vielleicht sind es sowieso die Sätze, die uns schreiben?
1 Viele der Schriften, die den Autorennamen Hinrich [de] Uuernher(Heinrich Werner) tragen, gehören dazu. Einige Abdrucke in: Zillig, Werner: Mein Sonntag in Münster. Murnau 2017. S. 7–16 und 18–35.
2 So die anonyme Schrift: GLADIATRIX: de mulieribus in circo, eine frühmittelalterliche Schrift in mittellateinischer Sprache, die der Frage nachgeht, ob es bei den religiösen Kampfspielen in Rom auch Frauen gab, die als Kämpferinnen auftraten. Ein in Fragmenten überliefertes Unterkapitel lautete in Übersetzung: »Wie manche Frauen mit dem Wort [es könnte statt Wort (»verbum«) aber auch cultrum zu lesen sein] streiten.«
3 Tonfall und Vokabular des (bisher undatierten) Gedichts De Mortuis verweisen auf einen Verfasser namens Uuarnharus, der mit der hier besprochenen Person identisch sein könnte. (Übers. abgedruckt in: Bürger, Gottfried: Hier wohne ich. Behauptete Balladen. Unterhaching 2018. S. 10–11.) Weitere Forschungen folgen.
4 Nur in einer einzigen Kopie von A, in der sogenannte »gefälschten« Hs Z [vgl. dazu: Verf.: Handschriften und Fälschungen der sogenannten Uuernehrus-Biographie. Ein Forschungsbericht. In: Wirkendes Wort (eingereicht)] folgt hier ein Gespräch mit dem Großvater, sodass davon auszugehen ist, dass dieses Gespräch später hinzugefügt wurde. Im Jahre 2002 wurde eine ausgezeichnete Übersetzung dieses Fragments veröffentlicht (»Der Großvater«) in: Zillig, Werner: Die Sonde. In: Wagnis 21. Hg. v. Jörg Weigand. Asendorf 2002. S. 253–279. Hier S. 255.
5 Vermutlich nur allegorisch: Ort bei den Büchern.
6 Die mit Miniaturen prächtig illustrierte Handschrift Caelum supa Castrum Twingia (Standort: UB Göttingen, unter Verschluss) ist unter dem Titel Der Himmel über Tübingen 2021 von Werner Zillig ediert und mit aktuellen Kommentaren versehen worden.
7 Gregor von Nyssa: De opificio hominis / Abhandlung über die Ausstattung des Menschen. Zit. nach: Ausgewählte Schriften des heiligen Gregorius, Bischofs von Nyssa. Übers. von Heinrich Hand. Kempten 1874. (= Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Bd. 24). Kap. 13. S. 247.
8 Mehrere, mit der Vita Uuerneris erstaunlich übereinstimmende Fragmente fanden sich in der Sammlung von japanischen Handschriften, die unter dem Titel Die Hand des kosmischen Affen 1982 ins Deutsche übersetzt und von Ken Okuras, Peter Wilfert und Werner Zillig herausgegeben wurde und sogar als Taschenbuch erschien (München 1982, Goldmann 23403). Vgl. etwa S. 37.
9 Manche Textstellen scheinen von alten Geschäftsbriefen zu stammen, die nicht richtig abgeschabt worden waren und wieder erschienen sind.
10 Nach langen, und, wie ich nicht unerwähnt lassen möchte, von keiner einschlägigen Stiftung geförderten Recherchen (»Zuschüsse von außen gab es nicht«) habe ich tatsächlich eine Edition bzw. Übersetzung dieses Stückes gefunden in: Franke, Herbert W. (Hg.): Kontinuum 3. Berlin 1986 (Ullstein Buch 31134). S. 104–130.
11 Szenische Lesungen der Stücke sind derzeit bei YouTube abrufbar. Hier wollte man offensichtlich einer Edition von autorisierten Herausgebern zuvorkommen. Sind das Auswüchse der modernen Mediengesellschaft – oder Versuche, ein junges Publikum anzusprechen? Vgl. werner-zillig.de/lena-meyer-landrut-und-frank-elstner.
12 Die folgende Textstelle ist in altfranzösischer Sprache; sie scheint aus einer anderen Schrift entnommen zu sein, die aber der Schreiber von A nicht gekannt oder verstanden hatte. Vermutlich hat der Autor von O ein Pergament benutzt, dass nur oberflächlich gereinigt war, sodass hier ein noch älterer Text erscheint. Ich verweise noch einmal auf meine Studie: Handschriften und Fälschungen der sogenannten Uuernehrus-Biographie. Ein Forschungsbericht. In: Wirkendes Wort (eingereicht).
