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Aufklärung früh und entspannt angehen
Oft sind Eltern überrumpelt, wenn es um Sexualität geht – und bei jüngeren Kindern scheint das Thema noch ganz weit weg. Dabei gibt es in Sachen Aufklärung kein »zu früh«! Weil Kinder auch auf heikle Fragen gute Antworten brauchen, bietet dieser Ratgeber Orientierung.
Er schildert Meilensteine der Entwicklung, erklärt typisches Verhalten und zeigt an Beispielen, wie man gelassen, achtsam und altersgerecht auf die kindliche Neugier reagiert.
So entwickeln Kinder einen natürlichen Bezug zum eigenen Körper, werden vor negativen Erfahrungen geschützt und finden in ihren Eltern vertrauensvolle Ansprechpartner*innen.
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Seitenzahl: 292
Oft sind Eltern überrumpelt, wenn es um Sexualität geht – und bei jüngeren Kindern scheint das Thema noch ganz weit weg. Dabei gibt es in Sachen Aufklärung kein »zu früh«! Weil Kinder auch auf heikle Fragen gute Antworten brauchen, bietet dieser Ratgeber Orientierung: Er schildert Meilensteine der Entwicklung, erklärt typisches Verhalten und zeigt an Beispielen, wie man gelassen, achtsam und altersgerecht auf die kindliche Neugier reagiert. So entwickeln Kinder einen natürlichen Bezug zum eigenen Körper, werden vor negativen Erfahrungen geschützt und finden in ihren Eltern vertrauensvolle Ansprechpartner*innen.
Christiane Kolb schloss 2018 ein Masterstudium der Angewandten Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg ab und gibt ihr Wissen inzwischen in Projekten der Bildung und Beratung, an Elternabenden und in Büchern weiter. Außerdem schreibt sie seit 20 Jahren als Magazinautorin, u. a. für die Zeitschriften Eltern Family, Eltern, Women’s Health und Anders Handeln über Liebe und Partnerschaft sowie Gesundheit und Gesellschaft. Sie ist Mutter zweier Töchter und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
www.lieben-lernen.info
Christiane Kolb
Aufklärung
von Anfang an
Mit Kindern über
Körper, Gefühle und
Sexualität sprechen
Kösel
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Dieses Buch wurde mit großer Sorgfalt verfasst und vielfältig gegengelesen, um Diskriminierung sowie nicht-intendierte klischeehafte oder verletzende Darstellungen zu vermeiden. Um Nähe zu möglichst vielen Eltern herzustellen, nutzt es eine neutrale Sprache und gelegentlich den Genderstern, der die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern anzeigt. Trotzdem ist oft von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen die Rede – weil Eltern und Kinder sich mit den Konzepten auseinandersetzen müssen, die vertraut sind. Leser*innen werden schnell erkennen, dass das Buch für vielfältige, nichthierarchische Perspektiven auf geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung argumentiert und dafür sensibilisiert. Die Autorin ist sich der Limitierung ihres Standpunkts ebenso wie des getroffenen Kompromisses bewusst.
Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Imke Oldenburg
Sensitivity Reading: Alex Rump
Umschlag: Weiss Werkstatt München
Umschlagmotiv: Tatevosian Yana / Shutterstock.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-28911-9V001
www.koesel.de
Inhalt
Willkommen. Ein Vorwort
Ein Plädoyer für bewusste Erziehung rund um SexualitätEine Einführung
Sexualität ist immer ein Thema – auch für kleine Kinder
Was die Sache so kompliziert macht
Wissen für Eltern: Aufklärung für Aufklärer
Ein Blick zurück: Die eigene Prägung rund um Sexualität
Mit Blick nach vorn: Wie kommen wir weiter?
Aufregende Entwicklungen: Das geht unsere Kinder an
Gebrauchsanweisung für die Lektüre
1Sexualität und KindheitVier Antworten gleich zu Beginn
Ist Sexualität überhaupt ein Thema für kleine Kinder?
Welcher Teil von Sexualität ist relevant für Kinder?
