Auf Sand gebaut - Christoph Bisewski - E-Book

Auf Sand gebaut E-Book

Christoph Bisewski

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Beschreibung

Torge Assmussen hatte einen schweren Tag; die Arbeit stockt und draußen ist es heiß wie in einer Sauna. Höchste Zeit für seinen Lieblingsplatz! Doch was war das? Hatte er da einen Joystick in der Aller gesehen? Noch dazu einen, der genauso aussah wie der seines eigenen Rollstuhls? Das konnte einfach nicht sein, denkt er. Doch dann liest er in der Zeitung, dass tatsächlich der Bauunternehmer Hasso Blattner tot aus der Aller gefischt wurde.Er fuhr genau so einen Rollstuhl! Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Torge muss seinem Freund, Kriminalhauptkommissar Osmers, unbedingt von dieser Beobachtung berichten.Gemeinsam versuchen die beiden Freunde, das Geheimnis zu lösen. "Auf Sand gebaut" bildet den Auftakt zur inklusiven Krimireihe rund um die Ermittler Falk Osmers und Torge Assmussen. Doch nicht nur das Ermittler Duo, sondern auch das Autoren Duo besteht aus einem Rollstuhlfahrer und einem Fußgänger.

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Über die Autoren:

Christoph Bisewski, Jahrgang 1963, hat über viele Jahre im Marketing-Bereich großer Unternehmen gearbeitet. Doch dann wollte er sich beruflich verändern und „in ruhigeres Fahrwasser“ wechseln. Er übernahm die Leitung der Marketing-Abteilung der Organisation, in der auch Torsten Pickert beschäftigt war. Mittlerweile hat er sich wieder neu orientiert.

Torsten Pickert, Jahrgang 1978, ist seit seiner Geburt körperbehindert. Nach Abschluss seines Studiums der Politikwissenschaften und der Anglistik arbeitete er seit 2009 in der Presse - und Öffentlichkeitsarbeit einer lokalen Behindertenorganisation. Mittlerweile ist er Erwerbsminderungsrentner.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Freitag

Kapitel 2 – Sonntag

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5 – Montag

Kapitel 6: Dienstag

Kapitel 7: Nacht zu Mittwoch

Mittwoch

Kapitel 8: Donnerstag

Kapitel 9: Freitag

Kapitel 10: Samstag

Kapitel 11

Kapitel 12

Sonntag

Kapitel 13: Montag

Kapitel 14

Kapitel 15: Dienstag

Kapitel 16

Kapitel 17: Mittwoch

Kapitel 18

Kapitel 19: Donnerstag

Kapitel 20

Kapitel 21: Freitag

Kapitel 22

Kapitel 23: Samstag

Kapitel 24

Sonntag

Kapitel 25: Montag

Kapitel 26

Kapitel 27

Dank und Nachwort der Autoren:

Kapitel 1 - Freitag

Als Torge Assmussen an diesem Freitagmorgen das Haus verließ, deutete vieles auf einen perfekten Tag hin. Die Sonne strahlte vom Himmel und die Wettervorhersage verhieß kein Ende der Hitzewelle, die seit Anfang August die Einwohner von Verden an der Aller, einer Kleinstadt in der Nähe von Bremen, schwitzen ließ. Schon um 8:30 Uhr war das Thermometer auf über zwanzig Grad geklettert. Da passte es Torge, dass kurz vor dem Wochenende nur noch angenehme Aufgaben zu erledigen waren. So dachte er. Nun saß er aber schon fast zwei geschlagene Stunden an einem Zeitungsartikel ‚Inklusion im Alltag‘, den er spätestens Montag Abend abgeben musste.

Eigentlich doch keine übermäßig schwere Aufgabe, ging es ihm durch den Kopf.

Torge, studierter Soziologe und Anglist, war selbst körperlich erheblich eingeschränkt. Er kam in Folge einer Frühgeburt mit weitreichender Bewegungseinschränkung zur Welt und war im Alltag rund um die Uhr auf eine Assistenz angewiesen. Dennoch rang er jetzt um jedes Wort, ohne überhaupt eines zu finden. Woran lag es? An Torges selbstauferlegtem hohem Anspruch? Daran, dass er, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Betroffenheit, auf keinen Fall zu emotional werden wollte? Oder doch an der Tatsache, dass inzwischen wieder Temperaturen von über dreißig Grad herrschten und es im Büro unerträglich stickig wurde?

Sven Magnussen, Torges Büro-Kollege und der Abteilungsleiter der Öffentlichkeitsarbeit der Lebenshilfe Verden, schaute von seinem PC zu Torge auf.

«Was ist denn los?», fragte Sven.

«Ich habe echt eine Schreibblockade», antwortete Torge leicht niedergeschlagen.

«Komm, mach Feierabend für heute. Ist eh viel zu heiß. Der Artikel hat ja noch ein wenig Zeit.» So ganz stimmte das zwar nicht, aber Sven wollte Torge erlösen. Auch Torge kam das heute ausnahmsweise mal ganz recht, weswegen er sich dann auch direkt mit den Worten aus dem Büro verabschiedete:

«Ich bin mir sicher, Montag fällt mir das Schreiben wieder leichter, aber bei der Hitze macht das hier heute echt keinen Sinn».

Weil Aufgeben definitiv nicht Torges Art war, nervte ihn der vorgezogene Feierabend dennoch.

Um trotzdem mit positiven Gedanken in das Wochenende zu gehen, beschloss er, einen seiner Lieblingsplätze aufzusuchen.

Knapp einhundertfünfzig Meter von seinem Büro entfernt gab es eine Bank. Von dort aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Aller-Wiesen, eine Aue, die zwischen den beiden Flussarmen der Aller vor Verden lag. Häufig grasten dort Pferde. Torge liebte Pferde. Sie zu beobachten, ließ ihn seine Gedanken ordnen und Ruhe finden.

