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Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Maria Kallio, bereits erfolgreiche Anwältin und Ermittlerin, wird in einen Fall verwickelt, der mysteriöser nicht sein könnte: Säde, eine junge Therapeutin, die misshandelte Frauen im Frauenhaus betreut, fasst den Entschluss, zukünftig entschiedener und tatkräftiger den Frauen zu helfen. Sie will nicht mehr nett sein und die alltägliche Gewalt stillschweigend hinnehmen. Säde beginnt eine mörderische Therapie, die schnelle Erfolge zeitigt. Doch die Zeit rinnt ihr unaufhaltsam durch die Hände – und irgendwann ist es für jeden Zeit, zu sterben. Spannend und lebensnah; hier ist eine neue Stimme aus Finnland zu entdecken.

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Leena Lehtolainen

Zeit zu sterben

Roman

 

 

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Maria Kallio, bereits erfolgreiche Anwältin und Ermittlerin, wird in einen Fall verwickelt, der mysteriöser nicht sein könnte: Säde, eine junge Therapeutin, die misshandelte Frauen im Frauen haus betreut, fasst den Entschluss, zukünftig entschiedener und tatkräftiger den Frauen zu helfen. Sie will nicht mehr nett sein und die alltägliche Gewalt stillschweigend hinnehmen. Säde beginnt eine mörderische Therapie, die schnelle Erfolge zeitigt. Doch die Zeit rinnt ihr unaufhaltsam durch die Hände – und irgendwann ist es für jeden Zeit zu sterben.

Spannend und lebensnah; hier ist eine neue Stimme aus Finnland zu entdecken.

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit.

Gabriele Schrey-Vasara, geboren 1953 in Rheydt, studierte Geschichte, Romanistik und Finnougristik in Göttingen und lebt seit 1979 in Helsinki. 2008 erhielt sie den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel «Tappava Säde» bei Tammi Publishers, Helsinki

 

Die Übersetzung wurde freundlicherweise vom Informationszentrum für finnische Literatur in Helsinki gefördert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 

«Tappava Säde» Copyright © 1999 by Leena Lehtolainen

Redaktion Stefan Moster

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01924-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

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Eins

Das Ferkel hatte nur noch einen Flügel. Von der Ablage hinter der Theke starrte es traurig an mir vorbei. Ich versuchte seinen Blick zu erwischen, um ihm zu sagen, dass ich mich genauso fühlte.

Irja Ahola war tot. Ihr Mann hatte ihr den Schädel eingeschlagen, mit einem Schürhaken.

Ich war wütend und traurig, aber nicht überrascht. Irja hätte sich vor fünf Jahren scheiden lassen sollen, als er sie zum ersten Mal schwer misshandelt hatte. Sie hätte aus der Hauptstadtregion wegziehen und ihren Namen ändern können. Aber Irja wollte nicht gehen. Sie meinte, sie müsse an ihre Kinder und Enkel denken. Wir Mitarbeiter im Frauenhaus Schutzhafen hatten sie in ihrer Entscheidung unterstützt. Wir glaubten den Schläger therapieren zu können, und fanden es wichtig, die Familie zusammenzuhalten. Irja hatte vor fünf Jahren keine Anzeige erstattet und erlaubte uns auch später nicht, die Polizei zu verständigen, wenn sie sich mit blauen Flecken und gebrochenen Rippen ins Frauenhaus geflüchtet hatte.

Und jetzt war Irja tot.

Ich holte mir an der Theke noch einen Cidre, obwohl mir schon der erste in die Beine gegangen war. Am Nachmittag hatte mich Hauptkommissarin Maria Kallio angerufen und gefragt, was ich über die ständige Gewalt in der Familie Ahola wüsste. Einmal hatte Irja Ahola gegenüber ihrer ältesten Tochter zugegeben, dass die blauen Flecke am Kinn nicht von einem Sturz mit dem Fahrrad stammten, sondern von ihrem Vater. Erst als sie nach dem Totschlag von der Polizei vernommen wurde, war der Tochter aufgegangen, dass die ständigen Verletzungen ihrer Mutter nicht von Zusammenstößen mit Möbelstücken herrührten.

Kallio hatte mich für halb drei auf das Präsidium bestellt. Ich kannte sie, wir hatten dienstlich miteinander zu tun gehabt, und einmal hatten wir auf einem Seminar beide einen Vortrag gehalten. Seitdem duzten wir uns. Dieses Seminar über vorbeugende Maßnahmen gegen Gewalt in der Familie war die schrecklichste Veranstaltung in meinem ganzen Leben gewesen. Trotz Mikrophon hatte man mich in dem kleinen Saal im Kulturzentrum Espoo in den mittleren Reihen kaum hören können, während Kallio ohne elektronische Hilfsmittel ausgekommen war.

Ich befürchtete, dass auch sie mir die Schuld an Irja Aholas Tod geben würde. Wir hatten ziemlich unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man mit Gewalt in der Familie umgehen sollte. Kallio wollte die Täter ins Gefängnis stecken, während im Frauenhaus Versöhnung und Vergebung als das Wichtigste galten.

Bis gestern Abend hatte ich so gedacht.

Als ich in Kallios Zimmer kam, stutzte ich. Die Kommissarin sah müde aus. Zwischen ihren roten Haaren waren ein paar graue Strähnen aufgetaucht, unter den Augen lagen dunkle Ringe. Vor einem Jahr erst hatte sie bei der Espooer Kripo die Leitung der Abteilung Gewaltkriminalität übernommen. Es hatte nicht allen geschmeckt, dass ein so verantwortlicher Posten mit der Mutter eines kleinen Kindes besetzt wurde.

«Ah, Säde Vasara, guten Tag.» Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und gab mir die Hand. «Kriminalmeister Anu Wang schreibt das Protokoll», sagte sie und wies auf eine junge, orientalisch aussehende Frau, die am Computer saß.

Die Kommissarin berichtete, dass Pentti Ahola seiner Frau mit dem Schürhaken Dutzende von Schlägen an Kopf und Oberkörper beigebracht hatte. Auf dem Tisch lagen Klarsichthüllen mit Fotos von der Leiche; ich wollte sie nicht sehen.

«Die Staatsanwaltschaft wird Pentti Ahola wahrscheinlich wegen Mordes anklagen», meinte Kallio. Die Adern auf ihrem Handrücken standen hervor, ich konnte sie pulsieren sehen. «Aber für eine Mordanklage braucht es Beweise. Eine Begründung könnte neben der außergewöhnlich brutalen Tötungsweise die Tatsache sein, dass Ahola seine Frau mehr als fünf Jahre lang systematisch misshandelt hat. Du bist doch bereit, das zu bezeugen?»

«Natürlich, auch wenn es jetzt zu spät ist», antwortete ich so bissig, dass Kallio die Augenbrauen hochzog.

«Ich bin der gleichen Meinung. Irja Ahola hat nichts mehr davon, wenn ihr Mörder zwölf Jahre im Gefängnis sitzt. Aber du könntest deinen anderen Klientinnen erklären, dass Staatsanwältin Reponen in Fällen von Gewalt in der Familie eine schärfere Gangart einschlägt als ihre Vorgänger. Mit einer Geldbuße kommt man nun nicht mehr unbedingt davon. Fangen wir mit der Vernehmung an. Anu, schaltest du bitte das Aufnahmegerät ein?»

Nach den Routinefragen lehnte sich Kallio zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Geste wirkte drohend.