Was die psychosexuelle Entwicklung bei Kindern prägt:Bedürfnisse, Körper, Beziehungen und Geschlecht
Wann erklärt man was? Was Sexualerziehung mit (Straßen-)Verkehrserziehung zu tun hat
Große und kleine Sprünge in der psychosexuellen Entwicklung
Die Meilensteine von der Zeugung bis ins Grundschulalter
2Die Basics – Das bist du, mit Haut und Haar Wissen zu Körper und Aufklärung und wie wir es achtsam weitergeben
Der Name ist Programm: Angemessene Worte für »Da unten«
Begriffe, die jedes Kind kennen sollte
Familiäre und vertraute Begriffe
Herrschaftswissen: Namen für das weibliche Geschlecht
Basiswissen Biologie: Was ist »da unten« wirklich?
Ein paar Grundlagen der Anatomie
Das weibliche Geschlecht
Das männliche Geschlecht
Was vor der Pubertät passiert
Warum der Satz »Dein Körper ist richtig« nicht reicht: Wie wir Körperbewusstsein prägen, mit und ohne Worte
Eltern sind Entwicklungshelfer fürs Körperbewusstsein
Sprechen ist Silber und Verhalten Gold – weil Eltern Vorbilder sind
Vom Druck der Schönheitsideale in der Kindheit
So befördern Eltern ein positives Körperkonzept
Woher die Kinder kommen: Altersangemessen formulieren
Von der Angst vor dem »Zu früh«
Was ist Sex? Wie sagen wir’s dem Kind?
Frauensache? Nein, Elternaufgabe
3Vorsicht, privat. Wenn Menschen einander nahekommenGrenzen und Nähe gestalten. In der Familie und darüber hinaus
Wo ist die Grenze, wo gute Nähe?
Befangenheit im Bad: Was machen wir da?
Sexualität im Blick: Ich sehe was, was du nicht siehst
Gut bedeckt gegen Körper-Freikultur. Der stolze Nackedei und sein Schutz
Nackt ist es am schönsten. Aber doch nicht jetzt!
Mit der Hand in der Hose. Ist das Selbstbefriedigung?
Guter Umgang: Von privaten und öffentlichen Räumen
Doktorspiel: Grenzen und Chancen
Eine erste Einschätzung
Wie können wir reagieren? Ein paar Tipps
Was heißt da normal? Einige Zahlen
Wo liegen Grenzen, und wo Chancen?
Auf Nummer sicher: Gute Regeln für Doktorspiele
Sollen Eltern alle Spielsituationen überwachen?
Liebe fühlen, Küsse geben. Schmetterlinge in der Kita
4Wo Sexualität heikel wirdErwachsene Ängste, kindliche Entwicklung: Wissen zu Scham und Schutz
Sex-Sprache auf dem Schulhof: Harte Worte ohne echte Ahnung
Porno? Kommt vor und braucht eine klare Antwort
Hurra, die Scham ist da. Über ein zwiespältiges Gefühl
Wie kommt das Schamgefühl ins Kind? Ganz schön individuell
Eltern und Scham: Von passenden und unpassenden Reaktionen
Schutz vor sexuellem Missbrauch
FAQ – Häufige Fragen und wichtige Antworten zu sexualisierter Gewalt
Wie Eltern Schutz vermitteln können – und wie nicht
Schutz in Kita und Grundschule
5Mädchen, Jungen und mehrDie Geschlechterfrage in und um uns.Wie man dem Kind gerecht wird
Geschlechtergerecht oder: Wie kommen die Klischees ins Kind?
Von uns haben sie das nicht, oder?
Wie Familienleben mit weniger Schubladen funktioniert
Von Vielfalt und Einfalt. Definitionen sexueller Identität
Was die diversen Kategorien im Kinderzimmer suchen
Definitionen für diverse Gefühle
Zum Schluss: Ein Nachwort mit guten Wünschen
Widmung und Dank
Beste Bücher
Kontakt und Beratung im Internet
Quellen
Willkommen
Ein Vorwort
Dieses Buch ist für Eltern1 und alle, die erziehen: ein Aufklärungsbuch – im doppelten Sinn. Das möchte ich kurz erklären. Zuerst will dieses Buch dabei helfen, bei der Aufklärung von Kindern passende Worte zu finden und gute Wege zu gehen. Als studierte Sexualwissenschaftlerin kann ich hilfreiche Orientierung geben und fundierte Antworten auf viele Fragen rund um Sexualität gleich dazu. Als Mutter stehe ich für Geduld und Einfühlungsvermögen, weil ich den Alltag und die manchmal verwirrenden, manchmal lustigen Momente rund um Sex-Themen mit Kindern kenne, das mulmige Gefühl, Scham, Kichern, Lachen. Und wenn es einmal keine einfache Antwort gibt (weil Sexualität persönlich ist und kompliziert sein kann), dann ist mein Ziel, gute Gedanken anzustoßen. Am Ende sollen Sie als vertraute Bezugspersonen bei diesem sensiblen Thema selbst entscheiden, was sich für Sie und Ihr Kind richtig anfühlt. Schließlich empfindet rund um Lust, Liebe und Geschlechterfragen jeder und jede anders.
