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Maria Kallio im Netz einer tückischen Familienintrige Eine junge Frau wird ermordet. Erster Tatverdächtiger: ihr Freund. Die Familie des Opfers bittet Maria, ihn als Anwältin zu vertreten. Doch im Lauf der Ermittlungen wird Maria selbst zum Opfer von Drohungen und Sabotageakten. Bald merkt sie, die vornehme Familie will mit aller Macht verhindern, dass sie den wahren Täter findet. Doch Beweise für ihren Verdacht hat sie nicht … Maria Kallios zweiter Fall
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Seitenzahl: 336
Leena Lehtolainen
Maria Kallios zweiter Fall
Roman
Maria Kallio im Netz einer tückischen Familienintrige
Eine junge Frau wird ermordet. Erster Tatverdächtiger: ihr Freund. Die Familie des Opfers bittet Maria, ihn als Anwältin zu vertreten. Doch im Lauf der Ermittlungen wird Maria selbst zum Opfer von Drohungen und Sabotageakten. Bald merkt sie, die vornehme Familie will mit aller Macht verhindern, dass sie den wahren Täter findet. Doch Beweise für ihren Verdacht hat sie nicht …
Maria Kallios zweiter Fall
Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Finnlands.
Weitere Veröffentlichungen:
Zeit zu sterben
Alle singen im Chor
Kupferglanz
Weiß wie die Unschuld
Die Todesspirale
Der Wind über den Klippen
Wie man sie zum Schweigen bringt
Im schwarzen See
Wer sich nicht fügen will
Auf der falschen Spur
Du dachtest, du hättest vergessen
Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel «Harmin paikka» bei Tammi Publishers, Helsinki.
Die Übersetzung wurde freundlicherweise vom Informationszentrum für finnische Literatur in Helsinki gefördert.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2010
Copyright © 2003 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Harmin paikka» Copyright © 1994 by Leena Lehtolainen
Redaktion Stefan Moster
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40841-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Marille
Out of the ash
I rise with my red hair
And I eat men like air
Sylvia Plath
Das Erste, was ich sah, als ich die Augen aufschlug, waren die Traubenkirschbäume. Wir hatten einen warmen Frühling gehabt, und nun standen sie in voller Blüte, dicht behängt mit duftenden Dolden. Antti bestand darauf, nachts die Vorhänge offen zu lassen, damit er ihre Zweige sehen konnte, die sich vor dem Sommernachtshimmel abzeichneten. Allmählich hatte auch ich mich an die Helligkeit im Schlafzimmer gewöhnt.
Antti schlief noch, Einstein räkelte sich in den Sonnenstrahlen, die auf das Bett fielen. Es war acht, Zeit zum Aufstehen.
Ich ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Ohne Kaffee bin ich morgens nicht zu gebrauchen. Ich ließ mir eiskaltes Wasser über das Gesicht laufen und tapste dann barfuß über den Hof, um die Zeitung hereinzuholen. Das Gras kitzelte an den Fußsohlen, ich atmete tief ein, spürte den Duft der Traubenkirschblüten und die aufziehende Sommerhitze. Nur der Baulärm am Westring störte die Idylle.
Ich widmete mich in aller Ruhe meinem Frühstück und der Zeitung, bevor ich Einstein zu seinem allmorgendlichen Uferrundgang nach draußen ließ. Dann zog ich die Büroshorts und die korrekte Bluse an, trug Wimperntusche und eine Spur Lippenstift auf und radelte los. Antti schlief noch immer. Er hatte wieder die halbe Nacht über seiner Dissertation gesessen, erst in der Morgendämmerung war er zu mir ins Bett gekrochen.
Seit gut einem Monat übten wir uns im Zusammenleben. Bisher hatten wir es ohne schlimmere Wutausbrüche und Streitereien geschafft, obwohl vor allem bei mir die Nerven blank lagen. Ein neuer Wohnort, ein neuer Job, die ungewohnte Zweisamkeit im Alltag, das Gefühl der Leere nach dem bestandenen Examen … Mehr als genug Stress für eine einzige Frau.
Eigentlich kannte ich Antti schon lange. Vor vielen Jahren hatte ich ihn als Freund des Freundes meiner Mitbewohnerin kennen gelernt und sofort interessant gefunden. Im vergangenen Jahr hatten wir uns dann wieder gesehen, als ebendieser Freund ermordet wurde. Aber erst nachdem der Mordfall aufgeklärt war, hatten wir unser Interesse füreinander wieder entdeckt, dabei war es für uns beide nicht der günstigste Zeitpunkt zum Verlieben gewesen: Ich schrieb mit Feuereifer an meiner Abschlussarbeit, Antti arbeitete an seiner Dissertation und lehrte an der Universität Mathematik. Unsere gemeinsamen Mittagessen in der Mensa im Hauptgebäude der Uni zogen sich in die Länge, und ab und zu legten wir anschließend auf dem Sofa in Anttis Arbeitszimmer einen Quickie hin.
Trotzdem schaffte ich es, meine Abschlussarbeit fertig zu schreiben, und begab mich auf die Stellensuche, die, wie sich bald herausstellte, schwieriger war, als ich erwartet hatte. Ich zog sogar schon in Erwägung, bei der Polizei, meinem früheren Arbeitgeber, anzurufen, sosehr es mir auch gegen den Strich ging, demütig um eine Vertretungsstelle zu betteln.
Dann passierten gleich mehrere Dinge auf einmal: Antti bekam ein großzügiges Stipendium, das es ihm ermöglichte, ein Jahr lang ganztags an seiner Dissertation zu arbeiten, ich fand einen Job in einer kleinen, recht leger wirkenden Anwaltskanzlei im Norden des Espooer Stadtteils Tapiola, und die Erben meiner verstorbenen Großtante entschlossen sich, die Wohnung zu verkaufen, in der ich seit vier Jahren ohne Mietvertrag gehaust hatte.
Anfangs war zwischen uns nicht die Rede von Zusammenziehen. Anttis Zweizimmerwohnung wäre sowieso zu klein für uns beide gewesen, weil er ja jetzt zu Hause arbeitete. Ich war schon auf Wohnungssuche, als Antti erfuhr, dass an seinem Haus die Fassade renoviert werden sollte.
«Bei dem Krach kann ich mich nicht auf die Arbeit konzentrieren», erklärte er mir am Telefon. «Meine Eltern wollen auf jeden Fall den ganzen Sommer in ihrer Villa in Inkoo verbringen, also werd ich wohl so lange nach Tapiola in ihre Wohnung ziehen. Wann musst du denn aus deiner Bude raus?»
