Auferstehung - Leo Tolstoi - E-Book

Auferstehung E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

Ein Gutsherr, als Geschworener bei Gericht, erkennt in der angeklagten Prostituierten ein in der Vergangenheit von ihm verführtes Mädchen wieder. Er fühlt sich mitschuldig an ihrem Schicksal und bemüht sich um eine Revision des Urteils. Tolstoi schildert die ganze Unvollkommenheit des damaligen Rechtssystems in Russland. Die Geschichte baut auf einem Gerichtsfall auf, von dem ihn ein Freund erzählt hat. Wie immer flechtet Tolstoi zahlreiche Nebenfiguren und Nebenhandlungen in seine Geschichte ein, sodass ein buntes Gesellschaftsbild der damaligen Zeit entsteht. »Auferstehung« ist nach »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« der dritte und letzte Roman von Leo Tolstoi. Tolstoi schrieb mehr als zehn Jahre an dem Roman. Er wurde 1899 veröffentlicht, zwanzig Jahre nach Anna Karenina. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 762

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Leo Nikolajewitsch Tolstoi

Auferstehung

Vollständige Ausgabe

Leo Nikolajewitsch Tolstoi

Auferstehung

Vollständige Ausgabe

(Воскресение – Woskressenije)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Wilhelm Thal 2. Auflage, ISBN 978-3-954187-38-6

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Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

Vor­wort des ers­ten Her­aus­ge­bers

Vor­wort des Über­set­zers

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Drit­ter Teil -- Epi­log

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Autor und Werk

Leo Ni­ko­la­je­witsch Tol­stoi wird am 9. Sep­tem­ber 1828 in Jas­na­ja Pol­ja­na in eine rus­si­sche Adels­fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren. Weil er früh sei­ne El­tern ver­liert, wird er von ei­ner Tan­te er­zo­gen. Zwi­schen 1844 und 1847 be­sucht er die Uni­ver­si­tät von Ka­san, doch das Stu­di­um der Ori­en­ta­lis­tik und Rechts­wis­sen­schaft bricht er ohne Ex­amen ab. Auch den ur­sprüng­li­chen Plan, in den di­plo­ma­ti­schen Dienst ein­zu­tre­ten, ver­wirft er.

Von den Ide­en Rous­se­aus be­flü­gelt, ver­sucht er das Sys­tem der Leib­ei­gen­schaft auf sei­nen Gü­tern ab­zu­schaf­fen, was ihm je­doch nicht ge­lingt. Nach Jah­ren des Nicht­stuns und an­ge­sichts an­ge­häuf­ter Spiel­schul­den mel­det er sich 1851 frei­wil­lig zum Mi­li­tär­dienst. Er nimmt an den Kämp­fen im Kau­ka­sus und am Krim­krieg teil. Ab 1856 geht er auf zwei grö­ße­re Eu­ro­parei­sen.

Nach sei­ner Hoch­zeit mit der erst 18-jäh­ri­gen So­fia An­dre­jew­na Bers, mit der er 13 Kin­der ha­ben wird, lässt er sich 1862 an sei­nem Ge­burts­ort nie­der und ver­zeich­net ers­te klei­ne schrift­stel­le­ri­sche Er­fol­ge.

Ab 1869 er­lei­det Tol­stoi eine tie­fe Sinn­kri­se, nicht zu­letzt, weil ihm die Wi­der­sprü­che zwi­schen sei­nem ei­ge­nen Le­ben im Wohl­stand und sei­nen po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen un­auf­lös­bar er­schei­nen. Er liest Scho­pen­hau­er, was sei­ne pes­si­mis­ti­sche Gr­und­ein­stel­lung noch wei­ter ver­tieft.

Sei­ne Ar­beit wird zu­neh­mend von ethi­schen und re­li­gi­ösen The­men be­stimmt. Un­ter die­sen Vor­zei­chen ent­ste­hen auch sei­ne großen Ro­ma­ne Krieg und Frie­den (1868/69) und Anna Ka­re­ni­na (1875--1877).

1901 lehnt er den No­bel­preis für Li­te­ra­tur ab, weil ihm in­zwi­schen jede Art von Or­ga­ni­sa­ti­on -- so­gar so­zia­le und kul­tu­rel­le -- su­spekt ist; auch die Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on aus der rus­sisch-or­tho­do­xen Kir­che (er wei­gert sich u.a., die Drei­ei­nig­keit Got­tes an­zu­er­ken­nen) im sel­ben Jahr nimmt er ge­las­sen hin. Im No­vem­ber 1910 ver­sucht er sei­ner zu­neh­mend zer­rüt­te­ten Ehe durch eine heim­li­che Flucht zu ent­kom­men und will künf­tig be­sitz­los und ein­sam le­ben. Auf der Bahn­sta­ti­on von Asta­po­wo stirbt er noch im glei­chen Mo­nat, am 20. No­vem­ber 1910, an ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung.

Drei be­rühm­te Ehe­bre­che­rin­nen kennt die eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur: die deut­sche Effi Briest, die fran­zö­si­sche Ma­da­me Bo­va­ry und die rus­si­sche Anna Ka­re­ni­na. Der Ro­man »Anna Ka­re­ni­na« von Leo N. Tol­stoi wur­de 1875-1877 zur Zeit des rus­si­schen Rea­lis­mus ver­öf­fent­licht. In drei mit­ein­an­der ver­wo­be­nen Hand­lungs­strän­gen wirft Tol­stoi mo­ra­li­sche Fra­gen zur Ehe, zum Ehe­bruch und zur Ge­sell­schafts­ord­nung auf. Die Ti­tel­fi­gur Anna Ka­re­ni­na flüch­tet aus ei­ner freud­lo­sen Ehe mit dem Staats­be­am­ten Ale­xej Ka­re­nin in eine lei­den­schaft­li­che Lie­bes­be­zie­hung zu dem Gra­fen Wrons­kij, die in eine Ka­ta­stro­phe führt.

In sei­nem groß­ar­ti­gen und de­tail­rei­chen Werk dringt Tol­stoi tief in die Psy­che sei­ner Cha­rak­tere ein, ohne zu ver­ur­tei­len oder sie ih­rer Wür­de zu be­rau­ben. So­wohl die Haupt­fi­gu­ren als auch die Ne­ben­fi­gu­ren er­schei­nen als Su­chen­de nach Ant­wor­ten auf die großen Fra­gen des Le­bens. Un­ter Tol­stois Ro­ma­nen gilt Anna Ka­re­ni­na als künst­le­risch voll­kom­mens­ter.

Die Ant­wor­ten, die der Au­tor uns durch den Ver­lauf der Hand­lung gibt, ha­ben nichts End­gül­ti­ges. Sie sind aus sei­ner Zeit her­aus zu ver­ste­hen, doch bleibt es den Le­sern un­be­nom­men, zu an­de­ren Ant­wor­ten zu ge­lan­gen.

»Alle glück­li­chen Fa­mi­li­en sind ein­an­der ähn­lich; aber jede un­glück­li­che Fa­mi­lie ist auf ihre be­son­de­re Art un­glück­lich.« Die­ser ers­te Satz des Ro­mans wird auch als »Anna-Ka­re­ni­na-Prin­zip« be­zeich­net, und hat eben­so wie an­de­re Tei­le des In­halts mehr als 130 Jah­re nach sei­nem Er­schei­nen nicht an Gül­tig­keit ver­lo­ren. »Anna Ka­re­ni­na« gilt mit Recht als ein Klas­si­ker der Welt­li­te­ra­tur.

Da trat Pe­trus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muss ich denn mei­nem Bru­der, der an mir sün­di­get, ver­ge­ben? Ist es ge­nug sie­ben­mal? Je­sus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht sie­ben­mal, son­dern sieb­zig mal sie­ben­mal.(Ev. Matth. 18, 21--22.)

*

Was sie­hest du aber den Sp­lit­ter in dei­nes Bru­ders Auge, und wirst nicht ge­wahr des Bal­kens in dei­nem Auge?(Ev. Matth. 7, 5.)

*

Wer un­ter euch ohne Sün­de ist, der wer­fe den ers­ten Stein auf sie.(Ev. Jo­han­nis 8, 7.)

*

Der Jün­ger ist nicht über sei­nen Meis­ter; wenn der Jün­ger ist wie sein Meis­ter, so ist er voll­kom­men.(Ev. Luc. 8, 40.)

Vorwort des ersten Herausgebers

Es er­füllt den Her­aus­ge­ber von »Kür­sch­ners Bü­cher­schatz« mit be­rech­tig­tem Stol­ze, das groß­ar­ti­ge Werk Leo Tol­stois in W. Thals treff­li­cher Über­set­zung hier­durch zu­erst und in je­der Hin­sicht wei­tes­ten Krei­sen zu­gäng­lich ma­chen zu kön­nen. Es ge­schieht im Ver­trau­en auf die Un­be­fan­gen­heit und die Rei­fe des Le­sers, dem hier ein so voll­stän­dig An­de­res ent­ge­gen­tritt, dass er auch ei­nes an­de­ren Maß­sta­bes und vor al­lem ei­nes frei­en und un­be­fan­ge­nen Blickes be­darf, um dem Un­ge­wöhn­li­chen ge­gen­über den rech­ten Stand­punkt zu ge­win­nen. Tol­stoi schreibt mit der Wahr­heit des großen und lau­te­ren Cha­rak­ters, voll Lie­be für die Mensch­heit, als Ver­tre­ter hei­ligs­ter Sa­che. Er zeigt da­bei, was die Ver­hält­nis­se zu zei­gen ihn zwin­gen, aber nur Bös­wil­lig­keit und Un­lau­ter­keit des Her­zens kön­nen dar­an An­stoß neh­men, kein Ein­sich­ti­ger wird ver­ken­nen, dass ge­ra­de die­se Wege ge­gan­gen wer­den muss­ten, um zu die­sem Ende zu ge­lan­gen. Der Ei­sen­bahn­zug, den der Dich­ter im letz­ten Ka­pi­tel sei­nes Wer­kes den Step­pen Si­bi­ri­ens ent­ge­gen­rol­len lässt, ge­mahnt an den Train, der am Schlus­se ei­nes der ge­wal­ti­gen Rou­gon-Mac­quart-Ro­ma­ne Zo­las füh­rer­los der Gren­ze zu­eilt, aber wäh­rend die­ser sei­ne In­sas­sen si­che­rem Un­ter­gan­ge zu­führt, däm­mert je­nem das er­lö­sen­de Mor­gen­rot der Au­fer­ste­hung ent­ge­gen!

Des Dich­ters Ab­sicht ist, in ei­ner Art von Epi­log auch die letz­ten Ein­zel­hei­ten die­ser Au­fer­ste­hung, zu dem das gan­ze Werk hin­lei­tet, zu be­han­deln. Führt er sie aus, soll auch die­se Ar­beit des rus­si­schen Dich­ters und Apos­tels der Men­sch­lich­keit den Le­sern des Bü­cher­schat­zes nicht vor­ent­hal­ten blei­ben.

Jo­seph Kür­sch­ner.