Wundern Sie sich nicht, dass ich bei diesem Buch früh ansetze. Es widmet sich der Aufklärung, besser gesagt der Begleitung vom Baby- und Kleinkindalter bis zur Grundschulzeit, und daher schauen wir uns die Entwicklung der Kinder schon in diesem frühen Alter genau an. Dafür gibt es gute Gründe: Es ist wissenschaftlich belegt, dass Eltern und das Umfeld tief gefühlte Gewissheiten zu Körper, Liebe, Gefühlen und intimen Grenzen weitergeben. Wir prägen unser Kind von dem Moment an, in dem es auf die Welt kommt. Wenn wir über das Geschlecht eines Wunschkindes fantasieren (auch das gehört zum Themenkomplex Sexualität), sind unsere Gedanken sogar schon vor der Empfängnis davon geprägt: »Ich möchte einen Jungen, ein Mädchen, weil…«. Vom Zeitpunkt der Geburt an verhalten wir uns auf die eine oder andere Weise gegenüber einem Kind – in der Beziehung, die wir zu ihm aufnehmen, zum Körper, zu seinem Geschlecht, indem wir Gefühle einordnen. Vieles von dem, was wir tun, hat Einfluss auf die psychosexuelle Entwicklung. Ein schönes Beispiel dafür ist der Umgang mit den Genitalien. Bereits beim Wickeln ist die intime Zone berührt. Idealerweise fördern wir das Körperbewusstsein des Kindes, indem wir respektvoll agieren und angemessene Worte für die Genitalien vermitteln. Und so legen wir bis in die Grundschulzeit Grundlagen zum guten, gesunden Umgang mit Körper, Liebe und Beziehungen – immer und überall, bei unzähligen alltäglichen Begebenheiten.
Dazu kommt ein zweiter Teil der Aufklärung: Das Buch will auch Sie aufklären – über sich. Es möchte Ihnen helfen, sich Ihrer eigenen Haltung zu sexuellen Themen bewusst zu werden. Denn die geben wir als Eltern und Erziehende im Umgang mit Kindern unwillkürlich weiter. Uns leiten tiefe Gefühle und verinnerlichte Regeln, in der Sexualität sehr persönliche dazu. Zum Beispiel, wenn es um Nacktheit geht, oder das Richtig und Falsch »für eine Frau« oder »für einen Mann«. So können im Bad Grenzen berührt werden; dabei fragt ein Kind nur nach dem Penis oder der Vulva und kennt – buchstäblich – keine Tabus. Gefühlt geht es für Eltern in diesen Momenten um alles: das Ich, den Körper in all seiner Verletzlichkeit, die Sicherheit, gesellschaftliche Regeln.
Darum stellt das Buch Fragen an Sie. Denn wenn wir erkennen, welche Werte und Gefühle uns leiten, können wir selbstsicher und bewusst entscheiden, was wir weitergeben möchten. Eines kann ich versprechen: Die Suche nach diesen Werten und Gefühlen ist extrem spannend. Aufklären bedeutet hier nämlich auch, etwas sichtbar zu machen, was zuvor im Dunklen lag. Ob Tabu, Gefahr oder die Faszination aufregender Gefühle: Ich bin überzeugt, im Hellen kommen wir besser damit zurecht.
Noch etwas: Beim Nachdenken über die eigenen Werte rund um Sexualität landen wir automatisch bei der eigenen Aufklärung. Denn so wie unsere Kinder jetzt von uns geprägt werden, wurden auch wir von klein auf von unseren eigenen Eltern geprägt. Jede*r ertappt sich mal bei dem Gedanken: Hilfe, ich klinge wie meine Mutter oder wie mein Vater. Deshalb lädt das Buch ein, nach heutigem Stand zu sortieren: Was hat bei der eigenen Aufklärung geholfen? Was hat gefehlt? Warum reagiere ich bei meinem Kind vielleicht gar nicht so »aufgeklärt« wie ich möchte? Die folgenden Seiten bieten die Chance, gefühlte Wahrheiten und falsche Tabus durch besseres Wissen zu ersetzen.