«Wann ist Irja Ahola zum ersten Mal ins Frauenhaus gekommen?»

«Im Mai dreiundneunzig.»

Ich erinnerte mich noch gut daran. Die rundliche, grauhaarige Frau war schnaufend aus dem Taxi gestiegen, die Hand vor der blutenden Nase. Am ersten Tag hatte ich nur den Namen aus ihr herausbekommen. Am nächsten Tag hatte sie angefangen zu erzählen. Ihr Mann war von Anfang an gewalttätig gewesen, aber in den ersten dreißig Jahren der Ehe hatte es «nur so Klapse» gesetzt, wie Irja sich ausdrückte. Das heftige Prügeln hatte Weihnachten zweiundneunzig angefangen, als die Elektroinstallationsfirma, bei der Pentti Ahola arbeitete, in Konkurs gegangen war und er seine Stelle verloren hatte.

Das Frauenhaus hatte versucht, den Aholas zu helfen. Wir hatten Versöhnungsgespräche geführt und eine Gesprächsgruppe für Männer angeboten. Irja war kein einziges Mal bereit gewesen, Anzeige zu erstatten. Ihre religiöse Überzeugung hatte es ihr verboten, und es war ein Prinzip des Frauenhauses, die Klientinnen zu respektieren. Dieses Prinzip hatte Irja das Leben gekostet.

Erst als ich die Vorfälle mit Kallio besprach, merkte ich, wie viele Fehler ich gemacht hatte. Beim letzten Mal hatten wir Irja mit einer gebrochenen Rippe in die Klinik bringen müssen, aber vor den Krankenschwestern hatte sie behauptet, sie wäre auf der Treppe gestolpert. Sie hatte Angst, das Krankenhauspersonal würde die Polizei informieren.

Nach der Vernehmung war mir speiübel. Kriminalmeister Wang druckte das Vernehmungsprotokoll aus und bat mich zu unterschreiben. Kallio sagte, die Staatsanwaltschaft würde sich bald mit mir in Verbindung setzen. Aus ihren Gesten schloss ich, dass ich gehen sollte. Ich blieb aber sitzen. Unschlüssig drehte ich den Konfirmationsring an meinem rechten Ringfinger und sagte schließlich:

«Ja, also … Sirpa Väätäinen und ihre Kinder sind heute wieder in den Schutzhafen gekommen.»

Im vorigen Herbst hatte ich mit Kallios Dezernat zu tun gehabt, als sie dort Material für die Ermittlungen gegen Ari Väätäinen zusammenstellten. Seine Frau Sirpa war schon seit ein paar Jahren Klientin des Schutzhafens. Als Ari sie zum dritten Mal krankenhausreif geschlagen hatte, gestand ich mir zum ersten Mal ein, dass Versöhnung und gute Ratschläge nicht in allen Fällen von häuslicher Gewalt halfen.

Der Polizist, der die Voruntersuchung leitete, war beim Verhör ausgerastet und hatte Väätäinen geschlagen. Später hatte Väätäinen sein Geständnis widerrufen und behauptet, der Polizist hätte ihn unter Druck gesetzt. Schließlich hatte Sirpa den Staatsanwalt gebeten, die Anklage fallen zu lassen, doch der hatte abgelehnt. Das Urteil, eine Geldbuße, fand ich ungerecht, weil die ganze Familie darunter zu leiden hatte, dass kein Geld im Haus war.

Als ich von den Väätäinens sprach, schloss die Hauptkommissarin kurz die Augen und in ihrem Gesicht zuckte es. Kommissar Ström, der Ari Väätäinen beim Verhör geschlagen hatte, war nach dem Vorfall suspendiert worden, und ein paar Wochen später hatte ich seine Todesanzeige gelesen. Ich wusste nicht, wie nahe sich Kallio und Ström gestanden hatten, aber ich hoffte, dass sie nach dem Tod des Kollegen ebenso viel Grund hatte, Ari Väätäinen zu hassen, wie ich.

«Wie geht es Sirpa?», fragte sie schließlich.

Die Väätäinens waren gegen Mittag in den Schutzhafen gekommen. Das war eher ungewöhnlich, denn meistens spitzen sich gewaltsame Auseinandersetzungen in den Familien nachts zu, wenn die Schläger ein paar Schnäpse intus haben.

«Sie ist nicht weiter verletzt, bloß zur Hälfte kahl geschoren. Ari hat ihr die Haare abgeschnitten, damit sie nicht rausgehen und sich anderen Männern zeigen kann.»

«Hör mal, Säde.» Kallio sah mich mit ihren grünen Augen scharf an. «Sirpa ist ein genauso schlimmer Fall wie Irja Ahola. Oder besser gesagt, Ari Väätäinen ist ein ebenso hoffnungsloser Fall wie Pentti Ahola. Erzähl Sirpa, dass Irja tot ist. Sag ihr, sie soll Anzeige erstatten!»

«Das ist gegen unsere Prinzipien. Der Schutzhafen richtet sich nach den Wünschen der Klientinnen», antwortete ich gewohnheitsmäßig, aber ich merkte, dass meine Worte mich selbst nicht überzeugten.

«Warum brichst du dann vor mir die Schweigepflicht?», fuhr Kallio mich an. «Haltet ihr im Schutzhafen nicht gerade die Familie für wichtig? Denk doch mal an die Kinder! Was wird denn aus denen, wenn ihre Mutter im Grab liegt und der Vater im Gefängnis sitzt?»

Ich wusste keine Antwort. Wang begleitete mich nach draußen und sagte entschuldigend, die Hauptkommissarin hätte einen schweren Tag hinter sich. Ich allerdings auch, und die kommenden Tage würden nicht besser werden. Es tat weh zu beobachten, wie routiniert die Kinder der Väätäinens mit ihrer Mutter ins Frauenhaus kamen. Die neunjährige Marjo kümmerte sich um ihre Brüder, man sah, dass sie es gewohnt war. Sie zog ein zerknittertes Taschentuch aus der Hosentasche und putzte dem kleinen Bruder mit übertriebener Sorgfalt die Nase. Ich sah in ihr mich selbst vor fünfundzwanzig Jahren; auch ich hatte meinen kleinen Brüdern immer die Nase geputzt, bevor sie auf den Schulhof gingen, obwohl sich Aimo, Reima und vor allem Tarmo dagegen wehrten.

So war ich mein ganzes Leben lang. Immer hatte ich ein Taschentuch parat, um anderen die Nase zu putzen oder die Tränen abzuwischen. Ich war der kleine Sonnenschein meiner Eltern, für die Volksschullehrerin war ich der Lichtblick in der lärmenden Klasse, ein Sonnenstrahl auch für den Musiklehrer, denn ich war die Einzige in der Klasse, die wusste, wie die Paralleltonart von As-Dur heißt. Bei Schulfeten brachte ich meine Freundinnen, die eine ganze Flasche Apfelwein getrunken hatten, zum Klo und wischte nachher den Boden auf. Ich wollte das Helfen zu meinem Beruf machen, deshalb studierte ich Sozialpädagogik. Nach fünf Jahren Studium und Magisterexamen landete ich auf dem Sozialamt, wo ich Geld an Leute verteilen durfte, deren Einkommen noch kleiner war als mein miserables Gehalt.