Vorwort des Übersetzers

Die »Au­fer­ste­hung«, das letz­te Werk bei Gra­fen Leo Tol­stoi, das wir in deut­scher Über­tra­gung dem Pub­li­kum bie­ten, darf wohl als eine Kul­tur­tat un­se­rer Jahr­hun­dert­wen­de be­zeich­net wer­den, und wohl sel­ten hat ein Werk schon vor sei­nem Er­schei­nen so viel Er­re­gung her­vor­ge­ru­fen, wie ge­ra­de die­ses. Selbst das Auf­se­hen, das die »Kreut­zer­so­na­te« vor etwa zehn Jah­ren er­reg­te, ist nicht da­mit zu ver­glei­chen. Noch wäh­rend da­mals die Mei­nun­gen viel­fach ge­teilt wa­ren und vie­le Be­wun­de­rer des Schrift­stel­lers zu den Aus­füh­run­gen des Phi­lo­so­phen und Mora­lis­ten den Kopf schüt­tel­ten, ist man wohl dies­mal in der Be­ur­tei­lung der »Au­fer­ste­hung« so ziem­lich ei­ner Mei­nung, dass Tol­stoi die Welt -- nicht nur sein en­ge­res Va­ter­land -- mit ei­nem Kunst­werk ers­ten Ran­ges be­schenkt hat, das je­der Bü­cher­samm­lung zur höchs­ten Ehre ge­reicht, Selbst der hei­kle Stoff kann nichts dar­an än­dern, denn nur die drin­gends­te Not­wen­dig­keit hat den Dich­ter ver­an­lasst, in die Nacht­sei­ten des Le­bens hin­ab­zu­stei­gen, und zu­dem be­han­delt er die hei­kels­ten Din­ge mit ei­nem so sitt­li­chen Erns­te, ei­ner mit größ­ter Wahr­heits­lie­be Hand in Hand ge­hen­den De­zenz,1 die ihn von vie­len sei­ner großen Kol­le­gen un­ter­schei­det! Wie ganz an­ders hät­te Zola, An­nun­zio oder ein deut­scher Na­tu­ra­list den­sel­ben Stoff be­han­delt! Un­se­re ein­sichts­vol­len Le­ser wer­den es uns Dank wis­sen, dass wir nur ge­rin­ge Mil­de­run­gen vor­ge­nom­men und den Ge­dan­ken des Meis­ters nicht durch sinn­lo­se Strei­chun­gen und Ver­bes­se­run­gen ver­ball­hornt ha­ben! -- Ist doch das Werk Tol­stois eine Meis­ter­schöp­fung, die der Be­wun­de­rung ei­nes Je­den, wür­dig ist, und Be­wun­de­rung er­fasst uns al­lein schon, wenn wir se­hen, wel­che Fül­le von Ge­bie­ten Tol­stoi im Rah­men sei­nes Ro­mans be­han­delt! Alle Ein­rich­tun­gen des staat­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Le­bens wer­den kri­tisch be­leuch­tet und mit un­er­bitt­li­cher Son­de un­ter­sucht; die gan­ze über­fir­niss­te Hohl­heit der vor­neh­men Welt, die un­ver­meid­li­chen Schä­den der rus­si­schen Ge­setz­ge­bung, die im For­mel­kram be­fan­gen, selbst die Re­ha­bi­li­tie­rung ei­nes Un­schul­di­gen nicht zu­lässt, son­dern ihn eher nach Si­bi­ri­en ver­schickt, als einen Feh­ler zu­gibt, die un­mensch­li­che Be­hand­lung der Ge­fan­ge­nen, die­ser blut­ro­te Fa­den, der sich seit Jahr­hun­der­ten durch die Ge­schich­te Russ­lands zieht, die un­ge­rech­te Ver­tei­lung der Gü­ter, die den Bau­ern zum wil­len­lo­sen Skla­ven des Feu­dal­herrn her­ab­drückt und den rus­si­schen Mu­schik trotz der Auf­he­bung der Leib­ei­gen­schaft zum Werk­zeug der »Herr­schaft« macht und in Elend und Knecht­schaft noch auf lan­ge Zeit er­hal­ten wird -- das al­les fin­det in Tol­stoi, der hier die Theo­rie Hen­ry Ge­or­ges zu der sei­nen ge­macht hat, einen lei­den­schaft­li­chen An­klä­ger.

Aber man glau­be nicht etwa, dass der Ver­fas­ser über der Ten­denz das Werk selbst ver­nach­läs­sigt hat. Im Ge­gen­teil! Es ist eine bis in kleins­te De­tail span­nen­de und hoch­in­ter­essan­te Kri­mi­nal­ge­schich­te, der Ro­man ei­ner un­schul­dig zu Zwangs­ar­beit Ver­ur­teil­ten, und man kann sa­gen, dass Tol­stoi, der Sieb­zig­jäh­ri­ge, sich mit die­sem Wer­ke selbst über­trof­fen hat und dass die »Au­fer­ste­hung« so­gar »Krieg und Frie­den« und »Anna Ka­re­ni­na« in den Schat­ten stellt. Trotz al­ler Ein­fach­heit des Stils hat er es ver­stan­den, eine an dra­ma­ti­schen Sze­nen un­end­lich rei­che Hand­lung zu er­fin­den oder viel­mehr nicht zu er­fin­den, denn sei­ne Hel­din ist eine le­ben­de Fi­gur und ihre Ge­schich­te lei­der nur zu wahr, und selbst Alex­an­der Du­mas und Eugè­ne Sue, die­se Meis­ter der »span­nen­den Ef­fek­te«, ha­ben nichts In­ter­essan­te­res und Pa­cken­de­res ge­bo­ten, als die­ses so un­end­lich ein­fa­che und na­tür­li­che Werk. Alle Fi­gu­ren le­ben, sie sind wirk­lich ge­se­he­ne Men­schen, kei­ne ins Über­mä­ßi­ge ver­grö­ßer­te Edel­ge­stal­ten oder ti­ta­nen­haf­ten Schur­ken, wie sie der Ver­fas­ser des »Mon­te Chri­sto« und auch Vic­tor Hugo in sei­nem »Glöck­ner von Notre Dame« schu­fen. Hier ha­ben wir Ty­pen vor uns, die uns je­den Tag auf der Stra­ße be­geg­nen, die uns ge­ra­de dar­um so er­grei­fen und rüh­ren, weil ihre Schick­sa­le, ihre Lei­den und Freu­den uns mensch­lich nahe ge­hen, weil wir sie ver­ste­hen und be­grei­fen, wie sie der Dich­ter ver­stan­den und be­grif­fen hat. Mit die­sem Wer­ke hat sich Tol­stoi -- un­ab­hän­gig von sei­nen frü­he­ren Schrif­ten -- ein un­ver­gäng­li­ches Denk­mal in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te ge­schaf­fen, und hät­te er nichts wei­ter als die »Au­fer­ste­hung« ver­fasst, es wür­de doch auf ihn das Wort des Dich­ters pas­sen:

»Es wird die Spur von sei­nen Er­den­ta­gen nicht in Äo­nen un­ter­ge­hen«

Der Über­set­zer

Fein­ge­fühl, Zu­rück­hal­tung  <<<

Erster Teil

Erstes Kapitel

Ver­geb­lich be­müh­ten sich ei­ni­ge hun­dert­tau­send Men­schen, die auf klei­nem Raum ver­ei­nigt wa­ren, die Erde zu ver­stüm­meln, auf der sie leb­ten; um­sonst er­drück­ten sie die Erde un­ter Stei­nen, da­mit nichts auf­kei­men konn­te; um­sonst ris­sen sie das kleins­te Gras­hälm­chen aus; um­sonst ver­pes­te­ten sie die Luft mit Pe­tro­le­um und Stein­koh­le; um­sonst be­schnit­ten sie die Bäu­me; um­sonst jag­ten sie die Tie­re und Vö­gel fort; der Früh­ling war, selbst in der Stadt, im­mer noch der Früh­ling. Die Son­ne strahl­te; das Gras be­gann wie neu­be­lebt wie­der zu wach­sen, nicht nur auf dem Ra­sen des Bou­le­vards, son­dern auch zwi­schen den Stra­ßen­rinn­stei­nen; die Bir­ken, Pap­peln und Maul­beer­bäu­me ent­fal­te­ten ihre feuch­ten und duf­ten­den Blät­ter; die Lin­den zeig­ten ihre di­cken, fast schon plat­zen­den Knos­pen; die Krä­hen, Sper­lin­ge und Tau­ben ar­bei­te­ten lus­tig an ih­ren Nes­tern; die Bie­nen und Flie­gen summ­ten an den Wän­den und freu­ten, sich, dass die gute war­me Son­ne wie­der­ge­kehrt war. Al­les war lus­tig, die Pflan­zen, die In­sek­ten, die Vö­gel, die Kin­der. Nur die Men­schen fuh­ren fort, sich und an­de­re zu quä­len und zu be­trü­gen. Nur die Men­schen mein­ten, nicht die­ser Früh­lings­mor­gen, nicht die­se himm­li­sche Wel­ten­schön­heit, die zur Freu­de al­ler le­ben­den We­sen ge­schaf­fen war und sie alle zum Frie­den, zur Ein­tracht und Zärt­lich­keit zu­rück­füh­ren soll­te, wäre wich­tig und hei­lig, nein, wich­tig und hei­lig wäre nur das, was sie selbst er­son­nen, um sich ge­gen­sei­tig zu quä­len und zu be­trü­gen.

So wur­de es auch in dem Büro des Gou­ver­ne­ments­ge­fäng­nis­ses nicht für wich­tig und hei­lig er­ach­tet, dass die Freu­de und Won­ne des Früh­lings den Men­schen be­schie­den war, son­dern dass die Be­am­ten die­ses Bü­ros am vo­ri­gen Abend ein mit ei­nem Sie­gel ver­schlos­se­nes, am Kop­fe mit vie­len Num­mern ver­se­he­nes Blatt er­hal­ten hat­ten, das sie an­wies, an dem­sel­ben Mor­gen des 28. April 9 Uhr drei An­ge­klag­te, zwei Frau­en und einen Mann, je­den ge­trennt, nach dem Jus­ti­z­ge­bäu­de zu brin­gen, und zwar be­hufs ih­rer Ab­ur­tei­lung. Die­ser An­wei­sung zu­fol­ge trat am 28. April um 8 Uhr mor­gens ein al­ter Wär­ter in den düs­te­ren und stin­ken­den Kor­ri­dor der Frau­en­ab­tei­lung. So­fort eil­te ihm die Auf­se­he­rin der Ab­tei­lung, ein Ge­schöpf von kränk­li­chem Aus­se­hen, das eine graue Nacht­ja­cke und einen schwar­zen Rock trug, ent­ge­gen und sag­te:

»Sie wol­len die Maslow ho­len?«

Dann ging sie mit dem Wär­ter auf eine der zahl­rei­chen, auf den Kor­ri­dor füh­ren­den Tü­ren zu. Der Wär­ter steck­te mit, lau­tem Klir­ren einen di­cken Schlüs­sel in die Tür, die beim Öff­nen einen noch gräss­li­che­ren Ge­stank aus dem Gan­ge ent­strö­men ließ und rief dann:

»Maslow! Nach dem Jus­ti­z­ge­bäu­de!«

Da­mit schloss er die Tür, blieb un­be­weg­lich ste­hen und war­te­te auf die Frau, die er ge­ru­fen hat­te.

Ei­ni­ge Schrit­te wei­ter, auf dem Ge­fäng­nis­ho­fe, konn­te man eine rei­ne­re und be­le­ben­de­re Luft at­men, die der Früh­lings­wind von den Fel­dern her­ein­trug. Doch in dem Ge­fäng­nis­kor­ri­dor war die Luft drückend und un­ge­sund, es roch nach Teer, Feuch­tig­keit und Fäul­nis, und nie­mand konn­te die­se Luft ein­at­men, ohne so­fort eine düs­te­re Trau­rig­keit zu emp­fin­den. Das fühl­te auch die Auf­se­he­rin der Ab­tei­lung, so sehr sie auch an die­se ver­pes­te­te Luft ge­wöhnt war. Sie kam vom Hofe und ver­spür­te, als sie den Kor­ri­dor kaum be­tre­ten hat­te, ein Ge­misch von Un­be­ha­gen und Mü­dig­keit.

Hin­ter der Tür, im Zim­mer der Ge­fan­ge­nen, herrsch­te große Auf­re­gung; man hör­te Stim­men, Ge­läch­ter und Schrit­te nack­ter Füße.

»Na, vor­wärts, tumm­le dich!«, rief der alte Wär­ter und öff­ne­te von neu­em die Tür.

Ei­nen Au­gen­blick spä­ter kam eine klei­ne, aber wohl­ge­bau­te, jun­ge Frau schnell aus dem Zim­mer. Sie trug einen grau­en Lei­nen­kit­tel über ih­rer Nacht­ja­cke und ih­rem wei­ßen Rock. An den Fü­ßen hat­te sie lei­ne­ne St­rümp­fe und gro­be Ge­fan­ge­nen­schu­he. Ein wei­ßes Tuch be­deck­te ih­ren Kopf und ließ ei­ni­ge Lo­cken sorg­fäl­tig fri­sier­ter schwar­zer Haa­re se­hen. Auf dem gan­zen Ge­sicht der Frau lag jene ei­gen­tüm­li­che Bläs­se, die man nur bei Per­so­nen be­merkt, die sich lan­ge Zeit in ei­nem ge­schlos­se­nen Raum auf­ge­hal­ten ha­ben. Noch um so mehr trat in der mat­ten Bläs­se der Haut der Glanz der bei­den großen, schwar­zen Au­gen her­vor, von de­nen ei­nes ein biss­chen schiel­te; das Gan­ze mach­te den Ein­druck ei­ner freund­li­chen An­mut. Die jun­ge Frau hielt sich sehr ge­ra­de, so dass ihre star­ke Brust her­vor­trat.

