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"Finnlands Antwort auf Henning Mankell" (Brigitte) Kommissarin Maria Kallio ist gerade aus ihrem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt, und als wären die Spannungen im Dezernat und die Doppelbelastung nicht genug, hat sie gleich einen Fall auf dem Tisch, der ihr besonders nahe geht. Auf einer Insel in den Schären ist eine Leiche gefunden worden. Zufälligerweise hatte Maria den erfolgreichen Geschäftsmann kurz vorher bei einem Segeltörn kennengelernt. Ein Unfall war es nicht, und bald findet Maria heraus, dass sich noch andere Verbrechen an diesen Fall knüpfen… "Niemand erzählt so spannend von finnischen Eigenheiten und kleinen Morden unter Freunden." (stern)
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Seitenzahl: 469
Leena Lehtolainen
Maria Kallios fünfter Fall
«Finnlands Antwort auf Henning Mankell.» (Brigitte)
Kommissarin Maria Kallio ist gerade aus ihrem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt, und als wären die Spannungen im Dezernat und die Doppelbelastung nicht genug, hat sie gleich einen Fall auf dem Tisch, der ihr besonders nahe geht. Auf einer Insel in den Schären ist eine Leiche gefunden worden. Zufälligerweise hatte Maria den erfolgreichen Geschäftsmann kurz vorher bei einem Segeltörn kennengelernt. Ein Unfall war es nicht, und bald findet Maria heraus, dass sich noch andere Verbrechen an diesen Fall knüpfen …
«Niemand erzählt so spannend von finnischen Eigenheiten und kleinen Morden unter Freunden.» (stern)
Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen. 1994 erschien in Deutschland der erste Roman mit der Anwältin und Kommissarin Mario Kallio, 2012 der erste Teil der Leibwächterinnen-Serie.
Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel «Tuulen puolella» bei Tammi Publishers, Helsinki.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023
Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Tuulen puolella» Copyright © 1998 by Leena Lehtolainen
Redaktion Stefan Moster
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Cover-Konzept anyway, Hamburg, Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt
Coverabbildung johnnorth/iStock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40018-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Leuchtend rot ragte die Insel aus dem Meer, als wären ihre Felsen von Blut bedeckt. Zuerst sah ich sie nur schemenhaft, doch allmählich nahm die Felsmasse Gestalt an, ein runder Leuchtturm und Festungsbauten aus der Zeit des Krimkriegs wurden sichtbar. Rödskär war die letzte Insel vor der Grenze des Hoheitsgewässers und der südlichste Zipfel von Espoo. Jahrzehntelang war die Insel militärisches Sperrgebiet gewesen, auch jetzt noch wirkte sie abweisend und unzugänglich.
Es war das letzte Wochenende im August und zugleich das Ende meines Mutterschaftsurlaubs. Am Montag sollte ich, mittlerweile zur Hauptkommissarin und Leiterin des Dezernats für Gewaltdelikte befördert, ins Espooer Polizeipräsidium zurückkehren. Da für das Wochenende schönes Wetter angesagt war, wollten wir auf der «Marjatta», dem Boot meiner Schwiegereltern, von Tapiola nach Inkoo segeln. Wir wollten Iida früh an das Leben auf der Yacht gewöhnen. Mit ihren elf Monaten hielt sie tagsüber noch zweimal ein längeres Schläfchen und fühlte sich auch in ihrem Kindersitz wohl. Im Moment kreischte sie mit den über uns kreisenden Möwen um die Wette, während Antti die Seekarte studierte und ich es genoss, das Ruder zu führen. Obwohl ich aus dem Binnenland stamme, habe ich mich auf dem Meer immer heimisch gefühlt.
«Soweit ich mich erinnere, liegt der Hafen an der Nordostseite. Wir wenden noch einmal und fahren dann die letzte Strecke mit Motor. In Rödskär anzulegen ist nicht ganz einfach», sagte Antti.
«Darf man das überhaupt?»
«Schon seit acht Jahren. Im vorletzten Sommer hat die Merivaara AG die Insel gekauft und das Gästehaus instand gesetzt, weißt du das nicht mehr?»
Ich konnte mich nur vage daran erinnern. Vor zwei Jahren hatte die Armee einige alte Festungsinseln abgestoßen. Für Rödskär hatte man einen Pächter gesucht, der sich verpflichtete, die heruntergekommenen Gebäude zu renovieren. Während die Verhandlungen mit einer Gruppe von Kunsthandwerkern noch liefen, hatte die Firma Merivaara AG, die umweltfreundliche Bootslacke herstellte, statt eines Pachtvertrags ein Kaufangebot vorgelegt, das die Armee mit Freuden angenommen hatte. Der Verkauf hatte vor allem in Seglerkreisen zunächst für Entrüstung gesorgt, bis bekannt wurde, dass die Firma die Insel keineswegs für die Öffentlichkeit sperren wollte, sondern im Gegenteil alle Bootsfahrer willkommen hieß.
Rödskär interessierte mich – nicht nur, weil Antti mir von der Insel vorgeschwärmt und die Lokalzeitung ihre karge Schönheit gepriesen hatte, sondern vor allem, weil auf dieser Insel Harri ums Leben gekommen war.
Mit dem Mann, den ich Vogel-Harri nannte, war ich nur wenige Monate zusammen gewesen, und auch das lag bereits zehn Jahre zurück. Im letzten Oktober, zwei Monate nach Iidas Geburt, war ich in der Zeitung auf seine Todesanzeige gestoßen. Sie enthielt keinerlei Hinweis auf die Todesursache, ihr war nur zu entnehmen, dass Harri auf Rödskär gestorben und in aller Stille beigesetzt worden war.
Die Sache hatte mir keine Ruhe gelassen. War es Selbstmord? Ich hatte Harri seit Jahren nicht mehr gesehen, wir bewegten uns in ganz unterschiedlichen Kreisen und hatten nach unserer durchaus freundschaftlichen Trennung nicht das Bedürfnis gehabt, in Kontakt zu bleiben.
Als begeisterter Ornithologe und Botaniker hatte Harri mir beigebracht, Vögel und Pflanzen zu erkennen. Insofern hatte ich von unserer Beziehung profitiert. Ansonsten hatten wir nicht zusammengepasst. Harri war zu lieb und nachgiebig gewesen und hatte sich nur wohl gefühlt, wenn er Vögel beobachten konnte. Ich wiederum war damals, im zweiten Jahr meines Jurastudiums, ein richtiges Partygirl und triezte den armen Jungen gnadenlos. Fest vereinbarte Wanderungen ließ ich ausfallen, weil ich verkatert war, oder ich verlor nach einer halben Stunde das Interesse und fuhr per Anhalter in die nächste Kneipe. Als wir schließlich beschlossen, uns zu trennen, waren wir beide erleichtert.
Nachdem ich die Todesanzeige gesehen hatte, kramte ich mein altes Fotoalbum hervor. Tatsächlich fand ich einige Bilder, auf denen der schmächtige Harri auf der Halbinsel Porkkala sein Zelt aufbaute und mit dem Fernglas Eiderenten beobachtete. Es kam mir unwirklich vor, dass ich mit diesem kindlich und fremd wirkenden Mann das Bett geteilt hatte. Warum war er auf einer entlegenen Vogelinsel gestorben? Der Todesanzeige nach hatte er keine Familie gehabt, nicht einmal eine Lebensgefährtin. Ich hätte gern Harris Schwester Sari angerufen, um sie auszufragen, traute mich aber nicht. Sari hatte mich nicht besonders gemocht, wahrscheinlich hatte sie mir verübelt, wie ich mit ihrem Bruder umsprang.
Ungeklärte Todesfälle und Selbstmorde fallen in Espoo in die Zuständigkeit des Dezernats, dessen Leitung ich nach dem Mutterschaftsurlaub übernehmen sollte. Also hatte ich meinen Kollegen Koivu angerufen.
«Harri Immonen? Ja, ich erinnere mich, das war der Ertrunkene. Warte mal, ich ruf den Vorgang auf», sagte Koivu, nachdem er mich über den jüngsten Präsidiumstratsch informiert hatte. «Das war vor drei Wochen, während der Herbststürme. Immonen war auf Rödskär, um den Zug der Kraniche zu beobachten. Er ist offenbar im Morgengrauen ans Westufer gegangen. Die Spuren im Moos deuten darauf hin, dass er ausgerutscht, mit dem Kopf an einen spitzen Stein geschlagen und bewusstlos ins Wasser gefallen ist. Im Blut wurden 0,6 Promille festgestellt, anscheinend hatte er am Abend eine Flasche Rotwein getrunken. Er war allein auf der Insel gewesen und wurde am nächsten Tag nur zufällig gefunden, weil ein Vertreter der Firma, der die Insel gehört, dort anlegte und sich über den Schlafsack und die sonstige Ausrüstung im Gästehaus wunderte.»
«Es war also eindeutig ein Unfall?»
«Ich habe mich selbst dort umgeschaut. Die Westküste ist sehr steil, und du weißt ja, wie glitschig diese Felsen bei Regen werden. Die Techniker meinen, Immonens Spektiv sei ins Rutschen gekommen und beim Versuch, es festzuhalten, sei er abgestürzt. Warum fragst du? Kanntest du ihn?»