Als das Frauenhaus Schutzhafen gegründet wurde, bewarb ich mich. Ich dachte, da könnte ich mehr erreichen als auf dem Sozialamt, wo ich bloß ein Geldautomat war. Die Arbeit im Frauenhaus war mehr als ein Job, es war eine Lebensweise. Das war mir recht; da ich keine Familie hatte, konnte ich an den Wochenenden arbeiten. Meinen Sommerurlaub machte ich erst im Herbst, wenn die Urlaubszwänge der Familien überstanden waren. Ein- oder zweimal die Woche sang ich in einem Chor. Auch da erkannte man meine Bravheit und machte mich zur Notenverwalterin. Wer hätte sich auch besser dazu geeignet, am Kopiergerät Frondienste zu leisten oder schüchtern um die Rückgabe vergessener Notenhefte zu bitten?

Aber jetzt war es genug. Ich betrachtete abwechselnd das Ferkel und mein Cidreglas und beschloss, meine Bravheit abzuwerfen. Sie hatte mir nur geschadet.

Nach der Vernehmung war ich nicht nach Hause gegangen, sondern mit dem Bus nach Helsinki und mit der Straßenbahn weiter ins Kaivopuisto-Viertel gefahren. Zuerst hatte ich am Meer versucht, meine Beklemmung loszuwerden, aber ständig schoben sich Wolken vor die Sonne, und der kalte Wind drang durch meinen Mantel. Ich lief eine Stunde durch den Park, in der Hoffnung, das Schicksal würde mir die Entscheidung abnehmen: Der stürmische Septemberwind würde eine morsche Linde umwerfen, die mich unter sich begrub, oder er würde mich von den Uferklippen ins Meer fegen.

Die Männer meiner Klientinnen suchten oft Trost im Alkohol, fiel mir ein. Also ging ich ins Nachbarviertel, nach Punavuori, und tat etwas, was ich in meinem fünfunddreißigjährigen Leben noch nie getan hatte: Ich ging allein in ein Lokal und bestellte mir ein Glas Cidre. Es kam mir vor, als wäre das eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens, als wäre es Zeit, die Schicksalsfäden zu kappen und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Das Lokal war ziemlich leer, außer mir und dem einflügligen Ferkel saßen nur ein paar Schachspieler da und ein älterer Mann, der sich hinter seiner Zeitung verschanzt hatte. Im Radio liefen finnische Schlager, und ich brauchte mich um nichts weiter zu kümmern als um das Getränk, das vor mir stand. Ich hätte gern etwas zu lesen gehabt, um nicht immer an Irja Ahola und Sirpa Väätäinen denken zu müssen. Als der Mann die Zeitung hinlegte und ging, nahm ich sie mir. Der knappe, sachliche Bericht über Irjas Ermordung nahm eine Spalte ein. Jetzt tat es mir Leid, dass ich Kallio nicht um ein Foto der Leiche gebeten hatte. Vielleicht würde der Anblick Sirpa Väätäinen zur Vernunft bringen.

Das Horoskop prophezeite die Begegnung mit einem Menschen, der mein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Das glaubte ich gern. Dieser Mensch war ich selbst.

Allmählich stieg mir der Cidre zu Kopf, das Ferkel sah weniger traurig aus. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, niemand würde mehr sterben, es würde alles wieder gut. Die Sonne schickte ein paar Strahlen in die schmale Straße vor der Gaststätte und zauberte für einen kleinen Moment Maistimmung in den Septemberabend. Ich holte mir an der Theke den dritten Cidre und traute mich, mit dem Kellner einige Worte über das Wetter zu wechseln.

Plötzlich stand ein großer dunkelhaariger Mann neben mir. Er maß ungefähr eins neunzig und wog mindestens hundert Kilo. Ich verzog mich schnell an meinen Tisch. Ich hörte, dass der Mann ein dunkles Bier wollte, er unterhielt sich mit dem Wirt über Stammwürze und Süße und entschied sich schließlich für eine Marke, von der ich noch nie gehört hatte. Ich schaute den Leuten auf der Straße hinterher, die zielstrebig irgendwohin gingen: von der Arbeit nach Hause, ins Kino, zum Aerobic. Sie wirkten echt und lebendig.

«Kann ich die Zeitung haben?» Der große Mann hatte sich an den Nachbartisch gesetzt, mit dem Gesicht zu mir. Seine Stimme war tief, ein rauer Bass. Zwischen dem schwarzen Bart und den dichten Augenbrauen war nur die scharf gezeichnete Nase zu erkennen. Die schwarzen Haare kräuselten sich an den Schläfen, die großen Augen waren tiefbraun. Seine Haut war nicht gebräunt, wie man so kurz nach dem Sommer erwartet hätte, sondern gelblich weiß wie ein Kartoffelkeim.

«Ja», sagte ich in einem Ton, der ihn davon abhalten sollte weiterzureden.

«Danke.» Der Mann ließ ein Lächeln aufflackern, das die Lachfältchen um seine Augen voll zur Geltung brachte. Ich spürte, wie ich rot wurde, und sah schnell nach draußen. Der Kerl sah einfach zu gut aus.

Obwohl ich versuchte, mich auf die Passanten zu konzentrieren, entging mir nicht, dass der Mann immer wieder von der Zeitung aufblickte und mich ansah. Warum nur? Ich war nicht der Typ, der Männerblicke auf sich zieht. Ich war durch und durch mittelmäßig. Größe eins sechzig, Gewicht vierundsechzig Kilo. Birnenförmiger Körper, schmale, knochige Schultern, die Arme schlank, aber mit schlaffen Muskeln. Mein Busen war nicht der Rede wert: Körbchengröße A hatte immer gereicht. Mit gutem Willen konnte man oberhalb der Hüften so etwas wie eine Taille ausmachen. Mein Hintern und meine Oberschenkel waren breit, Waden und Knöchel immerhin so weit präsentabel, dass ich es wagte, bei feierlichen Anlässen einen Rock zu tragen. Meine dünnen Haare konnte man euphemistisch als dunkelblond bezeichnen, und für meine Frisur hatte mein Bruder Tarmo den Namen «Sozialarbeiterinnenschnitt» erfunden. Meine kleinen hellblauen Augen versteckten sich hinter runden, dünn eingefassten Brillengläsern. Die Augenbrauen waren hell und nichts sagend. Mein Gesicht rötete und schuppte sich ständig, als hätte ich einen Sonnenbrand. Mein Mund war klein mit schmalen Lippen. Die Kosmetikerin, die am Verwöhntag für das Personal ins Frauenhaus gekommen war, hatte gemeint, meine Oberlippe sei schön geschwungen – wahrscheinlich, weil es sonst nichts Positives über mein Aussehen zu sagen gab. Im Allgemeinen benutzte ich kein Make-up. Manchmal versuchte ich, die schlimmsten Rötungen mit Puder abzudecken, aber heute hatte ich es vergessen.

Der Mann las mit neugieriger Miene, runzelte zwischendurch die Brauen. Ich mochte ernste, nachdenkliche Augen, wie er sie hatte. Das Lächeln, das ihm ab und zu übers Gesicht huschte, machte ihn um einige Jahre jünger. Durch den Bart war es schwierig, sein Alter zu schätzen, aber er konnte kaum älter sein als ich. Meine Brüder meinten allerdings, ich wäre schon als Tante auf die Welt gekommen, und ihre Frauen erklärten, ich würde mich so wenig pflegen, dass ich geradeso gut fünfzig sein könnte wie fünfunddreißig. Zu Weihnachten schenkten sie mir Faltencremes und Lotionen gegen Zellulite, die ich pflichtschuldig benutzte. Ich zwängte meinen Hintern in formende Slips, wie es sich für eine richtige Frau gehört. Ich versuchte, ansprechend auszusehen.

«Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber könnten Sie mir einen Film empfehlen? Ich hätte Lust, ins Kino zu gehen, aber ich hab keine Ahnung, was sehenswert ist.»

Der Mann drehte seinen Stuhl und stützte sich auf meinen Tisch, er kam mir plötzlich viel zu nah.

«Einen Film? Ich weiß nicht … Ich habe bestimmt einen ganz anderen Geschmack als Sie.» Mein Mund war trocken, ich nahm schnell einen Schluck Cidre.

«Ich mag keine Actionfilme, sondern solche, in denen es um Beziehungen geht, am liebsten finnische.» Er schob mir die Kinoseite der Zeitung hin.

Ich mochte nicht zugeben, dass ich sehr selten ins Kino ging. Ich wartete lieber, bis die Filme als Video zu haben waren oder im Fernsehen kamen. Ich hasste die Unruhe im Kino, die umschlungenen Pärchen, die knisternden Bonbontüten, die fluchenden Teenager. Ich mochte Geschichten, die glücklich ausgingen, und jedes Happy End brachte mich zum Weinen. Deshalb genierte ich mich im Kino. «Titanic» hatte ich mir angesehen, weil die Frauen im Chor es so gelobt hatten, aber ich war schon bei der Kartenspielszene am Anfang in Tränen ausgebrochen, weil der arme Held nicht weiß, dass er eine Fahrkarte in den Tod gewonnen hat.

«Ein paar finnische laufen gerade. Eine Klamotte und irgend so ein Film für Jugendliche. Den ‹Flößerkönig› haben Sie ja sicher schon gesehen.»

«Ich glaube nicht …» In seiner Stimme lag plötzlich Unsicherheit.

«Der ist wahnsinnig populär.»

«Haben Sie ihn schon gesehen? Kriegt man davon gute Laune?»

Wenn ich jetzt lügen würde, dass ich ihn noch nicht gesehen habe, würde er mich dann einladen? Der Gedanke war zugleich aufregend und beängstigend. Ich sagte, mir hätte der Film gut getan. Das bedeutete, dass ich drei Taschentücher nass geweint hatte, als ich ihn mit den Klientinnen des Schutzhafens auf Video gesehen hatte.

«Also vielleicht den», meinte der Mann und leerte sein Glas in einem Zug. «Er fängt erst um viertel nach sieben an, da hab ich noch Zeit für ein Bier. Soll ich Ihnen was mitbringen?»

«Danke, ich hab noch», sagte ich und zeigte auf mein halb volles Glas. Der Mann ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen. Ich las noch einmal mein Horoskop und fragte mich, ob mit dem Menschen, der mein Leben umkrempelt, vielleicht doch nicht ich gemeint war. Vielleicht war der Mann mit dem schwarzen Bart auch Fisch, und ich war in seinem Horoskop der wichtige Mensch? Sollte ich ihm sagen, dass ich mir den «Flößerkönig» gern noch einmal ansehen würde? Wenn ich mein Glas schnell austrank und mir noch ein viertes holte, würde ich es vielleicht wagen.

Er kam zurück und sah mich fragend an. «Darf ich mich an Ihren Tisch setzen?»

«Bitte.»

Das Schweigen war mir unheimlich und der Mann zu groß. Unbeholfen nahm ich das Gespräch wieder auf: «Haben Sie die anderen Filme von Pölönen gesehen?»

«Nur diese Tangogeschichte, auf Video. Dabei bekam ich Lust, tanzen zu gehen, obwohl ich gar nicht richtig Tango tanzen kann … Warm ist das hier!» Als er sein graues Sakko auszog, konnte ich feststellen, dass er seine breiten Schultern nicht etwa Schulterpolstern verdankte. Bestimmt ging er regelmäßig zum Bodybuilding. Er hängte das Sakko sorgfältig über den Stuhl, nahm die Geldbörse aus der Innentasche und legte sie auf den Tisch. Da sah ich es.

Den linken Unterarm zierte ein schwarz-grüner Drache. Das war nicht das Werk eines modebewussten Tätowierers, sondern eines Gefängnisinsassen. Männer mit dieser Art von Hautschmuck waren auf dem Sozialamt meine Stammkunden gewesen und hatten wütend an den Türen des Frauenhauses gerüttelt. Einmal hatte einer sogar geschossen, aber zum Glück nur die Wand getroffen.

Mein Gegenüber war im Knast gewesen! Daher die blasse Gesichtsfarbe und die Unwissenheit über aktuelle Filme. Ich beschloss, mir keinen vierten Cidre mehr zu bestellen. Am besten ließ ich auch den dritten stehen. Ich stand abrupt auf.

«Oje, ich hab gar nicht gemerkt, dass es schon nach sechs ist. Ich darf meinen Bus nicht verpassen», stammelte ich.

«Sie haben es aber auf einmal eilig», wunderte sich der Mann. Dann warf er einen Blick auf seinen Arm. Er begriff, was los war.

«Viel Spaß im Kino!» Ich band nicht einmal den Gürtel meines Popelinemantels zu, sondern rannte mit wehenden Schößen auf die Straße, die jetzt nicht mehr im Sonnenschein lag. An der Ecke blieb ich stehen, knöpfte den Mantel zu und merkte, dass ich unbedingt zur Toilette musste, bevor ich in den Bus stieg. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Weg zum Busbahnhof einen Abstecher ins Kaufhaus Stockmann zu machen. Dort spülte ich mir auch gleich den Mund aus und kramte vergeblich in der Handtasche nach meiner Puderdose. Die roten Flecken in meinem Gesicht waren schlimmer als je zuvor.

Als ich frierend an der Bushaltestelle stand, kam mir in den Sinn, dass der Mann, den ich gerade getroffen hatte, womöglich im Gefängnis gewesen war, weil er seine Frau umgebracht hatte. Es war dumm von mir gewesen, mich auf ein Gespräch einzulassen. Garantiert hatte er mich für leichte Beute gehalten. Es war mir ja schon von weitem anzusehen, dass ich nichts von Männern wusste. Oder höchstens von solchen, die ihre Frauen verprügelten. Sicher, ich hatte einen Vater und Brüder, und im Chor waren mehr als ein Dutzend ganz gewöhnliche Männer, die nur gute Angewohnheiten hatten. Mit zwei Ausnahmen waren sie alle verheiratet, und die beiden Junggesellen waren zwanzig Jahre älter als ich.

Die Übelkeit setzte ein, als der Bus vom Westring auf die Finnoontie abbog. Mit Müh und Not hielt ich bis zu meiner Haltestelle durch. Dort musste ich mich einen Augenblick hinsetzen und tief durchatmen. Ich hätte diesen säuerlich-süßen Cidre nicht trinken sollen.

Auf dem Weg von der Haltestelle nach Hause duftete es nach Äpfeln. Die alte Fichtenhecke, die ich mir so gern vom Schlafzimmerfenster aus ansah, schwankte im Wind. Die Treppe in den ersten Stock des Reihenhauses kam mir heute länger vor als sonst.