«Spätestens Anfang Juni. Wieso?»
«Ach, ich dachte nur … du könntest doch den Sommer über bei mir in Tapiola wohnen. Dann können wir mal ausprobieren, wie wir miteinander auskommen.»
«So was kann man doch nicht am Telefon entscheiden», wehrte ich erschrocken ab. Zusammenleben, das kam mir einfach zu endgültig vor, es machte mir Angst.
Nachdem wir am Abend stundenlang darüber geredet hatten, stimmte ich schließlich zu. Anttis Eltern wollten am ersten Mai nach Inkoo ziehen und bis Ende September bleiben, eventuell auch länger. Sie spielten wohl mit dem Gedanken, sich endgültig dort niederzulassen, Anttis Vater war nämlich gerade pensioniert worden. Aber so weit in die Zukunft wollte ich noch gar nicht denken. Im Moment war es sowieso ziemlich leicht, eine Wohnung zu finden, und mit dem, was ich in der Anwaltskanzlei Henttonen verdiente, konnte ich mir sogar eine relativ teure Mietwohnung leisten.
Mein Weg in den nördlichen Teil von Tapiola führte am Meer vorbei und durch Wiesen hindurch. Als ich am Einkaufszentrum vorbeifuhr, entdeckte ich einen Bekannten. Es war Make, er stopfte vor dem Sportgeschäft gerade Pappkartons in den Müllcontainer.
«Ciao, wühlst du etwa im Müll?»
«Ich hab das Lager für den Sommerschlussverkauf geleert. Brauchst du vielleicht einen neuen Badeanzug? Gibt’s jetzt extrem günstig.»
«Ich schwimme ohne, wenn’s irgendwie geht. Sehn wir uns heute Abend bei Hänninens?»
«Ja, ich hab auch ’ne Einladung gekriegt, weiß gar nicht, wieso», lächelte er und knallte den Container zu. Während ich die letzten fünfhundert Meter zu meinem Arbeitsplatz radelte, dachte ich an meine erste Begegnung mit Make zurück.
An einem meiner ersten Arbeitstage in der Kanzlei war ich auf dem Heimweg beim Sportgeschäft vorbeigegangen, weil dort Satteltaschen im Angebot waren. Ich war die einzige Kundin, und der Verkäufer – eben Make – hatte mir mit lobenswerter Gründlichkeit die neuesten Modelle vorgeführt.
Gleich am nächsten Abend waren wir uns zufällig im Fitnesscenter begegnet. Während ich meine Brustmuskeln trainierte, setzte sich Make an das Gerät für Schultertraining, das gleich daneben stand. Wir unterhielten uns übers Radfahren und nahmen das Gespräch jedes Mal wieder auf, wenn wir an benachbarten Geräten trainierten. Als ich nach der Sauna ganz entspannt den Umkleideraum für Frauen verließ, kam Make gerade auf der Männerseite heraus.
«Jetzt lass ich mir ein Bierchen schmecken», sagte er. «Du auch?»
Er wollte mich unbedingt zu einem Bier auf der Terrasse am Kaskadenhaus einladen. Ich schaute ihm nach, als er die Getränke holen ging. Unter der verwaschenen Jeans und dem violetten T-Shirt verbarg sich ein muskulöser Körper, die strohblonden glatten Haare waren witzig geschnitten, vorn etwas länger als hinten, sodass sie ihm über die Augen fielen, wenn er den Kopf drehte. Obwohl er in meinem Alter sein musste, hatte er ein jungenhaftes Lächeln, aber in seinen Augen lag nicht nur Übermut.
«Das ist typisch für mich: erst den Bizeps trainieren und dann die Schluckmuskeln», lächelte ich ihn an, als er wieder am Tisch saß. «Ich heiße übrigens Maria Kallio.»
«Weiß ich schon, du hast doch gestern mit der Kreditkarte bezahlt. Ich heiße Markku Ruosteenoja, aber alle nennen mich Make. Ich wohn in Hakalehto. Arbeitest du hier in der Nähe?»
«Ich hab gerade in einer Anwaltskanzlei angefangen.»
«Bei Eki Henttonen? Der hat mir schon erzählt, er bekäme demnächst eine tüchtige junge Juristin. Da hat er also dich gemeint! Eki hat mich letztes Jahr in einer Sache beraten», erklärte Make.
Obwohl es schon neun war, schien mir die Sonne noch schräg ins Gesicht. Im Bassin schwammen Enten, bis ein Golden Retriever ins Wasser sprang und sie aufscheuchte. Das Bier schmeckte einfach zu gut, ich hatte mein Glas schon halb ausgetrunken.
Make war einer von diesen glatten, ordentlich gekleideten, sportlichen jungen Männern, für die ich normalerweise keinen zweiten Blick übrig habe. Aber in seinen Augen flackerte hin und wieder eine Brüchigkeit auf, die mich fesselte.
«Juristin, Bodybuilderin, Radlerin – was bist du denn noch alles?», neckte er mich.
«Expolizistin und ewige Punkerin», gab ich zurück, «und du?»
«Nichts Besonderes. Verkäufer in einem Sportgeschäft. Wohnst du hier?»
«Wie man’s nimmt. Den Sommer über wohn ich in Itäranta, im Reihenhaus von Leuten, die vielleicht mal meine Schwiegereltern werden. Wo ich im Herbst sein werde, weiß ich noch nicht.»
«Schwiegereltern?», wiederholte Make düster. «Du bist also schon vergeben. Na klar!» Er leerte sein Glas in einem Zug, und ich dachte schon, er würde sofort verschwinden. Als er doch sitzen blieb, fühlte ich mich verpflichtet weiterzureden:
«Vergeben, das klingt so deprimierend. Sagen wir lieber, ich bin jetzt seit fast einem Jahr mit demselben Mann zusammen. Für mich ist das ’ne reife Leistung.»
Bei der Bemerkung musste Make unwillkürlich lächeln. Er konnte ja nicht wissen, wie ernst sie gemeint war.
«Hat dein Freund denn nichts dagegen, dass du mit anderen Männern beim Bier sitzt?»
«Du, mit einem, der mich zu Hause unter Verschluss hält, wär ich nicht lange zusammen. Selbst wenn wir verheiratet wären und fünf Kinder hätten, würde ich mir noch das Recht nehmen, Bier zu trinken, mit wem ich will.»