Auf dem Kor­ri­dor neig­te sie leicht den Kopf und sah dem al­ten Auf­se­her fest in die Au­gen; dann blieb sie ste­hen und schi­en be­reit, je­dem Be­feh­le zu ge­hor­chen. In­des­sen schick­te sich der Wär­ter an, die Tür wie­der zu schlie­ßen, als sich die­se noch ein­mal öff­ne­te und das düs­te­re Ge­sicht ei­nes al­ten Wei­bes er­schi­en. Das­sel­be hat­te wei­ße Haa­re und war bar­häup­tig. Die Alte be­gann lei­se auf die Maslow ein­zu­spre­chen; doch der Wär­ter stieß sie schnell in die Stu­be zu­rück und schloss die Tür. Nun nä­her­te sich die Maslow ei­nem in der Tür an­ge­brach­ten Guck­fens­ter; und das Ge­sicht des al­ten Wei­bes zeig­te sich so­fort auf der an­dern Sei­te. Man hör­te durch die Tür eine hei­se­re Stim­me:

»Gib acht, und habe vor al­len Din­gen kei­ne Furcht! Leug­ne al­les; hal­t’ dich gut; das ist die Haupt­sa­che!«

»Ah bah,« ver­setz­te die Maslow kopf­schüt­telnd, »eins oder das an­de­re, das ist al­les eins! Es kann mir nichts Schlim­me­res pas­sie­ren, als was ich jetzt habe!«

»Na, ge­wiss ist es eins und nicht zwei,« sag­te der alte Wär­ter, auf sei­ne geist­rei­che Be­mer­kung äu­ßerst stolz. »Na, vor­wärts, fol­ge mir!«

Der Kopf des al­ten Wei­bes ver­schwand von dem Guck­fens­ter, und die Maslow be­trat, mit leich­tem Schritt hin­ter dem al­ten Wär­ter her­ge­hend, den Kor­ri­dor. Sie gin­gen die Stein­trep­pe hin­un­ter, an den stin­ken­den, lär­men­den, Sä­len der Män­ne­r­ab­tei­lung vor­bei, wo neu­gie­ri­ge Bli­cke sie auf ih­rem Wege durch die Tür­lu­ken be­ob­ach­te­ten, und ka­men end­lich in das Ge­fäng­nis­bü­ro. Dort stan­den be­reits zwei Sol­da­ten, mit dem Ge­wehr im Arm, die auf die Ge­fan­ge­nen war­te­ten, um sie nach dem Ge­richts­ge­bäu­de zu brin­gen. Der Ak­tu­ar schrieb et­was ein und übergab ei­nem Sol­da­ten ein stark nach Ta­bak rie­chen­des Blatt Pa­pier. Der Sol­dat steck­te es in den Är­me­lauf­schlag sei­nes Man­tels, blin­zel­te sei­nem Ge­fähr­ten, auf die Maslow deu­tend, pfif­fig zu und stell­te sich zu ih­rer Rech­ten, wäh­rend der an­de­re Sol­dat auf die lin­ke Sei­te trat. So ver­lie­ßen sie das Büro, gin­gen durch den äu­ße­ren Hof des Ge­fäng­nis­ses, durch­schrit­ten das Git­ter und stan­den bald auf dem Stra­ßen­pflas­ter der Stadt.

Die Kut­scher, La­den­be­sit­zer, Ar­bei­ter und Be­am­te blie­ben un­ter­wegs ste­hen und be­trach­te­ten neu­gie­rig die Ge­fan­ge­ne. Meh­re­re dach­ten kopf­schüt­telnd: »Das kommt vom schlech­ten Le­bens­wan­del, wenn man nicht so brav ist, wie wir!« Auch, die Kin­der blie­ben ste­hen, doch in ihre Neu­gier misch­te sich eine ge­wis­se Angst, und sie be­ru­hig­ten sich kaum bei dem Ge­dan­ken, dass die Ver­bre­che­rin ja von Sol­da­ten be­wacht wur­de, so dass sie nicht mehr scha­den konn­te. Ein Bau­er, der auf der Stra­ße Koh­len ver­kauf­te, trat auf sie zu, mach­te das Zei­chen des Kreu­zes und woll­te dem Wei­be eine Kope­ke ge­ben; doch die Sol­da­ten lit­ten es nicht, weil sie nicht wuss­ten, ob es ge­stat­tet war.

Die Maslow be­müh­te sich, so schnell zu ge­hen, wie es ihre des Ge­hens un­ge­wohn­ten Füße, die von den schwe­ren Ge­fäng­nis­schu­hen noch mehr ge­hin­dert wur­den, ge­stat­te­ten. Ohne den Kopf zu be­we­gen, be­ob­ach­te­te sie die Leu­te, die sie beim Vor­über­ge­hen an­sa­hen, und freu­te sich, der Ge­gen­stand so großer Auf­merk­sam­keit zu sein; sie sog auch mit Be­ha­gen die sanf­te Früh­lings­luft ein, als sie aus der un­ge­sun­den Ge­fäng­ni­sat­mo­sphä­re kam. Als sie an ei­nem Mehl­la­den vor­über­kam, vor dem ei­ni­ge Tau­ben her­um­stol­zier­ten, stieß sie an eine blaue Holz­tau­be mit dem Fuße an. Der Vo­gel flat­ter­te auf und be­rühr­te das Ge­sicht des jun­gen Wei­bes, das den Hauch sei­ner Flü­gel auf ih­rer Wan­ge spür­te. Sie lä­chel­te, stieß aber gleich dar­auf einen Seuf­zer aus, als ihr das Ge­fühl ih­rer trau­ri­gen Lage wie­der in den Sinn kam.

Zweites Kapitel

Die Ge­schich­te der Maslow war höchst all­täg­lich.

Sie war das na­tür­li­che Kind ei­ner Bäue­rin, die ih­rer Mut­ter in ei­nem Schloss beim Vieh­hü­ten half. Die Bäue­rin, die nicht ver­hei­ra­tet war, brach­te je­des Jahr ein Kind zur Welt; und wie es in sol­chem Fal­le oft pas­siert, wur­den die Kin­der so­fort nach der Ge­burt ge­tauft; ihre Mut­ter nähr­te sie nicht, weil sie un­er­wünscht zur Welt ge­kom­men war und ihr bei ih­rer Ar­beit nur läs­tig fie­len; des­halb star­ben die ar­men Klei­nen auch bald vor Hun­ger.

Fünf Kin­der wa­ren schon auf die­se Wei­se da­hin­ge­gan­gen. Alle wa­ren gleich nach der Ge­burt ge­tauft wor­den, die Mut­ter nähr­te sie nicht, und sie wa­ren ge­stor­ben. Das sechs­te Kind, das von ei­nem her­um­zie­hen­den Zi­geu­ner stamm­te, war ein Mäd­chen; des­halb wäre ihr aber doch das­sel­be Schick­sal, wie den fünf äl­tes­ten, be­schie­den ge­we­sen, hät­te es der Zu­fall nicht ge­fügt, dass eine der bei­den al­ten Da­men, de­nen das Schloss ge­hör­te, einen Au­gen­blick in den Kuh­stall trat, um ihre Mäg­de we­gen der Sah­ne, die nach der Kuh schmeck­te, aus­zu­schel­ten. Im Kuh­stall lag die Wöch­ne­rin an der Erde und ne­ben ihr ein schö­nes, le­bens­fä­hi­ges, ge­sun­des Kind. Die alte Dame schalt die Mäg­de, weil sie die Sah­ne so schlecht zu­be­rei­tet und eine Wöch­ne­rin in den Kuh­stall ge­las­sen hat­ten; als sie aber das Kind be­merk­te, ward sie mil­der und er­bot sich so­gar, Pa­ten­stel­le zu ver­tre­ten. Dann emp­fand sie Mit­leid mit dem klei­nen Mäd­chen, ließ der Mut­ter Milch und et­was Geld ver­ab­rei­chen, da­mit sie es näh­ren soll­te, und so blieb das Kind am Le­ben. Da­her nann­ten sie die bei­den al­ten Da­men auch »die Ge­ret­te­te«.

Das Kind war drei Jah­re alt, als sei­ne Mut­ter krank wur­de und starb, und da die alte Groß­mut­ter nichts mit ihm an­zu­fan­gen wuss­te, so nah­men es die bei­den al­ten Da­men zu sich ins Schloss. Es war mit sei­nen großen schwar­zen Au­gen ein au­ßer­ge­wöhn­lich leb­haf­tes und nied­li­ches Kind; und die bei­den Al­ten hat­ten Wohl­ge­fal­len an ihm. Die jün­ge­re der bei­den, die auch die nach­sich­ti­ge­re war, hieß So­phie Iwa­now­na; das war des Kin­des Pate. Die äl­te­re, Ma­rie Iwa­now­na, hat­te mehr An­la­ge zu Stren­ge. So­phie Iwa­now­na putz­te die Klei­ne, brach­te ihr das Le­sen bei und dach­te, eine Gou­ver­nan­te aus ihr zu ma­chen. Ma­rie Iwa­now­na da­ge­gen woll­te eine Magd, eine hüb­sche Kam­mer­zo­fe aus ihr ma­chen; in­fol­ge­des­sen war sie an­spruchs­vol­ler, gab dem Kin­de Be­feh­le und schlug es manch­mal, wenn sie schlech­ter Lau­ne war. So wuchs die Klei­ne un­ter der Ein­wir­kung die­ses Dop­pe­lein­flus­ses auf und wur­de halb eine Kam­mer­zo­fe, halb ein Fräu­lein. Selbst der Name, den man ihr gab, pass­te zu die­sem Zwit­ter­zu­stand; man nann­te sie we­der Kat­ja, noch Ka­ten­ka, son­dern Ka­tu­scha. Sie näh­te, brach­te die Stu­ben in Ord­nung, rei­nig­te die Hei­li­gen­bil­der mit Krei­de, ser­vier­te den Kaf­fee, wusch die sei­ne Wä­sche und durf­te ih­ren Ge­bie­te­rin­nen manch­mal Ge­sell­schaft leis­ten und vor­le­sen.

Man hat­te wie­der­holt um sie an­ge­hal­ten, doch sie hat­te stets Kör­be aus­ge­teilt; ver­hät­schelt, wie sie von dem ru­hi­gen Schloss­le­ben war, fühl­te sie, es wür­de ihr schwer fal­len, mit ei­nem Ar­bei­ter oder ei­nem Die­ner zu le­ben.

So hat­te sie bis zu ih­rem sieb­zehn­ten Jahr ge­lebt. Sie trat in ihr neun­zehn­tes, als ein Nef­fe der bei­den Da­men ins Schloss kam, der schon vor­her einen gan­zen Som­mer bei sei­nen Tan­ten zu ge­bracht. In ihn hat­te sich das jun­ge Mäd­chen wahn­sin­nig ver­liebt. Er war Of­fi­zier und woll­te sich ein paar Tage aus­ru­hen, be­vor er mit sei­nem Re­gi­ment in den Krieg ge­gen die Tür­ken zog. Am drit­ten Tage, am Abend vor sei­nem Fort­gan­ge ver­führ­te er Ka­tu­scha, und zog am nächs­ten Mor­gen fort, nach­dem er ihr einen Hun­der­tru­bel­schein zu­ge­steckt.

Seit die­sem Au­gen­blick wur­de ihr al­les läs­tig; sie dach­te nur noch dar­an, wie sie der Schan­de, die sie er­war­te­te, ent­ge­hen konn­te; selbst ihre Ge­bie­te­rin­nen be­dien­te sie nach­läs­sig und wi­der­wil­lig. Die bei­den al­ten Da­men be­merk­ten ih­ren Zu­stand bald. Ma­ria Iwa­now­na schalt sie ein-, zwei­mal aus; doch schließ­lich sa­hen sie sich, wie sie selbst sag­ten, ge­zwun­gen, »sich von ihr zu tren­nen,« d.h., sie war­fen sie hin­aus. Als sie sie ver­ließ, trat sie als Mäd­chen für al­les bei ei­nem Sta­no­woj1 in Dienst; doch hier konn­te sie nur drei Mo­na­te blei­ben, denn der Sta­no­woj, ein al­ter Mann von über 60 Jah­ren, be­gann ihr schon im zwei­ten Mo­nat den Hof zu ma­chen. Ei­nes Ta­ges, als er sich ganz be­son­ders zu­dring­lich zeig­te, nann­te sie ihn ein Vieh und einen al­ten Teu­fel, und wur­de des­halb we­gen Frech­heit ent­las­sen. Eine an­de­re Stel­lung zu su­chen, dar­an konn­te sie nicht den­ken, des­halb ging sie in Pen­si­on zu ei­ner ih­rer Tan­ten, ei­ner Wit­we, die eine Knei­pe hat­te und au­ßer­dem Heb­am­me war. Ihre Ent­bin­dung ging leicht und glück­lich von stat­ten. Doch die Heb­am­me, die ins Dorf zu ei­ner kran­ken Bäue­rin ge­gan­gen war, steck­te Ka­tu­scha mit dem Kind­bett­fie­ber an. Das Kind, ein klei­ner Jun­ge, wur­de eben­falls krank und in ein Kran­ken­haus ge­bracht, starb aber dort gleich un­ter den Au­gen der Frau, die ihn hin­ge­bracht hat­te.

