Auf der Suche nach mir - Stefanie Marten - E-Book

Auf der Suche nach mir E-Book

Stefanie Marten

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Beschreibung

Als ihre Mutter zum zweiten Mal heiratet, beginnt für die siebenjährige Stefanie Marten ein Alptraum. Ihr Stiefvater tyrannisiert die Familie und missbraucht das Mädchen regelmäßig. Mit zwölf Jahren zeigt sie ihn an, doch ihre Mutter zwingt sie, die Anzeige zurückzuziehen. Das Mädchen erträgt die Übergriffe weitere Jahre, bis sie es nicht mehr aushält und einem ihrer Brüder davon erzählt – die Situation eskaliert und es kommt zu einem heftigen Streit, bei dem die Brüder den Stiefvater in Notwehr erschlagen. Jahre später lebt Stefanie Marten mit ihrem Mann und ihrer Tochter weit weg von ihrer Familie, zu der sie keinen Kontakt mehr hat. Ihre Kindheit hat sie hinter sich gelassen, so glaubt sie. Doch die alten Wunden brechen immer wieder auf, die Schuldgefühle lassen sich nicht dauerhaft verdrängen und Stefanie Marten sucht Vergessen in Tabletten. Nachdem ihre Mutter einen Schlaganfall erleidet, beschließt sie, zu ihr zu fahren und sich endlich ihrer Vergangenheit zu stellen. Stefanie Martens Buch Auf der Suche nach mir ist das berührende Zeugnis ihrer Suche nach dem eigenen Ich, das sie so lange Zeit vorher aufgegeben hatte, um überleben zu können. Mit eindringlicher Klarheit erzählt sie ihre tragische Geschichte und macht damit anderen Opfern Mut, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, um sich von ihr zu befreien.

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Seitenzahl: 331

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Stefanie Marten

Auf der Suche nach mir

Vom Stiefvater missbrauchtEine Frau stellt sich ihrer Vergangenheit

Schwarzkopf & Schwarzkopf

INHALT

Die Namen und Orte wurden von der Autorin geändert.

Vorneweg

Seit über dreißig Jahren bin ich auf der Suche nach mir. Als ich damit begann, war ich siebzehn Jahre alt und kam mit meiner Familie nach fast acht Jahren in meine Heimatstadt zurück, die wir 1967 verlassen hatten. Damals war ich zehn, doch verloren hatte ich mich bereits viel früher. Es war der Tag, an dem mein Stiefvater mich zum ersten Mal missbrauchte, und es war die einzige Möglichkeit für mich zu überleben. Manchmal habe ich die Suche aufgegeben. Manchmal habe ich vergessen zu suchen oder die Zeit war so schön, dass ich nicht weitersuchen wollte. Manchmal war es gut, so zu sein, wie ich bin, und die zu sein, die ich bin, immer dann, wenn ich glücklich war. Es waren mitunter lange Zeiträume, in denen ich nicht gesucht habe, weil ich es nicht für nötig hielt. Eine längere glückliche Zeit begann für mich 1983 in Berlin, als meine Tochter zur Welt kam. Später empfand ich es lange Zeit nicht für nötig zu suchen, weil mir meine über Jahre andauernde Tablettenabhängigkeit zu vergessen half. Aber nach jeder Entgiftung und nach einigen Wochen ohne Tabletten kamen alle Gedanken an meine Kindheit wieder zurück, was mich dazu veranlasste, erneut die Suche nach mir aufzunehmen.

Auch nach so vielen Jahren habe ich mich noch nicht wiedergefunden. Alles, was ich bin, bin nicht ich. Ich musste lernen, nicht ich zu sein. Es ist ein fremdes Leben, das ich lebe. Ich möchte gerne wissen, wer ich war, wer ich bin und wer ich unter anderen Bedingungen geworden wäre. Ich würde so gerne wissen, ob ich mein Kind anders erlebt, anders erzogen und behandelt hätte, wenn ich ich gewesen wäre. Ich würde gerne wissen, ob ich den Vater meines Kindes anders behandelt, anders geliebt hätte. Ich würde auch gerne wissen, wie ich mit meinen Mitmenschen, meinen Arbeitskolleginnen und Bekannten ausgekommen wäre, wenn ich ich wäre. Und wie ich meinen jetzigen Lebensgefährten lieben würde. Vor allem aber würde mich interessieren, wie ich mit mir selbst umgehen würde, wie ich mich leiden könnte, und wie ich geworden wäre, wenn ich wirklich ich wäre. Es lässt mir keine Ruhe – ich will wissen, wer ich bin, auch wenn ich mich dadurch nicht mehr verändern kann.

Ich habe Angst, es niemals herauszufinden, denn ich kann niemanden mehr fragen. Der einzige Mensch, der es wissen könnte, der mich eigentlich genau kennen müsste, ist meine Mutter. Schließlich hat sie mich geboren. Hat gesehen, wie ich aufgewachsen bin, wie ich gespielt und mich entwickelt habe, was mich interessierte und wie ich aussah. Sie weiß, was ich geliebt habe und was nicht. So, wie ich das auch bei meinem Kind gesehen, gefühlt, gespürt und erlebt habe. Alles habe ich genau verfolgt, bis meine Tochter mit siebzehn Jahren auszog. Soweit es möglich ist, beobachte ich sie noch heute, weil ich sie liebe, weil sie mein Kind ist, weil sie mich interessiert. Sollte sie mich einmal fragen, möchte ich ihr erzählen können, wie sie sich entwickelt hat.