«Möchtest du auch noch eins?» Er nahm sein leeres Glas und stand auf, um Nachschub zu holen.
«Ein kleines, aber jetzt bin ich mit Bezahlen dran.»
Aber er war schon unterwegs und wollte auch kein Geld annehmen, als er zurückkam. Wir unterhielten uns ein wenig gezwungen über Fahrräder und Bodybuilding, da fragte er plötzlich:
«Das mit der Expolizistin vorhin, war das ein Witz?»
«Nee. Ich war zuerst auf der Polizeischule und hab zwei Jahre bei der Polizei gearbeitet, bevor ich mit Jura angefangen hab. Zwischendurch hab ich auch immer mal Vertretungen bei der Polizei gemacht, zuletzt voriges Jahr im Sommer.»
«Du siehst überhaupt nicht nach Polente aus! Wie eine Juristin allerdings auch nicht.» Make musterte meine alte Trainingshose und meine wirren roten Haare. Auch meine sommersprossige Stupsnase trug nicht unbedingt dazu bei, mich wie eine seriöse Gesetzesvertreterin wirken zu lassen.
«Obwohl, wenn man Leute nach dem Aussehen beurteilt, liegt man sowieso meistens schief», setzte er hinzu. «Ich zum Beispiel hab vorletzten Winter noch gesoffen wie ein Weltmeister, aber jetzt komm ich mit zwei Bier pro Abend aus.»
Das klang wie der Auftakt zu einer umfassenden Beichte. Auch gut, ich war es gewohnt, mir Lebensgeschichten anzuhören. Aber Make schwieg, trank sein Bier in kleinen Schlucken und blickte in die Ferne.
Kimmo Hänninen radelte vorbei, winkte und rief: «Ach, ihr zwei kennt euch auch schon!» Gleich darauf bog er in den Weg zur Unterführung ein und verschwand aus dem Blickfeld.
«Kennst du Kimmo?», fragte Make und spielte mit seinem Bierglas.
«Sogar doppelt, sozusagen. Als ich noch zur Schule ging, hat Kimmo ein paar Jahre in der gleichen Kleinstadt gewohnt wie ich. Ich hab damals praktisch keine Notiz von ihm genommen, er ist nämlich vier Jahre jünger als ich, aber seine Schwester Sanna hab ich ab und zu auf Feten getroffen. Sie ist letztes Frühjahr gestorben … Und Kimmos Bruder ist mit der Schwester von Antti, von meinem Freund, verheiratet.»
Make sah mich an, als erwarte er, dass ich gleich zuschlagen würde.
«Ich war Sannas Freund. Der Mann, der sinnlos betrunken am Ufer gepennt hat, als sie ertrunken ist.»
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Geschichte von Sannas Tod hatte ich schon oft gehört. An ihrem 30. Geburtstag im März war sie im Meer ertrunken. Bei der Obduktion hatte man reichlich Alkohol und eine kleine Menge Beruhigungsmittel gefunden. Ihr Freund war stockbetrunken und halb erfroren am Ufer aufgegriffen worden und konnte sich an nichts erinnern. Offiziell hatte es dann geheißen, Sanna sei in benebeltem Zustand schwimmen gegangen und dabei ertrunken. Antti und viele andere hatten allerdings den Verdacht, dass sie Selbstmord begangen hatte.
«Dann ist dein Antti also Antti Sarkela», sagte Make, wie um das Schweigen zu überbrücken.
«Ja.» Ich trank mein Bier aus und hatte für Sekunden das Gefühl, noch eins vertragen zu können.
«Na, dann ist es ja ausgleichende Gerechtigkeit, dass wir hier zusammensitzen. Ich war ab und zu nämlich ganz schön eifersüchtig, wenn Sanna mir vorgeschwärmt hat, wie klug Antti ist.» Make lächelte gezwungen, und ich grinste mit einiger Anstrengung zurück.
Das war vor drei Wochen gewesen. Danach hatte ich ab und zu bei Make im Sportgeschäft vorbeigeschaut und beim Training im Fitnesscenter mit ihm herumgealbert. Über Sanna hatten wir nicht mehr gesprochen, auch nicht über andere ernsthafte Dinge, und doch lag unter Makes Flapsigkeit ein gewisser Ernst. Ich spürte, dass ich ihn mochte, aber er hatte zugleich etwas Beunruhigendes an sich.
Es war schon komisch, wie schnell ich in Tapiola Anschluss gefunden hatte. Alle schienen sich zu kennen, mein Chef Eki war ein Bekannter der Sarkelas und so weiter. Ich hegte sogar den leisen Verdacht, dass Anttis Vater mir die Stelle in der Anwaltskanzlei seines Bekannten zugeschanzt hatte, aber bei dem Studienkredit, den ich am Hals hatte, konnte ich mir keinen moralischen Firlefanz leisten.
Im Lauf des Tages wurde es immer heißer. Nach der Arbeit fuhr ich nach Hause und stürzte mich ins Wasser. Es war himmlisch, praktisch vom eigenen Garten aus ins Meer springen zu können. Trotz meiner Zweifel an der Wasserqualität in unserer Bucht riskierte ich es, eine Viertelstunde zu schwimmen.
Antti saß in der Küche und mümmelte ein Butterbrot.
«Ach, du warst schwimmen. Sollte ich vielleicht auch mal kurz rein? Wann müssen wir bei Risto und Marita sein?»
«Um sieben. Wir haben noch zwei Stunden Zeit. Musst du noch arbeiten?»
«Hast du einen anderen Vorschlag?», fragte Antti hoffnungsvoll und streifte meinen nur mit einem Handtuch verhüllten Körper. Ich ließ das Handtuch fallen, wir hatten ja noch Zeit …
Nach sechs wurde uns plötzlich klar, dass wir uns allmählich anziehen mussten. Antti mixte uns am reich bestückten Barschrank seiner Eltern einen Drink, während ich versuchte, mich mit einer kalten Dusche und nach Rosen duftendem Körperpuder abzukühlen. Wir waren zum vierzigsten Geburtstag von Anttis Schwager Risto Hänninen eingeladen, und ich war ziemlich nervös.
Im Allgemeinen mache ich nicht viel Aufhebens um meine Kleidung, in Jeans, Tennisschuhen und T-Shirt fühle ich mich sowieso am wohlsten. Für die Geburtstagsfeier hatte ich mir aber extra ein Kleid gekauft. Als ich mich jetzt im Spiegel betrachtete, fand ich das leuchtende Grün auf einmal viel zu grell, der Rock schien mir zu kurz und der Ausschnitt zu offenherzig. Die kurzen Ärmel ließen meine muskulösen Oberarme frei, ich kam mir vor wie der Star einer Drag-Show.