Ka­tuschas gan­zes Ver­mö­gen be­stand in 127 Ru­beln; 27, die sie sich ver­dient, und den 100 Ru­beln, die ihr ihr Ver­füh­rer ge­ge­ben hat­te. Als sie von der Heb­am­me kam, blie­ben ihr sechs Ru­bel. Die Heb­am­me hat­te ihr für ihre Pen­si­on auf zwei Mo­na­te 40 Ru­bel ab­ge­nom­men; 28 Ru­bel hat­te man für die Auf­nah­me des Kin­des ins Ho­spi­tal be­zahlt; 40 Ru­bel hat­te ihr die Heb­am­me noch als Dar­le­hen ab­ge­nom­men, um sich eine Kuh zu kau­fen; was den Rest von 20 Ru­bel be­traf, so hat­te sie Ka­tu­scha -- sie wuss­te selbst nicht wie -- in un­nüt­zen Ein­käu­fen und Ge­schen­ken aus­ge­ge­ben, so dass sie bei ih­rer Ge­ne­sung ohne Geld da­stand und sich eine Stel­le su­chen muss­te. Sie trat bei ei­nem Forst­hü­ter ein. Die­ser Forst­hü­ter war ver­hei­ra­tet; doch schon am ers­ten Tage be­gann er wie der Sta­no­woj der jun­gen Magd den Hof zu ma­chen. Sei­ne Frau be­merk­te das bald, und als sie ihn ei­nes Ta­ges al­lein mit Ka­tu­scha in ei­nem Zim­mer traf, schlug sie ihr das Ge­sicht blu­tig und schick­te sie fort, ohne ihr auch nur ih­ren Lohn zu be­zah­len. Ka­tu­scha be­gab sich nun in die Stadt zu ei­ner Base, de­ren Mann Buch­bin­der war; der­sel­be hat­te frü­her gut da­ge­stan­den, aber er hat­te sei­ne Kund­schaft ver­lo­ren, war ein Trun­ken­bold ge­wor­den und gab al­les Geld, das ihm in die Hän­de fiel, in der Knei­pe aus. Sei­ne Frau hat­te eine klei­ne Plät­te­rei, mit de­ren win­zi­gem Ver­dienst sie ihre Kin­der er­nähr­te und ih­ren Trun­ken­bold von Mann er­hielt. Sie mach­te Ka­tu­scha den Vor­schlag, ihr Hand­werk zu ler­nen. Doch als das jun­ge Mäd­chen sah, welch’ an­stren­gen­des Le­ben die Wä­sche­rin­nen führ­ten, die bei ih­rer Base ar­bei­te­ten, zö­ger­te sie und wand­te sich we­gen ei­ner Stel­lung als Dienst­mäd­chen an ein Ver­mie­tungs­bü­ro. Sie fand tat­säch­lich eine Stel­lung bei ei­ner ver­wit­we­ten Dame, die mit ih­ren bei­den Söh­nen zu­sam­men leb­te. Noch un­ge­fähr eine Wo­che, nach­dem sie in die­ses Haus ein­ge­tre­ten war, ver­nach­läs­sig­te der äl­tes­te Sohn, ein Gym­na­si­ast der sechs­ten Klas­se, der schon einen An­flug von Schnurr­bart hat­te, sei­ne Stu­di­en, um ihr den Hof zu ma­chen. Die Mut­ter schob alle Schuld auf das hüb­sche Dienst­mäd­chen und entließ sie.

Es bot sich kei­ne neue Stel­lung, und als Ka­tu­scha ei­nes Ta­ges ins Ver­mitt­lungs­bü­ro kam, traf sie dort eine Dame, de­ren Hän­de mit Rin­gen und Arm­bän­dern über­la­den wa­ren. Als die­se Dame die Lage der jun­gen Per­son er­fuhr, gab sie ihr ihre Adres­se und for­der­te sie auf, sie zu be­su­chen. Die Maslow ging zu ihr. Die Dame emp­fing sie sehr lie­bens­wür­dig, re­ga­lier­te sie mit Ku­chen und süßem Wein und hielt sie bis zum Abend fest. Abends sah Ka­tu­scha einen großen Mann mit grau­em Bart und lan­gen grau­en Haa­ren ins Zim­mer tre­ten, der sich so­gleich zu ihr setz­te und mit leuch­ten­den Au­gen und lä­cheln­den Lip­pen sie zu ex­ami­nie­ren und mit ihr zu scher­zen be­gann. Die Dame nahm ihn im Ne­ben­zim­mer einen Au­gen­blick bei­sei­te, dann rief sie sie sel­ber, und sag­te ihr, der alte Herr wäre ein Schrift­stel­ler, er hät­te viel Geld, und wür­de ihr al­les ge­ben, was sie woll­te, wenn sie ihm nur zu ge­fal­len ver­stün­de. Sie ge­fiel ihm tat­säch­lich, und der Schrift­stel­ler gab ihr 25 Ru­bel und ver­sprach, sie oft zu be­su­chen. Die­ses Geld wur­de üb­ri­gens schnell aus­ge­ge­ben; Ka­tu­scha gab einen Teil ih­rer Base als Be­zah­lung für ihre Pen­si­on; für den Rest kauf­te sie sich ein Kleid, einen Hut und Bän­der. Ei­ni­ge Tage dar­auf be­stimm­te ihr der Schrift­stel­ler von neu­em ein Ren­dez­vous, zu dem sie auch kam; er gab ihr wie­der 25 Ru­bel und ver­an­lass­te sie, sich ein­zu­mie­ten. In dem Zim­mer, das der Schrift­stel­ler für sie ge­nom­men, mach­te die Maslow die Be­kannt­schaft ei­nes La­den­kom­mis, ei­nes lus­ti­gen Bur­schen, der in dem­sel­ben Hofe wohn­te. Sie ver­lieb­te sich in ihn, und ge­stand die Sa­che dem Schrift­stel­ler, der sie so­fort ver­ließ; auch der Kom­mis, der ihr erst die Ehe ver­spro­chen, ver­ließ sie bald. Die jun­ge Per­son hät­te gern wei­ter mö­bliert ge­wohnt, doch das wur­de ihr nicht ge­stat­tet, und so kehr­te sie denn zu ih­rer Base zu­rück. Als die­se sie in ei­nem mo­der­nen Klei­de, mit ei­nem schö­nen Hut und ei­nem Pelz­man­tel er­blick­te, emp­fing sie sie ehr­furchts­voll und wag­te gar nicht mehr, ihr vor­zu­schla­gen, in ihre Plät­te­rei ein­zu­tre­ten, sie glaub­te, sie ge­hö­re jetzt ei­ner hö­he­ren Ge­sell­schafts­klas­se an. Was die Maslow üb­ri­gens sel­ber be­traf, so konn­te für sie nicht mehr die Rede da­von sein, in eine Plät­t­an­stalt ein­zu­tre­ten. Sie ging höchs­tens dar­auf ein, sich vor­läu­fig in dem Zim­mer ih­rer Base auf­zu­hal­ten, und be­trach­te­te mit ver­ach­tungs­vol­lem Mit­leid das Zucht­haus­le­ben, das die Wä­sche­rin­nen führ­ten, die da bei drei­ßig Grad Wär­me, bei Win­ter wie Som­mer ge­öff­ne­ten Fens­tern bis zur Er­schöp­fung rie­ben und plät­te­ten.

Die Maslow hat­te sich schon lan­ge Zeit das Rau­chen an­ge­wöhnt, und in der letz­ten Zeit ih­rer Be­zie­hun­gen zu dem Kom­mis hat­te sie im­mer mehr zu trin­ken an­ge­fan­gen, Der Wein übte sei­ne An­zie­hungs­kraft auf sie aus, nicht al­lein, weil er ihr an­ge­nehm schmeck­te, son­dern vor al­lem auch, weil er ihr eine Ablen­kung bot, und die Stim­me des Ge­wis­sens zum Schwei­gen brach­te; denn nüch­tern lang­weil­te sie sich und schäm­te sich oft. Die Maslow hat­te die Wahl zwi­schen ei­ner de­mü­ti­gen­den Dienst­bo­ten­stel­lung, in der sie al­ler Wahr­schein­lich­keit nach die Nach­stel­lun­gen der Män­ner zu er­dul­den hat­te, und ei­ner si­che­ren, ru­hi­gen, vom Ge­setz so­gar ge­schütz­ten Po­si­ti­on.

Sie wähl­te das letz­te­re, und hat­te au­ßer­dem noch die Emp­fin­dung, sie rä­che sich auf die­se Wei­se an dem Fürs­ten, der sie ver­führt, dem Kom­mis und al­len Män­nern, über die sie sich zu be­kla­gen hat­te. Vor al­lem aber lock­te sie -- und das trug haupt­säch­lich zu ih­rem Ent­schlus­se bei -- der Ge­dan­ke, dass sie sich von jetzt ab alle Klei­der be­stel­len konn­te, die ihr ge­fie­len, aus Samt, Fail­le2 und Sei­de, wie auch Ball­klei­der, die Schul­tern und Arme frei lie­ßen. Als sich die Maslow in Ge­dan­ken in ei­nem de­kolle­tier­ten, hell­gel­ben Sei­den­kleid mit schwar­zen Samtauf­schlä­gen sah, konn­te sie der Ver­su­chung nicht län­ger wi­der­ste­hen.

Von die­sem Tage an be­gann für sie die­ses Le­ben be­stän­di­ger Ver­let­zung der gött­li­chen und mensch­li­chen Ge­set­ze, das Hun­dert­tau­sen­de von Frau­en heu­te, nicht al­lein mit der Er­laub­nis, son­dern so­gar un­ter dem tat­säch­li­chen Schut­ze ei­ner für das Wohl­er­ge­hen ih­rer Un­ter­ge­be­nen be­sorg­ten ge­setz­li­chen Macht füh­ren; die­ses her­ab­wür­di­gen­de und un­ge­heu­er­li­che Le­ben, das nach schreck­li­chen Lei­den un­ter neun von zehn Ma­len mit ei­nem vor­zei­ti­gen Ver­fall und Tod en­det.

Die Maslow führ­te die­ses Le­ben über sechs Jah­re. Im sie­ben­ten Jah­re -- sie zähl­te da­mals 26 Jah­re -- voll­zog sich das Er­eig­nis, in­fol­ge­des­sen sie ver­haf­tet wur­de, und das sie nach ei­ner mehr­mo­nat­li­chen Un­ter­su­chungs­haft in Ge­sell­schaft von Ge­schöp­fen, de­ren Be­ruf der Dieb­stahl und Mord war, vor die Ge­schwo­re­nen brach­te.

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Sei­den­ge­we­be mit fei­nen Qu­er­rip­pen; Ripss­ei­de  <<<

Drittes Kapitel

Im Au­gen­blick, da die Maslow in ei­ner Zel­le des Ge­richts­ge­bäu­des auf ei­ner Bank saß und sich die Schu­he von den Fü­ßen zog, die sie sich, auf dem Wege durch die Stadt wund ge­lau­fen, er­wach­te der­sel­be Fürst Di­mi­tri Iwa­no­witsch Nechlu­doff, der sie einst ver­führt hat­te, in sei­nem großen, mit ei­nem wei­chen Dau­nen­kis­sen be­leg­ten Sprung­fe­der­bett. Er rich­te­te sich in sei­nem, ele­gant auf der Brust in Fält­chen ge­leg­ten Hem­de aus hol­län­di­scher Lei­ne­wand, nach­läs­sig auf, zün­de­te sich eine Zi­ga­ret­te an und dach­te dar­über nach, was er am vo­ri­gen Tage ge­tan und was er an die­sem tun woll­te. Er er­in­ner­te sich an den vo­ri­gen Abend, den er bei den Kort­schag­ins zu­ge­bracht. Es war ein sehr rei­ches und sehr an­ge­se­he­nes Ehe­paar, des­sen Toch­ter er nach An­sicht al­ler hei­ra­ten muss­te. Die­se Erin­ne­rung ent­lock­te ihm einen Seuf­zer; dann warf er die Zi­ga­ret­te fort und streck­te die Hand nach ei­nem sil­ber­nen Etui aus, um sich eine zwei­te zu neh­men, doch so­fort be­sann er sich ei­nes an­de­ren, rich­te­te mu­tig sei­nen noch mü­den Kör­per in die Höhe, streck­te sei­ne wei­ßen, mit Haa­ren über­sä­ten Bei­ne aus dem Bet­te und zog sei­ne Pan­tof­feln an. Dann be­deck­te er sei­ne brei­ten Schul­tern mit ei­nem sei­de­nen Schlaf­rock und ging mit schwer­fäl­li­gem, aber doch leb­haf­tem Schrit­te in ein ne­ben dem Schlaf­zim­mer lie­gen­des Toi­let­ten­ka­bi­net.