Es erwartet Sie eine fundierte Wissensbasis aus der Kindheitsforschung und -pädagogik, die Ihnen inspirierende Einsichten für den Erziehungsalltag ermöglichen soll.
Wie oft habe ich in Workshops und Seminaren Stoßseufzer wie diese gehört: »Hätte ich nur früher gelernt, über meine Bedürfnisse zu sprechen.« – »Hätte mir das mal jemand erzählt!« – »Wäre mir das bewusst gewesen …«. Das soll Ihren Kindern anders gehen. Und Ihnen als Eltern auch. Dazu möchte ich mit diesem Buch beitragen.
1 Ich verwende hier oft verallgemeinernd den Begriff Eltern und die Kategorien Väter und Mütter, obwohl mir klar ist, dass mehr Menschen Verantwortung für Kinder übernehmen, nämlich Bonuseltern, Verwandte, Verbandelte, diverse Erziehende, interessierte Fachkräfte. Sie (ich meine Sie persönlich) sind so am Wohlergehen »Ihrer« Kinder interessiert, dass Sie dieses Buch lesen. Danke dafür.
Ein Plädoyer für bewusste Erziehungrund umSexualität
Eine Einführung
Zu Beginn behaupte ich einfach mal: Eigentlich ist das Begleiten von Kindern im Themenfeld Sexualität einfach. Es reicht, wenn Eltern sich in der akuten Erziehungsfrage rund um Körper, Liebe, Lust und Geschlecht in die eigene Kindheit zurückversetzen und sich fragen: Welcher klärende Satz, welche Reaktion hätte mir damals geholfen? Dann geht es zurück in die Gegenwart: Was hilft jetzt meinem Kind weiter? Wenn Sie eine Antwort auf diese Frage haben, können Sie sie direkt in die Tat umsetzen – los geht’s! Das ist die Kernidee dieses Buches (plus ein Kilo Fachwissen und zwei Pfund einfühlsame Überlegung).
Bestimmt stellt nun der eine oder die andere fest: Über Sexualität zu sprechen, ist gar nicht so leicht. Früher gab es weniger gute Aufklärung und offene Worte als wünschenswert. Über Sexualität wurde in vielen Familien nicht geredet. Wenn es bei Ihnen anders war, hatten Sie großes Glück. Viele Erwachsene erinnern sich eher an Sätze wie: »Das ist nichts für dich« oder: »Dafür bist du zu klein«. Manchen geht vielleicht sogar der unsägliche Vorwurf nach: »Wie kommst du bloß darauf!« Als würde ein Kind einen Fehler begehen, wenn es nach Fakten des Lebens fragt, nach Dingen, mit denen jeder und jede Heranwachsende umzugehen lernen muss. Anderen dröhnt noch das Schweigen der Eltern in den Ohren. Dabei war es den Eltern nur selbst peinlich, »darüber« zu sprechen. Doch Kindern helfen weder Empörung noch Unwissenheit, wenn sie die komplizierten Regeln und Entwicklungen rund um Körper und Sexualität verstehen wollen. Und dennoch hören manche Kinder leider selbst heute noch abwehrende Sätze.
Obwohl sie ein scheinbar allgegenwärtiges Aufregerthema ist, finden Eltern immer noch überraschend wenig Unterstützung bei der Erziehung rund um die Sexualität. Über Sexualität spricht man (immer noch) wenig, obwohl sie gleichzeitig ständig in den Medien diskutiert wird, beispielsweise im Zusammenhang mit Themen wie Body Positivity, neue Geschlechterverhältnisse und sexuelle Vielfalt, aber auch #MeToo, Missbrauch und Porno. Was ergibt sich aus diesem Ungleichgewicht für die aktuelle Erziehung? Trotz scheinbar größerer Offenheit bleiben viele Fragen – und Ängste. Und das, obwohl junge Eltern geradezu umzingelt sind von Ratgebern voller Rezepte und guter Hinweise dazu, was richtig ist und was falsch. Da geht es um die Geburt, das erste Jahr, die Kleinkind- und Schulzeit, ums Stillen, Einschlafen und vieles mehr. Doch was ist mit den Gefühlen rund um Körper und Liebe? Mein Eindruck ist: Ja, es gibt inzwischen viele wunderbare Bilderbücher zu Körper, Identität und Beziehungen. Doch liebevoll aufbereitete Hintergrundinformationen explizit für Eltern jüngerer Kinder gibt es selten. Dabei landen die vielen »sexuellen« Fragen und Situationen doch bei ihnen. Ist das, was mein Kind macht, normal oder Grund zur Sorge? Hier finden Sie viele Antworten.