An besagter Bank stellte er seinen Rollstuhl so ab, dass ihm eine Pappel sein zunehmend lichter werdendes Haar beschattete. Der warme Sommerwind in den Pappelblättern klang beinahe wie ein erlösender Regenschauer und hinterließ bei Torge die akustische Täuschung einer Abkühlung. Augenblicklich fielen die Schwere und Nachdenklichkeit der letzten Stunden von seinen Schultern. Ein großer Teil einer Pferdeherde hatte sich genau gegenüber eingefunden, um zu trinken oder im Schatten der Brücke, die die Stadt mit dem platten norddeutschen Hinterland verband, Schutz vor der Hitze zu suchen. Bei dem fantastischen Blick über das Wasser, die Auen und die Pferde konnte Torge herrlich entspannen. Die Szenerie war fast ein wenig kitschig. Um jetzt dem Ganzen auch noch die Krone aufzusetzen, schipperte genau in diesem Moment die «Bremen», ein Fahrgastschiff der «Flotte Weser», an ihm vorbei. Das Oberdeck war gut gefüllt, unzählige Hände winkten ihm zu und das Lachen vieler Menschen hallte zu ihm herüber. Offenbar war er nicht der Einzige, der sich in diesem besonderen Moment entspannt und unbeschwert fühlte. Der Rollstuhlfahrer wollte gerade den Blick wieder den Pferden zuwenden, da tauchte in der Heckwelle der „Bremen“ für einen kurzen Moment etwas auf, was Torge zu erkennen glaubte.

«Das kann nicht sein», murmelte er gedankenverloren vor sich hin, worauf seine Arbeitsassistenz verwirrt fragte:

«Was kann nicht sein?»

Torges Blick war kurzzeitig irritiert, denn er hatte die Anwesenheit seiner Assistenz fast vergessen.

«Ich glaube, ich sollte etwas trinken», entgegnete Torge. «Ich hatte gerade die Vision, dass aus dem Wasser der Joystick eines Elektrorollstuhls aufgetaucht wäre.» Seine Arbeitsassistentin Sarah, die ihn schon mehrere Jahre im Büro begleitete, um Torge bei den Dingen zu unterstützen, die er nicht allein konnte, scherzte:

«Ich glaube, Dir ist die Hitze zu Kopf gestiegen, da ist nichts. Vielleicht solltest du zum Einschlafen mal weniger Horrorgeschichten hören!» Torge lachte.

«Vermutlich hast du recht, vielleicht bin ich tatsächlich ein wenig dehydriert. Ich hole mir wohl besser gleich bei Herbies Kiosk da vorne eine Cola. »

«Hömma, wat iss denn mit Dir passiert? Bist ja ganz blass. Hasse wieder anne Batterie jelutscht?», fragte Herbert Lehmann, der Kioskbesitzer, als Torge und Sarah vor seinen Tresen rollten. Alle nannten ihn nur Herbie, da er stadtbekannt für seinen altersschwachen und in den Vereinsfarben seines Lieblingsvereins Weitmar 09 blau-weiß lackierten Käfer war.

Herbie fuhr täglich mit dem nicht gerade unauffälligen Oldtimer quer durch die Stadt zur Arbeit, um ihn dann rechtswidrig direkt neben seinem Kiosk im Allerpark zu parken. Sein daraus entstandener Kleinkrieg mit den Ordnungshütern war legendär. Herbie war als gebürtiger Ruhrpöttler ebenso liebenswert wie stur. Ganz Verden hatte sich inzwischen in der

«Park-Frage», wie sie die Zeitung einmal doppeldeutig bezeichnet hatte, mit Herbie solidarisiert, was bei den Ordnungshütern zu einem Grundsatzproblem führte.

«Ich glaube, ich habe schon Halluzinationen, aber vermutlich nur zu wenig getrunken!», antwortete Torge gedankenverloren.

«Gibst Du mir eine richtig kühle Cola?»

«Gern! Geht auf‘s Haus!» Torge trank gierig den ersten großen Schluck, an dem er sich prompt verschluckte, sodass er zu husten begann.

«Immer schön langsam!», hörte er den Kiosker von hinten rufen.

Wie Herbie mit seinem Laden je auf einen grünen Zweig kommen wollte, blieb für Torge ein Rätsel.

Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Herbie seine Ware verschenkte. Herbie hatte einfach ein zu großes Herz. Normalerweise reagierte Torge auf Einladungen dieser Art allergisch, weil er es hasste, wenn man ihm mit Behindertenbonus oder gar Mitleid kam. Bei Herbie wusste er, dass er es bei jedem so gemacht hätte, er konnte nicht anders. Und deswegen liebten ihn die Menschen in Verden. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte die «Park-Frage» ein ungeahntes Ausmaß angenommen: Herbie und die Bürger Verdens gegen städtische Bürokratie.

«Alles in Ordnung!», riefen der Rollstuhlfahrer und seine Assistentin wie aus einem Mund zurück und nach einem weiteren kühlen Zug, der diesmal problemlos den Weg durch Torges Kehle fand, bat er Sarah, die leere Flasche auf den Tresen zu stellen, um nun den Heimweg anzutreten.

Etwa zehn Minuten später erreichten Sarah und Torge sein neues Zuhause, das er vor kurzem bezogen hatte, eine 82 Quadratmeter große Penthouse-Wohnung mit unverbaubarem Blick auf die Aller und die Verdener Altstadt. Das Haus besaß einen Fahrstuhl und alle Wohneinheiten waren barrierefrei. Die Wohnung des Rollstuhlfahrers verfügte zum ersten Mal in Torges Leben über eine große Küche und ein geräumiges Bad. In dieser Kombination etwas Seltenes. Oft stehen Menschen, die sich rollend durchs Leben bewegen, vor der Entscheidung, ob sie lieber Platz zum Kochen hätten oder ein mit dem Rollstuhl befahrbares Bad. Eine Entscheidung, die bei Torge wegen des Rollstuhls keine war. Aber jetzt Torge hatte dieses Dilemma nicht mehr und war darüber mehr als glücklich.

Diesen neuen Luxus wollte er alsbald mit einem Festessen für seine Freunde feiern.

Schon allein die Vorstellung dieses Abends erzeugte in Torges Kopf angenehme Bilder.

Leider hinderte ihn seine körperliche Einschränkung daran, selbst zu kochen. Er war ein «Brain-Sternekoch», wie seine Freunde gerne liebevoll scherzten. Im Kopf hatte er die feinsten Rezepte parat, umsetzen mussten sie dann aber andere für ihn. Am meisten Spaß hatte Torge daran, sich die Kombination von Zutaten und Gewürzen in Gedanken vorzustellen. Oft glaubte er anschließend sogar, den Geschmack schon auf der Zunge zu haben. Diese Theorie musste dann dank der Hilfe von Torges Assistenzkräften meist direkt in die Praxis umgesetzt werden. Diese Lust am Essen sah man Torge ein wenig an. Sein «Feinkostgewölbe», wie er seinen Bauchansatz liebevoll nannte, war deutlich sichtbar. Schon jetzt gingen ihm die ersten Gedanken durch den Kopf, was es an dem geselligen Abend mit seinen Freunden geben sollte.