«Ja, aber das ist Jahre her.»
Ich hatte damals nicht lange über Harris Tod sinniert, denn in den ersten Monaten nach Iidas Geburt war ich durch den Schlafmangel wie benebelt. Harri verschwand wieder in den Tiefen meiner Erinnerung.
Als wir dann aber auf der Seekarte nach einem geeigneten Ziel für unseren Ausflug suchten, hatte ich Rödskär vorgeschlagen, als müsste ich mit eigenen Augen sehen, wo mein Exfreund gestorben war.
Das Wasser war graugrün wie gegorene Erbsensuppe. Am Vorabend hatten wir fast anderthalb Stunden nach einem Ankerplatz suchen müssen, an dem es keine Blaualgen gab, denn wir wollten schwimmen und hatten außerdem nicht genügend Süßwasser an Bord, um damit zu spülen und Iida zu waschen. Antti hatte wehmütig und wütend zugleich von dem klaren Meerwasser in seiner Jugend erzählt, in dem man sogar Kartoffeln kochen konnte. Bei der ungewöhnlichen Hitze in diesem Sommer war der Algenbrei vom offenen Meer bis in die inneren Schären und schließlich sogar an die Badestrände von Espoo vorgedrungen.
Einen halben Kilometer vor dem Ufer holten wir die Segel ein. Es schien mir fast unmöglich, zwischen der schroffen Felsküste und den aus dem Uferwasser ragenden Steinen einen sicheren Anlegeplatz zu finden, doch Antti behauptete zu wissen, wo der Hafen sei. Das letzte Stück tuckerten wir mit Motorkraft gegen den Südostwind, der uns an die Felsen zu drücken drohte. Antti hielt unbeirrt auf die Ostküste der Insel zu, wo sich tatsächlich hinter einem Felsvorsprung ein kleiner Hafen auftat. Iida knabberte an einem Zwieback, und ich stand bereit, um mit dem Tau auf den Bootssteg zu springen, als vom Ufer her jemand rief:
«Wirf mir die Vorleine rüber!»
Ich schaute auf und sah einen sehnigen Mann mit einer Pfeife im Mundwinkel.
«Bei Südostwind ist es besser, die Vorleine hier und die Achterleine am Steg zu vertäuen, dann liegt man sicherer.»
Ich warf die Trossenrolle, die er mit sorgloser Routine auffing, wobei er Antti Anweisungen zurief. Rauchschwalben strichen über uns hinweg, der Felsen strahlte die gespeicherte Hitze ab.
«Geh du zuerst, Maria, dann reich ich dir Iida an.»
Der Fremde betrachtete mich abschätzend, als überlege er, ob ich den Sprung auf den steilen Felsen aus eigener Kraft schaffte. Offenbar traute er ihn mir zu, denn er ging bereits den Abhang hinauf, bevor ich abgesprungen war. Der Boden war fest und duftete nach Islandflechte. Wir brauchten nicht lange zum Ausladen, da wir noch nicht wussten, ob wir in der Schutzhütte übernachten konnten. Andernfalls würde die Nacht sicher unruhig werden, denn der Hafen lag auf der Westseite und das Boot schlingerte heftig. Neben der «Marjatta» lagen zwei weitere Boote im Hafen: eine protzige Motoryacht, die am Südwestende des Stegs vertäut war, und ein etwa zehn Meter langes Segelboot aus Holz, eine echte Schönheit. Lange konnte ich es jedoch nicht bewundern, weil sich der grüne Tupfen auf dem Felsen, den ich für ein Grasbüschel gehalten hatte, plötzlich bewegte. Er hob sich, und ich sah einen Jungen in grünem Tarnanzug und mit grünen Haaren. Er starrte uns wortlos an, machte kehrt und rannte weg, dass die roten Turnschuhe blitzten.
Antti hatte Iida in die Rückentrage gesetzt. Wir kraxelten den steilen Abhang hinauf. Die Festungsanlagen, die vom Meer aus undurchdringlich ausgesehen hatten, waren massiv gebaut: drei Meter dicke Mauern mit Schießscharten, ein zweistöckiges Gebäude in kantiger U-Form, über dessen mittlerem Teil sich ein massiger runder Leuchtturm erhob. An der Süd- und Westseite des Gebäudes wuchsen kleine Grasnarben und windgekrümmte Wacholderbüsche, an der windgeschützten Nordseite rauschten einige Erlen. Mädesüß blühte noch, während die Früchte der Weidenröschen bereits flaumig aufgesprungen waren.
Als wir das Plateau erreichten, öffnete sich an der Giebelwand der Festung eine Tür, und eine kleine blonde, sonnengebräunte Frau kam heraus.
«Herzlich willkommen auf Rödskär! Bleiben Sie über Nacht?»
Antti bejahte, die Frau gab uns die Hand und stellte sich vor.
«Anne Merivaara. Im Gästehaus ist ein Zimmer frei, wir sind nur zu fünft. Die Sauna wird auch gerade geheizt.»
Ihr ganzes Auftreten ließ erkennen, dass sie auf der Insel Hausrecht besaß. Anne Merivaara war Aktionärin der Merivaara AG, PR-Chefin der Firma und Ehefrau des Geschäftsführers Juha Merivaara. Auch wir stellten uns vor, und als Antti erwähnte, er sei schon einige Male auf Rödskär gewesen, wurde Anne Merivaara noch freundlicher. Wie eine geschulte Fremdenführerin zeigte sie uns das Festungsgebäude. Der Holzfußboden im Gästehaus war neu und blank poliert, und auch die Holzwände waren offenbar erst bei der Renovierung eingezogen worden.
«Hier ist die Wohnküche mit gemeinsamem Gasherd und Kühlschrank. Sie bekommen das Südwestzimmer, gleich hier.»
In dem Zimmer standen zwei schlichte, aber sicher von einem teuren Designer entworfene Etagenbetten, ein blau gebeizter Holztisch, zwei Stühle und eine Seemannskiste. Aus den kleinen Fenstern sah man aufs offene Meer.
Antti hob Iida aus der Trage und ging zurück zum Boot, um unsere Schlafsäcke und Essvorräte zu holen. Die Abendsonne ließ die Felsen rosenrot erglühen, ihre Strahlen tanzten auf dem Meer. Iida zog mich schläfrig an den Haaren. Hoffentlich dachte Antti daran, den Whisky mitzubringen, für so eine Leuchtturminsel war Laphroaig genau das Richtige.
Nach einigen Tagen Bordküche war es ein Luxus, das Abendessen in einer richtigen Küche zuzubereiten. Ich brachte ein regelrechtes Festmahl zustande: Kartoffeln, Hering, Leberpastete, die letzte geräucherte Flunder, Salat, dunkles, süßes Schwarzbrot von den Schären und Ziegenkäse. Iida wollte unbedingt vom Senfhering probieren, verzog zuerst das Gesicht, verlangte dann aber einen zweiten Happen. Nach zwei Kartoffeln, einem Stück Leberpastete und einem Becher Milch nickte sie ein, war aber sofort wieder hellwach, als der grünhaarige Troll hereinplatzte. «Meine Mutter fragt, ob ihr in die Sauna wollt. Riika und Tapsa können solange auf das Baby aufpassen», sagte er mürrisch.
«Danke. Wenn Iida schläft, gehen wir gern», meinte Antti und nickte dem Jungen zu, bei dem es sich offenbar um Merivaara junior handelte. Die Kleider schlotterten an seinem mageren Körper, sein Gesicht war noch kindlich, doch den Stimmbruch hatte er hinter sich. Ich schätzte ihn auf etwa sechzehn. Sich vorzustellen, schien er für überflüssig zu halten. Stattdessen schlurfte er zum Kühlschrank, nahm eine Flasche heraus, deren Inhalt wie gegorener Kohlsaft aussah, und brummte: «Meine Mutter ist gerade in der Sauna, danach gehen Riikka und Tapsa. Wenn das Baby bis dahin schläft, könnt ihr anschließend gehen, vor Mikke und mir.»
Antti brachte Iida ins Bett, während ich mein Bier austrank und den Tisch abräumte. Die Müllentsorgung war bestens organisiert, es gab fünf verschiedene Abfalleimer: für kompostierbaren Abfall, Brennbares, beschichtete Pappe, Glas und Dosen. Ich musste aufpassen, damit alles im richtigen Eimer landete. Als ich gerade mit dem Spülen fertig war, hörte ich hinter mir eine Frauenstimme:
«Hallo, ich bin Riikka Merivaara. Brauchen Sie einen Babysitter?»
Ich drehte mich um und sah eine große, schlanke junge Frau, die auf die gleiche Weise lächelte wie ihre Mutter. Ihr Gesicht unter dem kurzen dunklen Pagenkopf war auffallend blass. Wir machten uns bekannt. Riikas Händedruck war kühl und kurz.
«Ich gehe jetzt mit Tapsa in die Sauna und sag Bescheid, wenn sie frei ist.»