Sexualität ist immer ein Thema –auch für kleine Kinder
Ein paar wenige Menschen meinen, Sexualität gehöre als Thema grundsätzlich nicht ins Kinderzimmer, passe nicht zum Bildungsauftrag von Kindertagesstätte oder Grundschule. Sie liegen falsch (oder schauen weg), denn Sexualität spielt in jedem Lebensalter eine Rolle – allerdings nicht in der Form, an die wir Erwachsene sofort denken. Das betonen auch Experten und Expertinnen aus Psychologie, Kindheitsforschung, Sexualwissenschaft und pädagogischer Praxis.
Denn all das ist Sexualität und kommt bei Kindern vor: die Akzeptanz des eigenen Körpers und Geschlechts, die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen gestalten, Normen zu Scham, Grenzen und Nähe, Liebe und gute wie schlechte Gefühle von klein auf. Sexuelles schwingt mit in der Neugier auf den Körper. Sie kommt vor in Rollenspielen wie »Vater, Mutter, Kind«, vielleicht sogar mit dem Stethoskop beim Doktorspiel. Was Kinder da tun, kann Eltern unruhig machen. Doch es eröffnet auch Chancen, gute Werte zu vermitteln. Genau darum ist es wichtig, dass die Erwachsenen kompetent reagieren.
In meinem Studium der Sexualwissenschaften ging es mir nah, als sich Theorie und Praxis verschränkten. Vielleicht war das sogar eine Art Initialzündung für dieses Buch: Im Blockseminar nahmen wir die Entwicklung der frühen Kindheit durch, zu Hause war eine meiner Töchter in intensive Doktorspiele vertieft. Später stolzierte die andere mit Freundinnen wochenlang auf Stöckelschuhen durchs Kinderzimmer und sprach mit pseudoweiblicher Fiepselstimme – ich fand’s gruselig. Nummer zwei schlüpfte phasenweise in Anzug und Krawatte. Gleich war ich mitten in den Geschlechterfragen: Was sage ich dazu? Wie sind Frauen, wie Männer? Wie sollen sie sein? Wie werden wir zu der Person, die wir sein wollen? Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kann ich ein Problem gut nachempfinden, vor dem viele Eltern immer wieder stehen: in der Theorie zu wissen, was Sache ist, und in der Praxis entspannt zu reagieren, sind bei aufregenden Themen zwei Paar Stiefel. Ich hätte mir einen Ratgeber gewünscht, der mich beim Begleiten der Kinder begleitet.
Was die Sache so kompliziert macht
Dass es so wenig Informationen für Eltern gibt, hat damit zu tun, wie sensibel das Thema für uns ist. Schließlich geht es im Familienleben plötzlich nicht mehr um allgemeine Sachverhalte, sondern um uns persönlich. Sexualität geht uns nahe, wir können nicht allgemein bleiben wie bei so vielen anderen Themen. Selbst wenn »nur« das Kind fragt, landen wir schnell bei intimen Gefühlen, vieles ist besetzt mit peinlichen Gedanken, Hemmungen, Grenzen und Scham. Damit umzugehen, ist nicht einfach.
Und mal ehrlich: Wer ist schon ganz und gar im Einklang mit dem eigenen Körper? Wer ist dauerbeglückt und -befriedigt in Liebe und Lust? Das geht gar nicht. Es ist unrealistisch, dass die eigenen emotionalen und körperlichen Bedürfnisse für immer und ewig und zugleich in jedem einzelnen Moment zu denen des Partners oder der Partnerin passen. Das gesellschaftliche Idealbild der Liebe und der Sexualität können Menschen kaum erreichen. Das würde erstens voraussetzen, dass jede Person für sich mit all diesen komplizierten Themen im Einklang ist. Zweitens würde es (blindes) Einverständnis mit dem Partner oder der Partnerin erfordern. Und drittens sollen die privaten Gefühle in den Kontext einer Gesellschaft passen. Ich setze dagegen: Auf allen drei Ebenen kann Sexualität kompliziert sein.