Wie so viele Dinge im Leben habe ich die meisten meiner Fragen zu lange aufgeschoben. Solange ich noch in meiner Heimat gelebt habe, beantwortete meine Mutter meine Fragen nicht. Später, als ich längst in Berlin wohnte und nur noch zu Besuch bei ihr war, habe ich sie immer wieder gefragt, aber auch da bekam ich keine Antworten. Irgendwann wurde es ihr zu viel und sie schrieb mir in einem Brief, dass ich nicht mehr nach Hause kommen solle. Weder sie noch sonst jemand aus der Familie wollte mich wiedersehen. Sogar meinen Bruder auf dem Friedhof zu besuchen hatte sie mir untersagt. Ich begriff nicht, wie mir geschah. Zum ersten Mal weinte ich im Beisein meiner damals fast zehnjährigen Tochter.

Jahre später, im September 2001, bekomme ich einen Anruf von meiner Schwester – meine Mutter hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Blitzartig ist alles, was ich vergessen wollte, wieder da. Ich werde hinfahren. Diese Entscheidung führt unweigerlich dazu, die Suche nach mir erneut aufzunehmen.

Kapitel 1

Der Vertreter

Nach dem Anruf beschließe ich, gleich am nächsten Morgen zu fahren. Ich frage mich, ob ich meiner Mutter von meiner Suche werde erzählen können. Doch ich glaube, selbst wenn sie mir helfen könnte, würde sie meine Fragen wahrscheinlich nicht verstehen oder nicht verstehen wollen.

Jetzt stehe ich vor dem Krankenzimmer. Und obwohl ich irgendwie mit allem abgeschlossen habe, aber eben nur irgendwie, kann ich das Zimmer nicht gleich betreten und lasse meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Karin den Vortritt. Ich bleibe an der Tür stehen, um mich zu sammeln und um stark zu wirken. Denn schon von hier aus kann ich sehen, dass es nicht mehr meine Mutter ist, nicht mehr die Frau, die ich kenne, nicht der Mensch, den ich in Erinnerung habe, und schon gar nicht die Frau auf dem Foto, das ich trotz allem immer bei mir trage. Was ich sehe, ist eine alte, schwer kranke Frau mit kahlem Kopf, eingefallenem Gesicht, geschlossenen Augen, bewegungslos, schwach, mit Schläuchen im Körper und in Windeln gepackt.

Warum muss ich mich gerade jetzt daran erinnern, wie sie aussah, als mein Stiefvater zum ersten Mal zu uns nach Hause kam? Meine Mutter war groß und schlank. Jeden Abend drehte sie sich ihre halblangen blonden Haare auf Lockenwickler und ich fragte mich immer, wie sie so schlafen konnte. Bevor sie einkaufen ging oder Besuch erwartete, schminkte sie sich leicht. Ihren Lippenstift benutzte sie gleichzeitig als Rouge. Sie malte sich einen Strich auf die Wangen, den sie mit den Fingern gleichmäßig verteilte. Mit einem braunen Stift betonte sie einen kleinen Leberfleck auf ihrer Wange unter dem Auge und zog sich die Augenbrauen nach. Wenn es klingelte, legte sie schnell ihre Schürze ab, warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel und öffnete erst dann die Tür. Wir waren damals schon sechs Geschwister.

Mein Vater war bereits 1963 an Tuberkulose verstorben. Er war gerade mal fünfunddreißig Jahre alt geworden. Ich habe nur wenige Erinnerungen an ihn, genauer gesagt sind es nur zwei: Einmal spielte Papa mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Karin und ich war sehr eifersüchtig. Das letzte Mal sah ich ihn, als er von einem Krankenwagen abgeholt wurde. Er lag auf einer Trage und blutete aus der Nase. Wir Kinder schauten aus dem Fenster, bis er in dem Auto verschwunden war. Dann kam er nie wieder zurück. Ich wusste später nicht, ob ich damals traurig war und überhaupt begriffen hatte, was passiert war. Meine Mutter musste jetzt sechs Kinder allein versorgen. Kurt war mit elf Jahren der Älteste. Bernd war neun, Ralf sieben, ich fünf und Karin drei Jahre alt. Mein jüngster Bruder Achim war erst vierzehn Tage zuvor zur Welt gekommen. Später, als ich älter war, konnte ich mir vorstellen, wie schlimm das für meine Mutter gewesen sein musste und dass sie damals nicht damit rechnen konnte, mit sechs Kindern jemals wieder einen Mann zu finden.

Dieser neue Mann kam als Vertreter für Babynahrung in unser Leben. Er schenkte Mutter aus seinem Vertreterkoffer einiges an Babynahrung und andere Artikel, die sie gut gebrauchen konnte. Sie sprachen darüber, dass sie mit sechs Kindern wohl schwerlich einen neuen Mann finden würde und dass sie nicht wüsste, wie ihr Leben weitergehen sollte. Sie bot ihm einen Kaffee an und er blieb eine Weile da. Meine Mutter hatte trotz der sechs Geburten eine schöne Figur. Sie war eine gute Hausfrau und Mutter. Bei uns war immer alles sehr sauber. Sie war fleißig und konnte gut kochen. Bestimmt war sie auch im Umgang mit einem Mann sehr ansprechend. Der Vertreter sah gut aus, allerdings ganz anders als unser Papa. Der war nämlich gerade so groß wie meine Mutter gewesen, hatte grün-braune Augen und dunkles, fast schwarzes Haar, das ihm wellig nach hinten fiel. Der Vertreter war größer und schlanker. Er hatte breitere Schultern, ganz schwarzes Haar und auffallend blaue Augen. Er sprach hochdeutsch, was sich für uns bedeutend anhörte und ihn als etwas Besseres erscheinen ließ. Mit Sicherheit war er höflich, charmant und zuvorkommend, sonst hätte Mutter ihm wohl kaum einen weiteren Besuch erlaubt. Er kam wieder, danach immer öfter und bald war er laufend da.