Interessant, wie sehr sich das Verhalten der beiden Frauen von dem des grünhaarigen Jungen unterschied. War Tapsa der Mann, dem ich die Vorderleine zugeworfen hatte? Da Riika mit ihm in die Sauna ging, musste er ihr Freund sein, aber dafür schien mir der Seebär zu alt. Er mochte etwa in meinem Alter sein.
Antti war noch damit beschäftigt, Iida in den Schlaf zu singen. Ich schenkte mir zwei Fingerbreit Whisky ein und spazierte nach draußen. Der Wind wehte hier nur träge, doch östlich von der Insel schlugen die Wellen noch hoch. Wie von einem Instinkt geleitet, ging ich von der Windseite zu den steilen, während des Krimkrieges von Geschossen angenagten Felswänden am Westufer. Hier irgendwo war Harri abgestürzt.
An diesem warmen, hellem Augustabend war es nicht leicht, sich einen regnerischen Oktobermorgen und einen Trupp Kraniche vorzustellen, der laut trompetend über die Insel hinwegflog. Noch schwerer fiel es mir, zu glauben, dass Harri noch am Morgen Alkohol im Blut gehabt hatte. In unserer gemeinsamen Zeit hatte er kaum getrunken, nie mehr als zwei Glas Rotwein. Nun ja, Menschen ändern sich, zudem konnte auch ein erfahrener Wanderer auf den fast senkrecht abfallenden Felsen straucheln. Einen Sturz aus fünf Meter Höhe überlebte keiner.
Ich setzte mich dicht an die Felskante, schlürfte meinen Whisky und bewunderte den Tanz der Sonnenstrahlen auf dem golden gefärbten Wasser. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich zusammenfuhr, als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte. Es war der sehnige Mann aus dem Hafen.
«Ich will nicht aufdringlich sein, aber auf diesen Felsen solltest du dich in Acht nehmen», sagte er mit einem Blick auf mein Whiskyglas.
«Das ist mein erster», fauchte ich. Ich hasste es, bevormundet zu werden.
«Trotzdem. Hier bin ich sogar mit klarem Kopf schon gestürzt. Ich habe mich vorhin gar nicht vorgestellt. Mikael Sjöberg.»
«Maria Kallio.»
Sein Händedruck war lang und fest, sein Gesicht wettergegerbt. Die Sonne hatte seine kurzen Haare fast weiß gebleicht, ebenso die Wimpern und Augenbrauen. Zu meiner eigenen Überraschung hielt ich ihm mein Whiskyglas hin. Sjöberg hob die Augenbrauen, zierte sich jedoch nicht, sondern nahm einen ordentlichen Schluck.
«Guter Stoff. Ein Single Malt?»
Ich nickte. Sjöberg setzte sich neben mich auf den Felsen. Wir sagten beide nichts, sondern betrachteten schweigend den Sonnenuntergang und leerten das Whiskyglas. Als nur noch ein kleiner Rest übrig war und wir lange, schmale Schatten auf den Felsen warfen, kam Antti.
«Es hat eine Weile gedauert, Iida wollte in der fremden Umgebung nicht einschlafen. Jetzt können wir bald in die Sauna», sagte er und stellte sich Sjöberg vor. Als er dessen Namen hörte, flog ein Schimmer des Erkennens über sein Gesicht.
«Mikke Sjöberg, der Weltumsegler! Grüß dich! Du kamst mir beim Anlegen schon so bekannt vor. Wir sind einundachtzig zusammen auf der ‹Astrid› von Kotka nach Hanko gesegelt, erinnerst du dich?»
Mikke behauptete, sich zu erinnern. Während die beiden Segelerlebnisse austauschten, betrachtete ich das ruhiger werdende Meer und die vom Dämmerlicht gefärbten Festungsbauten und genoss den Wind auf meinem Gesicht. Nach einer Stunde kam Anne Merivaara und sagte, die Sauna sei jetzt frei. Schon von dem kleinen Schluck Whisky war mir wohlig warm geworden, denn nach den enthaltsamen Monaten der Schwangerschaft vertrug ich nicht mehr so viel. An etwas so Trauriges wie Harris Tod mochte ich jetzt nicht denken. Es war vielleicht der letzte warme Sommerabend, der uns obendrein die seltene Gelegenheit bot, in aller Ruhe gemeinsam in die Sauna zu gehen, während ein freiwilliger Babysitter auf die schlafende Iida aufpasste.
Die Fenster der Sauna gingen nach Westen, wo nur einzelne Klippen zu sehen waren. Die Seeschwalben hielten Flugwettbewerbe ab, die Fische übten Hochsprung. Auf Anttis Haut perlten kleine Tropfen, sie schmeckte nach Wind und Salz, ich konnte die Lippen nicht von ihr lösen … Erst nachdem wir uns geliebt hatten, fiel uns ein, dass nach uns noch jemand in die Sauna wollte. Zum Schluss kühlte ich mich in der geschützten kleinen Bucht ab, wo Seetang mich am Bauch kitzelte. Der Nordostwind hatte das Wasser abgekühlt, es roch bereits ein wenig nach Herbst. Als wir die Sauna verließen, stand der erste Stern am dunkler werdenden Himmel.
Der grünhaarige Junge saß wartend vor der Festung. Als er uns sah, rief er nach Mikke, der vom Ufer heraufkam und im Vorbeigehen zu uns sagte:
«Eine warme Nacht. Die anderen sitzen beim Leuchtturm und grillen. Ihr könnt euch gern anschließen.»
«Ich hol die Whiskyflasche und schau mal nach Iida», meinte Antti, der offenbar nichts dagegen hatte, mitzufeiern. Ich auch nicht. Vor der Einsamkeit, die der Mutterschaftsurlaub mit sich brachte, hatte ich mich schon im Voraus gefürchtet. Wir wohnten zur Miete in einem alten Einfamilienhaus in Henttaa, weit weg von der Bushaltestelle und von allen meinen Freunden. Ohne Telefon und gute Bücher wäre es mir schwer gefallen, den ganzen Tag mit dem Baby allein zu sein. Dennoch hatte ich den Mutterschaftsurlaub voll in Anspruch genommen, denn seit der ersten Klasse der Oberstufe hatte ich nur einmal Sommerurlaub gemacht und sonst, von ein paar Monaten Arbeitslosigkeit abgesehen, fast pausenlos geschuftet. Im letzten Winter hatte ich Zeit gehabt, ausgiebig zu lesen, mit Iida Ausflüge in die Natur zu machen und das Klavierspielen zu lernen. Ab und zu war ich allerdings so ausgehungert nach Begegnungen mit anderen Menschen, dass ich mich sogar über die gelegentlichen – meist dienstlichen – Anrufe meines widerwärtigen Kollegen Pertti Ström freute.
Auf jeden Fall lohnte es sich, mit den Besitzern von Rödskär nähere Bekanntschaft zu schließen. Mikke Sjöberg interessierte mich beinahe zu sehr. Es kam selten vor, dass ich mit einem völlig Fremden einfach so dasitzen und ein Glas Whisky teilen konnte. Ich hatte wohl zu lange zu Hause gehockt, wenn der erste attraktive Mann, der mir über den Weg lief, meine schlummernde Flirtbereitschaft weckte.
Die Merivaara-Frauen saßen am Grill. Obwohl wir erst vor ein paar Stunden zu Abend gegessen hatten, lief mir beim Anblick der Gemüsespieße das Wasser im Mund zusammen. Ich stillte Iida nur noch morgens, hatte aber durch mein hartes Training einen hohen Kalorienverbrauch. Bereits einige Wochen nach der Entbindung hatte ich mit Joggen und Kraftsport begonnen, um den Schwangerschaftsspeck loszuwerden, und der Sport war mehr als je zuvor zur Droge geworden. Joggen war ein akzeptabler Grund, das Haus zu verlassen und Zeit für mich allein zu haben – wenn ich meinen Dienst wieder antrat, würde ich mir diese Momente nur selten leisten können.
Anne Merivaara rutschte ein Stück zur Seite, sodass ich mich neben sie auf die Bank setzen konnte. Antti kam, die Whiskyflasche schwenkend, aus dem Haus, gefolgt von einem breitschultrigen, einen Kopf kleineren blonden Mann, der auf mich zutrat und mir die Hand gab.
«Tapio Holma, guten Abend. Eure Tochter ist wirklich süß.»
Ich hätte beinahe laut gelacht. Vorhin hatte ich Mikke Sjöberg für zu alt gehalten, um Riikkas Freund zu sein, aber Tapio Holma war noch älter, mindestens vierzig. Bei seinem Anblick dachte ich sofort an dunkelblauen Samt und Spitzenkragen, ohne zu wissen, woher diese Assoziation kam. Erst als Antti mir Whisky eingegossen hatte, fiel es mir ein. Ich hatte Holma vor einigen Jahren bei den Opernfestspielen in Savonlinna als Rodrigo, Marquis de Posa im «Don Carlos» gesehen, wo er trotz des lächerlichen Rüschenkragens einen heldenhaften Eindruck gemacht hatte. Der Mann, der jetzt einen Ring Fleischwurst auf den Grill legte, sah gar nicht wie ein international bekannter Bariton aus. Statt der Stiefel Rodrigos trug er hellgraue Slipper mit Kreppsohlen, in denen jeder Mann unerotisch gewirkt hätte. Ich hatte Antti die Scheidung angedroht, falls er jemals in solchen Tretern ankäme.