13 Lambertus Okken (= Hartman von Aue erzählt. Erec, Iwein, Gregorius, Der arme Heinrich. Aus dem Mittelhochdeutschen von Lambertus Okken. Frankfurt a. M./Leipzig 1992. S. 48) übersetzt trefflich, was hier gemeint ist: Alles »schenkte man kleinen Leuten, die bislang niemand nach Bedarf versorgte«. Ein wenig nimmt die Beschreibung das vorweg, was später zum Slogan von Woodstock wurde: Three Days of Love and Peace.
14 Ich verweise zum Vergleich mit dieser altfranzösischen Textstelle auf eine ähnliche Textstelle bei Hartmann von Aue: Erec. Vers 2135 ff.
15 Vgl. die Übersetzung einer anonymen Schrift novum odorem [um 881–882] bei: Zillig, Werner: Der neue Duft. Eine Erzählung aus der Kultur von morgen. Münster 1989.
16 Vgl. den launigen Bericht vom japanischen Symposion in Münster: »Ein anderer Sonntag in Münster«, in: Zillig, Werner: Mein Sonntag in Münster. Murnau 2017. S. 303–313.
17 Augustinus von Hippo (354-430): Tractatus in Euangelium Iohannis / Vorträge über das Johannes-Evangelium (Bibliothek der Kirchenväter). 37. Vortrag. Kap. 4.
18 Vermutlich war dies eine eigenständige Schrift, die hier von O oder A in den Text gesetzt wurde.
19 Vgl. die anregende Diskussion auf: werner-zillig.de/was-wird-aus-den-guten-alten-buechern.
20 Diese Passage ist in der Handschrift B mit leichten Veränderungen überliefert. Vgl. die freie Übertragung bei: Zillig, Werner: ›Führer befiehl …‹. In: Kugler, Hans Jürgen; Moreau, René: Macht & Wort. Die Macht der Sprache – Sprache der Macht. Berlin 2021. S. 276–300. An dieser Stelle ist es sicherlich angebracht, noch einmal auf meine kleine Studie zu verweisen: Handschriften und Fälschungen der sogenannten Uuernehrus-Biographie. Ein Forschungsbericht. In: Wirkendes Wort (eingereicht).
21 Es ist unklar, worauf der Verf. sich bezieht. Bisher sind über diesen Sachverhalt nur spätere Überlieferungen bekannt, die aber sehr wohl auf frühere Texte zurückgehen können. Im Jahre 1579 versuchte der Italiener Giambattista Della Porta (1535–1615) Worte in mittelgroße Bleirohre einzuschließen, die nach dem raschen Öffnen des Verschlusses wieder zu hören waren. Ein Nürnberger Optiker, von dem nur der Familienname Ferdinand bekannt ist, hatte die Idee, Sprache in eine so kompliziert gestaltete Spiralstruktur einzugeben, dass sie erst nach einer Stunde am Ausgang der Struktur (wie ein Echo) zu hören ist. In der Zwischenzeit könnte sie, so hoffte der ideenreiche Optiker, an einen anderen Ort transportiert und dort abgehört werden. Im Lalenbuch werden die vielfältigen Versuche von handwerklich exzellent geschulten Bürgern der Stadt Schilta (Landkreis Elbe-Elster) berichtet, Licht in Gefäßen, z. B. mit verschlossenen Trichtern und Eimern ins Haus zu tragen. Ganz offensichtlich gibt es eine mündliche Tradition, Licht oder Schall einzufangen, die der Verf. hier bereits im 10. Jh. aufgreifen kann.
22 Im Original nur »I«. Konjektur.
23 Vgl. Zillig, Werner: Die Parzelle. [1984] Winnert 2023. Über die Textgrundlage Zilligs vgl. meine kleine Studie: Handschriften und Fälschungen der sogenannten Uuernehrus-Biographie. Ein Forschungsbericht. In: Wirkendes Wort (eingereicht).
24 Vgl. Zillig, Werner: Die Parzelle. [1984] Winnert 2023. S. 39. Mit kleinen Konjekturen meinerseits, VL Vgl. oben Fußnote 22.