Es war immer schön, nach Hause zu kommen, denn hinter der Tür wartete Sulo. Ich nahm ihn auf den Arm, und er leckte mit seiner nach Hering riechenden Zunge über meine Backe. Aus seinem gesunden Auge starrte er mich fordernd an. Sulos Mutter war die Stallkatze meines Onkels. Er konnte ein Auge nicht öffnen. Die Katzenmutter und die anderen Jungen aus dem Wurf hatten den Krüppel verstoßen, und mein Onkel war drauf und dran gewesen, ihn zu ertränken. Ich war zufällig zu Besuch in meiner Heimatstadt, und das Mitleid hatte über die Vernunft gesiegt. Ich hatte den kleinen Kater nach Helsinki mitgenommen und es in den letzten acht Jahren kein einziges Mal bereut. Sulo war ein vorbildlicher Hausgenosse, weich, warm und still.

«Ich muss mich erst ausruhen, dann gehen wir nach draußen», sagte ich zu dem Kater, der sich nur unwillig absetzen ließ. Ich zog den Mantel aus, ging ins Schlafzimmer und warf mich aufs Bett. Sulo rollte sich neben mir zu einem grauen flauschigen Ball ein. Die Übelkeit kam für einen Moment zurück, gleichzeitig sah ich Irja Aholas zerschlagenes Gesicht vor mir. Ich hätte sie retten müssen!

Als das Telefon klingelte, schrak ich auf. Ich schaffte es gerade noch bis ins Wohnzimmer, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete.

«Hallo, hier ist Anneli», hörte ich die besorgte Stimme meiner Kollegin. «Ich hab es schon am Handy versucht, aber da komm ich nicht durch.»

«Oje, Entschuldigung.» Ich hatte mein Handy ausgeschaltet, als ich zur Polizei ging, und nachher vergessen, es wieder einzuschalten. Das sah mir gar nicht ähnlich. «Was ist los?»

«Ari Väätäinen ist ans Tor gekommen und hat so lange den Finger auf den Klingelknopf gehalten, bis Sirpa nervös wurde. Sie hat mich gebeten, ihn hereinzulassen. Er wollte seine Familie nach Hause holen.»

«War er betrunken?»

«Den Eindruck hatte ich nicht, aber er wirkte ziemlich aggressiv. Er sagte, wir sollten uns nicht in seine Familienangelegenheiten einmischen.»

«Sirpa ist doch wohl nicht mitgegangen? Gut. Wenn Ari nochmal auftaucht, rufst du die Polizei.»

«Die Polizei? Das können wir nicht … Außer wenn Sirpa es will.»

«Du rufst die Polizei. Und lass Sirpa nicht mit Ari gehen.»

«Aber wenn sie es will …» Anneli schien verblüfft über meinen scharfen Ton.

«Du lässt sie nicht gehen. Sag ihr, die Kinder müssen die Nacht durchschlafen. Ich komme um halb acht, morgen früh rede ich mit ihr. Hoffentlich hast du eine ruhige Nacht!»

Sulo miaute ungeduldig, er wollte seinen Abendspaziergang machen, aber ich musste zuvor etwas Joghurt essen. Sonst goss ich ihn meistens in eine kleine Schüssel, aber diesmal nahm ich es nicht so genau, sondern trank gleich aus dem Becher. Außer mir aß ja sowieso niemand davon. Dann legte ich Sulo an die Leine. Ich wagte nicht, ihn frei laufen zu lassen, um keinen Ärger mit den Nachbarn zu bekommen, und er hatte sich längst daran gewöhnt.

Es war kaum halb acht, aber schon dunkel. Sulo lief zum Ackerrand, er hoffte wohl, eine Wühlmaus zu schnappen. Sein Auge funkelte begehrlich, das weiche Bündel hatte sich plötzlich in ein beutegieriges Raubtier verwandelt. Er würde überleben, auch wenn ich nicht da wäre, er würde sich zu verteidigen wissen. Sein Katzeninstinkt sagte ihm, dass Sanftmut sich nicht auszahlte. Ich sollte zum Jäger werden, wie er. Irja Ahola konnte ich nicht mehr helfen, aber Sirpa Väätäinen konnte ich noch retten. Ich musste handeln, bevor Ari sie erschlug. Ich wollte nichts mehr dem Schicksal überlassen, sondern selbst entscheiden.

Zwei

Das Frauenhaus Schutzhafen befand sich mitten in einer friedlichen Eigenheimsiedlung. Es war vor vier Jahren mit dem Geld gegründet worden, das Anna Hautala, die Gemeindeschwester von Espoonlahti, testamentarisch dafür bestimmt hatte. Sie hatte keine näheren Angehörigen gehabt und wollte ihr Haus und ihr Vermögen dafür verwendet wissen, gegen Gewalt in der Ehe zu kämpfen und Familien zusammenzuhalten. Träger war eine Stiftung, in deren Vorstand Vertreter der Kirchengemeinde, des städtischen Sozialamts und der Familien saßen, die ihre Gewaltprobleme überwunden hatten. Natürlich gehörte auch Pauli Peltola, der Leiter, dem Vorstand an. Das Haus hatte zehn Belegplätze und einschließlich Haushaltspersonal sieben Mitarbeiter.

Als ich mein Fahrrad am Ständer im Hof abstellte, fielen von den Ahornen, die das Haus umstanden, orangegoldene Blätter auf mich herab. Es war ein strahlender Morgen, aber ich wusste, der Sonnenschein war trügerisch. Er würde nur ein paar Stunden wärmen und die Welt dann dem Frost und der Fäulnis überlassen. Ich hatte den Herbst nie gemocht. In meiner Kindheit verband ich damit lange, dunkle Abende beim Beerenpflücken und auf den Feldern, erdverkrustete steife Finger, Hirschlausfliegen in den Haaren. Jetzt rief meine Mutter jeden zweiten Tag an und bat mich, zur Kartoffelernte nach Hause auf den Hof zu kommen, der inzwischen auf meinen Bruder Aimo übergegangen war. Der Gedanke, ein Wochenende mit meinen schnatternden Schwägerinnen zu verbringen, war entsetzlich, aber ich konnte kaum Nein sagen, nachdem ich mich schon vor der Heuernte gedrückt hatte, unter dem Vorwand, ich hätte beruflich so viel zu tun. Dabei hatte ich meinen Urlaub in Wahrheit ausnahmsweise mitten im Sommer genommen und meine Kollegen angeschwindelt, ich müsste nach Kuusjärvi zur Heuernte.

Es war ein ganz normaler Morgen im Schutzhafen. Wir hatten zurzeit sieben Gäste: Sirpa Väätäinen mit ihren Kindern und drei weitere Frauen, von denen zwei nur deshalb im Frauenhaus waren, weil sie keine Wohnung hatten. Die dritte, Anja Jokinen, war ein trauriges Beispiel für die Ungerechtigkeit des Lebens. Anja war etwas über sechzig und verwitwet. Der ältere Sohn der Familie hatte vor rund fünf Jahren seinen Vater umgebracht, weil der ständig die Mutter verprügelte. Jetzt verweste Teuvo Jokinen im Grab, sein Mörder, der vierunddreißigjährige Kaarlo, saß im Gefängnis, und der zwei Jahre jüngere Sohn Heikki hatte angefangen, seine Mutter zu schlagen, wenn sie seine Sauftouren nicht finanzierte. Anja, die es nach mehr als zehn Prügeljahren gerade erst geschafft hatte, die Reste ihres Selbstbewusstseins zusammenzukratzen, war im Nu völlig kaputt.