Um die Speisenfolge für dieses spontan ersonnene Essen könnte er sich später Gedanken machen, ermahnte er sich selbst, als wie aus dem Nichts wieder das Bild des Steuerpults im Wasser auftauchte. Erstmal würde er sich jetzt einen Kaffee zubereiten lassen. Koffein war so etwas wie Torges «Gedankenbenzin». Nachdem Sarah ihm den Latte macchiato zubereitet und alle weiteren Vorbereitungen getroffen hatte, um Torge für einige Zeit allein lassen zu können, verabschiedete sie sich bis zur nächsten Woche.

Nachdem Sarah gegangen war und er den letzten Schluck Kaffee durch den Strohhalm genüsslich eingesogen hatte, rollte Torge an das Panoramafenster im Schlafzimmer, von dem er einen wunderbaren Blick über Verdens Altstadt hatte. Er liebte es, wenn in den einzelnen Fenstern nach und nach die Lichter eingeschaltet wurden und sich die Hektik des Tages langsam legte. Jedes Licht bedeutete für Torge ein Schicksal, jedes Licht erzählte für ihn eine eigene Geschichte. Jedes Licht stand für Glück, Leid, Hoffnung, Enttäuschung oder einen anderen Teil des menschlichen Lebens. Torge fühlte sich mittendrin, wenn er von oben auf das Geschehen blicken konnte. Plötzlich tauchte wieder diese Vision von der Rollstuhlsteuerung in der Aller vor seinem geistigen Auge auf. Verdammt, ich brauche endlich andere Bilder im Kopf, dachte er.

Torge beschloss, sich für heute Abend einmal richtig zu berauschen. Auch das ging bei Torge, wie so vieles andere, eher geistig als körperlich.

Alkohol vertrug er nicht und von härterem Zeug hatte er besser gleich die Finger gelassen. Torge war ein reiner Kopfmensch, selbst beim Wunsch nach Rauschzuständen. Heute brauchte er die volle Dröhnung. Die Platte von Bob Marleys Auftritt im Rainbow Theatre in London hatte er schon ewig nicht mehr gehört. Er besaß zwar eine Vinyl-Pressung, doch wer sollte das Auflegen ohne Assistenz übernehmen? Zum Glück fand er sie auch in einem der großen Musik-Streamingdienste und konnte sie so ohne fremde Hilfe starten. Das Live-Konzert verfehlte seine Wirkung nicht und für den Rest des Abends dachte Torge nicht mehr an unheilvoll aus dem Wasser auftauchende Gegenstände. Stattdessen waren seine Gedanken zu weißen Sandstränden und Bikini-Schönheiten abgedriftet, bis ihn das Klingeln der nächsten Assistenzkraft an der Haustür in die Realität zurückholte. Die Nachtschicht war gekommen.

Kapitel 2 – Sonntag

Ein viel zu lautes Geräusch weckte Kriminalhauptkommissar Falk Hendrik Osmers aus einem unruhigen Schlaf. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass es sich dabei um sein Smartphone handelte. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte er den Fluch, der ihm auf der Zunge lag. Schließlich lag seine Freundin Marie-Kristin neben ihm. Seufzend setzte er sich auf. Die Uhr im Display des klingelnden Störenfrieds zeigte 04:27 Uhr. Am Sonntagmorgen!

Wehe, wenn das jetzt nicht wichtig ist, dachte Falk und stieß sich zu allem Überfluss beim Aufstehen den großen Zeh am Nachtschrank.

Seinen nicht vollständig unterdrückten Schmerzenslaut beantwortete seine Freundin mit einem leicht genervten Stöhnen. Als Falk die Tür zum Schlafzimmer schloss, atmete er mit hochrotem Kopf tief durch und nahm ab.

«Osmers», meldete er sich noch immer leicht schlaftrunken.

«Herr Hauptkommissar?»

Falk wollte schon: Wer sonst? in den Hörer fragen, biss sich aber auf die Zunge. Stattdessen ratterte die Stimme am anderen Ende jetzt derart schnell und aufgeregt los, dass der Hauptkommissar Mühe hatte zu folgen.

«Hier spricht Kommissarsanwärterin Müller.

Entschuldigen Sie, dass ich um die Zeit störe, aber wir – also Sie haben eine Leiche.»

«Eine was?», rutschte es Falk heraus.

«Ja, Kollege Brinkmann ist schon vor Ort zur Fundortabsicherung.»

«Wo?», fragte Falk, der mit allen Mitteln versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.

«Im Hafen des Wasser- und Schifffahrtsamtes in Verden», hörte er die Antwort der Kommissarsanwärterin.

«Okay, ich komme sofort!», sagte Falk und legte auf.

Um wenigstens etwas menschlich auszusehen und ein bisschen wach zu werden, huschte Falk schnell ins Bad und spritzte sich mit den Händen Wasser ins Gesicht.

Schließlich war dieses Wochenende so gänzlich anders verlaufen, als Marie und Falk es sich vorgestellt hatten. Am Freitag hatte Marie Falk angerufen und ihm gesagt, dass sie es geschafft hätte, sich für das Wochenende an der Klinik in Bielefeld, wo sie seit drei Jahren arbeitete, freizuschaufeln. Außerdem habe sie eine besondere Überraschung für ihn. Als Falk nach diesem Satz schwieg, fügte sie lachend an:

«Nein, keine Sorge! Ich bin noch nicht schwanger.»

Für Falk war das eine gute Nachricht, obwohl dieses eine Wörtchen „noch“ schon seit geraumer Zeit ihre Beziehung belastete. Falk mochte Kinder, wollte auch – irgendwann einmal – welche haben. Nur eben mit Sicherheit nicht jetzt.

Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, fehlte ihm auch die Gewissheit, dass er sie mit Marie-Kristin wollte. Sie hingegen schien es kaum erwarten zu können, endlich Mutter zu werden. Doch dieser Gedanke beschäftigte Falk nur kurz. Er freute sich auf ein langes gemeinsames Wochenende mit Marie. Ein Luxus, der aufgrund der Berufswahl des Paares und der Entfernung der beiden Arbeitsplätze höchst selten war. Es wäre etwas ganz Besonderes zu feiern sagte Marie und so hatte sie für den gestrigen Abend einen Tisch beim angeblich besten Italiener der Region reserviert. Falk war schon skeptisch, da dieser Italiener in Syke war. Wie gerne wäre er zu seinem Lieblingsitaliener nach Achim gefahren. So kam es, wie es kommen musste: Der Seeteufel im Hauptgang war versalzen und die Trüffel-Gnocchi zu kalt. Falk hatte versucht, die Enttäuschung während des Essens mit einem 2018er Roagna Langhe Bianco herunterzuspülen. Dass es diesen edlen Tropfen überhaupt hier gab, war für Falk ein Wunder. So servierte der Kellner die zweite Flasche Wein noch vor dem Tiramisu, das eindeutig aus der Packung stammte, grinste schmierig, was bei dem Preis auch kein Wunder war, als endlich Marie ihm die versprochene Überraschung präsentierte:

«Ich werde nächsten Monat eine neue Stelle bei den Aller-Weser-Kliniken antreten, in der Anästhesie. Meine erste Vollzeitstelle und natürlich besser bezahlt. Ich werde zunächst zwischen den Häusern in Achim und Verden pendeln, so kann ich endlich viel näher bei dir sein. Freust du dich?» Leider stimmte der alte Satz «in Vino Veritas» auch an diesem Abend. Falk konnte sein spontanes Entsetzen nicht ganz verbergen. Sie hatte nie angedeutet, dass sie sich in der Region beworben hatte. Theoretisch freute er sich für sie.

Allerdings nahm mit dieser Entwicklung eine von Marie erhoffte und von Falk in weite Ferne verschobene gemeinsame Zukunft plötzlich eindeutig sehr konkrete Formen an. Er wusste, er hatte falsch reagiert und dafür hasste er sich. Er wusste, er hatte damit Marie verletzt und dafür hasste er sich noch mehr. Marie hatte es – wie immer – klaglos überspielt, anstatt ihm mal richtig die Meinung zu geigen. Und das machte ihn schier rasend. Viel lieber hätte er sich mit ihr gestritten, aber das ließ Marie nicht zu. Falk bestellte zur Beruhigung sicherheitshalber schon einmal die dritte Flasche Roagna, was dem Kellner ein noch fetteres Grinsen ins Gesicht zauberte.

Trotz Falks Fehlreaktion war dann der Rest des Abends doch harmonisch verlaufen. Beide gaben sich alle Mühe, den Vorfall zu überspielen: Falk, weil er sich um Wiedergutmachung bemühte, und Marie, weil sie gar nicht anders konnte. Am Ende hatten sie sich zärtlich und leidenschaftlich geliebt. Es war schöner und lustvoller Sex. Als jetzt Falks Handy klingelte, hatten sie noch keine drei Stunden geschlafen.

Angesichts der Uhrzeit würde der Hauptkommissar ausnahmsweise den Dienstwagen nehmen, obwohl er sonst lieber mit dem Rad fuhr. Zumal sein Rad nicht irgendein Rad war, sondern ein Bugatti aus Regensburg.

Sein alter silbergrauer Dienst-Passat war aber obendrein auch keine Augenweide mehr und hatte inzwischen die eine oder andere Macke.

Beispielsweise fielen regelmäßig am Wagen irgendwelche Lampen aus, sobald das Wetter feuchter wurde und den quietschenden Keilriemen bekam die Werkstatt auch nicht in den Griff. Er schrieb nur noch eine schnelle Notiz für Marie.

«Einsatz. Musste weg», kritzelte er derart schnell und unleserlich auf einen Zettel, dass Falk ernsthafte Zweifel hatte, ob Marie in der Lage sein würde, es zu lesen. Dann stieg er ins Auto und setzte das mobile Aufsatzblaulicht aufs Dach, um bloß nicht in eine Verkehrskontrolle zu geraten, denn fahren hätte er in seinem Zustand definitiv nicht dürfen. Nach gut zwanzig Minuten näherte er sich der Fundstelle. Als er auf der schnurgeraden und sehr langen Bremer Straße unterwegs war, passierte es. Sein linker Scheinwerfer wechselte von Fahrt- unvermittelt auf Standlicht. Na toll, ausgerechnet, wenn Brinkmann am Tatort auf ihn wartet.

Polizeihauptmeister Brinkmann war eigentlich ganz okay, nur mit seiner peniblen „Oberkorrektheit“ übertrieb er es manchmal. Falk wusste aus Gesprächen in der Kaffeeküche, dass er nicht der Einzige war, der sich fragte, ob Brinkmann je lachen oder «fünfe gerade sein lassen» konnte. Wenige Minuten später bog Falk am Fundort ein und Brinkmann schien ihn bereits zu erwarten. Es wirkte, als würde er strammstehen wollen.

Fehlt nur noch, dass er gleich salutiert, dachte Falk im Stillen, öffnete die Wagentür und stieg aus.

Der befürchtete Salut blieb zwar aus, dafür nahm Brinkmann pflichtschuldig die Mütze vom Kopf.

«Was haben wir hier?», fragte Falk und versuchte, einen geschäftsmäßigen, professionellen Ton anzuschlagen.

«Abgesehen vom defekten Frontscheinwerfer und dem schleifenden Keilriemen Ihres eigentlich in diesem Zustand nicht vollständig verkehrstauglichen Dienstfahrzeugs?» Was vermutlich als Eisbrecher zwischen den beiden gedacht war, geriet angesichts der gestelzten Wortwahl eher zu einer Peinlichkeit.

So was Dämliches kann auch nur Brinkmann einfallen, ging es Falk durch den Kopf.

«Ich wurde wegen eines Toten hierher gerufen!» Falks Ton wurde ungewollt eine Spur lauter und gereizter.

«Selbstverständlich!», gab Brinkmann kleinlaut zurück und setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. «Da vorne! Ich habe schon Licht kommenlassen, damit man mehr sieht.» Knapp fünfzig Meter weiter standen am Rand des Hafenbeckens drei große Scheinwerfer, die das Morgengrauen des anbrechenden Tages vertrieben und viel zu hell wirkten. Als Falk näher herantrat, erkannte er auf den ersten Blick, wer da lag. Das war Hasso Blattner, eine echt große Nummer im deutschen Baugewerbe und eine Verdener Berühmtheit. Bis vor ein paar Jahren, als zur Überraschung vieler die jüngere Tochter anstelle des erstgeborenen Sohnes die Firma übernommen hatte, stand Blattner fast täglich in einer der beiden Ortszeitungen. Eben jene Tochter hatte ihren Vater auch vor nicht ganz vier Tagen als vermisst gemeldet. Falk erinnerte sich trotz seines Schlafmangels und der beginnenden Kopfschmerzen an die Meldung im System. Die Tochter hatte bei den Kollegen ausgesagt, dass sie sich große Sorgen um ihren Vater mache, weil er – so wie sie es formulierte – «immer wieder eine seiner dunkleren Phasen hätte.» Seit zehn Jahren kämpfe er nun schon gegen seine inneren Dämonen. Angefangen habe alles mit einem Bootsunfall in Frankreich, bei dem Blattner seine Frau, ihre Mutter, verloren hatte und in dessen Folge er im Rollstuhl gelandet sei. Irmgard, so der Name der Ehefrau und Mutter, war Hasso Blattners große Liebe und seit dem Unfall sei er zunehmend schrulliger und ungenießbarer geworden.