25 Die Quelle ist bisher nicht sicher identifiziert. Vgl. aber die Übereinstimmungen mit: »Mánot unsih thisu fárt,/ thaz uuír es uuesen ánauuart,// uuir únsih ouh birúachen,/ intị eigan lánt suachen.// Thu ni bíst es, uuan ih, uuis:/ thaz lánt, thaz heizit páradis.« In: Althochdeutsche Literatur. Ausgewählte Texte mit Übertragungen. Hg. v. Horst Dieter Schlosser. S. 92 und 93. Wir möchten uns aber diesbezüglichen Spekulationen über Urheberschaft, besonders derer von Ferdinand Rotkorff, nicht anschließen, wie wir uns überhaupt bemüht haben, in dieser Edition der Übersetzung nur gesicherte Fakten zu präsentieren. Und zudem: Der Urhebergedanke ist im Mittelalter eh anders zu interpretieren.
Solange es auf den Landkarten der Erde weiße Flecken gab, wurden in fantastischen Reiseberichten und in Schilderungen fremder Völker Alternativen zur eigenen Lebensweise präsentiert. Die Science-Fiction folgt der Tradition solcher in unbekannte Fernen verlegter Beschreibungen. Zwar gibt es heute kaum noch unbekannte Bereiche auf der Erdoberfläche, und so weichen die Autoren auf andere Schauplätze aus, die den Menschen unerreichbar erscheinen: Räume außerhalb des Sonnensystems, Zeiten in ferner Zukunft.
Das ist die Meinung von Werner Zillig, eines der wenigen vielversprechenden jungen deutschen Talente auf dem Science-Fiction-Gebiet, den wir hier mit einer Sammlung seiner Geschichten vorstellen. Zunächst kurz seine Biografie: Er wurde 1949 in Haßlach bei Kronach, Oberfranken, geboren. Nachdem er in Bamberg sein Abitur gemacht hatte, studierte er in Erlangen, Tübingen und Münster Germanistik, Geschichte und Soziologie. Nach dem Staatsexamen wurde er wissenschaftliche Hilfskraft und bekleidete dann die Funktion eines wissenschaftlichen Assistenten am Germanistischen Institut in Münster, und zwar mit der Fachrichtung »Germanistische Linguistik«.
Es ist nun nichts Seltenes, dass sich ein Germanist und Linguist schriftstellerisch betätigt, umso ungewöhnlicher aber ist es, wenn er Science-Fiction als seine Thematik wählt. Für Werner Zillig allerdings ist Science-Fiction keine Fluchtliteratur, die von den drängenden Problemen der Gegenwart abführt. Im Gegenteil! Er ist der Meinung, dass »trotz räumlicher und zeitlicher Entfernung der dargestellten Begebenheiten immer die Gegenwart Thema der Science-Fiction ist. Zwar schildert sie die Welt nicht, wie sie ist, doch sie projiziert Wünsche und Befürchtungen; so besteht ein enger Zusammenhang zwischen traumverfremdeter Symbolik und fantastischer Erzählung.«
Für Werner Zillig ist die Science-Fiction ein Mittel, um auf die wesentlichen Fragen einzugehen, mit denen sich die Menschheit heute auseinandersetzen muss. So kann bei ihm keine Rede von jenem Technikoptimismus sein, der die große Schwemme trivialer Zukunftsgeschichten prägt. Es ist aber auch keine kompromisslose Technikfeindlichkeit, die sich in seinen Texten ausdrückt – eher eine Skepsis, die am Bestehenden zu zweifeln beginnt und die Problematik in einer bedachten und behutsamen Form aufgreift und darstellt. Eine von Werner Zillig gestellte Frage lautet: Kann die von der Wissenschaft und der Technik geprägte europäisch-amerikanische Lebensweise noch praktikable Zukunftsbilder entwerfen? Oder: Kann man den Leser in einer Zeit der Rohstoffverknappung und der Energiekrise noch mit Raketenpulks abspeisen, die Ausflüge durch den Weltraum veranstalten? Oder: Ist der Computer – und die Schwierigkeiten bei der Datenüberwachung deuten darauf hin – wirklich nicht mehr als ein gigantischer Taschenrechner?
Mit der Problematik des Computers beschäftigt sich der Autor in der ersten Geschichte dieser Sammlung: »ULCs Söhne«. Biologische Fragen stehen im Hintergrund der folgenden Erzählungen – solche der Genetik und der Revitalisierung. Immer wieder sind psychologische Probleme in die Handlung eingeflochten oder liefern den Konfliktstoff; in »Die Auferstehung« erfolgt die Rekonstruktion einer Persönlichkeit, und in »Haussners Bericht« ist es eine ungewöhnliche psychische Veränderung, von der die Geschichte ihren Ausgang nimmt.