«Wow!», rief Antti bewundernd. Ganz offensichtlich fand er das Kleid nicht zu gewagt. Sein Festgewand bestand aus einem geblümten Hemd und einer Fliege aus violettem Leder zur besseren schwarzen Jeans. Soweit ich wusste, besaß er nur einen einzigen Anzug, nämlich seinen fünfzehn Jahre alten Konfirmationsanzug. Die violetten Wildlederschuhe hatte ich noch nie an ihm gesehen.
«Die hab ich mal für drei Pfund in London erstanden. Ein Restpaar wahrscheinlich», antwortete er auf meinen fragenden Blick.
Das leuchtete mir ein. Größe sechsundvierzig war sicher nicht sehr gefragt.
Ich schlüpfte in schwarze Stöckelschuhe – Größe siebenunddreißig – mit sieben Zentimeter hohen Absätzen, in denen ich mir vorkam wie ein neugeborenes Kälbchen.
Wir hatten es nun doch so eilig, dass wir mit dem Rad fahren mussten. Mit meinem Festkleid war das allerdings gar nicht so einfach. Mein Fahrrad, das ich bei einer Auktion der Polizei ersteigert hatte, war ein schneller Flitzer mit Gangschaltung, aber dummerweise ein Herrenrad und mit engem Rock und Stöckelschuhen kaum zu besteigen. Als der Rocksaum bei meinem dritten Versuch, in den Sattel zu kommen, gefährlich krachte, verlor ich endgültig die Nerven.
«Setz dich bei mir auf den Gepäckträger!», schlug Antti vor.
«Im Damensitz? Kommt gar nicht in Frage!» Ich rannte ins Haus, zog Radlerhose und Tennisschuhe an und rollte den engen, aber dehnbaren Rock bis zur Taille hoch, die Stöckelschuhe hängte ich an die Lenkstange.
«Aufgeregt?», fragte Antti, als ich einige Meter vor dem Haus der Hänninens in meine Schuhe schlüpfte.
«Ich hasse es, mich öffentlich zur Schau zu stellen!» Anttis engere Verwandtschaft hatte ich zwar nach und nach bereits kennen gelernt, aber heute Abend würden sie mich allesamt inspizieren und garantiert ihre Bemerkungen über mich austauschen. «Wart’s nur ab, das zahl ich dir heim. Im Herbst feiert Onkel Pena seinen Sechzigsten», flüsterte ich Antti zu, als er das Gartentor aufklinkte.
Das Haus der Hänninens war ein Musterbeispiel für den protzigen Baustil der achtziger Jahre. Man war schon mal im Süden gewesen, das verrieten die weiß verputzten Wände, die Säulen und Loggien. Die Hausherrin war Mathelehrerin und verbrachte ihre Sommerferien damit, den sorgfältig angelegten Garten zu pflegen. Zwischen den Blumenrabatten standen festlich gekleidete Gäste. Ich wünschte mir plötzlich, ich hätte mir vor dem Herkommen ordentlich Mut angetrunken.
Das Geburtstagskind stand, ein Sektglas in der Hand und eine Rose im Knopfloch, vor dem Büfett. Der rostfarbene Sommeranzug war garantiert aus Seide, und das Lachsrot der Rose harmonierte mit Anzug und Krawatte. In meinem Kleid vom Flohmarkt kam ich mir auf einmal sehr secondhand vor. Marita stand lächelnd neben Risto, in einer geblümten Laura-Ashley-Kreation, die die eckigen Konturen ihres mageren Körpers umschmeichelte. Man munkelte allgemein, dass Ristos Firma ebenso schwer unter der Rezession litt wie die meisten anderen Ingenieurbüros, aber der Lebensstil der Hänninens schien davon unbeeinträchtigt.
Wir überreichten Risto unser Geschenk, ein antiquarisches Werk über Jagdwaffen des 19. Jahrhunderts, für das Antti tief in die Tasche gegriffen hatte. Es war ein Prachtband mit vielen kunstvollen Zeichnungen. Obwohl mir die Jägerei zuwider war, hatte ich das Kapitel über die Waffen durchgeblättert, schon aus beruflicher Neugier. Immerhin war ich mal Polizistin gewesen.
Risto entließ uns nach dem Begrüßungsschluck nicht aus seiner Obhut, sondern bestand darauf, uns den anderen Gästen vorzustellen. Der «Hautevolee von Tapiola» – so drückte er sich tatsächlich aus und meinte es höchstens teilweise ironisch. So musste ich unter anderem zwei Kommunalpolitikern die Hand schütteln, außerdem dem wichtigsten Bankdirektor, einem berühmten Chorleiter, meinem Chef und dem örtlichen Gynäkologen, der mit professionellem Blick meine Hüften begutachtete, sodass mir mein Kleid nicht mehr nur gebraucht, sondern obendrein zu eng vorkam.
«Maria, Antti, hallo!», rief Kimmo, der etwas weiter weg auf dem Rasen stand. Sein beigefarbener Dreiteiler hätte besser zu einem älteren Herrn gepasst, aber seine Cherubslocken waren so verwuschelt wie immer, und das von Akne übersäte Gesicht wirkte rührend jung. Zwischen Risto und Kimmo lag ein Altersunterschied von rund fünfzehn Jahren. Ristos Vater Henrik Hänninen hatte nach dem Tod seiner ersten Frau bald wieder geheiratet, die Früchte dieser Ehe waren Sanna und Kimmo.
«Maria, das ist Armi, meine Verlobte», erklärte Kimmo stolz. Die junge Frau, die er mir vorstellte, war etwa so groß wie ich, hatte ein rundes Gesicht und breite Hüften und machte einen netten Eindruck. Die Dauerwelle in ihrem dünnen blonden Haar war eine Spur zu kraus, und das geblümte Kleid stammte aus dem Versandhaus, ich hatte es selbst im Ellos-Katalog gesehen.
«Armi Mäenpää», sagte sie und lächelte freundlich. Ihre Augen waren so leuchtend blau, dass mir der Verdacht kam, sie trüge gefärbte Kontaktlinsen.