Weitere Details müsste er sich im Präsidium in der Akte zum Vermisstenfall anschauen. So wie Falk die Sache einschätzte, würde das hier eher die notwendige Routine bei Selbstmord sein. Er fing an, sich zu ärgern, dass die Leiche nicht noch für ein paar Stunden, oder besser noch, bis Montag unentdeckt geblieben war. Falk wandte den Blick nach links und sah sich bestätigt. Die weiße Yacht, die dort lag, trug den Namen »Irmchen». Die Verkleinerungsform des Namens wirkte angesichts der Größe der Yacht allerdings eher unpassend.

Falk fragte Brinkmann:

«Wer hat ihn gefunden?», und hatte dabei Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken.

«Das war Manfred Knudsen, der Hafenmeister.

Er steht da am Tor.»

Brinkmann deutete in eine Richtung.

«Alles klar.»

«Wirklich alles klar Hauptkommissar Osmers?», fragte Brinkmann, «Sie sehen – mit Verlaub – ganz schön derangiert aus und nach Ihrer Fahne zu urteilen, hätten Sie sicher auch nicht fahren dürfen.»

Falk rollte mit den Augen, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte zielstrebig auf Knudsen zu. Brinkmann sah für einen Moment aus wie jemand, den der Lehrer trotz eifriger Meldungen nie drannahm.

Manfred Knudsen war ein großer, breitschultriger Mann mit wasserblauen Augen und einem akkurat gepflegten weißen Bart. Er trug Friesennerz und eine so genannte Wathose, eine grüne, wasserdichte Hose, die in Gummistiefeln endet, wie sie Angler tragen. Seinen Kopf bedeckte eine Elbseegler-Mütze in Marineblau.

Es schien, als wäre dieser Mann von Kopf bis Fuß auf Wasser eingestellt, dachte Falk, als er sich ihm näherte.

«Kommissar Osmers», begann Falk und streckte dem Hafenmeister die Hand entgegen.

«Moin. Knudsen, Hafenmeister und Mädchen für alles hier», antwortete dieser, während er Falks Hand schüttelte.

Obwohl Falk kräftig und durchtrainiert war, fühlte sich seine Hand an, als wäre sie winzig und schlaff.

«Nenn mich Manni, das machen alle hier so. Du kommst wegen Hasso, stimmts?»

«Stimmt» antwortete Falk knapp.

«Hätte mir denken können, dass der selbst im Tod noch Ärger macht», sagte Knudsen mit hörbar norddeutschem Einschlag.

«Inwiefern?»

«Der Alte hatte mehr als einen Spleen, wenn Du mich fragst. Sein Kahn liegt jetzt fünf Jahre hier, ohne dass er einmal an Bord war. Wie denn auch, wenn er selbst in so ’nem Ding saß.» Knudsen machte dabei eine Bewegung, die eine seltsame Mischung aus Steuerrad und Joystick zu sein schien. Falk verstand.

«Trotzdem taucht der Kerl hier ständig auf, unangemeldet und überhaupt einfach so. Fast jede Woche. Um diese Jahreszeit isses besonners schlimm, da ist seine Frau auf See geblieben. Ab und an hat er mich mal zugetextet, wie beschissen doch alles sei. Ich hab‘ dann immer nur gebrummt, denn reden konnt man mit dem ja nich. Der hielt sich für den Mittelpunkt des Universums. Musste so enden.»

«Wie musste es denn enden?», fragte Falk.

«Na, umgebracht hat der alte Gnadderkopp sich doch!» Knudsen bereute seinen Ausbruch augenblicklich und sah zum Himmel, als wolle er um Vergebung bitten. Falk sah ihn fragend an.

«Hat er das Dir gegenüber mal geäußert?» Unbewusst hatte er Knudsen gerade geduzt, aber der reagierte gar nicht darauf.

«Nich so direkt, aber hat oft gefaselt, dass alles keinen Sinn mehr hätte.»

«Wie haben Sie ihn denn zu dieser nachtschlafenden Zeit gefunden?»

«Na, ich geh im Sommer nachts auf Aal. Wenn`s geregnet hat, beißen sie besonders gut. Als ich mich gerade so richtig einrichten wollte, seh ich ihn da mit Rollstuhl im Wasser liegen.» Knudsen machte eine ausschweifende Bewegung Richtung Allerufer, wo der Rolli noch an der Böschung lag.

«Ich bin natürlich gleich rein, hab ihn abgeschnallt und rausgeholt, aber da war er schon mausetot.» Zum Glück war die Sachlage in diesem Fall klar, denn sonst hätte er sich geärgert, dass Knudsen mit seinem Übereifer womöglich alle Spuren vernichtet hätte, dachte Osmers.

«Danke, Sie haben uns sehr geholfen. Wenn ich weitere Fragen habe, wie kann ich Sie erreichen?»

«Ich bin hier der Hafenmeister und jeden Tach hier!» Aber Handy kannste vergessen, das lass ich schön zu Hause. Wenn Du unbedingt anrufen willst, ruf beim Amt für Schifffahrt an und frag nach Manni.»

Mit diesen Worten entschwand der Süßwasser-Seebär und Falk ging zurück zu Brinkmann, der sich in den letzten zehn Minuten keinen Zentimeter bewegt zu haben schien. Als der Schutzpolizist Falk erblickte, fragte er ihn, wie er die Lage einschätzte. Der Hauptkommissar fasste es mit den Worten zusammen:

«Sieht für mich klar nach Selbstmord aus.»

«Dann wird es Sie freuen, dass der Notarzt bereits verständigt ist.», entgegnete Brinkmann.

«Dass Blattner tot ist, kann ja wohl jeder Blinde mit Krückstock sehen», platzte es aus Falk.