Über Probleme dieser Art haben schon viele geschrieben, und die Thesen, die dahinter stehen, sind oft genug durchaus diskussionswürdig. Was aber fehlt – und das ist ein Grundproblem der Science-Fiction –, ist die adäquate literarische Umsetzung. Bemerkenswerterweise unterscheidet sich Werner Zillig auch in dieser Beziehung wohltuend von vielen seiner Vorgänger. »Was sind die Probleme der Literaturform Science-Fiction?« – So fragt er. Und er gibt eine triftige Antwort: »Über das Schicksal und die Qualität aller Erzählungen und Romane wird auf drei Ebenen entschieden: auf der Ebene der Handlung, auf der Ebene der sprachlichen Form und auf der Ebene der psychologischen Stimmigkeit. Was die erste Ebene, jene der Handlung, betrifft, so ist an der Science-Fiction wenig auszusetzen – oft genug werden erstaunliche und doch in sich logische Geschichten ersonnen. Leider aber ist es für die Science-Fiction typisch, dass die sprachlichen Möglichkeiten kaum ausgenutzt werden und die psychologische Stimmigkeit zu wünschen übrig lässt.«
Es ist nicht die Aufgabe eines Vorworts, die Qualität der vorgelegten Proben hochzuloben, doch bedarf es auch keiner Unterstreichung, dass ein Herausgeber den von ihm forcierten Stoff für beachtlich hält. Daher hier nur noch eine Bemerkung: Am erfreulichsten für mich persönlich ist der Eindruck, dass hier ein junger Schriftsteller auftritt, der nicht nur seine drei Kriterien erfüllt, sondern darüber hinaus zu einer Erzählform gefunden hat, die zwar typische Science-Fiction-Raster der amerikanischen Vorbilder übernimmt, dabei aber unverkennbar in der Tradition der deutschen Romantik steht, die lange vor der Zeit der »wissenschaftlichen Phantastik« Weltliteratur hervorgebracht hat.
aus: Zillig, Werner, Der Regentänzer, München, Oktober 1980: Wilhelm Goldmann Verlag
DER REGENTÄNZER. Science-Fiction-Erzählungen. Mit einem Vorwort von Herbert W. Franke. Goldmann Tb 23367. München: Goldmann, 1980.
DIE PARZELLE. Roman. Edition ‘84, Band 2. München: Goldmann, 1984. Überarbeitete Fassung: Gütersloh: Bertelsmann Buchclub, 1986. Bearbeitete Neuausgabe: Mit einem Vorwort von Jörg Weigand und einem Nachwort des Verfassers. Winnert: p.machinery, 2023 (AndroSF 161).
DER NEUE DUFT. Eine Erzählung aus der Kultur von morgen. Meitingen: Corian, 1989.
SIEBZEHN SÄTZE. DAS GEDÄCHTNIS. Zwei Erzählungen. Meitingen: Corian, 1989 [Kurd-Lasswitz-Preis 1989 für »Siebzehn Sätze«]
DIE FESTSCHRIFT. Roman. Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2004.
MEIN SONNTAG IN MÜNSTER. Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014. AndroSF 85. Murnau: p.machinery, 2017.
DAS MÄDCHEN. Ein biographischer Roman. Unterhaching: Altan, 2018.
LESEBUCH WERNER ZILLIG. Herausgegeben von Walter Gödden. Nylands Kleine Westfälische Bibliothek, Band 86. Bielefeld: Aisthesis, 2019.
DER HIMMEL ÜBER TÜBINGEN. Mit einem Anhang: »Die Göttinger Welt«. Medelby: Altan, 2022.
DIE PYRAMIDE. Drei Goettingen-Art-Geschichten. Mit einem Nachwort von Bernardo de la Barquera (als Gisela Kramer). Medelby: Altan, 2022.
MARLYN. 4 Erzählungen deutsch-englisch. Medelby: Altan, 2023.
BLUE CURACAO MIT PFEFFERMINZLIKÖR. Oder: Wie eine Festschrift entsteht (als Bernhard Selig). Medelby: Altan, 2023 [Neuausgabe von »Die Festschrift«, 2004].
DER SCHWARZE KIMONO. Roman (im Druck).
HIER WOHNE ICH. Behauptete Balladen (als Gottfried Bürger). Unterhaching: Altan, 2017.