Wir zogen damals in derselben Straße in eine andere Wohnung um. Ich weiß nicht mehr, ob sie größer war, auf jeden Fall war sie schöner. Ich kann mich genau an sie erinnern. Sie bestand aus drei Zimmern und einer Küche. Die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer. Im Winter war es da sehr kalt und ich beeilte mich, wieder herauszukommen. Im Wohnzimmer stand ein Ofen, auf den meine Mutter im Winter Apfelschalen legte, weil das so gut roch und gemütlich wirkte. Einmal in der Woche stellte sie eine große Blechwanne in die Küche, die – wie auch die anderen Räume – teilweise schräge Wände hatte, weil wir im Dachgeschoss wohnten, was mir besonders gut gefiel. Dann machte sie auf dem Herd in einem großen blauen Emailletopf, in dem auch die Windeln meines kleinen Bruders Achim ausgekocht wurden, das Wasser für die Wanne heiß. Der Reihe nach wurden wir dann darin gebadet oder besser abgeseift. Mutter spülte meiner Schwester Karin und mir die Haare mit Essigwasser, was zwar unangenehm roch, aber einen seidigen Glanz bewirkte. Ich fand das angenehm und der Badetag hatte immer etwas Besonderes für mich. Danach fühlte ich mich wohl und schlief ausgezeichnet. Im Treppenhaus gab es helle Holzstufen und ein rotes Geländer. Es roch nach Wachs, denn einmal in der Woche wurde die Treppe mit einer Bürste geschrubbt und anschließend eingewachst und gebohnert. Man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte. Am Wochenende duftete es besonders gut in unserem Haus. Alle waren frisch gewaschen, das Haus gebohnert und Mutter backte jeden Samstag einen Kuchen für uns.

An solch einem Wochenende klingelte es nachmittags an unserer Wohnungstür. Es war der Vertreter für Babynahrung. Meine drei größeren Brüder Kurt, Bernd und Ralf stürmten zur Tür und hielten sie von innen zu. Die Jungen wollten den fremden Mann nicht hereinlassen, weil sie ihn nicht leiden konnten. Aber Mutter öffnete ihm die Tür. Bald hatten wir uns daran gewöhnt, dass er da war. Er saß mit Mutter in der Küche, sie tranken Kaffee und rauchten. Sie hatten sich viel zu erzählen und gelegentlich hörte man sie lachen. Fast übergangslos war er dann irgendwann immer da. Er brachte kaum etwas mit in unsere Wohnung. Offensichtlich besaß er nicht mehr, auch nur wenig Kleidung. Dies vermutete ich, weil Mutter ihm eines Tages etwas zum Anziehen gab. Es waren Kleidungsstücke, die ich kannte – Sachen von meinem Papa. Das machte mich sehr traurig und ich fand es nicht richtig, dass der fremde Mann diese Sachen tragen sollte. Zum Glück passte ihm nicht alles, denn er war ja größer und breiter als Papa. Trotzdem ärgerte es mich.

Als Achim laufen konnte, war der Mann immer noch da. Manchmal hörte ich ihn abends, wenn ich schon im Bett lag, mit Mutter reden. Er hatte eine tiefe Stimme. Ich hörte die beiden nur, wenn sie lauter als normal sprachen. Bald wusste ich genau, wie es sich anhörte, wenn sie stritten, und ich sollte es nie wieder vergessen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie sich stritten. Sie saßen im Wohnzimmer und ihre Stimmen wurden immer lauter. Ich stand im Flur und fand es nicht schön, dass sie sich so anschrien. Plötzlich stand mein Stiefvater von der Couch auf, schnappte sich den großen gelben Glasaschenbecher vom Tisch und warf ihn genau in die Richtung, in der das Foto von meinem Papa an der Wand hing. Er traf es aber nicht. Er hob den Aschenbecher vom Boden auf und warf ihn noch einmal. Dieses Mal traf er. Das Bild fiel herunter. Das tat mir so weh, dass ich es tatsächlich im Bauch spürte. Ich schrie und weinte so lange, bis meine Mutter kam und mir eine Ohrfeige gab, damit ich aufhörte. Mein Stiefvater saß währenddessen in seinem Sessel und lächelte vor sich hin. Später sah ich mir das Bild an. Das Glas war zerbrochen, das Foto hatte ein hässliches Loch, aber zum Glück war das Gesicht meines Papas nicht beschädigt. Von diesem Tag an mochte ich den fremden Mann mit den stechend blauen Augen nicht mehr leiden. Für mich stand fest, dass er ein böser Mensch war. Meine größeren Brüder waren nicht zu Hause, als das geschah. Ob und wie Karin darauf reagierte, daran konnte ich mich später nicht mehr erinnern. Das Bild war zerstört und meine Mutter hängte es danach nicht mehr auf. Sie legte es in ein Fach im Wohnzimmerschrank, wo ich es mir noch oft ansah, bis es irgendwann ganz verschwunden war.

Dass der Mann böse war, spürte ich mehr und mehr, denn zwischen ihm und Mutter wurde es immer öfter laut. Sie stritten häufig. Oder fiel es mir erst jetzt auf? Stets fand er einen Grund, über meine Brüder zu schimpfen. Es schien, als ob er besonders Kurt nicht leiden mochte. Es passierten auch komische Dinge. Ich erinnerte mich später daran, dass er manchmal Gegenstände aus unserem Haushalt mitnahm, wenn er die Wohnung verließ. Ich weiß nicht, was er damit machte. Eines Tages nahm er sogar die Gardinen aus der Küche ab. Mutter war sehr verärgert und versuchte, ihn daran zu hindern, aber er tat es doch. Es half nichts, dass Mutter schimpfte und sie sich beide wieder mal heftig stritten. Er tat, was er wollte, denn er wohnte jetzt hier und alles, was uns gehörte, gehörte auch ihm.