Brinkmann antwortete wieder mit Oberlehrerton:

«Sie wissen aber, dass das Protokoll vorschreibt...» Falk winkte ab und sagte seufzend:

«Ja, ja, ich weiß.» Wie aufs Stichwort bog ein Notarzteinsatzfahrzeug um die Ecke und bremste direkt vor den Polizisten. Ein kleiner Mann mit Brille und Vollbart stieg aus einem viel zu großen SUV. «Schubert, diensthabender Notarzt,» stellte er sich vor. «Worum geht es?» In fast entschuldigendem Ton sagte Falk:

«Das Protokoll schreibt die offizielle und formale Feststellung des Todes vor.»

Dr. Schubert nickte verstehend. Er beugte sich über den Toten, fühlte seinen Puls und schloss vorschriftsmäßig noch ein mobiles EKG-Gerät an. Erwartungsgemäß war kein Puls mehr tastbar und die Sinus-Kurve war eine gleichmäßige Gerade, begleitet von einem lauten, penetranten Piepen. Routiniert maß Schubert die Temperatur des Toten, prüfte die Leichenstarre und öffnete die Lider. Wenige Minuten später erklärte Dr.

Schubert wenig überraschend:

«Der Mann ist tot, kein Zweifel. Der Tod ist irgendwann vor mindestens 48, höchstens aber 72 Stunden eingetreten. Auf den ersten Blick sieht es nach Ertrinken aus.» Damit war Hasso Blattner jetzt auch für die deutsche Bürokratie verstorben.

Kapitel 3

Mittlerweile war es beinahe 10:00 Uhr und Falk hatte einen Bärenhunger. Gegen 9:00 Uhr hatte er Marie eine SMS geschrieben:

«Neuer Fall, prominentes Opfer, komme gleich nach Hause, muss aber später nochmal weg. Freu mich auf Dich. Kuss F.»

Falk schämte sich für die Nüchternheit seiner auf den Zettel geschmierten Nachricht aus den frühen Morgenstunden. Mit diesem unguten Gefühl erreichte Falk die Haustür des kleinen Hauses, dass er seit seinem Amtsantritt in Verden bewohnte. Es lag wunderschön auf dem Land bei Cluvenhagen an der alten Aller und war eigentlich das Brothaus des üppigen Anwesens seines Vermieters. Er schloss die Eingangstür auf und rief nach Marie. Diese antwortete ihm fröhlich aus dem Wohnzimmer.

«Bin am Esstisch!»

Falk ging zu ihr, nahm sie von hinten in die Arme und küsste sie auf die Stirn. Marie-Kristin drehte ihren Kopf zu Falk und küsste ihn mit einem Resthauch der nächtlichen Leidenschaft auf den Mund.

«Magst du einen Kaffee?»

«Ja, den kann ich jetzt gut gebrauchen!», antwortete Falk mit einem Lächeln.

«Moment», entgegnete Falks Freundin fröhlich und war auch schon in die Küche entschwunden.

Einige Minuten später kehrte sie an den Tisch zurück, in der einen Hand eine dampfende Tasse Kaffee, in der anderen einen Teller mit einem frischen Croissant, bestrichen mit wundervoller Erdbeerkonfitüre, die sie selbst eingemacht hatte.

So frühstückte Falk sonntags am liebsten. Er trank einen Schluck Kaffee und biss herzhaft in sein Croissant. Ein Konfitüretropfen lief über seinen Handrücken. Wenn er jetzt nicht aufpasste, würde er auf dem Boden landen. Genau in diesem Moment klingelte sein Handy und der Konfitüre-Tropfen fand unaufhaltsam den Weg auf den Teppich. Nicht mein Tag, dachte Falk, als er im Display die Nummer aus Hannover las.

Falk ging ran, während er kaute und schluckte.

«Osmers», meldete er sich, was aber eher wie „Ofmerf“ klang.

«Rottemöller hier», schrie es Falk aus dem Hörer entgegen. «Wo sind Sie, Osmers?

Falk schluckte den noch nicht ganz fertig gekauten Bissen hastig hinunter und brauchte drei Versuche, bis seine Kehle endlich frei war.

«Sind Sie noch da?», krakeelte es Falk aus dem Handy entgegen.

«Ja selbstverständlich»

Er sah in Gedanken den Kriminaldirektor Hermann Friedrich von Rottemöller vor sich. Der kleine, glatzköpfige und etwas dickliche Mann hatte drei Markenzeichen: Er trug Maßanzüge mit Fliege, litt unter hohem Blutdruck, was man ihm meist am Gesicht ansah und was auch zu einer stetigen Ungeduld führte, und er war Fan von Hannover 96.

«Wo sind Sie denn?»

Falk ahnte, dass es jetzt wichtig war, richtig zu antworten. Nur, was war in diesem Fall richtig?

Falk hatte den Kriminaldirektor noch nie persönlich kennengelernt. Die Geschichten, die er gehört hatte, ließen ihn allerdings erahnen, warum Rottemöller unter den Kollegen nur „Rottweiler 96“ genannt wurde.

«Schönen Mist haben Sie da am Hals mit der Promi-Leiche», ließ Rottemöller Falk wissen.

«Woher...», platzte es aus Falks Mund, noch bevor er nachdenken konnte.

«Woher ich davon weiß?»

Der Kriminaldirektor sprach jetzt so laut, dass Falk das Telefon weiter vom Ohr entfernt halten musste.

«Ich habe meine Quellen, mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Aber nochmals: Wo sind Sie?» Der Kriminalhauptkommissar dachte kurz an eine Notlüge, entschied sich dann aber dagegen:

«Ich bin nur kurz nach Hause, um mir etwas anderes anzuziehen und einen Happen zu essen.»

«Sie sind WO?»

Das letzte Wort hatte Rottemöller derart laut in den Hörer gebrüllt, das Falk glaubte, den Widerhall aus Hannover direkt zu hören. Noch bevor er Luft holen konnte, machte der Kriminaldirektor am anderen Ende der Leitung in gleicher Lautstärke weiter.

«In Fällen wie diesem gibt es kein Wochenende und kein Privatleben!

Mensch Osmers!»

Das klang wie aus dem Lehrbuch fürs Phrasenschwein in einem Talk zur Bundesliga, nur eben für Polizisten.

«Ich erwarte Sie in einer halben Stunde in Ihrem Büro. Von dort aus rufen Sie mich an. Wir müssen die Pressemitteilung abstimmen. Und eine Besprechung mit Ihrem Team setzen Sie für heute besser auch noch an! Sie sind mir verantwortlich, versauen Sie es bloß nicht. Ich habe ein Auge auf Sie!» Mit diesen Worten schmiss der Kriminaldirektor den Hörer auf die Gabel. Falk nahm das Handy vom Ohr und starrte noch einen Moment darauf.