«Ich habe an die zehn Jahre in Deutschland gearbeitet. Die dortigen Würste werden ja sehr gelobt, aber ab und zu hat mir die gute finnische Fleischwurst doch gefehlt», sagte Holma. «Diese Vegetarierfamilie hier weiß nicht, was gut ist.»
Riikka verzog das Gesicht, schaffte es aber nicht, missbilligend dreinzublicken, denn im selben Moment setzte Holma sich zu ihr und schlang liebevoll die Arme um sie. Ich merkte, dass Anne Merivaara den Blick abwandte, und fragte sie nach der Geschichte der Insel.
Die Festung Rödskär, erzählte sie, war 1813 errichtet worden, bald nachdem Finnland unter russische Herrschaft gekommen war. Sie hatte sowohl der Küstenwache als auch der Marine als Stützpunkt gedient, und während des Krimkriegs waren auf diesem Nebenschauplatz einzelne Gefechte ausgetragen worden, ebenso später im finnischen Bürgerkrieg. Als die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg das Gebiet um Porkkala pachtete, mussten die finnischen Streitkräfte die Insel verlassen. Angeblich waren Anfang der fünfziger Jahre russische Truppen auf Rödskär stationiert gewesen. Seit der Rückgabe des Gebiets 1956 hatte die Insel im Besitz der finnischen Armee gestanden und war menschenleer gewesen, denn es herrschte striktes Landungsverbot.
«Bewacht wurde die Insel allerdings nicht», warf Antti ein. «Ich habe vor zwölf Jahren mit einem Freund zum ersten Mal hier angelegt. Wir hatten halb damit gerechnet, von einem Kugelhagel empfangen zu werden, aber hier gab es bloß Schwalben, sonst nichts. Rödskär kam mir damals vor wie eine Geisterinsel. Erzählt man sich nicht auch, dass es hier spukt? Irgendein russischer Offizier soll hier umgehen, oder?»
Niemand antwortete, und Anne Merivaara wechselte das Gesprächsthema.
«Die Spieße sind fertig. Wo bleibt denn Jiri? Und was will Mikke essen, hat er was gesagt?»
«Der bekommt Wurst und Kartoffelsalat», lächelte Tapio Holma. «Mögt ihr beiden was davon, oder seid ihr auch Vegetarier?»
Wir erklärten, uns reiche der Whisky, von dem wir auch den anderen anboten. Holma sah Riikka zögernd an, bevor er annahm. Ihre Beziehung begann mich zu interessieren, denn Tapio Holma hätte altersmäßig Riikkas Vater sein können.
«Gibt’s was zu spachteln?» Jiris grüner Schopf erinnerte jetzt noch stärker an Gras, da die Haare von der Sauna feucht waren. Mikke Sjöberg folgte ihm mit Flaschen und Gläsern. Die beiden Frauen tranken Wein, die Männer Bier, nur Jiri hielt sich an das grünliche, nach Kohlsaft aussehende Gebräu. Antti unterhielt sich mit Mikke über das Segeln, Riikka erkundigte sich eher aus Höflichkeit als aus echtem Interesse nach Iida. Jiri antwortete einsilbig, wenn man ihn ansprach.
Es war bereits dunkel geworden, die Sterne standen so niedrig, dass es schien, als könne man sie von der Spitze des Leuchtturms aus berühren. Ich hörte zu, wie Tapio Holma Riikka die Sternbilder erklärte, und versuchte mir ihre Namen einzuprägen. Ich fühlte mich wohlig müde und entspannt. Das Festland lag in einer anderen Welt, unser Haus in Henttaa, der Alltag, die Espooer Polizei und mein Dienstantritt am nächsten Montag waren weit weg. Es gab nur das Meer, die Sterne, die schlafende Iida und uns sieben Erwachsene am langsam verglimmenden Feuer. Nur den wärmenden Whisky und einen fernen Vogelschrei, von einer Seeschwalbe oder Möwe, ich wusste es nicht. Als ich fragte, stellte sich heraus, dass Tapio – oder Tapsa, wie er genannt werden wollte – ein begeisterter Ornithologe war, sodass das Gespräch wie von selbst auf die Vogelwelt der Insel kam. Da ich schon beim zweiten Whisky war, platzte ich heraus:
«Letzten Herbst ist hier ein Ornithologe ums Leben gekommen, den ich kannte, ein gewisser Harri Immonen. Weiß einer von euch, wie das passiert ist?»
Eine derart heftige Reaktion hatte ich nicht erwartet. Jiri stand polternd auf und lief zum Hafen hinunter, Anne Merivaaras Weinglas fiel klirrend auf die Steinbank, Tapsa nahm Riikka in den Arm, und Mikkes Hand mit der Pfeife zitterte. Er antwortete jedoch:
«Du hast Harri also gekannt. Ja, das war eine schlimme Geschichte. Juha und Anne haben ihn gefunden. Sie waren zufällig hergekommen und haben sich über die Sachen in der Gästestube gewundert. Es wusste nämlich niemand, dass ich ihn hier abgesetzt hatte.»
«Er lag da drüben auf der Windseite im Wasser», sagte Anne Merivaara leise. «Es ist schon spät, ich gehe schlafen. Gute Nacht.»
Obwohl sie freundlich blieb, hatte ich das Gefühl, ihr die Stimmung verdorben zu haben. Als Anne außer Hörweite war, sagte Mikke entschuldigend:
«Es war ein traumatisches Erlebnis für Anne. Sie hat damals einen Schock erlitten, nur gut, dass Juha bei ihr war.»
«Mutter hatte immer schon eine hysterische Einstellung zum Tod, so oft ich ihr auch erklärt habe, dass der Tod zum Leben dazugehört», erklärte Riikka mit der Selbstgewissheit einer Zwanzigjährigen.
«Dieser Harri war noch so jung», sagte Tapsa behutsam. «Ich selbst bin ihm nie begegnet, denn ich habe Riikka erst in diesem Frühjahr kennen gelernt, aber nach allem, was ich von Anne gehört habe, muss es ein ziemlicher Schlag für sie gewesen sein.»
Mikke berichtete, Harri habe den größten Teil des letzten Sommers auf Rödskär verlebt, um im Auftrag der Merivaara AG den Vogelbestand des Gebietes zu kartieren. Die Firma hatte mit der Insel zugleich ein ausgedehntes Wassergebiet erworben. In dessen nördlichem Teil lag eine Ansammlung von Klippen, auf denen Zugvögel Rast machten. Falls dort genügend seltene Vogelarten beobachtet wurden, wollte Juha Merivaara beantragen, das Areal unter Naturschutz zu stellen.
«Harri war von der Insel begeistert, weil er hier allein sein konnte. Er mochte Vögel lieber als Menschen, denn sie verhalten sich logischer.» Mikke zog an seiner Pfeife, und ich spürte einen Stich bei dem Gedanken, wie mies ich Harri damals behandelt hatte. Vielleicht hatte ich in den letzten Jahren doch etwas dazugelernt, sei es auch nur, dass es auf die Dauer unbefriedigend ist, seine Mitmenschen zu triezen.
«Hast du Harri gut gekannt?», fragte ich Mikke.
«Ich habe ihn ein paar Mal als Gast mitgenommen, nach Gotland und Dagö. Er war allerdings ein miserabler Gast, der alles stehen und liegen ließ, wenn er einen interessanten Vogel entdeckte», lächelte Mikke. Um seine Augen bildete sich ein Kranz von Lachfältchen.
Riikka und Tapsa standen auf, für sie wurde es auch Schlafenszeit. Ich wollte den Sternenhimmel noch länger genießen, außerdem war die Whiskyflasche noch zu zwei Dritteln voll. Ich schenkte Antti und mir nach und sah Mikke fragend an, der meinen Blick erwiderte und mir sein leeres Bierglas hinhielt. Ich goss ihm großzügig ein.
«Und woher habt ihr Harri gekannt?» Mikke nahm einen kräftigen Schluck, er hatte offenbar den gleichen Whiskygeschmack wie ich.
«Ich habe ihn gar nicht gekannt. Maria hatte früher mal eine Art Romanze mit ihm.»
Ich hatte es immer zu schätzen gewusst, dass Antti nicht zur Eifersucht neigte, dass er weder meckerte, wenn ich mit Kollegen ein Bier trank, noch über meine Verflossenen herzog. Jetzt ärgerte es mich – «eine Art Romanze» klang furchtbar banal. Aber warum wünschte ich mir eigentlich, dass Mikke Sjöberg mich für einen Vamp hielt?
Mikke trank noch einen Schluck und sah mir direkt ins Gesicht.
«Ach, die Maria bist du … Harri hat ab und zu von dir gesprochen. Dann arbeitest du also bei der Polizei.»
Ich nickte. Auch wenn ich mich für meinen Beruf nicht schämte, vermied ich es im Allgemeinen, ihn zu erwähnen. Viele interessante Kneipenbekanntschaften waren plötzlich wie versteinert, wenn sie hörten, womit ich mein Geld verdiente, einer hatte sogar mal hastig seinen Joint ausgedrückt und offenbar damit gerechnet, ich würde gleich die Handschellen zücken.