Ich setzte mein fröhliches, ermutigendes Morgenlächeln auf. Die Sonne schien, die Nacht war vorüber, blaue Flecken würden verheilen, wir konnten etwas tun.

Nur glaubte ich nicht mehr daran. Nach Irja Ahola nicht mehr.

Marjo Väätäinen löffelte lustlos ihren Brei. Minna, die Köchin, würde Marjo und Matti zur Schule fahren müssen, denn ich hatte keinen Führerschein und Pauli keine Zeit. Inzwischen konnte ich das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine stellen. Ich würde für den vierjährigen Toni ein Video von den Mumins laufen lassen, und dann würde ich mit Sirpa ein ernstes Wort sprechen. Mit dem Prügeln musste Schluss sein.

Es entsprach nicht den Grundsätzen des Schutzhafens, Familien auseinander zu reißen. Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden – diese Worte aus der Trauformel standen in der Stiftungsurkunde. Meistens wollten unsere Klientinnen wieder nach Hause, sobald ihre Wunden verheilt waren. Sie hatten vor Veränderungen noch mehr Angst als vor ihrem Ehemann. Manche hatten sogar Angst, von ihrem Mann umgebracht zu werden, wenn sie auszogen.

Für die Ehemänner war es eine Erleichterung, dass unser Haus von einem Mann geleitet wurde. Pauli war klein, untersetzt, um die fünfzig; er strahlte väterliche Autorität aus. Seiner Meinung nach verdiente jeder Sünder die Chance, zu sühnen und ein neues Leben zu beginnen. Seine religiös gefärbte Wortwahl irritierte einzelne Klientinnen, aber die meisten empfanden sie als tröstend. Wir hatten andere Wertvorstellungen als das zweite Frauenhaus in Espoo: Dort wurden die Frauen ermutigt, sich von ihren prügelnden Männern zu trennen.

Toni Väätäinen ließ sich von der Auseinandersetzung zwischen Mumin und Schnüferl gefangen nehmen. Ich führte Sirpa aus dem Fernsehraum in das Arbeitszimmer, das ich mit meiner Kollegin Maisa teilte. In Maisas Hälfte waren die Wände mit bunten Patchworkbildern und Kinderzeichnungen geschmückt, meine Hälfte war dezenter. Auf dem Fußboden lag ein Flickenteppich, den meine Mutter gewebt hatte; das naturweiße Spitzendeckchen hatte ich beim Fernsehen gehäkelt. Leuchtende Farben machten mich unruhig, und ich hätte mir nicht vorstellen können, wie Maisa in einem blutroten Kleid oder in einer Bluse in aggressivem Orange zur Arbeit zu kommen.

Sirpa setzte sich in den Sessel und strich sorgfältig den Rocksaum glatt. Ari hasste Unordnung und verknautschte Kleider. Wenn sie mit einem Fleck auf dem Mantel vom Einkaufen zurückkam, bildete Ari sich ein, sie hätte sich von einem anderen Mann betatschen lassen. Sirpa war eine hübsche Frau, ihr Gesicht war symmetrisch und fein geschnitten, obwohl Ari ihr einmal den Kiefer ausgerenkt hatte. Sie hielt den schmalen Körper stets leicht gebeugt, wie um sich vor den Schlägen zu schützen, die ihr schon dreimal die Rippen gebrochen hatten.

Sirpa hatte blonde schulterlange Locken gehabt, bestens geeignet, um schmerzhaft daran zu reißen. Ihre Haare waren immer glänzend und gepflegt, sie wusch sie fast jeden Tag. Jetzt waren sie auf der einen Kopfhälfte millimeterkurz geschnitten, am Scheitel glänzten kahle Stellen, und über der Stirn standen ein paar Zentimeter lange, ungleichmäßige Fransen in die Höhe. Zwar hatte sie diesmal kein blaues Auge und keine geschwollene Lippe, aber die ruinierten Haare wirkten genauso demütigend.

«Soll ich dir den Friseur bestellen?», fragte ich als Erstes. «Die Arja vom Salon Aaltonen kann herkommen und deine Haare einigermaßen herrichten, so brauchst du nicht unter die Leute zu gehen.»

«Das wäre mir peinlich …Vielleicht könnte mir eine von euch mit dem Schneiden helfen, den Rest mache ich dann selbst. Ich habe auch gar kein Geld. Ari zählt das Essensgeld neuerdings genau ab.»

«Hast du denn kein eigenes Konto?»

Ich wusste, dass Sirpa nicht arbeiten ging, obwohl sie für den Vierjährigen kein Erziehungsgeld mehr bekam. Ari war der Meinung, mit seinem Busfahrergehalt könne er die Familie allein ernähren, und außerdem müsse die Mutter zu Hause sein, weil Matti gerade erst mit der Schule angefangen hatte.

«Uns gehört alles gemeinsam», sagte Sirpa ausdruckslos.

«Bestellen wir den Friseur! Das ist mein Namenstagsgeschenk für dich. Du hast doch heute Namenstag, herzlichen Glückwunsch!» Ohne mich um ihre Einwände zu kümmern, griff ich zum Telefon. Arja versprach, um halb drei zu kommen. Sie war schon öfter im Schutzhafen gewesen, um kahle Stellen zu überkämmen und Frisuren zu zaubern, die blau geschlagene Augen verdeckten.

«Um halb drei … Schafft sie das? Ari kommt um drei von der Arbeit. Er holt uns bestimmt ab.»

«Darüber reden wir gleich noch. Was ist gestern eigentlich passiert?»

Sirpa verzog das Gesicht wie ein Kind, dem man verboten hat, das Süßigkeitenregal im Laden anzurühren.

«Unser Matti ist doch in der ersten Klasse. Er hat einen Mann als Lehrer. Die Schule war gestern schon um zwölf aus, ich habe ihn mit Toni abgeholt, wie immer. In der letzten Stunde hatten sie Sport gehabt, der Lehrer war auf dem Hof, und wir haben ein paar Worte gewechselt. Als wir nach Hause kamen, wartete Ari schon, er hatte die Schicht gewechselt und war an der Schule vorbeigefahren. Da hatte er gesehen, wie ich den Lehrer anlächelte … Dann hat er die Schere geholt», schluchzte Sirpa.

«Diesmal erstattest du Anzeige. Wir versuchen dir eine Wohnung zu besorgen. Mit dem Prügeln ist jetzt Schluss!» Ich merkte, dass ich brüllte. Sirpa fuhr zusammen.

«Anzeige? Weil er mir die Haare abgeschnitten hat? Das ist doch kein Verbrechen.»

«Doch, das ist es. Und Ari hat sowieso schon genug auf dem Kerbholz. Wir wenden uns direkt an Kommissarin Kallio.» Ich warf einen Blick auf die Liste mit den Telefonnummern der Polizei und des Sozialamts. «Soll ich zuerst mit ihr sprechen?»

Bevor Sirpa antworten konnte, ging die Tür auf. Pauli klopfte nie an.

«Tag, Sirpa», sagte er lächelnd. «Ari hat angerufen. Wir haben für viertel nach drei ein Familiengespräch vereinbart. Bis dahin ist doch Marjo aus der Schule zurück?»

«Geht nicht», warf ich ein. «Sirpa hat um halb drei einen Friseurtermin.»

«Friseurtermin?» Paulis Stimme war plötzlich schneidend.