Er wusste, dass ihm von Rottemöller nicht wohl gesonnen war, obwohl sich beide bewusst noch nie begegnet waren. Dazu reichte allein die Tatsache, dass Falk vor seiner Polizeilaufbahn Fußballprofi bei Eintracht Braunschweig gewesen war, bis ein tragisch-peinliches Foul vom eigenen Torwart seine Karriere ad hoc beendet hatte.

Falk steckte das Handy weg. Als er aufsah, stellte er fest, dass Marie den Raum verlassen hatte. Er fand sie im Schlafzimmer zusammengerollt auf dem Bett liegend. Als er sich neben sie setzte, hob sie den Kopf und lächelte ihn an, aber die Tränenspuren verrieten ihm ihre wahren Gefühle.

«Komm, wir frühstücken erst einmal in Ruhe zu Ende, aber dann muss ich leider los», flüsterte Falk ihr ins Ohr und küsste sie wie zur Bekräftigung seiner Worte zart in den Nacken.

Dann nahm er doch noch einmal das Handy heraus und schaltete es aus. Wenigstens für die Dauer des Frühstücks sollte Marie seine ungeteilte Aufmerksamkeit genießen können.

90 Minuten später zog er sich mit doppelt schlechtem Gewissen seine Jacke an, um zu gehen. Er wusste, jetzt hatte er beide enttäuscht:

Marie, weil er heute sicher keine Zeit mehr für sie fand, und von Rottemöller, weil der sicher schon seit über einer Stunde vergeblich auf seinen Anruf wartete. Letzterer war ihm offen gesagt völlig egal. Was diesem Vogel mit seinem manischen Fußballfanatismus einfiel? Man erzählte sich sogar, dass er einmal die ganze Kantine zusammengebrüllt habe, weil der Koch Vanillepudding mit Blaubeeren als Nachtisch servierte! «Blau-Gelb! Blau-Gelb!», soll er geschrien haben, ob der Koch wohl wisse, wo er hier sei, «Hannover, 96er Revier, hier gibt es kein Blau-Gelb!»

Für Falk war Rottemöller ein Idiot mit Kleinmannsyndrom – übrigens nicht nur für Falk, aber das nutzte ihm jetzt nichts.

Falk setzte das Blaulicht auf das Dach des Dienstwagens und machte sich auf den Weg in sein Büro. Auf der Fahrt gab er Vollgas und dank Blaulicht und Martinshorn erreichte er sein Ziel in weniger als einer Viertelstunde. Er parkte schief und hastete in sein Büro. Noch bevor er die Tür öffnete, hörte er bereits das Telefon klingeln.

Er griff mit nach vorn gebeugtem Oberkörper über den Schreibtisch, bekam den Hörer zu fassen und warf dabei einen Aktenstapel um, der wie in Zeitlupe zu Boden rutschte. Einige der Aktendeckel klappten auf, sodass sich deren Inhalt quer über das Büro verteilte.

«Osmers», meldete sich Falk abgehetzt ins Telefon. Doch er hörte nur noch das Freizeichen.

Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Brinkmann bereits damit beschäftigt war, die Unterlagen vom Boden aufzusammeln und sie wieder in die korrekten Akten einzuordnen.

«Tut mir leid!», stammelte Falk.

«Ist nicht gerade ein Bilderbuch-Sonntag für mich!» Brinkmann sah ihn an und lächelte mitfühlend.

«Kenne ich. Deshalb habe ich auch mein Bestes bei Rottemöller gegeben. Der ist, sehr vorsichtig formuliert, stocksauer auf Sie.» Falk zuckte gleich zwei Mal innerlich zusammen.

Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, hatte Brinkmann das „von“ im Namen des Kriminaldirektors ignoriert. Außerdem hastete er zu seiner Jacke, um das Handy auf seinen Schreibtisch zu legen. Als er auf das Display sah, schlug er sich die Hand vor die Stirn. Er hatte vergessen, es wieder einzuschalten. Als er das nachholte, sah er nicht nur ein Unwetter heranziehen, aus Hannover würde ihm gleich ein Orkan entgegenwehen.

Acht Anrufe in Abwesenheit, stand da. Acht Mal dieselbe Nummer aus Hannover. Acht Mal Rottemöller.

Na, das kann ja heiter werden, dachte Falk sarkastisch. Gerade als er beschlossen hatte, selbst anzurufen, klingelte sein Telefon wiederum. Er atmete tief durch, ließ es ein weiteres Mal klingeln und nahm den Hörer ab.

Kapitel 4

Ohne jede Begrüßung sagte von Rottemöller in honigsüßem Ton:

«Schön, dass Sie auch mal wieder gedenken, Ihren Dienst zu versehen.» Seine Stimme troff vor Sarkasmus.

«Seien Sie froh, dass Sie Brinkmann haben. Der hat mich auf dem Laufenden gehalten. Aber, ich habe Sie zig Mal angerufen.

WO WAREN SIE?»

Rottemöller war mit jedem seiner Worte lauter geworden, so schrie er die Worte dieser Frage derart laut, dass Falk versucht war, das Gespräch vom anderen Ende des Raumes fortzusetzen.

«Familiärer Notfall», stammelte Falk.

Rottemöller schnaubte nur, was Falk fast unangenehmer war als eine seiner Schimpftiraden von heute Morgen. Doch dann lief Rottemöller zur Hochform auf:

«Osmers, Osmers, was soll ich nur mit Ihnen machen. Was genau haben Sie an: In Fällen wie diesen gibt es kein Privatleben, nicht verstanden?

WENN ICH KÖNNTE, WIE ICH WOLLTE.

Ach, lassen wir das, daraus werde ich zu gegebener Zeit Konsequenzen ziehen! Wir müssen diese gottverdammte Pressemitteilung abstimmen. Eine gute Pressemitteilung ist das A und O am Anfang eines Falles. Wir müssen unbedingt die Kontrolle übernehmen und das auch zeigen. Was haben Sie?» Falk atmete tief durch und begann in aufgesetzter Monotonie mit seiner Zusammenfassung:

«Für mich sieht es nach eindeutigem Selbstmord aus. Wir haben die Vermisstenanzeige der Tochter, in der sie bestätigt, dass ihr Vater depressiv mit suizidalen Tendenzen war.»

«Erzählen Sie mir was Neues!», unterbrach Rottemöller den Kommissar schroff.