«Die Polizei hat Harris Tod untersucht, aber es war nichts faul daran. Ein eindeutiger Unfall», sagte Mikke und hielt mir sein Glas hin. Er schüttete den Laphroaig in sich hinein, als wäre es Bier.
«Auf Harri», sagte ich und hob mein Glas, obwohl mir die Geste selbst albern und sentimental vorkam. Mir saß ein Kloß im Hals, den ich mit einem zweiten Schluck hinunterspülte. «Er ist wohl ungefähr da ausgerutscht, wo wir heute gesessen haben?» Während ich fragte, goss ich Mikke gut einen halben Deziliter nach. Er beugte sich vor, er roch nach Pfeife und Meerwasser.
«Deshalb habe ich dich ja vor dem Felsen gewarnt. Ich trau ihm nicht, er hat etwas Böses an sich.»
Weit im Süden glitten die Lichter eines Frachtschiffs vorbei. Antti stand auf.
«Ich geh mal pinkeln und nach Iida schauen. Lasst mir noch was vom Whisky übrig.»
Außer dem Schein des Leuchtfeuers, der über das Meer strich, durchbrachen nur das verglimmende Grillfeuer und Mikkes Pfeifenglut die Dunkelheit. Hinter uns duckte sich die Festung. Als ich mich umdrehte, erschrak ich fast vor der massigen Silhouette, um die Fledermäuse flatterten. Ich hätte gern alles über den Mann gewusst, der neben mir saß und die Augustnacht mit mir teilte. Antti hatte ihn als Weltumsegler bezeichnet. Wer war er eigentlich, wie alt, was tat er, wenn er nicht segelte? Mit solchen Fragen begann jede Vernehmung: Name, Personalkennziffer, Beruf. Hinter meiner Neugier tauchte aber auch eine Frage an mich selbst auf, die ich geflissentlich überhörte:
Warum in aller Welt interessierte mich dieser Mann so brennend?
Mikke saß schweigend da, und gegen meine Gewohnheit vermied auch ich es, wild drauflos zu quasseln. Als Antti zurückkam, fingen die beiden Männer wieder mit ihren Segelgeschichten an. Obwohl Antti in seiner Jugend fast jeden Sommer auf dem Meer verbracht hatte, war er im Vergleich zu Mikke ein Sonntagssegler. Mikke hatte tatsächlich zweimal die Welt umsegelt, zuerst als Crewmitglied bei einer Regatta, dann aus reiner Abenteuerlust im Alleingang. Im Oktober wollte er wieder in See stechen.
«Du hast wohl keine Familie?» Im Zusammenhang mit seinen Reiseplänen klang meine Frage unverfänglich.
«Wer will schon einen Globetrotter wie mich? Bisher bin ich auch noch keinem Menschen begegnet, mit dem ich es monatelang auf einem Zehnmeterboot aushalten würde.» In seinem Lächeln lag eine gewisse Schärfe, die vermuten ließ, dass sich hinter seiner Antwort viele Geschichten verbargen.
Nach dem vierten Malt Whisky merkte ich, dass ich keinen Tropfen mehr trinken durfte, wenn ich am nächsten Tag nicht seekrank sein wollte. Trotzdem wäre ich gern aufgeblieben, bis die Sterne verloschen und das Leuchtfeuer von der Sonne überstrahlt wurde.
Am nächsten Morgen hatte ich einen schweren Kopf, erst nach der zweiten Tasse Kaffee ging es mir besser. Über das Stillen machte ich mir keine Sorgen: Antti, der Familienmathematiker, hatte nachgewiesen, dass nur eine minimale Alkoholmenge in die Muttermilch gelangte.
«Der Wind hat auf Südost gedreht. Das bedeutet, dass wir kräftigen Rückenwind Richtung Inkoo haben und uns nicht zu beeilen brauchen. Komm, wir steigen auf den Leuchtturm und genießen die Aussicht!»
Iida war nach dem langen Schlaf voller Energie und wollte unbedingt selbst die Stufen hochkrabbeln. Sie hatte mit neun Monaten gelernt, mit Unterstützung zu laufen, und vor einer Woche die ersten freien Schritte gemacht. Der Himmel war klar, der dunkle Streifen im Süden mochte Estland sein. Im Norden kreuzten vereinzelte Segelboote, ein einsamer Prahm nahm Kurs auf Polen. Im Nordosten knatterte ein Motor, ein leichter Buster hielt auf die Insel zu.
«Ich geh schwimmen. Vor der Abfahrt könnten wir noch ein paar Butterbrote essen», schlug Antti vor. Die Fahrt nach Inkoo würde bei diesem Wind einen halben Tag dauern, und es war sinnvoll, die Abfahrtszeit so zu wählen, dass Iida unterwegs ihren Mittagsschlaf hielt.
Der Buster legte an. Ein stämmiger Mann sprang an Land, vermutlich der Geschäftsführer Juha Merivaara, der den Sonntag auf seiner Insel verbringen wollte. Ich packte unsere Sachen ein und war gerade dabei, Butterbrote zu schmieren – mit einer Hand, weil Iida unbedingt auf den Arm wollte –, als Merivaara in die Küche kam.
«Was haben wir denn hier für eine kleine Mutti?», fragte er so süßlich, dass ich mein Gesicht in Iidas Haaren verbergen musste. Kleine Mutti war ja wohl das Letzte!
«Maria Kallio, Hauptkommissarin bei der Espooer Polizei», sagte ich und streckte ihm die Hand hin. «Eine schöne Insel haben Sie hier.»
«Danke. Hauptkommissarin, soso … » Juha Merivaara sah mich abschätzend an.
Während Mikke Sjöbergs prüfender Blick ein angenehmes Prickeln ausgelöst hatte, irritierte es mich, als Juha Merivaara mich musterte. In meinen Jeans, dem zu weiten roten Baumwollpullover und mit dem windzerzausten Kupferdrahthaar sah ich sicher nicht gerade wie eine Hauptkommissarin aus. Zu meinem Verdruss hielten mich viele sowieso für jünger, als ich war.
Ich starrte zurück. Merivaara war etwa eins achtzig, hielt sich offenbar mit Sport in Form, setzte in der Taillengegend aber trotzdem Fett an. Sandbraunes Haar, Augen in der Farbe des Meers im September, ein strenger Mund mit antrainiertem freundlichem Lächeln. Sein ganzes Wesen signalisierte, dass Juha Merivaara ein echter Mann war, ein ganzer Kerl, ob er nun auf seinem Boot oder im Familienunternehmen das Ruder in der Hand hielt.
«Meine Frau hat mir erzählt, dass dein Mann früher schon auf Rödskär war, trotz der Verbotsschilder der Armee. Das hat er gut gemacht! Inseln wie diese sollten allen zugänglich sein, die es schaffen, hinzusegeln.»
Ich verkniff mir die Frage, warum der Herr Geschäftsführer trotz seiner Bewunderung für Segler selbst mit dem Motorboot unterwegs war. Mit Leuten wie Juha Merivaara mochte ich nicht mehr reden als unbedingt nötig. Antti kam zurück, die beiden Männer wechselten ein paar belanglose Worte, dann gingen wir zum Hafen, um unser Boot zu beladen.
Mit Ausnahme von Jiri waren alle da, um sich zu verabschieden, Riikka und Tapsa eng umschlungen, Anne, die sich für den Besuch bedankte, Mikke, der einsilbig Sachen anreichte und die Taue löste.
«Wegen Harri», sagte Anne plötzlich, als wir bereits im Boot waren. «Ich muss immer daran denken … Du bist bei der Polizei, habe ich gehört. Sie haben uns damals kaum etwas gesagt. Es war doch nicht etwa … Selbstmord?»
«Ihr habt keinen Hinweis darauf gefunden, oder? Einen Abschiedsbrief zum Beispiel?»
Anne schüttelte den Kopf. «Aber bei ihm zu Hause vielleicht … »
«Ich bin ab morgen wieder im Dienst, dann schaue ich nach», beruhigte ich sie. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Jackentasche.
«Wenn du so lieb wärst … Ich habe immer noch Albträume.»
Mikke wurde unruhig, denn der Wind drückte die «Marjatta» gegen die Felsen, und es war anstrengend, sie mit der Achterleine flott zu halten. Antti ließ den Motor an. Ich winkte, erleichtert und wehmütig zugleich. Wir nahmen Kurs auf Inkoo und den Alltag. Bei der steifen Brise war Rödskär eine Viertelstunde später nur noch ein Punkt am Horizont.
«Sehe ich nach Chefin aus?», fragte ich Antti am Montagmorgen. Ich trug einen Blazer im Safaristil zur passenden Hose und hatte mich, so gut ich konnte, auf Hauptkommissarin getrimmt, mit Pferdeschwanz und möglichst dezentem Make-up.
«Ziemlich sexy für eine Chefin», lachte Antti. «Nun geh schon, ich seh dir doch an, wie sehr du dich auf die Arbeit freust.»