Hier be­gann er sich zu­nächst sorg­fäl­tig mit ei­nem Pul­ver sei­ne an meh­re­ren Stel­len plom­bier­ten Zäh­ne zu bürs­ten und spül­te sie dann mit ei­nem wohl­rie­chen­den Was­ser aus; dann ging er zu der Mar­mor­toi­let­te und wusch sich mit ei­ner par­fü­mier­ten Sei­fe die Hän­de, wo­bei er mit ganz be­son­de­rem Ei­fer sei­ne lan­gen Nä­gel rei­nig­te und bürs­te­te, hier­auf öff­ne­te er den Hahn der Was­ser­lei­tung und wusch sich Ge­sicht, Ohren und Hals. Da­rauf ging er in ein drit­tes Zim­mer, in wel­chem ein Dusch­ap­pa­rat an­ge­bracht war; der kal­te Was­ser­strahl er­frisch­te sei­nen mus­ku­lö­sen Kör­per, der be­reits Fett an­setz­te. Als er sich mit dem Frot­tier­la­ken ab­ge­trock­net hat­te, wech­sel­te er das Hemd, zog sei­ne Schu­he an, die wie ein Spie­gel leuch­te­ten, setz­te sich vor einen Tru­meau und be­gann mit Hil­fe ei­ner Dop­pel­bürs­te zu­erst sei­nen schwar­zen Bart und dann sei­ne auf dem Schä­del schon recht spär­li­chen Haa­re glatt­zu­strei­chen. Alle Ge­gen­stän­de, die er bei sei­ner Toi­let­te be­nutz­te, Wä­sche, Klei­dungs­stücke. Schuh­werk, Kra­wat­te, Na­deln, Man­schet­ten­knöp­fe, al­les war pri­ma Qua­li­tät, sehr ein­fach, durch­aus nicht auf­fäl­lig, sehr so­lid und sehr teu­er.

Ohne sich zu be­ei­len, be­en­de­te Nechlu­doff sei­ne Toi­let­te; dann be­gab er sich in den Ess­saal, ein lan­ges Ge­mach, des­sen Par­kett­bo­den drei Mann am vo­ri­gen Abend ge­boh­nert hat­ten. In die­sem Ess­zim­mer stand ein un­ge­heu­er großes Büf­fet aus Ei­chen­holz und ein nicht we­ni­ger großer Aus­zieh­tisch, eben­falls aus Ei­che, der mit sei­nen vier breit aus­ge­dehn­ten, ge­schnitz­ten Fü­ßen, die die Form von Lö­wen­klau­en hat­ten, einen et­was fei­er­li­chen Ein­druck mach­te. Auf die­sem Tisch, auf dem eine klei­ne, mit großem Mo­no­gramm ver­zier­te De­cke lag, hat­te man eine sil­ber­ne Kaf­fee­kan­ne mit duf­ten­dem Kaf­fee, eine sil­ber­ne Zucker­scha­le, ein Milchtöpf­chen und einen Korb mit fri­schen Bröt­chen, Zwiebä­cken und Bis­kuits ge­stellt. End­lich lag noch ne­ben dem Ge­deck die Mor­gen­post: Brie­fe, Zei­tun­gen und eine Lie­fe­rung der »Re­vue des Deux Mon­des«. Nechlu­doff schick­te sich an, die Brie­fe zu öff­nen, als durch die auf das Vor­zim­mer füh­ren­de Tür eine di­cke Frau rei­fe­ren Al­ters in schwar­zem Klei­de und ei­ner Spit­zen­hau­be auf dem Kop­fe ins Zim­mer trat. Das war Agrip­pi­na Pe­trow­na, die Kam­mer­frau der al­ten Fürs­tin, Nechlu­doffs Mut­ter, die kurz vor­her in dem­sel­ben Hau­se ge­stor­ben war. Die Kam­mer­frau der Mut­ter war als Haus­häl­te­rin bei dem Soh­ne ge­blie­ben.

Agrip­pi­na Pe­trow­na hat­te sich zu wie­der­hol­ten Ma­len mit Nechlu­doffs Mut­ter län­ge­re Zeit im Aus­lan­de auf­ge­hal­ten; sie hat­te da­her das Auf­tre­ten und die Ma­nie­ren ei­ner Dame. Sie wohn­te seit ih­rer Kind­heit in dem Hau­se Nechlu­doff und hat­te Di­mi­tri Iwa­no­witsch ge­kannt, als er noch »Mi­ten­ko« ge­nannt wur­de.

»Gu­ten Mor­gen, Di­mi­tri Iwa­no­witsch!«

»Gu­ten Mor­gen, Agrip­pi­na Pe­trow­na! Was gib­t’s?«, frag­te Nechlu­doff.

»Da ist ein Brief für Sie. Die Zofe der Kort­schag­ins hat ihn schon vor län­ge­rer Zeit ge­bracht; sie war­tet in mei­nem Zim­mer,« sag­te Agrip­pi­na Pe­trow­na und reich­te ihm mit be­deu­tungs­vol­lem Lä­cheln einen Brief.

»Es ist gut; gleich!«, sag­te Nechlu­doff, den Brief neh­mend. Noch er be­merk­te, dass Agrip­pi­na Pe­trow­na lä­chel­te und zog die Stirn kraus.

Agrip­pi­na Pe­trow­nas Lä­cheln be­deu­te­te, dass sie wuss­te, der Brief käme von der jun­gen Prin­zes­sin Kort­scha­gin, mit der sich ihr Herr, wie sie ver­mu­te­te, ver­hei­ra­ten soll­te, und die­se Ver­mu­tung miss­fiel Nechlu­doff.

»Sa­gen Sie der Zofe, sie sol­le noch war­ten!«

Agrip­pi­na ver­ließ das Zim­mer, nach­dem sie zu­vor eine Tisch­bürs­te wie­der an den rich­ti­gen Platz ge­hängt hat­te.

Nechlu­doff zer­riss das par­fü­mier­te Cou­vert, das ihm Agrip­pi­na Pe­trow­na ge­bracht, und öff­ne­te den Brief, der auf dickem, grau­em Pa­pier mit un­glei­chen Li­ni­en in eng­li­scher Schrift mit spit­zen Buch­sta­ben ge­schrie­ben war.

»Hier­mit er­fül­le ich die Ver­pflich­tung, die ich auf mich ge­nom­men, Ih­nen als Ge­dächt­nis zu die­nen,« las er in die­sem Brie­fe, »und er­in­ne­re Sie dar­an, dass Sie heu­te, am 28. April der Ge­schwo­re­nen­sit­zung bei­woh­nen müs­sen und es Ih­nen in­fol­ge­des­sen ganz un­mög­lich sein dürf­te, mit uns und Ko­los­sow die Ga­le­rie von Z. ... zu be­sich­ti­gen, wie Sie es uns ges­tern mit Ih­rer ge­wöhn­li­chen Leicht­fer­tig­keit ver­spro­chen hat­ten, wenn Sie nicht dem Ge­richt die 300 Ru­bel Stra­fe be­zah­len wol­len, die Sie sich für Ihr Pferd nicht leis­ten. Ich habe ges­tern, als Sie fort­ge­gan­gen wa­ren, gleich dar­an ge­dacht. Ver­ges­sen Sie es also nicht!«

Auf der an­dern Sei­te stand:

»Mama lässt Ih­nen sa­gen, dass Ihr Ge­deck bis zur Nacht für Sie lie­gen bleibt. Kom­men Sie auf je­den Fall, wann es auch sein mag!

M. K.«

Nechlu­doff zog die Stirn kraus. Die­ses Bil­let1 war eine Fort­set­zung des Feld­zu­ges, den die Prin­zes­sin Kort­scha­gin schon seit zwei Mo­na­ten un­ter­nahm, um ihn in im­mer schwe­rer zu lö­sen­de Ban­de ein­zu­schnü­ren. An­de­rer­seits aber hat­te er au­ßer der Un­ent­schlos­sen­heit, die an das Zö­li­bat ge­wöhn­te, nur we­nig ver­lieb­te Män­ner rei­fe­ren Al­ters stets vor der Ehe emp­fin­den, noch einen an­dern Grund, wes­halb er sich, selbst wenn er zur Ehe ent­schlos­sen ge­we­sen wäre, nicht in die­sem Au­gen­blick hät­te ent­schei­den kön­nen. Die­ser Grund hat­te na­tür­lich mit der Tat­sa­che, dass Nechlu­doff Ka­tu­scha vor acht Jah­ren ver­führt und ver­las­sen, nichts zu tun; er dach­te nicht gern dar­an, und nie wäre es ihm in den Sinn ge­kom­men, hier­in ein Hin­der­nis zu sei­ner Hei­rat mit der jun­gen Prin­zes­sin zu su­chen. Der Grund war der, dass Nechlu­doff ge­hei­me Be­zie­hun­gen zu ei­ner ver­hei­ra­te­ten Frau un­ter­hielt, die zu bre­chen er sich al­ler­dings kürz­lich ent­schlos­sen hat­te.

Nechlu­doff war sehr schüch­tern den Frau­en ge­gen­über; und ge­ra­de die­se Schüch­tern­heit hat­te Ma­ria Was­sil­jew­na, der Frau ei­nes Adels­mar­schalls, den Wunsch ein­ge­ge­ben, ihn zu ih­rem Skla­ven zu ma­chen. Sie hat­te ihn tat­säch­lich in eine Liai­son ver­strickt, die Nechlu­doff täg­lich mehr in An­spruch nahm und ihm tag­täg­lich drücken­der wur­de. Noch zu­erst hat­te er der Ver­füh­rung nicht wi­der­ste­hen kön­nen, und spä­ter konn­te er sich, weil er sich ihr ge­gen­über schul­dig fühl­te, nicht ent­schlie­ßen, die Fes­seln zu bre­chen, ohne dass sie da­mit ein­ver­stan­den war. Aber an­statt sich da­mit ein­ver­stan­den zu er­klä­ren, sag­te sie ihm, sie wür­de sich so­fort tö­ten, wenn er sie jetzt, da sie ihm al­les ge­op­fert, im Sti­che lie­ße.

Un­ter Nechlu­doffs Post be­fand sich ge­ra­de an die­sem Mor­gen ein Brief ih­res Gat­ten; der Fürst er­kann­te die Hand­schrift und das Sie­gel. Er er­rö­te­te und emp­fand jene Auf­wal­lung, die er beim Na­hen der Ge­fahr stets ver­spür­te. Doch sei­ne Er­re­gung leg­te sich, als er den Brief ge­öff­net hat­te. Ma­ria Was­sil­jew­nas Gat­te, der Adels­mar­schall des Be­zirks, in wel­chem die haupt­säch­li­chen Be­sit­zun­gen der Fa­mi­lie Nechlu­doff la­gen, schrieb dem Fürs­ten, ge­gen Ende Mai wür­de eine au­ßer­or­dent­li­che Sit­zung des Ra­tes, dem er prä­si­dier­te, ab­ge­hal­ten wer­den; er bit­te ihn, der­sel­ben auf je­den Fall bei­zu­woh­nen und ihm »ein biss­chen be­hilf­lich zu sein«; denn man woll­te zwei sehr erns­te Fra­gen be­ra­ten, die Schul­fra­ge und die der Vi­zi­nal­we­ge,2 und in bei­den Punk­ten dürf­te man sich auf eine leb­haf­te Op­po­si­ti­on von Sei­ten der re­ak­tio­nären Par­tei ge­fasst ma­chen. Die­ser Adels­mar­schall war in der Tat li­be­ral ge­sinnt; mit ei­ni­gen an­de­ren Li­be­ra­len der­sel­ben Art kämpf­te er ge­gen die Re­ak­ti­on, die im­mer stär­ker zu wer­den droh­te; und die­ser Kampf nahm ihn voll­stän­dig in An­spruch, so dass, er nicht ein­mal zu be­mer­ken Zeit hat­te, dass sei­ne Frau ihn hin­ter­ging.

Nechlu­doff er­in­ner­te sich, wel­che Angst er schon so oft durch­ge­macht; er er­in­ner­te sich, wie er sich ei­nes Ta­ges ein­ge­bil­det, der Mann habe al­les ent­deckt und sich auf ein Duell mit ihm vor­be­rei­tet, bei dem er die Ab­sicht ge­habt, in die Luft zu schie­ßen; er durch­leb­te wie­der die schreck­li­che Sze­ne, die er mit der Frau an je­nem Tage ge­habt, als sie in ih­rer Verzweif­lung nach dem Gar­ten ge­stürzt und auf den Teich zu­ge­lau­fen war, um sich dar­in zu er­trän­ken.

»Ich kann jetzt nicht hin­ge­hen und nichts un­ter­neh­men,« dach­te er. Vor acht Ta­gen hat­te er ihr einen Brief ge­schrie­ben, in wel­chem er sich schul­dig be­kann­te und sich zu al­lem be­reit er­klär­te, um sei­nen Feh­ler wie­der gut zu ma­chen, zum Schluss aber sag­te er, ihre Be­zie­hun­gen müss­ten im In­ter­es­se der jun­gen Frau auf im­mer auf­hö­ren. Auf die­sen Brief er­war­te­te er eine Ant­wort, die aber nicht kam. Das Aus­blei­ben der Ant­wort er­schi­en ihm üb­ri­gens als ein gu­tes Zei­chen. Wäre sie nicht auf den Bruch ein­ge­gan­gen, so hät­te sie ihm schon lan­ge ge­schrie­ben oder wäre selbst ge­kom­men, wie sie es schon ein­mal ge­tan hat­te. Nechlu­doff hat­te von ei­nem Of­fi­zier ge­hört, der Ma­ria Was­sil­jew­na den Hof mach­te und der Ge­dan­ke an die­sen Ne­ben­buh­ler be­rei­te­te ihm Qua­len der Ei­fer­sucht. Gleich­zei­tig aber freu­te er sich dar­über, denn er hat­te da­durch die Hoff­nung, sich end­lich von ei­ner ihn drücken­den Lüge be­frei­en zu kön­nen.