Deshalb werde ich in diesem Buch nicht das Hohelied der Perfektion von Liebe und Lust singen. Stattdessen sage ich: Das ist alles menschlich. Menschen sind verschieden. Empfindungen sind verschieden. Es ist nicht alles einfach mit dem schönsten der Gefühle. Wir alle spüren dann und wann eine Diskrepanz zwischen Körper und Seele, Wollen und Können, Bewusstsein und Unterbewusstsein. Betrachten wir Unterschiedlichkeit und Vielfalt in der Sexualität also mit Empathie und Menschlichkeit. Dann können wir leichter genießen, lieben und fühlen.
Kompliziert wird die Sache auch dadurch, dass die Beschäftigung mit Kindheit und Sexualität als doppelt sensibel gilt. So sensibel, dass manche Menschen meinen, es wäre gefährlich, sich überhaupt Gedanken darüber zu machen. Und tatsächlich ist die Sorge, dass das erwachsene Wissen und Handeln in Lust und Liebe Gefahren bergen kann, berechtigt. Menschen fügen einander im Namen der Sexualität emotionale Verletzungen zu, überschreiten Grenzen. Erfahrungen von Ablehnung und Abwertung in Beziehungen oder im Geschlecht treffen tief. Doch diesen Gefahren begegnen Eltern nicht, indem sie wegsehen, weghören und verstummen, sondern indem sie Kindern zwei Dinge vermitteln, natürlich altersgemäß, achtsam und zum Entwicklungsstand des Kindes passend:
Einerseits geht es darum, Kindern zu zeigen, wie sie sich selbstbewusst gegen solche Verletzungen verteidigen. Andererseits sollten wir ihnen beibringen, anderen mit dem Respekt und der Vorsicht zu begegnen, den wir selbst einfordern. Und um das zu vermitteln, brauchen Eltern Grundwissen rund um das Thema Sexualität beim Aufwachsen.
Wissen für Eltern: Aufklärung für Aufklärer
Das bringt mich zum Punkt: Eltern wissen heute so viel – aber kaum etwas zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern. Und so verwundert es nicht, dass viele Erwachsene verunsichert sind, wenn ihnen das Verhalten eines Kindes »sexuell« erscheint. Wie verbreitet das ist, zeigen diese Erziehungsfragen – Klassiker an Elternabenden und in der Beratung. Wir brauchen also Aufklärung für Aufklärer.
Wie häufig kommt Doktorspiel vor? Ist es okay oder gefährlich? Welche Begriffe sind richtig für die Genitalien? Wie sollen wir mit der Nacktheit in der Familie umgehen? Was ist natürlich, was nicht?Wie sollen wir reagieren, wenn sich das Kind gerade so gerne nackig macht: verbieten oder ermöglichen?Wo setzen wir Grenzen, wenn ein Kind die Genitalien erkundet?Was bedeutet es, wenn ein Kind dort ein schönes Gefühl entdeckt?Sollen Eltern explizit vor sexuellem Missbrauch warnen? Oder lösen sie so nur Ängste aus?Müssen Sätze wie »Mit Mädchen kann man nicht spielen« oder »Jungs sind doof« sein? Was sollen wir darauf entgegnen? Wir wollten doch geschlechtergerecht erziehen.Erkennen Sie sich in diesen Fragen wieder? Solche Elternfragen begleiten jedes Kapitel dieses Buches. Sie stammen beispielsweise von Eltern, denen ich im Rahmen sexualpädagogischer Veranstaltungen oder Beratungen begegnet bin, oder bei Projekten, an denen ich beteiligt war. Alle diese Fragen (die Namen und exakten Altersangaben wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert) zeigen, was Eltern heute beschäftigt und verunsichert. Doch es geht mir in den folgenden Kapiteln nicht darum, auf jede dieser Fragen die richtige Antwort zu finden. Vielmehr möchte ich die Fragen in Informationen zum jeweiligen Thema einbetten, denn am Ende geht es nicht um den einzig richtigen, seligmachenden Satz, sondern um eine Haltung, die für Sie passt. Ich möchte Wissen und Umsicht vermitteln, die Ihnen helfen, Ihre Position zu klären und eine angemessene Antwort für Ihr Familienleben zu finden. Gerade in der Sexualität gibt es selten ein objektives Richtig und Falsch. Für Eltern geht es darum, im Einklang mit eigenen Werten und Überzeugungen zu handeln.