Die Fahrt dauerte nicht lange, zehn Minuten vor Beginn der Dienstzeit war ich am Ziel. Feste Arbeitszeiten würde ich allerdings auch künftig nicht haben, denn Verbrechen geschehen nun einmal zu jeder Tageszeit. Die Reformen, die in den letzten Jahren bei der Espooer Polizei durchgeführt worden waren, wirkten sich auch auf meine Arbeit aus. Der Einsatz von Kontaktbereichsbeamten und die Sympathiewerbung waren von allen Seiten gelobt worden. Unser Dezernat wiederum hatte sich speziell beim Aufbrechen der starren Amtshierarchie hervorgetan, was zur Folge hatte, dass ich trotz meines neuen Ranges auch künftig Tatorte inspizieren und Verdächtige und Zeugen vernehmen würde.
Im Flur unseres Dezernats roch es wie immer nach Staub und abgestandenem Kaffee. Durch die Glastür sah ich Puupponen im Pausenraum.
«Herzlich willkommen, Frau Hauptkommissarin! Womit soll’s losgehen?»
«Mit der üblichen Montagsbesprechung um halb zehn», brachte ich gerade noch heraus, bevor Puupponen mich umarmte. Gleich darauf rannte Koivu herbei und drückte mich an sich.
«So, und jetzt bringen wir die Hauptkommissarin in ihr Büro. Hör auf zu zappeln, Maria, lass dich dieses eine Mal auf Händen tragen!»
Die Stille auf dem Flur hatte mich getäuscht: Das ganze Dezernat war in meinem Dienstzimmer versammelt. Auf dem Couchtisch standen Kaffeetassen und Himbeertorte bereit, auf dem Schreibtisch prangte ein Riesenstrauß weißer und dunkelroter Rosen. Mein Vorgänger Taskinen, der inzwischen zum Kripochef aufgestiegen war, stand lächelnd vor den Kollegen.
«Das Präsidium spendiert dir einen neuen Bürostuhl», erklärte er und zeigte auf einen prachtvollen roten Drehsessel. «Der vorige war für mich und Ström bemessen. Man beachte die verstellbare Fußstütze!»
«Ich bin ein Zwerg, ich weiß», lachte ich gerührt. Offenbar freuten sich wirklich alle über meine Rückkehr.
Alle bis auf Ström. Er hatte sich heute früh nicht blicken lassen.
«Ström ist krank. Magenverstimmung», meldete Lähde, Ströms einziger Kumpel im Dezernat.
«Der arme Pertsa hatte immer schon einen empfindlichen Magen», antwortete ich und erntete wieherndes Gelächter. Dann wurde ich lautstark aufgefordert, endlich die Torte anzuschneiden.
«Ström räumt seine Kisten sicher gleich weg, wenn er kommt. Gelüftet haben wir schon», sagte Puupponen entschuldigend. «Pertsa hat hier drinnen trotz Verbot eine nach der anderen geraucht.»
«Die Rosen duften so schön, dass man den Zigarettengeruch kaum noch merkt. Nun esst brav euren Kuchen auf, damit wir an die Arbeit gehen können», sagte ich.
Ströms Abwesenheit überraschte mich nicht, denn wir hatten uns einen heftigen Kampf um den Posten des Dezernatsleiters geliefert. Ström, der meinte, ich sei nur gewählt worden, weil ich eine Frau war, hatte die Entscheidung erfolglos angefochten. Da die Stelle Mitte Oktober, sieben Wochen nach Iidas Geburt, frei geworden war, hatte man ihm angeboten, mich während des Mutterschaftsurlaubs zu vertreten. Alle hatten damit gerechnet, er würde sich weigern, doch er hatte angenommen. Daher musste ich nun ein Dezernat übernehmen, das er zehn Monate lang geleitet hatte.
Da Koivu, Puupponen und Taskinen mich gelegentlich besucht und die anderen Kollegen sich telefonisch gemeldet hatten, war ich über die Situation im Dezernat auf dem Laufenden geblieben. Ström war kein einfacher Chef gewesen. Am schlimmsten hatte er sich gegenüber Anu Wang, einer gebürtigen Vietnamesin, aufgeführt, die seiner Meinung nach lediglich als Quotenfrau eingestellt worden war. Ihm ging die «schlitzäugige Kuh» gegen den Strich, während die anderen fanden, Anu mache sich ausgezeichnet. Als erste Vertreterin einer ethnischen Minderheit an der Polizeischule war sie daran gewöhnt aufzufallen.
Bei der Morgenbesprechung hätte ich Ström allerdings gern dabeigehabt. Er leitete die Ermittlungen in allen aktuellen Fällen und kannte die Gesamtlage. Ohne ihn konnte ich in meiner ersten Besprechung nur einzelne Punkte aufgreifen und war gezwungen, nach seinen Vorgaben weiterzuarbeiten. Zum Glück handelte es sich bei den Delikten, mit denen sich unser Dezernat zur Zeit beschäftigte, um Routinefälle: eine Schlägerei unter Betrunkenen in Matinkylä und ein Überfall in Tapiola, für den es ein Dutzend Zeugen gab. In der Woche vor meinem Dienstantritt hatte Pertsa die Voruntersuchung im kompliziertesten Fall dieses Sommers abgeschlossen, einer Messerstecherei in der Mittsommernacht am Badestrand von Haukilahti.
In den ersten Tagen tat ich kaum etwas anderes, als mich durch Berge von Papieren zu wühlen und an diversen Besprechungen teilzunehmen. Wie ich bald feststellte, musste ich in meiner neuen Position unzählige Sitzungen besuchen. Ström erschien am Mittwoch wieder zur Arbeit und richtete sich in seinem alten Büro ein, das er mit Lähde teilte. Bei mir hatte er sich nicht gemeldet, und da die Kartons mit seinen Ordnern um ein Uhr immer noch in meinem Büro herumstanden, marschierte ich zu ihm.
Er wirkte erschöpft: sein normalerweise rötliches, pockennarbiges Gesicht war blass, die schnupftabakbraunen Haare klebten am Kopf. Die Augen verbarg er hinter einer dunklen Pilotenbrille, zwischen den Fingern hing eine glimmende Zigarette.
«Tag, Pertsa, schön, dass du wieder gesund bist. Wir sollten uns mal zusammensetzen, es gibt viel zu besprechen. Was hast du morgen vor?»
«Keine Ahnung. Kommt drauf an, ob heute Nacht jemand umgebracht wird», brummte er, ohne meinen Gruß zu erwidern.
«Wie wäre es morgen Mittag mit einem ausgedehnten Essen, in einem ordentlichen Restaurant statt in der Kantine? Ich lad dich ein», schlug ich vor.
Er schüttelte den Kopf. «Ich hab um zwölf einen Termin beim Staatsanwalt wegen der Messerstecherei. Wenn du eine Besprechung willst, musst du bis Freitagnachmittag warten. Passt es dir um drei?»
Dieser Mistkerl, das tat er mit Absicht! Natürlich wollte er testen, ob ich auch nach der Geburt meines Kindes bereit war, unbegrenzt Überstunden zu machen. Er wusste genau, dass wir mindestens drei Stunden brauchen würden, selbst wenn wir nur die wichtigsten Dinge besprachen.
«Ja, das geht», antwortete ich ruhig. «Du sitzt jetzt mit Pasanen vom Wirtschaftsdezernat an dieser Betrugsgeschichte, nicht wahr?»
«Ja. Verdammt komplizierte Sache. Damit bin ich vorläufig voll ausgelastet. Gott sei Dank brauch ich Puupponen und diese schlitzäugige Göre jetzt nicht mehr zu hüten. Den beiden muss man alles fünfmal verklickern.»
«Hör auf, Anu Schlitzauge zu nennen!», giftete ich. Erst dann ging mir auf, dass Pertsa es darauf angelegt hatte, mich in Rage zu bringen, was ihm schon auf der Polizeischule leicht gefallen war.
Er lächelte höhnisch, drückte die Zigarette aus und steckte gleich die nächste an. «Ist sonst noch was, oder darf ich weiterarbeiten?», fragte er und deutete auf den PC, dessen Monitor inzwischen dunkel geworden war. Ich war fest davon überzeugt, dass er bei meinem Eintritt ein Spiel laufen gehabt hatte.
«Also am Freitag um drei in meinem Büro», sagte ich im Befehlston – ein diskreter Hinweis darauf, dass das Chefbüro jetzt mir gehörte. Ich würde Pertsa nicht erlauben, dort zu rauchen, obwohl ich wusste, dass er mit sinkendem Nikotinpegel immer unausstehlicher wurde.
Bis Freitag war meine elegante Safarihose fleckig geworden, sodass ich meinen alten schwarzen Blazer und Jeans anziehen musste. In der Hosentasche fand ich die Visitenkarte von Anne Merivaara, die ich vor lauter Arbeit ganz vergessen hatte. Dabei hatte ich ihr doch versprochen, mich wegen Harri zu melden!
Nachdem ich die morgendlichen Routineaufgaben erledigt hatte, rief ich am PC die Akte der Voruntersuchung über Harris Tod auf. Der Bericht war kurz und bündig. Wie Koivu mir im Herbst bereits gesagt hatte, war es ein Unfall gewesen. Weder auf der Insel noch in Harris Wohnung hatte man Hinweise auf einen Selbstmord gefunden.