Ein an­de­rer Brief, den Nechlu­doff un­ter sei­ner Post fand, war von dem ers­ten In­spek­tor der Gü­ter sei­ner Mut­ter, die jetzt ihm ge­hör­ten. Die­ser In­spek­tor schrieb, Nechlu­doff müss­te um je­den Preis nach sei­nem Gute kom­men, um die Be­stä­ti­gung sei­ner Erb­schafts­rech­te in Empfang zu neh­men, wie auch, um die Fra­ge zu ent­schei­den, in wel­cher Wei­se sei­ne Gü­ter in Zu­kunft ge­lei­tet wer­den soll­ten. Die Fra­ge be­stand dar­in, ob die Gü­ter wei­ter so ge­lei­tet wer­den soll­ten, wie sie es zu Leb­zei­ten der ver­stor­be­nen Fürs­tin wur­den, oder ob man, wie der In­spek­tor es die­ser ge­ra­ten und wie er es jetzt dem jun­gen Fürs­ten riet, nicht bes­ser tat, die Ver­trä­ge auf­zu­lö­sen und den Bau­ern alle Gü­ter, die man ih­nen ver­pach­tet hat­te, wie­der fort­zu­neh­men. Der In­spek­tor be­haup­te­te, die di­rek­te Aus­beu­tung der Gü­ter wür­de be­deu­tend ein­träg­li­cher sein. Er ent­schul­dig­te sich dann, dass er die Ab­sen­dung der Ren­te von 3000 Ru­bel, die dem Fürs­ten zu­kam, et­was ver­zö­gert habe, er wür­de die­se Sum­me mit der nächs­ten Post er­hal­ten; die Ver­zö­ge­rung kam da­her, dass der In­spek­tor die größ­te Mühe von der Welt hat­te, das Geld von den Bau­ern ein­zu­be­kom­men, die ihre Ge­wis­sen­lo­sig­keit so weit trie­ben, dass man, um sie zur Zah­lung zu ver­an­las­sen, sei­ne Zuf­lucht zur Ge­walt neh­men muss­te.

Die­ser Brief war Nechlu­doff gleich­zei­tig an­ge­nehm und un­an­ge­nehm. Er emp­fand es als et­was An­ge­neh­mes, sich als Herrn ei­nes Ver­mö­gens zu wis­sen, das sein bis­he­ri­ges über­traf. An­de­rer­seits da­ge­gen er­in­ner­te er sich, dass er sich in sei­ner ers­ten Ju­gend mit der Groß­her­zig­keit und Ent­schlos­sen­heit sei­nes Al­ters für die so­zio­lo­gi­schen Theo­ri­en von Spencer und Hen­ry Ge­or­ge be­geis­tert hat­te; er hat­te nicht al­lein ge­dacht, er­klärt und ge­schrie­ben, dass die Erde kein Ge­gen­stand in­di­vi­du­el­len Ei­gen­tums sein dür­fe, son­dern hat­te so­gar den Bau­ern ein klei­nes Gut ge­schenkt, das er von sei­nem Va­ter er­erbt, um sei­ne Hand­lun­gen sei­nen Grund­sät­zen an­zu­pas­sen. Jetzt aber, da der Tod sei­ner Mut­ter ihn zum Groß­grund­be­sit­zer ge­macht, hat­te er zwi­schen zwei Ent­schlüs­sen zu wäh­len. Er konn­te ent­we­der auf alle sei­ne Gü­ter ver­zich­ten, wie er es vor zehn Jah­ren bei den 200 Hek­t­aren ge­tan, die er von sei­nem Va­ter er­erbt, oder er konn­te, in­dem er von sei­nen Gü­tern Be­sitz nahm, die Grund­sät­ze, die er einst auf­recht er­hal­ten, still­schwei­gend, aber aus­drück­lich, als falsch und lüg­ne­risch hin­stel­len.

Den ers­ten die­ser bei­den Ent­schlüs­se zu fas­sen, war ihm un­mög­lich, denn sei­ne Be­sit­zun­gen bil­de­ten sein gan­zes Ver­mö­gen. Wie­der in den Dienst zu tre­ten, hat­te er nicht den Mut; und er war zu sehr an sein mü­ßi­ges und lu­xu­ri­öses Le­ben ge­wöhnt, um dar­auf ver­zich­ten zu kön­nen. Dann wäre das Op­fer auch un­nütz ge­we­sen, denn Nechlu­doff fühl­te nicht mehr die Kraft der Über­zeu­gung und die Ent­schlos­sen­heit, die er in der Ju­gend be­ses­sen hat­te.

Doch der zwei­te Ent­schluss, die un­ei­gen­nüt­zi­gen und groß­her­zi­gen Vor­sät­ze, auf die er einst so stolz ge­we­sen, aus­drück­lich zu ver­leug­nen, die­ser Ent­schluss war ihm un­an­ge­nehm, und des­halb be­rühr­te ihn der Brief sei­nes In­spek­tors pein­lich.

Als Nechlu­doff sein Früh­stück be­en­det hat­te, ging er in sein Ka­bi­nett. Er woll­te aus der Vor­la­dung er­se­hen, um wie­viel Uhr er im Ge­richts­ge­bäu­de sein muss­te, und au­ßer­dem hat­te er auch der Prin­zes­sin Kort­scha­gin zu ant­wor­ten. Er ging, um sich in sein Ka­bi­nett zu be­ge­ben, durch sein Ate­lier, wo ein an­ge­fan­ge­nes Ge­mäl­de auf ei­ner Staf­fe­lei stand und ver­schie­de­ne Stu­di­en an den Wän­den hin­gen. Der An­blick die­ses Bil­des, an dem er seit zwei Jah­ren ar­bei­te­te, ohne es vollen­den zu kön­nen, die­ser Stu­di­en und des gan­zen Ate­liers be­leb­te das un­auf­hör­lich stär­ker wer­den­de Ge­fühl sei­ner Ohn­macht, Fort­schrit­te in der Ma­le­rei zu ma­chen, und das Be­wusst­sein sei­nes Ta­lent­man­gels aufs neue. Er schrieb die­ses Ge­fühl al­ler­dings sei­nem über­trie­ben fein ent­wi­ckel­ten künst­le­ri­schen Ge­schmack zu; doch er konn­te sich des Ge­dan­kens nicht er­weh­ren, dass er die Ar­mee vor fünf Jah­ren ver­las­sen hat­te, weil er ein großes Ta­lent als Ma­ler in sich zu ent­de­cken ge­glaubt.

So kam er denn in me­lan­cho­li­scher Ge­müts­ver­fas­sung in sein un­ge­heu­er großes Ar­beits­zim­mer, das mit je­dem mög­li­chen Zier­rat und al­len Be­quem­lich­kei­ten ver­se­hen war. Er schritt auf einen großen Schreib­tisch mit be­schrif­te­ten Schub­la­den zu, öff­ne­te die Schub­la­de, die die Be­zeich­nung »Vor­la­dun­gen« trug und fand dar­in so­fort die An­zei­ge, die er such­te. Die­se An­zei­ge sag­te ihm, dass er um 11 Uhr im Jus­ti­z­ge­bäu­de sein muss­te. Nechlu­doff setz­te sich, schloss die Schub­la­de und be­gann einen Brief, in dem er der Prin­zes­sin sa­gen woll­te, er dan­ke ihr für ihre Ein­la­dung, und hof­fe, am Nach­mit­tag zum Di­ner kom­men zu kön­nen. Nach­dem er aber den Brief ge­schrie­ben, zer­riss er ihn; er war zu in­tim. Der zwei­te, den er schrieb, war zu kühl, fast un­höf­lich, und er zer­riss, ihn wie­der. Er klin­gel­te, und ein La­kai trat in das Zim­mer, ein äl­te­rer Mann, mit erns­ter Mie­ne und ra­sier­tem Ge­sicht, der eine Schür­ze von grau­em Ka­li­ko trug.

»Las­sen Sie mir einen Fia­ker kom­men.«

»So­fort, Ex­zel­lenz!«

»Und sa­gen Sie der Per­son, die noch war­tet, es ist gut, ich dan­ke, und wür­de kom­men.«

»Es ist nicht sehr pas­send,« dach­te Nechlu­doff, »aber ich kann nicht schrei­ben, je­den­falls wer­de ich sie heu­te se­hen.«

Er klei­de­te sich an und trat auf die Freitrep­pe. Der Wa­gen, den er ge­wöhn­lich nahm, ein ele­gan­ter Wa­gen mit Gum­mi­rä­dern, stand be­reits da, und war­te­te, auf ihn. »Ges­tern Abend,« sag­te der Kut­scher, sich halb zu ihm wen­dend -- »wa­ren Sie kaum von dem Fürs­ten Kort­scha­gin weg­ge­gan­gen, als ich an­kam. Der Por­tier mein­te: ›Er ist eben fort.‹«

»So­gar die Kut­scher ken­nen mei­ne Be­zie­hun­gen zu den Kort­schag­ins,« dach­te Nechlu­doff und leg­te sich von neu­em die Fra­ge vor, ob er sich mit der jun­gen Prin­zes­sin ver­hei­ra­ten soll­te oder nicht. Noch im­mer konn­te er sich über die­se Fra­ge nicht ent­schei­den. Zwei Ar­gu­men­te spra­chen zu­guns­ten der Ehe im all­ge­mei­nen. Ers­tens si­cher­te ihm die Ehe mit der ru­hi­gen Be­hag­lich­keit des häus­li­chen Her­des ein an­stän­di­ges, mo­ra­li­sches Le­ben; zwei­tens hoff­te Nechlu­doff vor al­len Din­gen, eine Fa­mi­lie und Kin­der wür­den sei­nem Le­ben ein Ziel ge­ben, dem ein sol­ches jetzt fehl­te. Ge­gen die Ehe im all­ge­mei­nen sprach an­de­rer­seits das Ge­fühl, das wir be­reits er­wähnt, die Furcht, die den Jung­ge­sel­len in ei­nem be­stimm­ten Al­ter die Aus­sicht, ihre Frei­heit zu ver­lie­ren, ein­flö­ßt, so­wie auch die un­be­wuss­te Angst vor dem Ge­heim­nis, das eine Frau­en­na­tur stets um­gibt.

Zu­guns­ten der Ehe mit Mis­sy im be­son­de­ren (Mis­sy war der Beiname, den die jun­ge Prin­zes­sin Kort­scha­gin, de­ren rich­ti­ger Name Ma­rie war, in in­ti­mem Krei­se trug) sprach zu­nächst der Um­stand, dass das jun­ge Mäd­chen aus gu­ter Fa­mi­lie war und sich in al­lem, von ih­ren Toi­let­ten an­ge­fan­gen bis zu der Art und Wei­se, wie sie sprach, ging und lach­te, von den »ge­wöhn­li­chen« Frau­en un­ter­schied, und zwar nicht durch et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches, son­dern durch ihre »Vor­nehm­heit«. Er fand kei­nen an­dern Aus­druck, um die­se Ei­gen­schaft zu be­zeich­nen, auf die er ganz be­son­de­ren Wert leg­te. Das zwei­te Ar­gu­ment be­stand dar­in, dass die jun­ge Prin­zes­sin ihn bes­ser zu schät­zen wuss­te, als sonst je­mand, und ihn bes­ser ver­stand; und ge­ra­de in der Tat­sa­che, dass sie ihn ver­stand, das heißt, sei­ne ho­hen Vor­zü­ge an­er­kann­te, fand Nechlu­doff den Be­weis ih­rer In­tel­li­genz und ih­res si­che­ren Ur­teils. Doch es spra­chen auch sehr erns­te Ar­gu­men­te ge­gen die Hei­rat mit Mis­sy im be­son­de­ren; ers­tens hät­te Nechlu­doff al­ler Wahr­schein­lich­keit nach ein an­de­res jun­ges Mäd­chen fin­den kön­nen, das noch »vor­neh­mer« als Mis­sy war; zwei­tens zähl­te die­se be­reits 27 Jah­re und hat­te wahr­schein­lich schon an­de­re Män­ner ge­liebt. Die­ser Ge­dan­ke aber war eine Qual für Nechlu­doff. Sei­ne Ei­tel­keit konn­te es nicht dul­den, dass das jun­ge Mäd­chen selbst frü­her einen an­dern als ihn ge­liebt hat­te. Al­ler­dings konn­te er nicht ver­lan­gen, sie sol­le im vor­aus wis­sen, dass sie ihm ei­nes Ta­ges im Le­ben be­geg­nen wür­de; doch schon der Ge­dan­ke, sie hät­te einen an­dern Mann vor ihm lie­ben kön­nen, war für ihn eine De­mü­ti­gung. So stan­den die Ar­gu­men­te für und wi­der gleich; und Bu­ri­dan ver­glich sich la­chend mit Bu­ridans Esel. Doch trotz­dem trieb er es ge­nau so wei­ter, wie der Esel und wuss­te nicht, wel­chem der bei­den Heu­bün­del er sich zu­wen­den soll­te.