Wir besaßen nicht sehr viel, was uns Kindern aber nicht weiter auffiel. Unser Vater war Postbeamter gewesen und Mutter lebte nun von der Rente und der Halbwaisenrente für uns Kinder, die sie von der Post bezog. Das Kindergeld war damals nicht sehr hoch, außerdem bekam man es erst ab dem dritten Kind. Solange Papa lebte, ging es uns immer gut. Kurz bevor er starb, hatte er sogar einen Fernseher gekauft. Doch seit der fremde Mann bei uns wohnte, kam es vor, dass Mutter kein Geld zum Einkaufen hatte. Das wurde mir aber nur bewusst, wenn ich sie zu ihm sagen hörte, dass sie nicht einmal Milch kaufen könne. Mir fiel auf, dass wir Geschwister untereinander nicht mehr so lustig sein konnten, wenn der Mann in der Wohnung war. Meistens schickte uns Mutter dann nach unten in den Hof und ich musste auf die Kleinen aufpassen. Der Mann war jetzt immer zu Hause. Er ging nicht zur Arbeit, wie ich das von meinem Papa gewohnt war, und Mutter fragte oft, wann er sich denn endlich mal einen Job suchen wollte.

Ich muss mich zusammenreißen, wische mir die Tränen ab und betrete das Krankenzimmer. Meine Mutter merkt nicht, dass ihre Töchter da sind, und reagiert nicht auf uns. Nach so vielen Jahren Traurigkeit und Zorn tut sie mir jetzt schrecklich leid. Sie ist eben doch meine Mutter und nicht nur die Frau, die mich zufällig zur Welt gebracht hat, auch wenn ich lange Zeit so gedacht habe. Und die wenigen Menschen, die meine Gründe kennen, geben mir recht und haben Verständnis dafür. Ein guter Freund hat mir einmal den Satz in den Mund gelegt: »Es ist nur Zufall, dass sie deine Mutter ist«, was mir eine Zeit lang sogar geholfen hat, es selbst auch so zu sehen. Meinen sieben Geschwistern habe ich meine Gefühle niemals mitgeteilt, ich weiß deshalb auch nicht, wie sie darüber denken. Wir haben niemals miteinander über die Familie oder unsere Gefühle gesprochen. Wir sind ja auch schon lange keine Familie mehr. Ich wohne weit weg von den anderen. Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren bin ich absichtlich weggegangen, weil ich hoffte, vergessen zu können, Ruhe vor meiner Mutter zu haben und mich zu finden.

Auch nach so vielen Jahren brauche ich mich nicht zu fragen, warum ich so empfinde, wieso ich immer noch so denke und weshalb sich das niemals ändern wird. Der Grund dafür ist mir in all der Zeit bewusst geworden. Ich weiß, dass ich meine Mutter niemals mehr werde so lieben können, wie ein Kind seine Mutter normalerweise liebt. Ich könnte ihr nicht sagen, dass ich sie liebe, denn das wäre gelogen. Selbst wenn sie jemals behaupten würde, mich zu lieben, würde das nichts mehr ändern, denn ich würde ihr nicht glauben. Ich finde es schrecklich, so etwas zu sagen, so zu empfinden, aber nach allem, was geschehen ist, kann ich meine Empfindungen nicht ändern. Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn meine Mutter sagen könnte, dass es ihr leidtut und dass sie weiß, dass ich keine Schuld an dem habe, was geschehen ist. Das wird sie aber nicht tun und ich werde sie nicht mehr darauf ansprechen.

Karin und ich stehen neben dem Bett unserer Mutter. Da sie nach wie vor nicht auf uns reagiert, gehen wir bald wieder. Karin bittet mich, das Auto zu fahren, weil sie sich nicht dazu imstande fühlt. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz und weint. Dann berichtet sie mir, wie sie von Mutters Schlaganfall erfahren hat. Karin war am gleichen Tag in ihrer Wohnung gewesen und hatte sie eingeladen, mit zu ihr zu kommen. Da Mutter aber noch ihren jüngsten Sohn Thomas erwartete, lehnte sie ab. Am selben Abend rief Thomas bei Karin an und teilte ihr mit, dass Mutter ihn kurz nach Karins Besuch angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass es ihr nicht gut geht. Thomas riet ihr, den Notarzt zu rufen. Bei dessen Eintreffen war Mutter nicht mehr in der Lage, die Wohnungstür zu öffnen, und sie musste aufgebrochen werden. Als Thomas ankam, lag sie bereits im Krankenwagen und er fuhr zur Klinik hinterher.

Ich frage Karin, ob sie sich Vorwürfe macht, und sie nickt. Ich versuche, sie zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass es dafür keinen Grund gibt. Sie hätte nicht verhindern können, was geschehen ist. Karin schaut mich unsicher an. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, schlage ich vor, einen Kaffee trinken zu gehen, bevor wir nach Hause fahren.

Als wir aus dem Auto aussteigen, nimmt sie mich in die Arme und sagt, wie froh sie ist, dass ich da bin. Mir fällt auf, wie lange wir uns schon nicht mehr umarmt haben. Karin ist mit 1,63 Meter ein ganzes Stück kleiner als ich. Als wir Kinder waren, habe ich sie oft wegen ihrer roten Haare geärgert und damit zum Weinen gebracht. Obwohl wir auf den ersten Blick recht unterschiedlich aussehen, erkennt doch jeder, dass wir Schwestern sind. Ich nehme ihre Hand, so wie ich es getan habe, als wir beide noch klein gewesen sind und zusammen draußen gespielt haben. Ich versichere ihr, wie froh auch ich darüber bin, wieder bei ihr zu sein.

Am nächsten Tag fahren wir erneut in die Klinik. Dieses Mal ist es anders. Meine Mutter ist wach, aber sie erkennt nicht, dass ich auch da bin, Karin muss sie erst darauf aufmerksam machen. Ich gehe zu ihr, begrüße sie und nehme ihre Hand. Ich habe das Gefühl, sie sieht mich immer noch nicht. Doch dann schaut sie mich an und sagt, sie finde es blöd, dass ich sie im Krankenhaus besuchen muss, sie freue sich aber trotzdem darüber, dass ich da bin. Dann sagt sie etwas, was ich bis heute nicht verstehe. Es ist so viel geschehen in unserem Leben, dass ich mir nicht ganz sicher bin, was sie gemeint haben könnte.