Ich las die Protokolle zweimal durch, und als ich Koivu nach dem Essen im Pausenraum sitzen sah, fragte ich ihn noch einmal nach dem Fall. Er erinnerte sich nicht mehr daran, immerhin lag die Sache bereits zehn Monate zurück. Erst bei dem Namen Rödskär fiel der Groschen.
«Ach richtig, da bin ich ja sogar im Hubschrauber hingeflogen. Eindeutig ein Unfall. Einen Abschiedsbrief haben wir nicht gefunden, auch in seiner Wohnung nicht.»
«Und sein Computer? Habt ihr den untersucht?», fragte ich, denn ich erinnerte mich an den Fall eines kontaktgestörten jungen Mannes, der ausschließlich mit seinem PC kommunizierte. Er hatte auf dem laufenden Gerät einen Abschiedsbrief hinterlassen und sich unmittelbar daneben erhängt, doch sein zuckendes Bein hatte sich im Kabel verfangen und es aus der Steckdose gerissen. Daher war seine Nachricht nicht gefunden worden, erst später hatte sie ein anderer Computerfreak, der das Gerät gekauft hatte, auf der Festplatte entdeckt.
«Er hatte das Ding auf die Insel mitgenommen, ein Olivetti-Laptop. Da war weiter nichts drauf als Vogeltagebücher und meeresbiologischer Kram, aus dem ein normaler Polizist nicht schlau wird. Warum können die Ornithologen eine Sturmmöwe nicht Sturmmöwe nennen, statt mit lateinischen Namen um sich zu werfen?»
«Du hast dir als Kind doch bestimmt auch eine Geheimsprache ausgedacht, weiter ist das nichts. So ähnlich wie die Einsatzcodes, die wir verwenden, obwohl ich so was wie Falke zwo für eine Belagerung albern finde. Vielleicht will man sich damit weismachen, es wäre bloß ein Indianerspiel, bei dem es nicht um Leben oder Tod geht.»
«Wir haben uns nicht alle Dokumente auf dem Laptop angesehen, weil die Sache völlig klar war.» Koivu machte Schultergymnastik und klagte über Muskelkater vom Squash. Ich wählte Anne Merivaaras Nummer.
«Merivaara», antwortete Juha Merivaaras dröhnender Bass.
«Hauptkommissarin Kallio von der Polizei Espoo. Ist die Public-Relations-Direktorin zu sprechen?»
«Sie hat eine Sitzung, soweit ich weiß. Kann ich Ihnen behilflich sein?» Seine Neugier war nicht zu überhören.
«Es geht um eine Privatsache», antwortete ich bestimmt.
«Anne Merivaara ist meine Frau. Waren Sie nicht am vorigen Wochenende auf Rödskär?»
Auf der Insel hatte Merivaara mich einfach geduzt, aber an Land galten offenbar andere Benimmregeln.
«Genau. Würden Sie Ihre Frau bitten, zurückzurufen? Sie erreicht mich über die Zentrale der Espooer Polizei. Sagen Sie ihr bitte, ich hätte die Sache geklärt, nach der sie sich erkundigt hat. Besten Dank, und einen schönen Tag noch», sagte ich zuckersüß.
Erst nachdem ich aufgelegt hatte, wurde mir bewusst, dass Juha Merivaara dabei gewesen war, als Harris Leiche gefunden wurde. Hätte ich von ihm etwas erfahren können? Aber nein, Koivu hatte gründliche Arbeit geleistet, wie immer, also hatte er sicher alles Wesentliche aus dem Geschäftsführer herausgeholt.
Anne Merivaara meldete sich um Viertel nach drei, gerade als Pertsa Ström sich endlich mit Kaffee und zwei Tassen in mein Büro bequemt hatte. Ich versicherte ihr, dass es keine Hinweise auf einen Selbstmord gab, worüber sie so erleichtert war, als habe sie sich ernsthaft Sorgen um Harris seelisches Gleichgewicht gemacht. Das ließ mich stutzig werden, doch da Pertsa mir ungeduldig gegenübersaß, beendete ich das Gespräch. In seiner Anwesenheit über einen Fall zu sprechen, den er als Ermittlungsleiter zu den Akten gelegt hatte, wäre ein schlechter Auftakt für unsere Zusammenarbeit gewesen.
Unsere Sitzung zog sich in die Länge, denn Ström hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er war seit vier Jahren geschieden, seine Kinder Jenna und Jani lebten bei ihrer Mutter und verbrachten nur jedes zweite Wochenende in Pertsas Einzimmerwohnung.
Nach der Besprechung war ich einigermaßen informiert über die aktuellen Fälle und Ströms bisherige Maßnahmen. Am vorigen Abend war es im Zentrum von Espoo zu einem Zusammenstoß zwischen einer finnischen und einer somalischen Gang gekommen. Ich war mir geradezu wichtig vorgekommen, als ich Puupponen und Wang mit den Ermittlungen beauftragte. Es war bereits die dritte Rauferei zwischen den beiden Gruppen, wir mussten versuchen, den Konflikt zu beenden, bevor er eskalierte. Wangs Worten hatte ich entnommen, dass Ström, der sämtliche Einwanderer verabscheute, für die finnische Gang Partei ergriffen hatte.
Trotz seiner vielen Vorurteile war Pertsa allerdings ein ausgesprochen scharfsichtiger Polizist. Auch wenn er bei der Beurteilung von Details mitunter schwer danebenlag, hatte er die Fälle meist im Griff. Nun schien er mir beweisen zu wollen, dass er das Dezernat besser geleitet hatte, als ich es je können würde, denn er erklärte mir jeden seiner Schritte in allen Einzelheiten. Je nach Stimmungslage hätte er es ebenso gut fertig gebracht, wichtige Informationen zurückzuhalten.
«Bist du mit dem Wagen da?», fragte er, als wir nach der dritten Tasse Kaffee und seiner zehnten Zigarettenpause endlich Schluss machten.
Ich nickte.
«Kannst du mich an der Bahnstation absetzen? Ich will noch nach Helsinki.»
«Klar.» Ich betrachtete seine Bitte als eine Art Annäherungsversuch, wie er sie in den überraschendsten Situationen unternahm.
«Was hast du denn in der Stadt vor?», fragte ich, als wir aus der Tiefgarage fuhren.
«Hirvonen wartet im ‹Planet Hollywood› auf mich. Erste Station unserer Sauftour», erklärte er. Hirvonen, sein Zechbruder, arbeitete bei uns im Labor. «Jetzt hab ich ja keine Verantwortung mehr und kann die Wochenenden locker nehmen. Und wie ist es bei euch, kümmert sich dein Alter um euren Balg oder wer?»
«Sie heißt Iida, wie du sehr wohl weißt. Iida Viktoria. Ich hab sie ein Jahr lang gehütet, und jetzt ist Antti an der Reihe.»
«So. Na, dass eine Emanze wie du keinen Jungen zur Welt bringt, hab ich vorher schon gewusst.»
«Schnauze, oder du kannst zu Fuß gehen», sagte ich, ohne wirklich wütend zu sein. Pertsas Frotzelei über meinen Feminismus gab mir das Recht, meinerseits sexistische Kommentare von mir zu geben, zum Beispiel über den Körperbau männlicher Sportler. Dass er sich über Anttis Entschluss, Erziehungsurlaub zu nehmen, lustig machte, überraschte mich nicht, darüber hatten sich auch meine Eltern mokiert. Antti hatte sich vorerst bis Weihnachten beurlauben lassen und war froh, eine Weile aus dem Universitätsbetrieb herauszukommen, der ihn momentan anödete. Unser Familienleben war bestens organisiert, alle Beteiligten waren zufrieden – wieso fühlte ich mich trotzdem unruhig und sehnte mich nach Abenteuern?
Die Menschen, die ich auf Rödskär kennen gelernt hatte, ließen mir auch am Wochenende keine Ruhe. Am Samstag kamen Anttis Eltern, um Iidas ersten Geburtstag mit uns zu feiern. Meine Schwiegermutter hatte eine Illustrierte mitgebracht, die ich selten las.
«Ihr habt doch auf Rödskär den Opernsänger getroffen, diesen Holma. Hier steht was über ihn.»
Der Artikel, den sie mir zeigte, hatte die Überschrift «Wie man mit Lebenskrisen fertig wird». Zu diesem Thema waren drei Menschen interviewt worden: ein Manager mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, eine Pastorin, deren einziges Kind tödlich verunglückt war, und Tapio Holma, der Opernsänger, der seine Stimme verloren hatte.
Tapio Holma, 42, gewann vor sechzehn Jahren den Timo-Mustakallio-Gesangswettbewerb. Von deutschen Opernbühnen umworben, hängte er seinen Beruf als Grundschullehrer an den Nagel. In den letzten fünf Jahren hatte Holma ein festes Engagement an der Hamburger Staatsoper, gastierte daneben aber regelmäßig an der Finnischen Nationaloper und beim Opernfestival in Savonlinna. Vor drei Jahren trat er dort als Marquis Posa in Verdis «Don Carlos» auf und gewann auch das finnische Opernpublikum für sich. Wie vor ihm Tom Krause und Jorma Hynninen, schien der Heldenbariton auf dem Weg an die internationale Spitze zu sein. Die Deutsche Oper in Berlin, eines der führenden Opernhäuser der Welt, bot ihm die Rolle des Grafen Almavida in «Figaros Hochzeit» an. Doch dann kam alles anders.