Wir tauschten Neuigkeiten aus, redeten über die Hitzewelle, winkten Anttis Eltern zu, die nur kurz aus Inkoo gekommen waren. Ich hatte meinen Begrüßungssekt schon ausgetrunken – nach den Flaschen auf dem Getränketisch zu schließen, handelte es sich sogar um echten Champagner – und sah mich hoffnungsvoll nach einem weiteren Durstlöscher um. Antti und Kimmo waren inzwischen in ein Gespräch über Kimmos Diplomarbeit vertieft, also musste ich mit Armi Konversation treiben.
Eigentlich brauchte ich kaum etwas zu sagen, sie redete in einem fort.
«Ich hab gehört, du arbeitest bei Erkki Henttonen in der Kanzlei. Ich bin gelernte Krankenschwester und hab einen ganz guten Job bei Dr. Hellström, dem Gynäkologen, der da drüben steht, kennst du ihn? Der hat eine Privatpraxis. Irgendwann möchte ich mich auf Gynäkologie spezialisieren, aber nach der Schwesternschule hatte ich erst mal genug vom Lernen. Du hast ja gleich zwei Berufe gelernt, hat Marita mir erzählt. Erst Polizistin und dann Jura. Hat es dir bei der Polizei nicht gefallen?»
«Na ja, das war …», setzte ich an, aber Armi redete schon weiter.
«Das ist bestimmt ganz schön gefährlich … Mit diesen juristischen Sachen verdient man wahrscheinlich mehr, und es passt auch besser zu einer Frau. Aber weißt du was, du bist die erste Polizistin, die ich bisher getroffen habe. Ich hätte dich so viel zu fragen!»
Anttis Eltern gesellten sich zu uns, zwei zapplige kleine Jungen im Schlepptau. Matti und Mikko, die Zwillingssöhne der Hänninens und einzigen Enkel der Sarkelas, von denen sie nach Strich und Faden verwöhnt wurden, waren Einsteins größter Schrecken. Bei ihrem Anblick sprang die Katze meistens blitzschnell auf das höchste Bücherregal. Antti behauptete, sie hätte sich anfangs unter dem Bett verkrochen, bis sie die bittere Erfahrung machte, dass man sie dort gleich von zwei Seiten bedrängen konnte.
«Onkel Antti! Onkel Kimmo!», kreischten die Bengel. «Kommt mal gucken! Wir haben jetzt Nintendos in unserer Baumhütte!»
«Maria, die Baumhütte kennst du noch gar nicht. Die haben Kimmo und ich letzten Sommer gebaut. Ja, ja, wir kommen ja schon», lachte Antti, als der eine Knabe ihn, der andere Kimmo in den hinteren Teil des Gartens zerrte, wo tatsächlich in einer großen Krüppelkiefer eine Baumhütte prangte.
Ich schluckte. Genau so eine hatte ich mir immer gewünscht, als ich klein war. In allen Büchern, die mir gefielen, kam so eine Hütte vor. Aber beim Bauen hätte mir ein Erwachsener helfen müssen, und mein Vater war der Meinung, Mädchen bräuchten keine Baumhütten.
«Darf ich mal raufklettern?», fragte ich begierig. Die Jungen sahen mich verdutzt an.
«Zutritt für Mädchen verboten», erklärte Kimmo. «Aber hört mal, Maria war früher Polizistin, die müsst ihr schon in eure Hütte lassen!»
«Bist du etwa bei den Bullen?» Matti sah mich abschätzig an wie vorhin der Frauenarzt. «Polizisten laufen doch nicht in bunten Kleidern rum!»
«Die im Fernsehen haben alles Mögliche an», ergriff Mikko für mich Partei. «Hast du auch ein Schießeisen? So ’nen Revolver? Papa hat nur Gewehre, aber die sind eingeschlossen.»
«Als ich noch bei der Polizei war, hatte ich einen, aber jetzt nicht mehr.»
Trotzdem erlaubten sie mir gnädig, mit Antti hinaufzuklettern, um die ersten auf einem Baum zu spielenden Nintendos der Welt zu begutachten. Antti war fast beleidigt, als ich zweifelnd fragte, ob die Hütte unser Gesamtgewicht aushalten würde.
«Jetzt hör aber mal zu, das ist solide Arbeit, Kimmo und ich haben in unserem Leben schon mehr als eine Hütte gebaut.»
Ich konnte mir die beiden lebhaft vorstellen, wie sie herumwerkelten, mit dem gleichen Feuereifer wie Matti und Mikko, während Armi unter dem Baum stand, warnende Rufe ausstieß und Saft nach oben reichte. Es war höchste Zeit, den Zwillingen zu demonstrieren, dass sich auch Frauen in Baumhütten wohl fühlen. Ich schleuderte die Schuhe von mir und schaffte es trotz des engen Rocks, die Leiter hinaufzuklettern.
Obwohl die Hütte nur wenige Meter über dem Erdboden lag, kam es mir vor, als wären die Menschen unten auf dem Rasen weit weg. Von hier oben konnte man die unterschiedlichen Stadien der Glatzenbildung bei den Männern studieren. Selbst Kimmos Scheitel begann sich schon zu lichten, und Risto hatte seine dunklen Haare geschickt über die kahle Stelle gekämmt. Ich hörte Armi kichern, vermutlich hatte Make, der jetzt neben ihr stand, einen seiner Witze vom Stapel gelassen.
«Arme Blindschleiche, hat Sanna immer gesagt. Über Armi. Dass sie Arme Blindschleiche heißt und nicht Armi Mäenpää», erklärte Mikko, der plötzlich neben mir aufgetaucht war.
«Ja, weil die so ’ne starke Brille hat, ohne die sie gar nichts sehen kann», ergänzte Matti. «Hast du die Sanna gekannt, Maria?»
«Wir waren zusammen in der Schule.»
«Sanna hat zu viel Schnaps getrunken, und dann ist sie gestorben», erklärte Matti. «Die konnte toll Nintendo spielen!»
Die Jungen begannen mir die Feinheiten ihres Spiels vorzuführen, und ich blieb in der Geborgenheit der Baumhütte hocken, bis ich den Gang zur Toilette einfach nicht mehr aufschieben konnte. Da ich schon ein paar Mal bei den Hänninens gewesen war, fand ich den Weg problemlos. Allerdings war ich nicht die Einzige, denn Armi stand wartend im Flur.
«Du hast ein hübsches Kleid an», sagte sie freundlich.
«Mir kommt es viel zu kurz vor.»
«Gar nicht, Mini ist jetzt Mode. Und du mit deinen trainierten Beinen kannst das tragen.»