»Den alten Dreck treten wir in die Ecke«, sagt sie. Dabei macht sie mit dem Fuß eine tretende Bewegung. Welchen Dreck meint sie denn? Ihren, meinen, unseren? Karin und ich bleiben noch eine Weile bei Mutter und ich erkläre ihr beim Abschied, dass ich am nächsten Tag wieder nach Hause fahren muss. Irgendwie bin ich froh darüber. Der Abend bei Karin vergeht schnell und am nächsten Vormittag bin ich auf dem Weg zurück nach Berlin.

Mein Lebensgefährte holt mich vom Bahnhof ab und bemerkt, wie sehr mich der Besuch in der Heimat mitgenommen hat. Es ist gut, dass ich mittlerweile mit ihm zusammenlebe. Nachdem meine Tochter ausgezogen war, konnte ich nicht mehr in meiner Wohnung bleiben. Der Anblick ihres leeren Zimmers war mir unerträglich. Kerstins Auszug hat mir fast das Herz gebrochen. Über ein Jahr durfte mich niemand darauf ansprechen, weil ich jedes Mal weinen musste. Genauso lange habe ich meine Wohnung behalten – in der stillen Hoffnung, Kerstin würde wieder nach Hause kommen.

Marc, den ich mit achtzehn Jahren in meiner Heimat kennengelernt und zu dem ich nie den Kontakt verloren hatte, kam 1997 nach Berlin. Mir wurde schnell klar, dass ich ihn noch immer liebte und mit ihm leben wollte. Aus Rücksicht auf meine Tochter zogen wir allerdings erst jetzt zusammen. Es hilft mir, dass ich mich mit ihm über alles unterhalten kann. Er hört mir zu, und wenn ich weine oder verzweifelt bin, tröstet er mich.

Erst am Montag bei der Arbeit fällt auch mir auf, wie sehr mich die letzten Tage aus der Bahn geworfen haben. Ich bin unfähig, mich zu konzentrieren, und kann nicht abschalten. Die Sachbearbeiter beim Sozial- und Seniorenamt, nach deren Diktaten ich schreibe, sind schnelle und korrekte Arbeit von mir gewohnt und jetzt bin ich nicht in der Lage, diese abzuliefern.

Solange ich meine Beruhigungstabletten hatte, war das alles kein Problem. Mit ihrer Hilfe konnte ich meine Gedanken und Probleme verdrängen. Aber jetzt – nach einer Entgiftung, die ich vor einigen Wochen im Krankenhaus gemacht habe – gelingt mir das nicht mehr. Ich habe mir fest vorgenommen und es Marc versprochen, dass ich nicht wieder zu diesen Tabletten greifen werde, und trotzdem besorge ich mir noch an diesem Tag ein Rezept. Ich halte es einfach nicht mehr ohne sie aus. Mittlerweile weiß ich, wie gefährlich das ist. Aber schließlich habe ich sechs Jahre lang gut damit gelebt und vor meinem ersten Zusammenbruch hat niemand etwas bemerkt. Ich muss allerdings aufpassen, dass ich nächste Woche an meinem vierundvierzigsten Geburtstag nicht zu viel trinke, denn das verstärkt die Wirkung der Tabletten und ich muss auf jeden Fall normal wirken.

Marc ist bereits sensibilisiert, er bemerkt meinen Rückfall schnell. Nach zwei Wochen stellt er fest, dass ich es allein nicht schaffe, davon loszukommen, und überredet mich, ins Krankenhaus zu gehen. Drei Wochen später kann ich wieder arbeiten. Die Ablenkung durch meine Kolleginnen tut mir gut. Vom Büro aus rufe ich des Öfteren meine Schwester Karin an, um mich über den Zustand meiner Mutter auf dem Laufenden zu halten. Ich erfahre, dass es ihr nicht gut geht und wir täglich mit ihrem Tod rechnen müssen.

Nach zwei Monaten plane ich, wieder zu Karin zu fahren. Eine Woche werde ich bei ihr und ihrer Familie wohnen. Von allen meinen Geschwistern habe ich nur noch zu ihr Kontakt. Wir beide sind die Einzigen, die mittlerweile über die Vergangenheit miteinander reden können. Sie versteht mich und ich verstehe sie. Leider haben wir nicht viel Zeit füreinander und es kostet uns jedes Mal große Überwindung, über früher zu sprechen. Karin ist natürlich berufstätig. Außerdem halten sie ihr Ehemann und der Sohn auf Trab. Gespräche über unsere Vergangenheit wühlen uns so sehr auf, dass es schwierig ist, danach wieder zur Ruhe zu kommen. Nur ganz vorsichtig und nur nach und nach können wir über Einzelheiten reden. Natürlich weiß meine Schwester, dass der Stiefvater mich missbraucht hat. Aber wann und wie alles anfing, darüber haben wir nie gesprochen. Weil Karin es wissen möchte, erzähle ich ihr, was damals geschehen ist.

Kapitel 2

Eine unheimliche Nacht

Es war 1964 um die Osterzeit. Ich erinnere mich, dass es nur wenige Wochen vor meinem siebten Geburtstag und kurze Zeit vor meiner Einschulung passiert ist. Mein Stiefvater brachte manchmal fremde Männer mit nach Hause. Sie sprachen miteinander, tranken Alkohol, rauchten und saßen lange zusammen in der Küche. Wir Kinder wurden zum Spielen nach draußen geschickt, bis es Zeit war, schlafen zu gehen. Einmal war wieder Besuch da und es wurde sehr spät. Irgendwann in der Nacht weckte mich meine Mutter und brachte mich in das Schlafzimmer mit dem großen Ehebett aus braunem Holz. Das Bett hatte auf jeder Seite drei ziemlich harte Matratzen. Ich sollte die Nacht darin schlafen, weil der fremde Mann mein Bett bekommen sollte. Vielleicht konnte er nicht mehr nach Hause gehen, weil es so spät geworden war. Ich lag in dem großen Ehebett auf der unbequemen Ritze in der Mitte.