»Au­ßer­dem kann ich ja, so­lan­ge ich von Ma­rie Was­sil­jew­na kei­ne Ant­wort er­hal­ten habe und die­se An­ge­le­gen­heit nicht be­en­det ist, kei­ne Ver­pflich­tung ein­ge­hen,« dach­te er, und das Ge­fühl der Not­wen­dig­keit, sei­nen Ent­schluss noch hin­aus­zu­schie­ben, mach­te ihm Ver­gnü­gen.

»An all’ das wer­de ich spä­ter den­ken,« sag­te er sich wie­der, wäh­rend sein Wa­gen ge­räusch­los über den As­phalt des Ho­fes des Jus­ti­z­ge­bäu­des roll­te. »Es han­delt sich jetzt für mich dar­um, eine so­zia­le Pf­licht mit der mir ei­ge­nen Sorg­falt zu er­fül­len. Au­ßer­dem sind die­se Sit­zun­gen auch oft sehr in­ter­essant.«

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Viertes Kapitel

Als Nechlu­doff das Ge­richts­ge­bäu­de be­trat, ging es auf den Kor­ri­do­ren schon sehr leb­haft zu. Auf­se­her lie­fen mit Pa­pie­ren hin und her; an­de­re gin­gen mit erns­tem, lang­sa­mem Schrit­te, die Hän­de auf dem Rücken, auf und nie­der. Die Nun­ti­en, die Ad­vo­ka­ten, die An­wäl­te spa­zier­ten hin und her, die Bitt­stel­ler und die auf frei­en Fuß be­las­se­nen An­ge­klag­ten drück­ten sich de­mü­tig an die Wand oder blie­ben war­tend auf den Bän­ken sit­zen.

»Das Be­zirks­ge­richt?«, frag­te Nechlu­doff einen der Auf­se­her.

»Was für eins? Kri­mi­nal oder Zi­vil?«

»Ich bin Ge­schwo­re­ner!«

»Dann han­delt es sich um das Schwur­ge­richt! Das hät­ten Sie gleich sa­gen sol­len! Ge­hen Sie nach rechts und dann links die zwei­te Tür!«

Nechlu­doff trat in die Kor­ri­do­re.

Vor der Tür, die der Auf­se­her ihm be­zeich­net hat­te, stan­den zwei Män­ner in eif­ri­ger Un­ter­hal­tung be­grif­fen. Der eine war ein di­cker Kauf­mann, der je­den­falls als Vor­be­rei­tung auf sei­ne Auf­ga­be tüch­tig ge­ges­sen und ge­trun­ken hat­te; denn er schi­en in sehr lus­ti­ger Ge­müts­ver­fas­sung; der an­de­re war ein Kom­mis jü­di­scher Her­kunft. Die bei­den Män­ner un­ter­hiel­ten sich von den Woll­prei­sen, als Nechlu­doff auf sie zu­trat und sie frag­te, ob sich hier die Ge­schwo­re­nen ver­sam­mel­ten.

»Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind je­den­falls auch ein Ge­schwo­re­ner, ei­ner un­se­rer Kol­le­gen?«, füg­te der bra­ve Kauf­mann lä­chelnd und au­gen­blin­zelnd hin­zu.

»Na, dann wer­den wir zu­sam­men ar­bei­ten,« füg­te, er auf Nechlu­doffs be­ja­hen­de Ant­wort hin­zu. -- »Ba­kla­schoff von der zwei­ten Gil­de,« sag­te er, dem Fürs­ten sei­ne brei­te Hand rei­chend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«

Nechlu­doff nann­te sei­nen Na­men und trat in das Ge­schwo­re­nen­zim­mer.

»Sein Va­ter war beim Kai­ser at­ta­chiert,« mur­mel­te der Jude.

»Er hat Ver­mö­gen?«, frag­te der Kauf­mann.

»Ein schwer­rei­cher Mann!«

In dem klei­nen Ge­schwo­re­nen­zim­mer wa­ren zehn Män­ner aus al­len Le­bens­stel­lun­gen ver­sam­melt. Alle wa­ren eben erst ge­kom­men; die einen sa­ßen, die an­dern gin­gen auf und ab. Man be­trach­te­te sich und knüpf­te Be­kannt­schaft an. Da war ein pen­sio­nier­ter Oberst in Uni­form, an­de­re Ge­schwo­re­ne wa­ren im Geh­rock, im Jackett; ein ein­zi­ger hat­te sei­nen Frack an­ge­zo­gen. Meh­re­re von ih­nen hat­ten ihre Ge­schäf­te im Stich las­sen müs­sen, um ihre Ge­schwo­re­nen­pflicht aus­zuü­ben, und be­schwer­ten sich bit­ter dar­über; da­bei las man aber doch auf ih­ren Ge­sich­tern eine stol­ze Ge­nug­tu­ung und das Be­wusst­sein, eine hohe so­zia­le Pf­licht zu er­fül­len.

Als die ers­te Prü­fung be­en­det war, war man in ein­fa­chen Grup­pen zu­sam­men­ge­tre­ten. Man un­ter­hielt sich vom Wet­ter, von dem früh­zei­ti­gen An­bruch des Früh­lings und den zur Ver­hand­lung kom­men­den Fäl­len. Eine große An­zahl von Ge­schwo­re­nen dräng­te sich da­nach, mit dem Fürs­ten Nechlu­doff Be­kannt­schaft zu ma­chen, denn sie wa­ren au­gen­schein­lich der Mei­nung, er wäre ein her­vor­ra­gen­der Mensch. Nechlu­doff fand das be­rech­tigt und na­tür­lich, wie er es stets bei sol­chem An­lass tat. Hät­te man ihn ge­fragt, warum er sich der Mehr­zahl der Men­schen über­le­gen be­trach­te­te, er wäre au­ßer­stan­de ge­we­sen, dar­auf zu ant­wor­ten, denn sein Le­ben hat­te in der letz­ten Zeit na­ment­lich nichts sehr Ver­dienst­li­ches auf­zu­wei­sen ge­habt. Er konn­te al­ler­dings flie­ßend eng­lisch, fran­zö­sisch und deutsch spre­chen; sei­ne Wä­sche, sein An­zug, sei­ne Kra­wat­ten, sei­ne Man­schet­ten­knöp­fe ka­men stets aus den ers­ten Ge­schäf­ten, und wa­ren stets die teu­ers­ten, die es gab; doch er selbst be­haup­te­te nicht, dass das ge­nü­gend war, um sich als ein hö­he­res We­sen auf­zu­spie­len. Und doch war er von dem Be­wusst­sein sei­ner Be­deu­tung tief er­füllt; er war über­zeugt, dass man ihm die Hochach­tung, die man ihm ent­ge­gen­brach­te, schul­dig war, und die Ver­nach­läs­si­gung der­sel­ben ver­letz­te ihn wie eine Schmach.

Eine Schmach die­ser Art er­war­te­te ihn ge­ra­de im Ge­schwo­re­nen­zim­mer. Un­ter den Ge­schwo­re­nen be­fand sich je­mand, den er kann­te, ein ge­wis­ser Pe­ter Geras­si­mo­witsch -- sei­nen Fa­mi­li­enna­men hat­te Nechlu­doff nie er­fah­ren -- der bei den Kin­dern sei­ner Schwes­ter Haus­leh­rer ge­we­sen war. Die­ser Pe­ter Geras­si­mo­witsch hat­te in­zwi­schen sei­ne Stu­di­en be­en­det und war jetzt Gym­na­si­al­leh­rer. Nechlu­doff hat­te ihn we­gen sei­ner Ver­trau­lich­keit, sei­nes selbst­ge­fäl­li­gen Lä­chelns und sei­ner schlech­ten Ma­nie­ren stets un­aus­steh­lich ge­fun­den.

»Ach, das Los hat Sie also auch ge­trof­fen?«, sag­te er zu Nechlu­doff und trat mit lau­tem La­chen auf ihn zu. »Und Sie ha­ben sich nicht dis­pen­sie­ren las­sen?«

»Nie hat­te ich die Ab­sicht, mich dis­pen­sie­ren zu las­sen,« ver­setz­te Nechlu­doff tro­cken.

»Na, das ist ein schö­ner Zug bür­ger­li­chen Mu­tes. Sie wer­den se­hen, wie Sie un­ter dem Hun­ger lei­den wer­den! Und da­bei kann man we­der schla­fen noch trin­ken!«, fuhr der Pro­fes­sor, noch lau­ter la­chend, fort.

»Die­ser Po­pen­sohn wird bald an­fan­gen, mich zu du­zen!«, dach­te Nechlu­doff, gab sei­nem Ge­sicht einen so düs­tern Aus­druck, als hät­te er eben den Tod ei­nes sei­ner Ver­wand­ten er­fah­ren, und dreh­te Pe­ter Geras­si­mo­witsch den Rücken, um sich ei­ner Grup­pe zu nä­hern, die sich um einen hoch­ge­wach­se­nen, glat­tra­sier­ten, vor­nehm re­prä­sen­tie­ren­den Mann ge­bil­det hat­te, der et­was zu er­zäh­len schi­en. Die­ser Mann sprach von ei­nem Pro­zess, der eben vor dem Zi­vil­ge­richt ver­han­delt wur­de; er sprach da­von, wie ein Mann, der die Sa­che von Grund aus kennt, und nann­te die Rich­ter und Ad­vo­ka­ten bei ih­ren Vor­na­men. Er er­zähl­te un­er­müd­lich, wie ein be­rühm­ter Ad­vo­kat aus St. Pe­ters­burg, der Sa­che eine ganz an­de­re Wen­dung ge­ge­ben, und eine alte Dame, die voll­stän­dig recht hat­te, in­fol­ge sei­ner Tä­tig­keit nun­mehr si­cher ver­lie­ren muss­te.

»Ein ge­nia­ler Mensch!«, rief er, als er von dem Ad­vo­ka­ten sprach.

Man hör­te ihm auf­merk­sam zu; und ein­zel­ne der Ge­schwo­re­nen ver­such­ten, ihre Be­mer­kun­gen an­zu­brin­gen, doch er un­ter­brach sie so­fort, als wüss­te nur er ge­nau, wie es da­mit stän­de.

Ob­wohl Nechlu­doff ver­spä­tet ins Ge­richts­ge­bäu­de ge­kom­men war, muss­te er noch sehr lan­ge in dem Ge­schwo­re­nen­zim­mer blei­ben. Eins der Mit­glie­der des Tri­bu­nals war nicht ge­kom­men, und man war­te­te auf das­sel­be, um die Sit­zung zu er­öff­nen.

Der Prä­si­dent des Schwur­ge­richts war da­ge­gen sehr früh­zei­tig in den Palast ge­kom­men. Die­ser Prä­si­dent war ein großer, di­cker Mann mit lan­gem, grau­em Ba­cken­bart. Er war ver­hei­ra­tet, führ­te aber ein sehr aus­schwei­fen­des Le­ben, und sei­ne Frau tat das­sel­be; sie hat­ten das Prin­zip, sich ge­gen­sei­tig nicht hin­der­lich zu sein. Am Mor­gen die­ses Ta­ges hat­te der Prä­si­dent ein Bil­let von ei­ner Schwei­zer Gou­ver­nan­te er­hal­ten, die frü­her bei ihm ge­wohnt hat­te und auf der Durch­rei­se nach St. Pe­ters­burg ihm schrieb, dass sie ihn zwi­schen drei und sechs Uhr im Ho­tel d’Ita­lie er­war­ten wür­de. Da­her hat­te er es ei­lig, die Ta­ges­sit­zung so schnell wie mög­lich an­fan­gen und schlie­ßen zu kön­nen, um ge­gen sechs Uhr, zu die­ser rot­haa­ri­gen Kla­ra zu ei­len, mit der er im vo­ri­gen Som­mer einen Ro­man an­ge­spon­nen.

Er ging in sein Ka­bi­nett, ver­rie­gel­te die Tür und nahm aus der Schub­la­de ei­nes Schran­kes zwei Han­teln, mit de­nen er zwan­zig Be­we­gun­gen nach vorn, nach hin­ten, nach der Sei­te, nach oben und nach un­ten mach­te; dann beug­te er drei­mal die Knie und hob die Han­teln über den Kopf.