DIE HAND DES KOSMISCHEN AFFEN (mit Ken Okura und Peter Wilfert). Übersetzt von Shingo Shimada. Goldmann Tb 23403. München: Goldmann, 1982.
WIR, DIE KÜNSTLER, ABER LACHEN. Köln: Westdeutscher Rundfunk, 1984.
DIE REKONSTRUKTION. Köln: Westdeutscher Rundfunk, 1986.
ZEITREISE EINS. Heidelberg: Süddeutscher Rundfunk, 1989.
SORGLERS RÜCKKEHR. Heidelberg: Süddeutscher Rundfunk, 1991.
BEWERTEN. Sprechakttypen der bewertenden Rede. Dissertation zum Dr. phil. Münster/Westfalen: Universität. Nachdruck: Linguistische Arbeiten Band, 115. Tübingen: Niemeyer, 1982.
JOST TRIER: Leben-Werk-Wirkung (als Herausgeber). Münster/Westfalen: Aa, 1994.
ÜBER JOST TRIER. Vorträge anläßlich des Jost-Trier-Gedenktages am 15. Dezember 1994 (als Herausgeber). Münster/Westfalen: Aa, 1998.
KOMMUNIKATIVES KONTROLLING. Ein Gespräch zur Erläuterung. Programm. Münster/Westfalen: Aa, 1998.
NATÜRLICHE SPRACHEN UND KOMMUNIKATIVE NORMEN. Tübingen: Narr, 2003.
GUTES BENEHMEN: ANSTANDSBÜCHER VON KNIGGE BIS HEUTE. Berlin: Directmedia, 2004 [CD-ROM].
ALLE MEINE VORURTEILE. Ein Roman. Ein E-Mail-Dialog (mit Volker Ladenthin). Medelby: Altan, 2021.
ERKENNTNIS. Ein Dialog (mit Volker Ladenthin). Medelby: Altan, 2023.
Bist du nach deinem eigenen Verständnis mehr ein Autor der Science-Fiction oder der Fantastik?
Ich bin bisher ein Science-Fiction-Autor gewesen, weil ich glaube, dass die Fantastik heute, wenn sie adäquat produziert wird, Science-Fiction ist; denn die Elemente der Fantastik sind einfach im letzten Jahrhundert ausgeschöpft und traditionell abgehandelt worden. Und wenn man sich überlegt, was man zeitgemäß als »fantastisch« – das ist ja der umfassendere Begriff, SF der engere – anbietet, dann ist es die technische Fantastik, nämlich Science-Fiction. Bis auf gewisse Ausnahmen, die dadurch zustande kamen, dass an mich herangetragen wurde, es solle ein Märchen entstehen oder etwa Fantasy, war das immer Science-Fiction, was ich geschrieben habe. Und das habe ich auch immer als solche verstanden.
Nun ist, wenn ich das einmal so nennen darf, dein Hauptwerk DIE PARZELLE für mich weniger Science-Fiction als vielmehr Fantastik.
Da kommen wir zum allerschwierigsten bei der ganzen Angelegenheit, nämlich, dass einen Begriff festzulegen natürlich auch bedeutet, ein Programm zu schaffen. Die meisten Leute würden natürlich unter SF verstehen: Laserkanonen, Weltraumschiffe, große Computer usw.; und diese Dinge stehen im Vordergrund ihrer Erwartung. SF wird also weniger verstanden als eine Social Fiction, sondern sie wird in der Regel verstanden als eine rein technische Science-Fiction. Ich habe das immer als eine Mischung aus beidem gesehen, wobei auch in der PARZELLE die technischen Elemente natürlich nicht ganz fehlen: dass man ein gewisses Gebiet abgrenzen kann, rein technisch verstanden, sodass keine riesigen Mauern und Zäune entstehen, aber man kann nicht beliebig raus und man kann auch nicht beliebig rein. Oder, dass es Drogen gibt, die das Bewusstsein so und so verändern und das sind natürlich chemisch-technische Erfindungen. Auf der anderen Seite war mir dieser soziale Gedanke, der viele Wurzeln hat, selbstverständlich das Wichtigere, nämlich: was macht man mit Minderheiten, die sich entschlossen haben, innerhalb einer pluralen Gesellschaft extreme Programme zu fahren, die innerhalb dieser Gesellschaft eigentlich nicht geduldet werden können, weil sie zum Zusammenbruch führen. Also z. B. Drogensucht. Für mich war die Frage: Wieso hat der Staat das Recht, mich, der ich normal bei Bewusstsein bin, in meiner freien Entscheidung zu beschneiden? DIE PARZELLE fußt darauf, den Gedanken zu Ende zu führen: Was wäre, wenn man Leuten, die fordern, ich will mit vollem Bewusstsein Drogen nehmen, einfach sagen würde, ihr dürft das, ihr müsst nur die Folgen auf euch nehmen und ihr müsst euch dafür separieren. Wer zu euch kommt, der weiß, was ihn erwartet, und er weiß um die Folgen, und dann dürft ihr das machen. Dieser für uns heute völlig undenkbare Gedanke sollte einmal durchgespielt werden, das war der eigentliche Anlass. Ich glaube eben, dass Science-Fiction auch bedeuten kann, dass man mit gewissen technischen, utopischen Mitteln soziale Veränderungen darstellen kann, die dann auch Auswirkungen haben in der Technik und auch für das persönliche Leben des Einzelnen.