Ich wurde wach, weil mich jemand anfasste. Ich spürte eine große Hand in meiner Schlafanzughose. Mein Stiefvater zog mir die Hose aus, streichelte meinen Bauch und meine Beine. Er legte die Hand auf die Stelle, an der es mir beim Waschen unangenehm war. Ich konnte mich nicht bewegen, ich war ganz steif und hatte ein unangenehmes Gefühl. Es gefiel mir nicht, so angefasst zu werden. Ab und zu knarrte das Bett und ich wünschte mir, dass meine Mutter davon erwachte. Plötzlich ging die Lampe auf ihrem Nachttisch an. Ganz schnell zog er seine Hand zurück. Meine Mutter drehte sich zu mir um und fragte, was los sei. Bevor ich antworten konnte, erklärte er ihr, ich hätte Zahnschmerzen. Meine Mutter sollte mir eine Tablette holen. Sie zögerte einen Moment, schüttelte den Kopf, stand aber auf und ging, die Tablette zu holen. Diesen kurzen Moment nutzte er aus, indem er mir half, meine Hose anzuziehen, und mir zu befehlen, kein Wort davon zu erzählen, was gerade geschehen war. Meine Mutter würde sonst sehr böse werden und mir den Hintern versohlen. Sie kam mit einem Becher Wasser und einer halben Tablette gegen meine Zahnschmerzen zurück und ich musste die bittere Pille schlucken. Dann legte sich Mutter wieder ins Bett, knipste das Licht aus und bald hörte ich sie gleichmäßig atmen. Sie war wieder eingeschlafen und er schlief jetzt auch. Er hatte sich auf die andere Seite gedreht. Ich lag auf dem Rücken und konnte mich nicht bewegen. Die ganze Nacht hielt ich Wache. Er sollte mich nicht noch einmal ausziehen und anfassen, es hatte etwas Unheimliches für mich. Ich war froh, als es hell wurde und meine Mutter aufstand, um uns zu wecken. Es war Zeit für die Schule.

Was in der Nacht geschehen war, beschäftigte mich sehr. In der Schule musste ich immer daran denken und ich konnte es kaum erwarten, bis der Unterricht zu Ende war. Den Nachhauseweg ging ich wie immer mit meiner besten Freundin, wir wohnten in derselben Straße. Biggi ist ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern und der Oma in einer ähnlichen Wohnung wie der unseren. Sie hatte ein eigenes Zimmer und auf ihrem Bett saßen ein paar Puppen. In einer Ecke des Wohnzimmers gab es auch einen Esstisch, aber sie besaß einen eigenen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Wenn ich bei ihr war, saßen wir an diesem Tisch, tranken Kakao und aßen Kekse oder Kuchen. Ihre Oma war lieb und verwöhnte sie – und auch mich, wenn ich da war.

Ich war gerne bei Biggi. Sie war meine beste Freundin, weshalb ich ihr auf dem Heimweg das Erlebnis der letzten Nacht erzählte. Nichts hatte ich ausgelassen und nichts hinzugefügt. Gespannt wartete ich auf ihre Reaktion, als sie anfing zu lachen. Sie war überzeugt, dass ich alles nur geträumt hatte. Alle meine Bemühungen, ihr klarzumachen, dass es kein Traum gewesen sein konnte, weil ich schließlich die bittere Tablette einnehmen musste und die ganze Nacht wach lag, halfen nicht, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Und weil sie weiterlachte und mir wirklich nicht glaubte, ließ ich mich irgendwann darauf ein und stimmte ihr zu. Es dauerte aber eine Weile, bis ich selbst glauben konnte, dass alles, was ich in dieser Nacht in dem großen Bett erlebt hatte, ein Traum gewesen sein musste.

Karin kämpft mit den Tränen und ich beende das Thema. Ich glaube, ihr fällt es noch viel schwerer als mir, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich will sie nicht zu sehr belasten. Zumal wir ja die Sorgen und Probleme mit Mutter haben. Vielleicht erzählt Karin mir irgendwann einmal, wie sie das alles erlebt hat und wie sie es schafft, damit umzugehen. Wie schnell wird die Woche bei Karin vorüber sein und von Berlin aus kann ich so wenig für sie tun.

Um ihr beizustehen, würde ich gerne länger bleiben. Andererseits bin ich froh, als die Woche vorüber ist und ich wieder nach Berlin zurück kann. Meine Schwester ruft fast täglich an und wir reden über unsere Mutter. Ich frage Karin auch, wie es ihr selbst geht, und versuche, ihr klarzumachen, dass sie im Moment nicht mehr tun kann, als abzuwarten. Ich verstehe, dass sie Angst hat, Mutter könnte sterben. Karin hat ein ganz anderes Verhältnis zu ihr als ich. Schließlich leben sie in derselben Stadt und haben engen Kontakt zueinander. Dass Mutter mich nicht mehr sehen wollte, weiß Karin. Sie saß zwischen zwei Stühlen und äußerte sich damals nicht dazu. Wenn ich in dieser Zeit ab und zu bei Karin war, dann richtete sie es immer so ein, dass Mutter und ich uns nicht begegneten.