Ich gab mir alle Mühe, nicht rot zu werden, und quasselte weiter über Kleider, das ewige Frauenthema. «Letzte Woche hab ich mir auf dem Flohmarkt einen Lederrock gekauft, der fast genauso kurz ist. Ich müsste ihn bloß in der Taille ein bisschen enger machen, wenn ich mal irgendwo eine Nähmaschine auftreibe.»
«Ich hab eine!», rief Armi. «Sogar mit Ledernadel. Weißt du was, komm doch gleich morgen zum Nähen. Ich wohne drüben in der Jousenkaari. Gegen zwei, wenn’s dir recht ist, da können wir uns auch ein bisschen unterhalten!»
Im selben Moment ging die Klotür auf und Make kam heraus. Als Armi hineingeschlüpft war, flüsterte er mir lächelnd zu:
«Mir scheint, Armi hat beschlossen, sich mit dir anzufreunden. Und wenn die sich was in den Kopf setzt, ist jeder Widerstand zwecklos.»
Als ich wieder hinauskam, konnte ich weder Antti noch Kimmo entdecken. Ich ging ums Haus herum in den vorderen Garten. Im Schatten der Büsche waren einige Herren in eine Unterhaltung vertieft: Risto, Anttis Vater, mein Chef, der Frauenarzt und der Rektor von Maritas Schule. Als ich merkte, dass sie über mich sprachen, blieb ich hinter den Büschen stehen.
«Na, Eki, da hast du aber Glück gehabt, dass du als Ersatz für Parviainen so ein junges Ding gekriegt hast», sagte Dr. Hellström. «Da sitzt du wohl neuerdings lieber im Büro als zu Hause bei deiner Frau.»
Angewidert sah ich im Gesicht meines Chefs ein genüssliches Grinsen. «Natürlich ist es schön, einen kleinen Augenschmaus im Büro zu haben», meinte er. «Du hast schließlich die Armi, das ist doch auch ein hübsches Mädchen.»
«Ich kann sowieso den ganzen Tag Weiber begrapschen», wieherte Hellström.
«Soweit ich das beurteilen kann, ist Maria keine, die sich von jedem begrapschen lässt», versetzte Anttis Vater trocken. «Sie ist doch eine ziemlich resolute Feministin, oder?»
«Auf jeden Fall hat sie entsprechende Waden, muskulös wie bei einem Mann», meinte Hellström. «Mir sind feminine Frauen lieber, mit zierlichen Beinen.»
«Was meinen Sie, wie maskulin meine Waden erst wären, wenn ich sie nicht vor ein paar Tagen enthaart hätte», erklärte ich laut und kam hinter den Büschen hervor. «Weitere Kommentare über meinen Körper bitte ich direkt an mich zu richten.»
Mein wütender Gesichtsausdruck ließ die Herren verstummen. «Hör mal, Eki, du hast mich doch als Juristin mit dem Spezialgebiet Strafrecht eingestellt. Wenn du bloß eine zum Begrapschen brauchst, kriegst du die auch für weniger Gehalt.»
Ich kannte meinen Chef noch nicht sehr gut und wusste nicht, wie er reagieren würde. Eine Sekunde lang rechnete ich damit, auf der Stelle gefeuert zu werden. Zu meiner Erleichterung brach Eki in Gelächter aus und sagte zu Anttis Vater:
«Mit der Frau kommen Antti und ich noch in Teufels Küche. Dein Zeugnis ist kein Thema, Maria, und deine Kurven auch nicht. Du hast die Stelle bekommen, weil du kein Hasenfuß bist, die kann ich nämlich nicht ausstehen.»
Ich lächelte halbwegs versöhnt und machte mich auf den Weg zum Getränketisch, auf dem inzwischen auch ein paar Flaschen vom besten Kognak aufgetaucht waren. Die Rezession schien tatsächlich spurlos an den Hänninens vorübergegangen zu sein. Ich goss mir gerade eine ordentliche Portion ein, als plötzlich Antti neben mir stand.
«Hast du’s nötig?»
Ich erzählte ihm von meinem Lauschangriff und brachte ihn damit zum Lachen.
«Erik Hellström prahlt allzu laut damit, alle Frauen von Tapiola von innen und außen zu kennen, das ist wahr. Deshalb geht meine Mutter ja nicht mehr zu ihm in die Sprechstunde. Aber er gilt als irrsinnig guter Arzt, ohne ihn wäre zum Beispiel Armis Schwester Mallu nicht mehr am Leben. Er hat eben seine guten und seine schlechten Seiten.»
«Was war denn mit dieser Mallu?»
«Fehlgeburt oder so was, da musst du Armi fragen. Aber nicht ausgerechnet jetzt, das ist nämlich Mallu, mit der sie da ankommt.»
Armi steuerte mit einer dünneren und dunkelhaarigeren Ausgabe ihrer selbst auf uns zu. Ich goss mir den restlichen Kognak hinter die Binde und schenkte mir noch einen ein. Ich hatte es bis obenhin satt, ständig neue Leute kennen zu lernen und liebenswürdig in der Gegend herumzulächeln. Trotzdem tauschte ich mit Armi und Mallu höfliche Banalitäten aus, an denen Mallu ebenso wenig Anteil zu nehmen schien wie ich. Armi dominierte die Unterhaltung, Kimmo und Antti warfen ab und zu eine Bemerkung ein, irgendwer schenkte mir Kognak nach. Ich wurde langsam, aber sicher betrunken. Aus dem Haus war Tanzmusik zu hören, und Kimmo wusste zu berichten, dass im Wohnzimmer ein Trio der örtlichen Big Band spielte.
«Wollen wir tanzen?» Make stand plötzlich vor mir, machte eine leicht ironische Verbeugung und zog mich ins Haus. Der langsame Swing verlockte dazu, sich im Takt zu wiegen, Makes Schultern unter dem weißen Hemd fühlten sich hart an, seine Hand war leicht schweißig. Er roch nach zu viel Rasierwasser. Als Tanzpartner hatte er genau die richtige Größe für mich. Mit Antti zu tanzen war schwieriger, weil er mich um mehr als dreißig Zentimeter überragte. Andere Paare glitten an uns vorüber: Kimmo und Armi, mein Chef mit seiner Frau, Antti und seine Mutter. Der Kognak sackte mir vom Kopf in die Beine, das Trio leitete vom Swing zum Tango über, und Make schwang mich in eine stilreine Tangowiege.