»Nichts stärkt so sehr als die Hy­dro­the­ra­pie und die Gym­nas­tik,« dach­te er und fühl­te mit der lin­ken Hand, an der ein gol­de­ner Ring glänz­te, nach dem Ge­lenk des rech­ten Ar­mes. Er woll­te eben wie­der rol­len­de Be­we­gun­gen ma­chen -- er hat­te sich ge­wöhnt, die­se bei­den He­bun­gen stets vor den et­was lan­gen Sit­zun­gen zu ma­chen, als es an der Tür rüt­tel­te. Es ver­such­te je­mand, sie zu öff­nen. Der Prä­si­dent ver­steck­te schnell sei­ne Han­teln, öff­ne­te die Tür und sag­te: »Ent­schul­di­gen Sie!«

Ei­ner der Rich­ter trat ins Zim­mer, ein klei­ner Mensch mit ecki­gen Schul­tern und trau­ri­gem Ge­sicht, der eine gol­de­ne Bril­le trug.

»Nun! es ist Zeit!«, sag­te er mit schar­fer Stim­me.

»Ich bin be­reit,« ver­setz­te der Prä­si­dent und zog sei­ne Amt­stracht an. »Aber Ma­thi­as Ni­ki­tisch kommt noch im­mer nicht!«

»Er treibt die Ge­wis­sen­lo­sig­keit wirk­lich zu weit,« sag­te der Rich­ter, setz­te sich är­ger­lich und steck­te sich eine Zi­ga­ret­te an.

Die­ser Rich­ter, ein un­ge­wöhn­lich pünkt­li­cher Mensch, hat­te am Vor­mit­tag eine höchst un­an­ge­neh­me Sze­ne mit sei­ner Frau ge­habt, weil die­se das Geld, das er ihr für den Mo­nat ge­ge­ben, zu schnell aus­ge­ge­ben hat­te. Sie hat­te einen Vor­schuss ver­langt, und er hat­te ihn ihr ab­ge­schla­gen; da­her die Sze­ne. Die Frau hat­te er­klärt, un­ter sol­chen Um­stän­den wür­de es kein Es­sen ge­ben, und hat­te ihm vor­her er­klärt, er habe nichts zu er­war­ten. Da­rauf war er fort­ge­gan­gen und fürch­te­te nun, sie kön­ne ihre Dro­hung zur Aus­füh­rung brin­gen, denn er wuss­te, dass sie zu al­lem fä­hig war. »Da soll man ein ta­del­lo­ses und an­stän­di­ges Le­ben füh­ren,« sag­te er sich und be­trach­te­te den Prä­si­den­ten, die­sen von Ge­sund­heit und gu­ter Lau­ne strot­zen­den di­cken Mann, der mit auf­ge­stütz­ten El­len­bo­gen mit sei­nen schö­nen wei­ßen Hän­den die dich­ten und sorg­fäl­tig ge­bürs­te­ten Haa­re sei­nes Ba­cken­bar­tes glatt­strich, um sie zu den bei­den Sei­ten sei­nes ga­lo­nier­ten1 Kra­gens zu le­gen. »Er ist stets hei­ter und zu­frie­den, ich da­ge­gen habe nur Unan­nehm­lich­kei­ten!«

In die­sem Au­gen­blick trat der Ge­richts­schrei­ber ein und brach­te die Ak­ten, die der Prä­si­dent ver­langt hat­te.

»Ich dan­ke Ih­nen,« sag­te der Prä­si­dent und zün­de­te sich eben­falls eine Zi­ga­ret­te an. »Na, mit wel­cher Sa­che wol­len wir an­fan­gen?«

»Nun, mit dem Gift­mord­pro­zess -- wenn Sie die Rei­hen­fol­ge nicht än­dern wol­len!«, ver­setz­te der Ge­richts­schrei­ber.

»Also gut, mit dem Gift­mord­pro­zess,« sag­te der Prä­si­dent, wel­cher an­nahm, das wäre eine sehr ein­fa­che Sa­che, die bis vier Uhr be­en­det sein konn­te, so dass er frei war, zu sei­ner Schwei­ze­rin zu ei­len.

»Ist Breu­er ge­kom­men?«, frag­te er den Ge­richts­schrei­ber, der hin­aus­ge­hen woll­te.

»Ich glau­be, ja!«

»Dann sa­gen Sie ihm, wenn Sie ihn tref­fen, wir fan­gen mit der Gift­mord­af­fä­re an.«

Breu­er war der Staats­an­walt, der in die­ser Schwur­ge­richts­pe­ri­ode die An­kla­ge ver­tre­ten soll­te.

Tat­säch­lich traf ihn der Ak­tu­ar auf dem Kor­ri­dor. Den Kopf vorn­über ge­neigt, mit auf­ge­knöpf­tem Geh­rock, die Ak­ten­map­pe un­ter dem Arm, ging er mit großen Schrit­ten, lief fast, die Ha­cken zu­sam­menschla­gend und in fie­ber­haf­ter Auf­re­gung den Arm be­we­gend.

»Mi­chel Pe­tro­witsch fragt, ob Sie be­reit sind?«, sag­te der Ak­tu­ar, ihn auf­hal­tend.

»Na­tür­lich! Ich bin stets be­reit. Wo­mit wird an­ge­fan­gen?«

»Mit dem Gift­mord!«

»Es ist gut!«, ver­setz­te der Staats­an­walt.

Noch tat­säch­lich fand er durch­aus nicht, dass es gut war, er hat­te die gan­ze Nacht in ei­nem Wirts­haus mit an­dern jun­gen Leu­ten Kar­ten ge­spielt; sie hat­ten einen Ka­me­ra­den fort­be­glei­tet; man hat­te viel ge­trun­ken und bis fünf Uhr mor­gens ge­spielt, so dass der jun­ge Staats­an­walt nicht ein­mal Zeit ge­fun­den hat­te, einen Blick in die Ak­ten des Gift­mord­pro­zes­ses zu wer­fen, der ver­han­delt wer­den soll­te, Der Ak­tu­ar wuss­te das, und ab­sicht­lich hat­te er den Prä­si­den­ten ver­an­lasst, mit die­ser Sa­che zu be­gin­nen, die zu stu­die­ren der Staats­an­walt kei­ne Zeit ge­habt hat­te. Die­ser Ak­tu­ar war ein Li­be­ra­ler, um nicht zu sa­gen, ein Ra­di­ka­ler, was ihn aber nicht hin­der­te, in der Ma­gis­tra­tur mit ei­ner Pen­si­on von 1200 Ru­beln zu die­nen und sich so­gar um einen Staats­an­walts­pos­ten zu be­mü­hen. Breu­er da­ge­gen war kon­ser­va­tiv und ein ganz be­son­ders eif­ri­ger Or­tho­do­xer, wie die meis­ten Deut­schen, die in Russ­land Be­am­te sind; des­halb hat­te der Ak­tu­ar, ab­ge­se­hen da­von, dass er ihm sei­ne Stel­lung be­nei­de­te, noch, eine per­sön­li­che An­ti­pa­thie ge­gen ihn.

»Und die An­kla­ge ge­gen die Skop­zen?«2 frag­te der Ak­tu­ar.

»Ich habe er­klärt, dass die Ver­hand­lung in Ab­we­sen­heit der Zeu­gen un­mög­lich ist,« ver­setz­te der Staats­an­walt, »und wer­de das vor Ge­richt wie­der­ho­len.«

»Was tut das?«

»Un­mög­lich!«, er­wi­der­te der Staats­an­walt, schüt­tel­te den Arm und lief in sein Ka­bi­nett.

Er ver­schob die Kla­ge ge­gen die Skop­zen, nicht we­gen der Ab­we­sen­heit ei­ni­ger un­be­deu­ten­der Zeu­gen, son­dern weil die­ser Fall, wenn man ihn in ei­ner großen Stadt, wo die meis­ten Ge­schwo­re­nen den ge­bil­de­ten Klas­sen an­ge­hör­ten, ver­han­del­te, mit ei­ner Frei­spre­chung aus­zu­lau­fen droh­te; da­her hat­te er sich mit dem Prä­si­den­ten da­hin ver­stän­digt, dass der Fall vor die Ge­schwo­re­nen ei­ner klei­nen Stadt ge­bracht wer­den soll­te, wo die Jury zum großen Tei­le aus Bau­ern ge­bil­det wur­de und die Ver­ur­tei­lung des­halb leich­ter durch­zu­set­zen war.

In­zwi­schen war das Trei­ben auf den Gän­gen noch stär­ker ge­wor­den. Die Men­ge dräng­te sich na­ment­lich vor dem Zi­vil­ge­richts­saal, wo ei­ner je­ner Fäl­le ver­han­delt wur­de, die man ge­wöhn­lich als in­ter­essant be­zeich­net, der­sel­be, von dem die wich­tig tu­en­de Per­sön­lich­keit im Ge­schwo­re­nen­zim­mer so ein­ge­hend ge­spro­chen hat­te. Ohne einen Schim­mer von Ver­stand oder mo­ra­li­schem Recht, aber in streng ge­setz­mä­ßi­ger Wei­se hat­te sich ein Ad­vo­kat des gan­zen Ver­mö­gens ei­ner al­ten Dame be­mäch­tigt. Die Kla­ge der al­ten Frau war voll­stän­dig be­rech­tigt. Die Rich­ter wuss­ten das, und noch mehr wuss­ten es der Geg­ner und sein Ad­vo­kat, doch die­ser Ad­vo­kat war so ge­schickt zu Wer­ke ge­gan­gen, dass die alte Frau not­ge­drun­gen ver­lie­ren muss­te.

Im Au­gen­blick, da der Ak­tu­ar in die Kanz­lei hin­ein­ge­hen woll­te, sah er ge­ra­de vor sich im Kor­ri­dor die alte Dame, die eben in al­ler Form rech­tens ih­res Ver­mö­gens be­raubt wor­den war. Es war eine di­cke Frau mit un­ge­heu­er großen Blu­men auf dem Hut. Sie kam aus dem Sit­zungs­saal, streck­te ihre Hän­de da­nach aus und wie­der­hol­te fort­wäh­rend: »Was soll dar­aus wer­den? Was soll dar­aus wer­den?« Dann fing sie an, eine sehr ver­wi­ckel­te Ge­schich­te zu er­zäh­len, die mit ih­rer Sa­che gar nichts zu tun hat­te. Der Ad­vo­kat be­trach­te­te die Blu­men ih­res Hu­tes, nick­te zu­stim­mend mit dem Kop­fe und hör­te au­gen­schein­lich gar nicht auf sie.

Plötz­lich öff­ne­te sich eine klei­ne Tür und strah­lend, sein stei­fes Hemd auf der tief­aus­ge­schnit­te­nen Wes­te zei­gend, er­schi­en schnel­len Schrit­tes mit zu­frie­de­ner Mie­ne der­sel­be be­rühm­te Ad­vo­kat, der es be­wirkt hat­te, dass die alte Frau mit den Blu­men ohne alle Mit­tel da­stand, und dass der Geg­ner ge­gen Zah­lung von 10.000 Ru­beln, die er ihm für sein Plä­doy­er ge­ge­ben hat­te, 100.000 er­hielt, auf die er kein An­recht hat­te. Er ging an der al­ten Dame vor­über. Al­ler Au­gen wand­ten sich ihm re­spekt­voll zu und er war sich des­sen auch klar, doch sei­ne gan­ze Per­sön­lich­keit schi­en zu sa­gen: »Bit­te, mei­ne Her­ren, spa­ren Sie die Zei­chen Ih­rer Be­wun­de­rung!«

End­lich kam Ma­thi­as Ni­ki­tisch, der Rich­ter, auf den man war­te­te. So­fort sa­hen die Ge­schwo­re­nen den Ge­richtsn­un­ti­us, einen klei­nen, ma­ge­ren Mann mit zu lan­gem Hals und un­gleich­mä­ßi­gem Gan­ge, in das Zim­mer tre­ten, in wel­chem sie ver­sam­melt wa­ren. Die­ser Nun­ti­us war üb­ri­gens ein bra­ver Mann, der alle sei­ne Stu­di­en auf der Uni­ver­si­tät ab­sol­viert hat­te; doch er konn­te es nir­gends aus­hal­ten, weil er trank. Vor drei Mo­na­ten hat­te ihm eine Grä­fin, die sich für sei­ne Frau in­ter­es­sier­te, die­se Stel­lung als Nun­ti­us im Jus­ti­z­ge­bäu­de ver­schafft, und er hat­te sich bis jetzt dort zu hal­ten ver­mocht, wor­über er sich wie über ein Wun­der freu­te.

»Nun, mei­ne Her­ren, sind alle da?«, frag­te er, setz­te sein Pin­ce­nez,3 bald dar­über weg an­sah.

»Ich glau­be, ja,« ver­setz­te der jo­via­le Kauf­mann.

»Wir wol­len ’mal se­hen,« sag­te der Nun­ti­us.

Er zog eine Lis­te aus der Ta­sche und be­gann die Na­men auf­zu­ru­fen, wo­bei er die Ge­schwo­re­nen, bald durch sein Pin­ce­nez auf und sah die Ge­schwo­re­nen an.