«Schon im letzten Sommer merkte ich, dass meine Stimme schneller als sonst ermüdete und gewissermaßen verschwamm. Als ich im Spätsommer bei den Musikfestspielen in Salzburg den Scarpia in Puccinis «Tosca» sang, wurden mir die letzten Aufführungen zur Qual. Die Stimme spielte nicht mehr mit.»
Holma konsultierte einen Phoniater, der eine Lockerung der Stimmbänder feststellte und ihm als Soforthilfe absolute Schonung empfahl. Der Sänger ließ sich beurlauben. Nach fast einjähriger Pause hat sich noch keine grundlegende Besserung eingestellt. Möglicherweise wird sich Holma einer Operation unterziehen müssen.
«Niemand kann mir garantieren, dass die Operation meine Stimme wiederherstellt», sagt Tapio Holma gefasst. «Deshalb weiß ich noch nicht, ob ich das Risiko eingehen will. Andererseits muss ich mich bald entscheiden, denn in meiner Branche ist man nach zwei Jahren aus dem Rennen. Der Konkurrenzkampf ist hart.»
Mit dem Versagen der Stimme ging ein zweiter Schicksalsschlag einher, den der Sänger heute weitgehend überwunden hat. Er war zehn Jahre mit der deutschen Sopranistin Suzanne Holtzinger verheiratet. Auf der Opernbühne bemüht sich der Bariton meist vergeblich um den Sopran, so auch in der Oper «Tosca», deren Titelrolle Suzanne Holtzinger in Salzburg sang. In dieser Oper verlangt der skrupellose Scarpia, Tosca solle sich ihm hingeben, um das Leben ihres Geliebten, des Tenors Cavaradossi, zu retten. Sie willigt scheinbar ein, doch als Scarpia sie umarmen will, erdolcht sie ihn.
Auch im wirklichen Leben verlor der Bariton seinen Sopran an einen Tenor. Holmas Frau verliebte sich in den Darsteller des Cavaradossi.
«In unserer Ehe kriselte es seit langem, insofern kam die Entscheidung meiner Frau nicht aus heiterem Himmel. Dennoch ist es belastend, zwei einschneidende Veränderungen gleichzeitig zu erleben, das lässt sich nicht leugnen.»
Ein Ortswechsel half dem Sänger über die Krise hinweg: Tapio Holma kehrte in seine Heimatstadt Espoo zurück. Die Ornithologie, die ihn bereits als Schüler fasziniert hatte, lässt ihn nun alle Niedergeschlagenheit vergessen.
«Ich selbst kann nicht mehr singen, doch ich genieße den Gesang der Vögel. Vor allem die Frühsommernächte sind in Finnland einzigartig. Die Nachtigallen an der Bucht Otsolahti … Glücklicherweise sind noch nicht alle Bäume dem Straßenbau zum Opfer gefallen.»
Auch eine neue Frau ist in das Leben des Sängers getreten, die zwanzigjährige Studentin Riikka Merivaara. Holma deutet geheimnisvoll an, dass, als er Riikka kennen lernte, er im wahren Leben die Heldenrolle habe übernehmen müssen, Einzelheiten gibt er jedoch nicht preis.
«Der Altersunterschied stört uns nicht, Riikka ist eine sehr reife junge Frau. Ich habe viel von ihr gelernt, unter anderem hat sie mich dazu angeregt, über die Bedeutung einer gesunden Ernährung für das ganzheitliche Wohlbefinden des Menschen nachzudenken. Zur Zeit suchen wir gemeinsam nach alternativen Heilmethoden für meine Stimmbänder. Sollte meine Stimme nicht wiederherzustellen sein, so ist das Leben dennoch lebenswert. Jeden Tag kann man dem Gesang der Vögel lauschen, selbst wenn man einmal nur Möwen oder Krähen hört», sinniert Tapio Holma.Auf dem Foto, das den Artikel begleitete, stand Holma mit einem Fernglas am Meer. Der Anflug eines Lächelns lag auf seinem Gesicht: Trotz schwerer Schicksalsschläge hat der tapfere Bariton sich seinen Lebensmut bewahrt.
«Eine unglaubliche Geschichte», sagte ich zu meiner Schwiegermutter, die Iida mit Himbeer-Blaubeer-Püree fütterte. «Daraus könnte man direkt ein Opernlibretto machen.»
Antti lachte respektlos über den Bericht und fragte dann, ob ich seine alten Rödskär-Dias sehen wolle, wenn Iida schlief. Natürlich wollte ich. Als er erwähnte, es seien auch ein paar Dias von seiner Fahrt mit Mikke Sjöberg auf dem Schoner «Astrid» dabei, spürte ich ein seltsames Flattern im Bauch.
Ende August wurde es schon vor zehn Uhr dunkel. Antti baute die Leinwand und den Diaprojektor auf. Dann verschwand er in der Küche.
«Ich hol mir einen Whisky zur Stärkung. Willst du auch einen?»
Seit dem Tod seines Segelfreundes Jukka vor fünf Jahren hatte er die Bilder sicher nicht mehr angeschaut. Wir hatten uns kennen gelernt, als ich nach Jukkas Mörder fahndete. Antti war einer der Verdächtigen gewesen, was mir inzwischen unbegreiflich vorkam.
«Einen kleinen Schluck, bitte.»
Er kam mit der ganzen Flasche an, und bevor ich merkte, was ich tat, hatte ich mir eine reichliche Portion eingeschenkt. Die Dias waren gerade so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Antti, zehn Jahre jünger und mit kurzen Haaren, stand neben dem braun gebrannten, weißblonden Jukka Grimassen schneidend vor einem Schild mit der Aufschrift «Militärisches Sperrgebiet, Zutritt verboten», sie machten vor dem Leuchtturm Faxen und saßen mit einer Flasche billigem Rum auf den Klippen. Die Festungsgebäude sahen baufällig aus, die Insel wirkte schmuddelig.
«Jetzt kommen welche aus dem Sommer danach. O Gott, das ist schon zehn Jahre her!»
Nachdenklich betrachtete ich die fröhlichen Jungen auf den Urlaubsfotos und dachte an Jukka und Harri. Beide waren zu jung gestorben. Was hatte Harri in den vierunddreißig Jahren seines Lebens schon erlebt? Aber wie wollte ich beurteilen, ob sein Leben inhaltsreich gewesen war? Einen Nachtreiher zu beobachten hatte ihm vielleicht ebenso viel Befriedigung gegeben wie anderen Leuten ein Olympiasieg oder sechs Richtige im Lotto.
«Jetzt kommen Aufnahmen von der ‹Astrid›, allerdings nur ein paar, weil ich selbst keinen Fotoapparat dabeihatte. Guck mal, da klettert A. Sarkela auf den Mast.»
Der siebzehnjährige Antti wirkte eifrig und unschuldig. Auf dem nächsten Bild schrubbte er das Deck. Das letzte Foto zeigte die gesamte Crew des Schoners.
«Mikke Sjöberg steht in der letzten Reihe ganz links.»
Mikkes breit grinsendes Gesicht war von Pickeln übersät. Offenbar hatte gerade jemand einen Witz erzählt, denn alle lachten.
«Wenn mir damals jemand gesagt hätte, ich wäre eines Tages mit einer Hauptkommissarin verheiratet, hätte ich ihn ausgelacht. Für Polizisten hatten wir nur Verachtung übrig.»
«Fang bloß nicht wieder damit an», sagte ich und warf ihm ein Kissen an den Kopf. Auf der Rückfahrt von Rödskär hatte er mir mit der Frage zugesetzt, was ich täte, wenn er sich mit Iida zum Beispiel den Hausbesetzern anschließen würde, die gegen den Bau der neuen Schnellstraße protestierten. Würde ich zulassen, dass sie von meinen Kollegen unsanft in einen Einsatzwagen verfrachtet wurden?
«Von mir aus kannst du zehn Häuser besetzen, aber Iida lässt du bei einem Babysitter», hatte ich geantwortet.
«Aber gerade wegen Iida will ich doch … Wenn alles so weitergeht wie bisher, ist ganz Espoo zubetoniert, bevor sie erwachsen ist. Es hilft überhaupt nichts, bei jeder Wahl für die Straßengegner zu stimmen», seufzte er jetzt.
«Von mir darfst du keine Patentlösung erwarten!» Ich erstickte seinen gesellschaftspolitischen Protest mit einem Kuss, in den sich eine Spur von schlechtem Gewissen mischte. In der letzten Nacht hatte ich von Rödskär geträumt, doch der Mann, den ich im Traum geküsst hatte, war nicht Antti gewesen, auch nicht Harri, sondern ein Seebär mit sonnengebleichten Augenbrauen, dessen Atem nach Pfeifentabak roch.