Wir tanzten am Kamin vorbei. Zwischen silbernen Kerzenhaltern stand ein großes Abiturfoto von Sanna, die gelangweilt in die Kamera lächelte. Ich war in der ersten Klasse der Oberstufe, als sie Abitur machte. Am Abend nach der Abiturfeier traf sich die halbe Oberstufe im einzigen Park meiner Heimatstadt zu einem allgemeinen Besäufnis. Sanna war total blau, und einige flüsterten, sie hätte nicht nur Schnaps intus. Ich erinnerte mich nach all den Jahren noch genau daran, wie ihr die Sorbusflasche vom Mund gerutscht war und das rote Gesöff ihre hübsche weiße Spitzenjacke bekleckert hatte. Nachdem sie die Jacke ausgezogen hatte, gab das knappe weiße Oberteil, das sie darunter trug, die von Brandwunden und Rasierklingenschnitten übersäten Arme frei. Ich hatte von diesen Armen schon gehört, aber damals sah ich sie zum ersten Mal in all ihrer Grausigkeit.
Make war meinem Blick gefolgt.
«Es wundert mich, dass sie mich eingeladen haben», flüsterte er mir ins Ohr. «Wahrscheinlich wollen sie allen zeigen, dass sie mir verziehen haben.»
«War Sannas Tod denn etwa deine Schuld?», flüsterte ich zurück.
«Wenn ich nicht so besoffen gewesen wäre, hätte ich sie daran hindern können, schwimmen zu gehen», wisperte Make.
«Und wenn du nicht blau gewesen wärst, wär Sanna es auch nicht gewesen. Weißt du, Make, so viel hab ich inzwischen gelernt, dass es sich überhaupt nicht lohnt, solche Spekulationen anzustellen.»
Den Rat hätte ich mir am nächsten Tag selber geben können.
Der Rest des Abends war eigentlich ganz lustig. Vielleicht lag es am Kognak oder an der guten Musik des Trios. Gegen halb zwei machten wir uns auf den Heimweg, zur gleichen Zeit wie Armi und Kimmo. Was Armi mir nachrief, war weithin zu hören:
«Du kommst also morgen um zwei, dann können wir nähen und reden. Ich hab dich so viel zu fragen!»
Am nächsten Tag war es drückend heiß. Als ich gegen Mittag aufwachte, hatte ich einen ekelhaften Geschmack im Mund, und trotz Kaffee und einer langen kalten Dusche pochte es beharrlich in den Schläfen. Bevor ich mich auf den Weg zu Armi machte, nahm ich eine Kopfschmerztablette. Antti verkündete, er würde sich heute einen freien Tag gönnen, und ließ sich mit einer Anthologie französischer Lyrik im Garten nieder. Ich hätte mich am liebsten zu ihm gelegt, dann hätten wir uns unter den blühenden Traubenkirschen langsam und träge lieben können.
«Falls ich nicht hier bin, wenn du zurückkommst, bin ich zum Schwimmen an die Mole gegangen.»
«Warte auf mich, ich komm mit. Es dauert höchstens eine Stunde.»
«Ach was, Armi will bestimmt mit dir tratschen, dann bleibst du ewig da hängen», meinte Antti.
Unterwegs überlegte ich mir, wie ich es vermeiden konnte, mit Armi Backfischgeheimnisse auszutauschen. Dazu hatte ich nun wirklich keine Lust. Es war so heiß, dass ich sogar auf der ebenen Strecke ins Schwitzen kam, und als ich endlich am Ziel war, hatte ich einen Riesendurst. Armi hatte ihr Zwei-Zimmer-Reihenhaus von einem entfernten Bekannten gemietet. Gestern Abend hatte Kimmo, die leicht alkoholgetrübten Augen verliebt auf Armi geheftet, stolz erzählt, er hätte zwei Zuhause: Armis Reihenhaus und das Einfamilienhaus seiner Eltern in Haukilahti. Hoffentlich war er jetzt hier bei Armi.
Obwohl ich dreimal klingelte, machte niemand auf. Seltsam. War Armi unter der Dusche? Sie wirkte eigentlich nicht wie jemand, der am helllichten Tag duscht. Vorsichtshalber sah ich noch einmal auf die Uhr. Genau zwei Uhr, wie vereinbart. War sie gestern so betrunken gewesen, dass sie sich nicht mehr an unsere Verabredung erinnerte? Nein, den Eindruck hatte ich nicht gehabt. Vielleicht saß sie im Garten hinter dem Haus und hörte die Klingel nicht.
Armis Garten grenzte an ein kleines Wäldchen. Über dem Gartentor hing eine Ranke, die die Sicht verdeckte. Der Blick in die Nachbargärten war durch einen hohen Zaun verstellt, an dem ebenfalls Kletterpflanzen rankten. Ich spähte vorsichtig durch das Tor.
«Armi?»
Keine Antwort. Ich betrat den Garten. Nach dem schattigen Wäldchen stach mir die Sonne doppelt grell in die Augen, die feuerroten Blumen auf den Gartenbeeten wirkten geradezu schreiend bunt. Zwischen gelb blühenden Ziersträuchern schauten ein Gartentisch und zwei Stühle hervor, auf dem Tisch standen ein Saftkrug und zwei Gläser. Als ich näher kam, sah ich plötzlich, dass hinter einem der Büsche noch etwas anderes hervorragte: ein Fuß. Nach den rosa lackierten Nägeln zu schließen, der Fuß einer Frau.
Armi lag bäuchlings hinter dem Strauch, das Gesicht im Gras. Ich ging näher heran und rief immer wieder ihren Namen, aber sie stand nicht auf und gab auch keine Antwort. Ihr Rücken hob und senkte sich nicht, sie gab keinen Ton von sich. Ich hatte bei der Polizei genügend Leichen gesehen, um zu wissen, dass ich hier eine vor mir hatte. Trotzdem fühlte ich nach dem Puls und drehte Armis Kopf vorsichtig zur Seite.
Es war ihr Gesicht, und doch kam es mir grauenhaft fremd vor, blaurot aufgedunsen, die geschwollene Zunge hing aus dem Mund. Ich hätte ihr gern die entsetzt starrenden Augen zugedrückt, aber ich wusste, das durfte ich nicht tun.