Ohne dem Autor der PARZELLE jetzt widersprechen zu wollen, aber ich tu’s trotzdem, bin ich der Meinung, dass DIE PARZELLE eins der wenigen gelungenen Beispiele für einen deutschsprachigen Staatsroman im klassischen Sinne darstellt, denn DIE PARZELLE bildet an sich genauso eine Insel wie UTOPIA.
Natürlich ist der Staatsroman etwas, wo im Zentrum der Überlegungen die Frage steht, wie die Herrschaftsform aussieht, und in dieser Form würde ich sagen, DIE PARZELLE ist ein Staatsroman, aber ein negativer. Er sagt nämlich, es interessiert mich überhaupt nicht, wer Bundeskanzler ist, sondern es interessiert mich, wie man das Minoritätenproblem, das möglicherweise gegenwärtig in Form von Asylanten und Übersiedlern sehr stark zu werden droht, aber auch auf der Ebene der Drogensucht und abweichendem Verhalten in jeder Form auf uns zukommt, lösen kann. Natürlich hat mich dabei interessiert, warum man es nicht einfach territorial löst, indem man jeder Gruppe ihr Gebiet gibt, wo sie das, was sie als Wunschgedanken pflegt, so weit ausleben kann, wie es nur irgendwie möglich ist. Das ist sicherlich ein Flächenproblem, aber auch das wollte ich einmal ausprobieren, natürlich kann man so etwas in den Vereinigten Staaten leichter tun als in Deutschland. Ich würde also sagen: Ja, ein Staatsroman, aber eben in dem Sinne negativ, dass er nicht die Herrschaftsprobleme zum Gegenstand der Darstellung macht, sondern die Probleme von Minderheiten einer Gesellschaft.
Nun warst du für mich einer der wenigen wirklich hoffnungsvollen Autoren der deutschen SF und damit auch der Fantastik, und nun hast du, wenn man so will, mit einem Mal dem Genre abgeschworen. In deiner letzten Buchveröffentlichung bei Corian schreibst du wörtlich: »Ich wollte nicht weniger, als eine Verbindung schaffen zwischen der Science-Fiction und der literarischen Phantastik.« Das aber ist dir anscheinend nach deiner eigenen Einschätzung nicht gelungen. Warum ist es denn nicht gelungen?
Die einfachste Antwort, die ich heute darauf geben kann, ist: Weil ich viele Dinge falsch eingeschätzt habe. Die zwei wichtigsten Punkte meiner Fehleinschätzung waren sicherlich zum einen, was es an Arbeitsaufwand und an persönlichem Einsatz und auch an persönlicher Exhibition bedeuten würde, so etwas durchzusetzen. Das würde einen zeitlichen Einsatz bedeuten, es würde auch bedeuten, dass man sich auf Kongressen, bei Verlagen in einer Weise präsentiert und präsent hält, die mir nicht nur zeitlich unmöglich ist. Ich bin kaum jemand, der sich wirklich »anbieten« kann. Das ist der eine Punkt, der andere ist, dass ich, selbst wenn ich das getan hätte, heute meine erheblichen Zweifel habe, ob diese Kluft überhaupt zu überwinden ist, es sei denn, ich hätte mich hauptberuflich für fünf oder sechs Jahre so eingeführt, dass es heißt: Der tanzt überall rum und versucht, die These zu vertreten, SF und E-Literatur, also Mainstream, sind miteinander vereinbar. Das hätte dann immer noch schiefgehen können. Dieser Einsatz war mir einfach aus verschiedensten Gründen, die auch hauptberuflich angelegt sind, zu hoch. Ich habe das einfach nicht getan.