Ich unterhalte mich viel mit Marc über alles. Ihm habe ich früher schon vieles aus meiner Vergangenheit erzählt. Jetzt hat er Angst, dass ich der Belastung nicht gewachsen sein könnte, und nimmt mir so manches Telefongespräch ab. Es tut Karin gut, dass es noch einen anderen Mann außer ihrem eigenen gibt, mit dem sie sich über ihre Sorgen unterhalten kann. Marc spürt, wie schlecht es mir jedes Mal geht, wenn ich bei Karin war, und dass ich danach tagelang nicht richtig essen kann. Meine Gedanken kreisen dann um die Familie und die Vergangenheit und Marc hat Mühe, mich davon abzulenken. Er kocht für mich und entlastet mich im Haushalt, so gut er kann.

Am meisten genieße ich es, wenn meine Tochter Kerstin uns besucht oder ich mich mit ihr treffen kann. Aber auch ihr gegenüber kostet es mich sehr viel Mühe, mich von meinen Gedanken loszureißen. Allein schon, dass ich sie in den Arm nehmen kann, hilft mir. Ich erzähle ihr nicht viel über meine Mutter. Sie weiß, dass ich kein gutes Verhältnis zu ihr habe. Sie kennt auch einen kleinen Teil meiner Vergangenheit und natürlich hat sie meine Krankenhausaufenthalte mitbekommen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, dass ich tablettenabhängig bin. Ich habe große Angst, mit ihr darüber zu reden, es ist mir unglaublich unangenehm. Eines Tages werde ich es aber tun müssen. Meine Mutter war für meine Tochter nie eine Oma, was sich schon durch die Entfernung ergab. Ich versuche, die Zeit mit Kerstin einfach nur zu genießen, auch wenn es schwerfällt. Sie soll meinen Kummer nicht spüren. Ich will meiner Tochter das Leben so schön wie möglich machen und sie nicht mit meinen Sorgen und Problemen belasten. Umso mehr, nachdem ihr Vater und ich uns damals getrennt haben, als sie sechs Jahre alt war, was hauptsächlich mit unserem Sexualleben zu tun hatte.

Sechs Wochen später nutze ich ein verlängertes Wochenende, um erneut zu Karin zu fahren. Mutter wurde in eine andere Klinik verlegt und es scheint mit ihr bergauf zu gehen. Sie ist linksseitig gelähmt und es ist fraglich, ob sie jemals wieder gehen kann. Geistig ist sie jedoch recht fit. Manchmal ist sie zwar verwirrt und redet von Dingen, die wir nicht nachvollziehen können, aber dies geschieht nur kurzfristig. Ich bin noch immer von ihrem Anblick schockiert. Nie habe ich mir meine Mutter so alt vorstellen können. Mit ihren kurzen grauen Haaren und dem eingefallenen Mund ist sie mir total fremd. Wenn sie redet, erkenne ich sie aber gut. Ich füttere und streichele sie und manchmal schaut sie mich so seltsam an. Dann frage ich sie, was sie denkt, aber ich bekomme keine Antwort. Ich bin mir ganz sicher, dass sie über uns und über mich nachdenkt, aber sie sagt nichts, sie schweigt, wie sie es leider immer getan hat.

Karin rüttelt mich am Arm. Meine Mutter ist eingeschlafen und meine Schwester deutet an, dass wir gehen sollten. Im Auto hängen wir beide eine Weile unseren Gedanken nach, bis Karin fragt, wann ich zuletzt mit unserem ältesten Bruder Kurt gesprochen habe. Ich habe ein schlechtes Gewissen, als ich ihr sage, dass es schon einige Monate zurückliegt. Auch sie hatte lange keinen Kontakt zu ihm und wir beschließen, ihn noch heute anzurufen. Als er meine Stimme erkennt, freut sich Kurt riesig, aber ich kann ihn kaum verstehen. Karin stellt das Telefon auf Mithören und vermittelt zwischen uns. Nach einer Weile kann ich ihn besser verstehen. Er sagt, dass wir uns leider nicht sehen können, weil seine Lebensgefährtin die ganze Woche über Spät- und Wochenenddienst hat. Er lässt Besuche nur in deren Beisein zu. Wenn er zu Karin kommen will, muss das lange vorher geplant werden. Sie wohnt in der vierten Etage und hat keinen Fahrstuhl. Für Kurt ist es äußerst schwierig, die vielen Stufen zu überwinden.

Ich bin traurig und verspreche, ihm zu schreiben. Außerdem biete ich ihm an, dass er mich mit seiner Lebensgefährtin zu jeder Zeit in Berlin besuchen kann.

Kurt hatte 1991 einen Autounfall und ist seitdem schwerstbehindert. Auch damals war es Karin, die mich in Berlin anrief, um mir von dem Unfall zu berichten. Ich bat eine Freundin, sich um meine achtjährige Tochter zu kümmern, und fuhr sofort nach Mannheim. Als ich Kurt dann auf der Intensivstation besuchen wollte, musste mich eine Krankenschwester zu ihm bringen, weil ich ihn nicht allein gefunden hatte. Ich hatte ihn einfach nicht erkannt. Er lag im Koma und war total entstellt. Ich blieb damals so lange wie möglich bei Karin und fuhr danach zu ihr, sooft es ging. Wir beide kümmerten uns so gut wie möglich um Kurt. Meine Mutter besuchte ihn nie. Nach einem halben Jahr erwachte er aus dem Koma. Es stellte sich heraus, dass er nach einem Schädelhirntrauma behindert bleiben würde. Er war wie ein neugeborenes Kind und musste alles neu erlernen. Er konnte nicht mehr laufen, sein Sprachzentrum und sein Kurzzeitgedächtnis sind geschädigt. Nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt brachte man ihn in eine Rehabilitationsklinik. Nach langer Zeit fasste er Vertrauen zu einer Therapeutin, die ihn zwei Jahre später zu sich nach Hause holte. Dort machte er große Fortschritte, lernte wieder laufen und sprechen. Dieser Frau haben wir es zu verdanken, dass es Kurt so gut geht. Auch wenn er nie wieder so wird, wie er einmal war. Sie hat die Kraft und die Gabe, das Bestmögliche aus ihm herauszuholen.