Ich kämpfte gegen den Brechreiz an. Zum Glück war die hintere Tür zum Haus offen, und das Telefon stand gleich im Flur. Bevor ich den Hörer anfasste, schützte ich ihn mit einem Stück Küchenkrepp, dann verständigte ich die Polizei, rannte ins Bad, drehte, wieder mit Küchenkrepp in der Hand, die Dusche auf und hielt den Kopf unter den Wasserstrahl. Nachdem ich mindestens einen Liter Wasser getrunken hatte, fühlte ich mich halbwegs imstande, wieder in den Garten zu gehen und auf den Einsatzwagen zu warten.
Jede Einzelheit brannte sich in mein Gehirn ein. Die Bachstelze, die über das Blumenbeet hüpfte. Die Hummel, die von einer roten Blüte zur anderen surrte. Die Fliege am Saftkrug. Ich wollte Armi nicht ansehen, aber ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Und wozu auch – der Film, der in meinem Kopf eine Endlosschleife drehte, schob ihr purpurfarbenes Gesicht die ganze Zeit über alle anderen Bilder.
Außerdem hatte ich mir in meinem früheren Beruf angewöhnt, alle Einzelheiten am Tatort zu registrieren. Und das hier war ein Tatort, Armi war erwürgt worden! Die Spuren auf der Erde ließen erkennen, dass sie sich heftig gewehrt hatte. Fußspuren waren auf dem Rasen nicht zu sehen, aber die Kriminaltechniker würden sicher irgendetwas entdecken.
Die Streifenbeamten kamen ziemlich schnell und mit glänzenden Augen; offensichtlich war ein Mord eine erfrischende Abwechslung von der Alltagsroutine, die im Wesentlichen darin bestand, Betrunkene aufzulesen. Der Hauptwachtmeister stellte sich als Makkonen vor und nahm meine Angaben auf. Die anderen schienen erst mal zu überlegen, was jetzt wohl zu tun wäre. Ich ärgerte mich über ihre Untätigkeit und musste mich schwer im Zaum halten, um sie nicht anzubrüllen, sie sollten gefälligst den Tatort fotografieren und nach Fingerabdrücken suchen. Das wäre auch Blödsinn gewesen, denn sie waren ja einfache Schutzpolizisten, die nicht mal die nötige Ausrüstung hatten.
Bis der Rechtsmediziner und die Techniker von der Bezirkskriminalpolizei eintrafen, dauerte es etwas länger. Den zuständigen Kriminalkommissar kannte ich aus der Polizeischule, es war Pertti Ström, Pertsa genannt, den wir damals mit dem gleichnamigen Spottlied von Eppu Normaali drangsaliert hatten. Pertsa, ich und Tapsa Helminen, der jetzt in Helsinki im Rauschgiftdezernat arbeitete, waren die Besten unseres Jahrgangs gewesen. Die beiden Männer waren mittlerweile befördert worden, während ich den Beruf gewechselt hatte. Allerdings hatte wohl auch Pertsa irgendwann Jura studiert, in Turku, soweit ich wusste.
«Tag, Kallio», sagte Pertsa verblüfft, als er mich sah. «Wann bist du denn zur Espooer Polizei versetzt worden?»
«Überhaupt nicht. Ich hab die Tote gefunden.»
«Kanntest du sie?»
«Flüchtig. Sie ist die Freundin vom Stiefbruder des Schwagers meines … meines Freundes», erklärte ich und wunderte mich selber über meine komplizierte Beinah-Verwandtschaft mit Armi. «Ich hab sie gestern erst kennen gelernt und wollte mir bloß ihre Nähmaschine leihen.»
Pertsa nahm die Zügel in die Hand, die übliche Routine rollte an. Der Rechtsmediziner traf erst um Viertel vor drei ein und meinte, der Tod sei, grob geschätzt, vor ein bis drei Stunden eingetreten. Der Täter habe hinter Armi gestanden und sie mit den Händen erwürgt. Größe und Anordnung der Würgemale deuteten darauf hin, dass der Mörder verhältnismäßig große Hände habe, es handle sich also vermutlich um einen Mann. Stirnrunzelnd sah sich der Rechtsmediziner die Spuren an Armis Hals noch einmal an und meinte dann, sie sei wahrscheinlich nicht mit bloßen Händen erwürgt worden.
«Das könnten Gummihandschuhe gewesen sein», sagte er. «Mal sehen, ob wir drinnen Haushaltshandschuhe finden.»
An dieser Stelle ging Pertsa endlich auf, dass ich als Außenstehende bei Gesprächen über Untersuchungsergebnisse überhaupt nichts verloren hatte. Er bat mich, vorläufig mit niemandem außer Antti über Armis Tod zu sprechen. Weitere Erklärungen waren überflüssig, ich kannte die Spielregeln.
Kaum war ich ein paar hundert Meter geradelt, wurde mir wieder schlecht. Ich erbrach mein salziges Frühstück über die Ranunkeln im Straßengraben. Meine Beine zitterten derart, dass ich kaum imstande war, nach Hause zu fahren. Zum Glück ging es das letzte Stück bergab. Von den Passanten erntete ich mitleidige Blicke.
In unserem Garten war alles wie vorher. Antti lag immer noch mit seinem Lyrikband in der Sonne. Einstein schlief, den Schwanz in der Sonne, Kopf und Körper im Schatten, und nahm keine Notiz von mir.
«Das ging ja schnell», sagte Antti träge. «Wollen wir jetzt schwimmen? Hey, was ist denn los?» Endlich hatte er von seinem Buch aufgeblickt.
In knappen Worten erzählte ich, was passiert war. Anttis Gesicht wurde merkwürdig schief, eine Weile brachte er kein Wort heraus. Mir war plötzlich kalt, auch die Katze wurde unruhig. Wütend schlug sie mit dem Schwanz und fauchte eine Schwalbe an, die herausfordernd über sie hinwegflog.
«Du meinst wirklich, Armi ist tot … ermordet?», fragte Antti schließlich. Die Stimme wollte ihm nicht gehorchen, es war, wie wenn am Klavier eine Saite klemmt. «Bist du sicher?»
«Ich bin ja nicht die Einzige, die ihren Tod festgestellt hat, die halbe Kripo war da.»
«Weiß Kimmo es schon?»
«Die Polizisten werden es ihm inzwischen gesagt haben. Sie haben mich nach Armis Angehörigen gefragt, da hab ich Kimmo genannt.»
«Ich muss zu ihm!» Antti sprang auf.
«Nein! Überlass das der Polizei. Die anderen darfst du jetzt auch noch nicht anrufen, die Hänninens oder …»
«Warum denn nicht?»