«Ich war noch nicht fertig!», entgegnete Falk und hatte hörbar Mühe, seine Stimme zu kontrollieren.

«Schon gut! Und jetzt machen Sie endlich weiter.»

Rottemöller schrie fast schon wieder.

Falk blickte zum Himmel und rollte mit den Augen. Brinkmann, der inzwischen gegenüber von Falk Platz genommen hatte, schob ihm einen Schoko-Erdnuss-Riegel hinüber und lächelte mitfühlend. Falk fuhr fort.

«Der Notarzt, der den Tod von Hasso Blattner bescheinigt hat, geht von Ertrinken aus, und laut Aussage des Hafenmeisters war das Opfer um diese Jahreszeit besonders anfällig für depressive Gedanken. Der Todestag seiner Frau, Sie wissen schon...»

«Ja, ich weiß!»

Bei diesem Satz klang die Stimme des Kriminalrats zum ersten Mal während dieses Telefonats etwas milder.

Übergangslos fragte Rottemöller ins Telefon:

«Irgendwas, was gegen die Selbstmordthese spricht?»

«Bislang nicht!», antwortete Falk wahrheitsgemäß.

Ein typisches Geräusch einer Sessel-Sitzfläche aus dem Telefonhörer verriet, dass der Kriminaldirektor sich in diesem Moment entspannt zurücklehnte. Falk sah ihn in Gedanken vor sich: Beide Zeigefinger unter dem Kinn in klassischer Denkerpose.

«Gut,» antwortete Rottemöller. «Dann gehen wir mal von Selbstmord aus. Aber vermeiden Sie in der Pressemitteilung jegliche Festlegung. Wir ermitteln selbstverständlich in alle Richtungen.»

«Selbstverständlich, Herr von Rottemöller. Ich werde jetzt mit dem Kollegen Brinkmann zur Familie fahren. Sollten sich auch dort Bestätigungen für unsere bisherigen Annahmen finden lassen, sende ich Ihnen die Pressemitteilung noch heute Mittag zur Absprache.»

«Okay, aber Gnade Ihnen vor dem Polizeihund, wenn Sie noch einmal nicht erreichbar sind.» Mit diesem Satz legte Rottemöller auf.

Falk sah Brinkmann an, der inzwischen fein säuberlich alle bisherigen Informationen auf einem Flipchart zusammengetragen hatte.

«Mensch Brinkmann, wenn ich Sie nicht hätte.

Kommen Sie mit, wir müssen es den Angehörigen jetzt mitteilen.» Und so machte sich Falk zusammen mit Brinkmann in seinem alten Passat auf den Weg zur Villa der Familie Blattner.

Während der Fahrt fummelte Brinkmann ständig im Fußraum an seinen Schuhen rum.

«Mann Brinkmann, Sie machen mich nervös, was machen Sie denn da?», stauchte Falk ihn zusammen.

«Ich habe noch lauter Dreck vom Tatort an den Schuhen, so kann ich mich bei Blattners doch nicht blickenlassen», versuchte Brinkmann sein Verhalten zu erklären.

«Na toll und schmieren mir hier das Auto voll?»

«Nein, mitnichten», antwortete Brinkmann beleidigt und zog ein ehemals weißes, handtuchgroßes, geblümtes Taschentuch hervor.

Die Villa befand sich am Allerufer / Ecke Strukturstraße. Das zweigeschossige Herrenhaus wirkte ausgesprochen imposant. Es gab ein riesiges zweiflügeliges geschmiedetes Eingangstor mit Gegensprechanlage. Falk meldete die beiden Beamten an und wie von Geisterhand öffnete sich langsam das Tor. Falk und Brinkmann gingen eine lange, leicht ansteigende Einfahrt zum Eingangsportal hinauf und der weiße Marmorkies knirschte bei jedem Schritt unter ihren Schuhen. Die schwere dunkle Eingangstür aus Eiche hatte statt einer Klingel einen riesigen Löwenkopf als Türklopfer.

Falk betätigte den schweren Türklopfer und konnte die Schritte, die unmittelbar hinter der Tür zu hören waren, fast körperlich spüren. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Das hasste er an seinem Job. Todesnachrichten zu überbringen, war immer schwer und nie wusste man, wie die Nachricht aufgenommen werden würde. Wurde der Tod schon erwartet? Immerhin wurde Hasso Blattner ja bereits seit Freitag vermisst. Oder warf es den Empfänger schlichtweg aus der Bahn? Dies war mit Abstand der Moment, den Falk an seinem Beruf am meisten hasste, da ging es ihm wie fast allen Polizisten auf der Welt.

Die Tür öffnete sich und eine hübsche, freundliche Frau in den Dreißigern lächelte sie an. Falk hatte schon während des Klingelns seinen Dienstausweis aus der Tasche gefingert, eine Angewohnheit, die er sich zu Eigen gemacht hatte, nachdem er einmal, gerufen zu einer nächtlichen Streitschlichtung, an der Haustür ohne Vorwarnung frontal niedergeschlagen worden war. Er hielt ihn der Dame in Augenhöhe entgegen. Die stutzte, errötete leicht, schlug sich die Hand vor den Mund und rief dann sofort durch einen langen Flur ins Haus:

«Frau Blattner, hier stehen zwei Polizisten vor der Tür!»

Sie ist also nur eine Angestellte des Hauses, mutmaßte Falk und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. Augen zu und durch war Falks Devise, wenn es um die wirklich unangenehmen Dinge im Leben ging. So stürmte er förmlich Eva Blattner, der Tochter des Verstorbenen, in die Arme, die genau in diesem Moment in den Flur trat.

Sie war eine äußerst attraktive Frau um die vierzig. Frau Blattner trug komplett schwarz. Nur der teure, aber sehr geschmackvolle goldene Schmuck verriet, dass sie dies wohl nicht in Vorwegnahme der nun folgenden Nachricht angezogen hatte, sondern weil es ihr einfach fantastisch stand und ihre beneidenswert gute Figur perfekt zu Geltung brachte. Falk stellte sich mit einem hörbaren Kloß im Hals vor. Als er gerade auch Brinkmann vorstellen wollte, musste er feststellen, dass dieser immer noch draußen stand und mit der Hausangestellten sprach. Doch er konnte nun nicht mehr auf ihn warten, denn Eva Blattner fragte ihn sofort:

«Geht es um meinen Vater?» Jetzt schaute er sie ernst an und bemerkte ihre geröteten Augen. Sie musste eben noch geweint haben.

«Sind Sie Eva Blattner?»