«Die Haare können so nicht bleiben. Verschieb das Familiengespräch auf morgen. Es wird Väätäinen gut tun, eine Weile über seine Taten nachzudenken.»

Pauli trat näher an meinen Stuhl heran, er sah restlos verblüfft aus.

«Seit wann bestimmst du über die Termine in diesem Haus?»

«Seit heute.»

Es war schwer, dem starren Blick der kleinen dunkelblauen Augen standzuhalten. Pauli mochte es nicht, wenn man ihm vor den Klientinnen widersprach. Ich stand auf. Pauli war ein paar Zentimeter kleiner als ich und hatte diesmal keine aufgedoppelten Schuhe an.

«Ari Väätäinen hat schon zu viele Chancen bekommen. Reden hilft jetzt nichts mehr. Die Kinder leiden ja auch darunter. Marjo erbricht sich andauernd, und Matti macht fast jede Nacht ins Bett. Meiner Meinung nach wäre es für sie das Beste, vorläufig hier zu bleiben.»

Pauli starrte mich an und versuchte sich zu beherrschen. Als er sich endlich zu Sirpa umdrehte, war seine Stimme wieder väterlich und besänftigend:

«Natürlich können Sirpa und die Kinder hier bleiben, solange sie wollen, aber das schließt doch ein Treffen mit Ari nicht aus. Nicht wahr, Sirpa?»

Sirpa nickte vorsichtig, in ihren Augen stand die Furcht. Ich wusste, was passieren würde. Ari würde tränenreich bereuen und Besserung geloben. Das hatte ich bereits zweimal erlebt, und beim ersten Mal war es ihm gelungen, mich zu überzeugen. Beim zweiten Mal war ich schon skeptischer gewesen, obwohl ich ihm immer noch glauben wollte.

«Sirpa und ich sind mitten in einem Gespräch. Es geht um vertrauliche Dinge unter Frauen. Würdest du uns bitte allein lassen, Pauli?»

Es war mir selbst ungewohnt, mich so kühl und entschieden reden zu hören, meine Stimme klang plötzlich mehrere Lagen tiefer als mein normaler, weicher und verständnisvoller Mezzosopran. Pauli wandte sich abrupt zu mir um, ich straffte den Rücken, um ihn wenigstens einen Zentimeter weit von oben herab ansehen zu können. Ich hätte den Willenskampf verloren, hätte nicht genau in diesem Moment Paulis Handy geklingelt. Seinem Tonfall nach zu schließen war der Anrufer eine wichtige Persönlichkeit.

«Einen Augenblick bitte, ich gehe in mein Büro.» Pauli versuchte noch, mir einen «Wir-sprechen-uns-noch»-Blick zuzuwerfen, aber anstatt mir Angst einzujagen, verstärkte er nur meine Entschlossenheit.

«Hör mal, Sirpa, ich finde, es ist höchste Zeit, über eine Trennung nachzudenken. Mit Ari sind schon genug Gespräche geführt worden. Er ist nicht bereit, eine Therapie zu machen, und selbst wenn er bereit wäre, dauert es lange, bevor etwas dabei herauskommt. Meiner Meinung nach solltest du nicht mehr nach Hause gehen. Wir können uns an das Sozialamt wenden, die sollen euch eine neue Wohnung besorgen. Ihr wohnt doch zur Miete?»

«In Aris Dienstwohnung.»

«Also bist du praktisch obdachlos. Damit müsstest du auf der Warteliste ziemlich weit nach oben rücken, zumal du drei Kinder und kein eigenes Einkommen hast.»

«Aber das geht doch nicht!», rief Sirpa mit schriller Stimme. «Du weißt ja nicht, was Ari …» Jetzt weinte sie doch. Zwischen den Schluchzern holte ich aus ihr heraus, dass Ari gedroht hatte, sie und die Kinder umzubringen, wenn sie ihn verließ.

«Auch das musst du unbedingt der Polizei erzählen. Wir haben Beweise genug. Ab Anfang nächsten Jahres gibt es ein Kontaktverbotsgesetz, dann kann die Polizei Ari verbieten, sich euch zu nähern. Das schaffen wir schon», beschwichtigte ich Sirpa, die auf einmal völlig hysterisch war. Ich hielt das für eine weitaus gesündere Reaktion als die Apathie, die sie bei ihren früheren Besuchen gezeigt hatte.

«Ich wusste gleich, das gibt Ärger, als ich hörte, dass Matti einen Mann als Lehrer hat. Ich darf ja nicht mal mit den Nachbarn reden», seufzte sie schließlich. «Als ob ich die ganze Zeit nur Männer und Sex im Kopf hätte, dabei widert mich das Ganze doch nur an.» Sirpa versuchte zu lächeln, aber das Ergebnis fiel genauso gekünstelt aus wie bei mir. Wir spielten das Spiel «Alles in Ordnung», obwohl wir beide wussten, wie minimal die Gewinnaussichten bei diesem Spiel waren. Der Verlierer jedoch würde vielleicht mit dem Leben bezahlen.

«Soll ich jetzt bei der Polizei anrufen?», fragte ich. Sirpa nickte. Dummerweise erreichte ich weder Hauptkommissarin Kallio noch Kriminalmeister Wang, aber ich bat um Rückruf.

Sirpa war bereit, vorläufig im Frauenhaus zu bleiben, hatte aber nicht genug Kleidung mitgebracht.

«Ich traue mich nicht, welche zu holen. Wenn Ari nun doch zu Hause ist.»

«Wir könnten die Polizei um Begleitung bitten.»

«Was denken da die Nachbarn?», wimmerte Sirpa. Ich gab keine Antwort, dachte aber, dass der Anblick von Polizisten die Nachbarn wohl kaum überraschen dürfte. Sie mussten mitgekriegt haben, was bei den Väätäinens passierte, aber als typische finnische Hochhausbewohner hielten sie Augen und Ohren verschlossen. Jedenfalls hatten sie nicht ein einziges Mal die Polizei alarmiert.

Ich beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

«Was braucht ihr?», fragte ich und nahm Block und Kugelschreiber zur Hand. Sirpa zählte Kleider und Spielzeug auf und beschrieb, wo ich alles finden würde. Ich war früher schon einmal bei den Väätäinens gewesen, um ein Antibiotikum für Matti zu holen, das Sirpa vergessen hatte, aber damals kannte ich Ari noch nicht so gut wie jetzt. Sirpa meinte, ihr Mann habe jetzt Dienst, er müsse mit seinem Bus auf dem Weg von Matinkylä ins Zentrum von Helsinki sein. Ich nahm mir vor, mich per Telefon zu vergewissern, bevor ich die Wohnung betrat, denn ich hatte nicht die geringste Lust, Ari in seinem eigenen Revier zu begegnen. Nicht dass ich geglaubt hätte, er würde mich angreifen, eher misstraute ich mir selbst.