Nach dem Bruch mit meiner Mutter haben wir uns nicht mehr gesehen. Der Kontakt zu meinen Geschwistern war durch die Entfernung sowieso spärlich geworden, zumal ich nur noch selten in meine Heimat kam. Auch meine persönlichen Probleme trugen dazu bei. Niemand wusste zum Beispiel, dass ich tablettenabhängig war. Mit Kurt telefonierte ich nur selten und sprach bei diesen Gelegenheiten auch mit seiner Lebensgefährtin.

Es ist Nachmittag. Karin hat Termine, mein Schwager kommt erst am Abend von der Arbeit nach Hause und der fünfzehnjährige Sohn verbringt den Tag bei einem Schulfreund. Ich habe mir einen Kaffee gemacht und mich damit auf den Balkon gesetzt. Es klingelt und ich drücke auf den Türöffner. Es gibt keine Gegensprechanlage. Deshalb bin ich überrascht, als mein Halbbruder Thomas vor der Tür steht. Er weiß von Karin, dass ich da bin, und wollte uns spontan besuchen. Thomas ist dreiunddreißig Jahre alt und lebt mit seiner Freundin ziemlich zurückgezogen in einer anderen Stadt. Ich habe lange nichts von ihm gehört. Genau wie seine zwei Jahre ältere Schwester Sonja sucht er nur selten Kontakt zur Familie. Nur Mutter hat er regelmäßig besucht. Schließlich war Thomas stets ihr Ein und Alles. Ich freue mich, ihn zu sehen, und wir umarmen uns. Dann setzen wir uns gemeinsam auf den Balkon und plaudern ein wenig über unser jetziges Leben. Nicht zu intim, gerade so viel, als wären wir Bekannte, obwohl ich für ihn früher quasi wie eine Mutter war. Als wenn er meine Gedanken lesen könnte, beginnt er völlig überraschend von damals zu sprechen. Erstaunt stelle ich fest, wie viel er weiß und welche Gedanken er sich macht. Er ist der Sohn meines Stiefvaters, er sieht genauso aus und ich muss ihn immerzu anschauen. Aber er ist ein ganz anderer Mensch, er ist lieb und gut. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Ich bin völlig verblüfft, als Thomas mir erzählt, dass er Nachforschungen über seinen Vater angestellt hat. Er wollte herausfinden, woher er kam, bevor er bei unserer Mutter aufkreuzte. Wo er geboren worden war und wo er früher gelebt hatte. Ich erzähle Thomas, dass ich ebenfalls einige Versuche unternommen hatte, etwas über seinen Vater herauszufinden. Aber weder Thomas noch mir ist es gelungen. Es ist alles zu lange her und auch in den Archiven der Stadtverwaltung konnte Thomas nichts finden.

In meinem Kopf dreht sich alles, meine Gedanken überschlagen sich und ich habe große Mühe, mich zu konzentrieren. Plötzlich sehe ich meinen Stiefvater vor mir. Groß, schlank, fast feingliedrig und dunkelhaarig. Die schmale gerade Nase, seine stechend blauen Augen, die mich aus seinem schmalen, blassen Gesicht mit der etwas zu hohen Stirn ansehen. Mir wird kalt. Durch das Gespräch mit Thomas wird mir wieder einmal klar, wir falsch es war, dass in der Familie nie miteinander geredet wurde. Thomas erzählt, dass er sich mit meinem älteren Bruder Bernd über frühere Zeiten unterhalten habe. Bernd meinte, die ersten Jahre mit dem Stiefvater seien doch gut gewesen. Ja, denke ich sofort, es wusste ja auch viele Jahre lang niemand, was er mir angetan hatte. Und bis heute weiß niemand, wann es begonnen hat und was tatsächlich alles geschehen ist. Ich möchte so gerne mit allen darüber sprechen. Sie sollen wissen, wie lange mein Stiefvater mich missbraucht hat, damit sie verstehen, warum alles so gekommen ist. Sie sollen wissen, dass er mein Leben zerstört hat. Sie sollen wissen, dass ich für den Rest meines Lebens darunter leide und nicht weiß, wer ich eigentlich bin.

Plötzlich fühle ich mich wieder schuldig und habe Angst. Ich spüre, wie ich innerlich anfange zu zittern und wie sich mein Brustkorb zusammenzieht. Auch das Gefühl, gelähmt zu sein und nicht sprechen zu können, ist wieder da, wie damals, als ich noch ein Kind war. In diesem Moment befürchte ich, dass ich am nächsten Tag nicht zu meiner Mutter werde gehen können, aber ich will meine Schwester und ihren Sohn, der mitkommen möchte, nicht enttäuschen. Karin wird es sicher nicht verstehen, wenn ich sie allein hinschicke. Alle mir so bekannten und angsterfüllenden Gefühle kommen hoch und ich muss sie unterdrücken. Die Angst, dass ich für alles, was geschehen ist, verantwortlich gemacht werde. Ich bin traurig, aber auch erleichtert, als Thomas sich verabschiedet. Ich erzähle Karin später, dass Thomas hier war, aber ich sage ihr nichts von unserem Gespräch über früher.

Am nächsten Tag bin ich noch immer bedrückt und dementsprechend verläuft auch der Besuch bei meiner Mutter. Ich bin hin- und hergerissen. Dass sie einen schweren Schlaganfall erlitten hat und nun so daliegen muss, tut mir leid, aber meine Gefühle sind nicht so, wie sie vermutlich unter normalen Umständen wären. Außerdem denke ich daran, dass sie ihren ältesten Sohn, der seit seinem Unfall schwerstbehindert ist, nie im Krankenhaus besucht hat, und ich kann das nicht verstehen. Damals habe ich mich gefragt, warum sie Kurt in einer solchen Situation allein lässt. Er hätte durchaus an seinen schweren Verletzungen sterben können. Warum ist sie nicht bei ihm gewesen?