«Ja, und dann noch etwas.» Sirpa wirkte verlegen. «Ich habe gestern so eine Frauenzeitschrift gekauft, weil da ein Interview mit Marco Bjurström drin ist. Könntest du die auch mitbringen? Ich habe sie oben im Küchenschrank versteckt, in einer Schachtel mit einer flachen Glasschüssel. Ich habe Angst, dass Ari sie findet und einen Wutanfall kriegt. Er kann es nämlich nicht ausstehen, wenn ich mir Marcos Sendung angucke. Letztes Mal hat er das Antennenkabel durchgeschnitten, weil ich angeblich so leuchtende Augen hatte. Aber er hat es gleich am nächsten Morgen repariert, weil die Formel I übertragen wurde. Beinah wäre es allerdings gleich wieder kaputtgegangen, als Mika Häkkinen das Rennen abgebrochen hat.» Sirpa kicherte nervös und nahm sofort die Hand vor den Mund. Sie hatte gelernt, über Ari nicht zu lachen. Ich gickelte mit, um ihr Mut zu machen. Wenn sie erst einmal über Ari lachen konnte, lernte sie eines Tages vielleicht, sich zu behaupten.

Sirpa ging, um mit Toni zu spielen, und ich befasste mich mit meinen chronischen Klientinnen, zwei Quartalssäuferinnen, die eigentlich nicht ins Frauenhaus gehörten. Aber wo sollten sie sonst hin? In den letzten Jahren hatten Alkoholprobleme bei Frauen erschreckend zugenommen, die wenigen Therapieplätze waren belegt. Die Jüngere der beiden, die 40-jährige Mirja, schien sich allmählich zum Glauben zu bekehren, und Pauli bestärkte sie mit großem Geschick. Vielleicht war das ihre Rettung. Heute wollte sie zur Kirche und zum Sozialamt. Ich gab ihr Geld für den Bus, aber keinen Pfennig mehr. Wenn sie das Geld vom Sozialamt versoff, war das nicht unser Problem. Betrunken wurde niemand in den Schutzhafen eingelassen.

Die Mittagspause dauerte von zwölf bis eins. In dieser Zeit gab es keine Gesprächsrunden oder Therapiesitzungen. Im Allgemeinen aßen die Mitarbeiter zusammen mit den Klientinnen in häuslicher Atmosphäre am Esszimmertisch. Als ich sagte, ich ginge in der Mittagspause aus dem Haus, stellte mir niemand Fragen. Unsere Köchin Minna hatte letzte Woche lauthals verkündet, ich machte bestimmt eine Abmagerungskur. Tatsächlich saß meine Hose seit einiger Zeit lockerer, mochten sich meine Kolleginnen also darüber freuen, dass ihre Theorie richtig war, auch wenn ich es nicht zugab.

Sirpa wollte ziemlich viel mitgebracht haben, also nahm ich außer den Packtaschen meinen Rucksack mit. Er lag in meinem Zimmer, seit ich darin zwei Paar Gummistiefel für den Pilzausflug des Frauenhauses von zu Hause mitgebracht hatte. Ich besaß nämlich drei Paar, denn meine Brüder hatten die Angewohnheit, mir immer wieder neue zu schenken. Als Kind hatte ich kurz hintereinander zwei Paar kaputtgemacht, womit sie mich immer noch aufzogen. Ich hatte ihnen nie erzählt, dass ich in der Schule wegen meiner schwarzen Gummistiefel Marke Kontio gehänselt worden war. Alle anderen trugen blaue oder gelbe Stiefel Marke Hai. Obwohl ich mit einer Tracht Prügel rechnen musste, hatte ich mich zweimal der verhassten Stiefel entledigt. Beim dritten Paar gab ich dann auf. Damit endete die Rebellion einer Dreizehnjährigen, mein erster und letzter Versuch zu pubertieren.

Mit dem Fahrrad brauchte ich nach Soukka nur eine Viertelstunde. Zweihundert Meter vor dem Haus, in dem die Väätäinens wohnten, hielt ich an und rief die Busfirma an, bei der Ari arbeitete. Der Schichtmeister gab mir die Auskunft, Ari sei bis halb drei im Fahrdienst. Trotz des Kontrollanrufs hatte ich Angst, als ich das Treppenhaus betrat. Die Wände waren mit Graffiti verunziert, die einem Sauberkeitsfanatiker wie Ari zuwider sein mussten. Die Väätäinens wohnten in einer Dreizimmerwohnung im ersten Stock.

Ich hatte schon früher gelegentlich Sachen meiner Klientinnen holen müssen. Nur allzu oft verrieten schon die Wohnungen, dass ein Familienmitglied die anderen verprügelte: Die Türen hatten Dellen, die Spiegel waren zerschlagen, die Gardinen zerfetzt, die Sofas blutbefleckt. Die Wohnung der Väätäinens ließ allerdings nicht erkennen, dass die Mutter der Familie in diesen vier Wänden um ihr Leben fürchten musste. Die Schuhe standen sauber aufgereiht im Flur, das Wachstuch lag akkurat auf dem Esstisch in der Küche, die fünf Stühle waren ordentlich an den Tisch geschoben. Auch die geblümte Tagesdecke im Elternschlafzimmer war glatt gezogen, und die Nippes im Wohnzimmer standen in Reih und Glied. Die Bilderrahmen mit den Fotos der Kinder und dem Hochzeitsbild der Väätäinens hatten auch keine Schrammen. Auf dem Bücherregal standen Aris Schätze, Autogrammfotos von der Langläuferin Marjo Matikainen und den Skispringern Matti Nykänen und Toni Nieminen. Die Rahmen glänzten wie frisch poliert.

Nur im Kinderzimmer lagen ein paar Spielzeugautos auf dem Boden, und am Spice-Girls-Poster war eine Ecke eingerissen. Im Kleiderschrank der Kinder fand ich sorgfältig gebügelte Kleidungsstücke. Der Wäscheschrank hätte sogar vor den Augen meiner Mutter Gnade gefunden.

Ich holte Kleidung für die Kinder aus dem Schrank, dazu für Matti alle Schlafanzüge, die ich finden konnte. Ich bemühte mich, alles so sauber zu hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte, Ari sollte nicht merken, dass ich da gewesen war. Sirpas Illustrierte fand sich tatsächlich in ihrem Versteck im Küchenschrank, Marco Bjurström lächelte fröhlich vom Titelblatt. So einen warmherzigen, netten Mann hätte Sirpa verdient. Aber Ari würde Sirpa eher umbringen, als sie einem anderen zu überlassen. Pauli und die anderen Mitglieder der «Männergruppe gegen Gewalt» hatten mit Ari geredet und versucht, ihn zu ändern. Ich war mir sicher, er gehörte hinter Gitter, aber womit würde Sirpa dafür bezahlen müssen? Mit einer schweren Körperverletzung? Mit dem Leben? Die Zeit, die Ari absitzen müsste, wäre lächerlich kurz, danach würde er umso mehr auf Rache sinnen.

In dem Moment hörte ich im Treppenhaus schwere Schritte, die im ersten Stock Halt machten. Ari war doch wohl nicht wie gestern mitten am Tag von der Arbeit weggegangen? Die Angst schnürte mir die Kehle zu, instinktiv rannte ich ins Badezimmer, das konnte man wenigstens abschließen. Ich hörte ein Klirren, waren es Schlüssel? Gleich würde er aufschließen und meinen Rucksack und meine Lederhandschuhe im Flur entdecken. Die verriegelte Badezimmertür würde ihm nicht lange standhalten.

Der Briefschlitz klapperte, es raschelte, irgendetwas aus Papier fiel auf den Boden. Die Schritte entfernten sich, an der nächsten Wohnungstür klapperte der Briefschlitz. Ich kam mir blöd vor. Ich hatte keinen Grund, mich zu fürchten, selbst wenn Ari nach Hause kam, schließlich war ich auf Sirpas Wunsch in der Wohnung.