Ein Blick zurück: Die eigene Prägung rund um Sexualität
Wenn eine alltägliche Begebenheit mit dem Kind wie aus dem Nichts zu sexuellen Fragen führt, berührt das uns Erwachsene oft emotional. Zum Beispiel, wenn unser Kind fragt, wie das »da unten« heißt. Es kann kurz peinlich (oder lustig) sein, wenn der Nachwuchs beim Baden oder Duschen ein Wort nennt, das eher ein Schimpfwort ist, oder eines, das wir gar nicht mögen. Ich denke, jeder Mensch kennt einige Bezeichnungen für die Genitalien, die er oder sie selbst verwendet, und darüber hinaus andere, die vielleicht okay wären, aber doch irgendwie fremd. Hören wir nun von unserem Kind solche Begriffe, reagieren wir unangenehm berührt. Das ist ganz normal. Mir geht es darum, an diesem Beispiel zu verdeutlichen, wie vertraut und tief verinnerlicht sexuelles Wissen ist. Woher kommt es? Welche Haltung zeigt sich darin? Vermutlich haben unsere eigenen Eltern uns unsere Worte in einer ähnlichen Situation im Bad vermittelt.
Und das führt zu der Frage: Geben wir unserem Kind eine ähnliche Haltung mit wie die, die uns im Elternhaus geprägt hat? Oder lösen wir uns davon und erzählen ihm, dass es mehr Worte gibt? Dann sind andere Begriffe, die das Kind anderswo aufschnappt, nicht mehr so befremdlich. Es ist eine Entscheidung, sich hier von den eigenen Kindheitserfahrungen abzugrenzen. Allerdings stimmt das unwillkürliche Handeln in einer Erziehungssituation – benutze ich dieses oder jenes Wort? – häufig nicht mit dem überein, was wir weitergeben möchten: »Ich wollte offener sein, nicht dieses alte Wort benutzen!« Solche Gedanken gibt es immer wieder.
Ein anderes Beispiel sind Haltungen zu Geschlechterfragen, das zeigen viele Experimente und der Blick in Spielzeugläden. Wir möchten gerne gleichberechtigt erziehen und fallen doch in Stereotype zurück, weil sie uns so vertraut sind. Wie oft ertappe auch ich mich dabei, dass ich das Aussehen meiner Mädchen lobe. Dabei sollen sie doch nicht ständig gefallen wollen, den eigenen Wert nicht vom Urteil anderer abhängig machen.
Und es geht nicht nur mir so: Die Wissenschaft hält uns bis heute den Spiegel vor und offenbart, dass wir bis über die Ohren in den Klischees stecken. Eindrücklich beweist das die BBC-Dokumentation No More Boys and Girls1, die auch in einer deutschen Version zu sehen war: schon siebenjährige Kinder haben die klischeebehafteten Rollenbilder der Umwelt verinnerlicht. Das zeigt auch eine amerikanische Studie2 aus dem Jahr 2017: Kindern im Vorschul- und Schulalter wurde die Geschichte einer besonders schlauen Person erzählt, ohne Hinweis zum Geschlecht. Anschließend wurden sie gefragt, ob das eine männliche oder eine weibliche Person war. Im Alter von fünf Jahren ordneten die Kinder die Person überwiegend dem eigenen Geschlecht zu. Ab dem Alter von sechs Jahren stieg die Prozentzahl der Mädchen, die meinten, die smarte Person müsste ein Mann sein. Woher kommt das? Gelernt, vom Umfeld. Wann und wie das passiert, wiesen schon 1975 die berühmten »Baby X«-Studien3 nach: Erwachsene behandeln bereits einen Säugling anders, je nachdem, ob sie anhand der Kleidung glauben, einen Jungen oder ein Mädchen im Arm zu halten.
Geht es um Identität und Intimität, wird unser Verhalten also von tief geprägten Überzeugungen geleitet, die unserem aufgeklärten Wissen und unseren Wünschen oft widersprechen. Dieses Buch will helfen, diese Überzeugungen zu Intimität, Körper, Scham und Geschlechtern zu erkennen, neu zu bestimmen und bewusster darin zu handeln – sich selbst und dem Kind gegenüber.
Mit Blick nach vorn: Wie kommen wir weiter?
Wie erkennen wir diese Haltungen und lernen, anders zu handeln? Spätestens hier wird es Zeit, dass ich mich bedanke, und zwar bei der englischen Psychotherapeutin Philippa Perry, deren Bestseller Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)4 mich berührt und inspiriert hat. Perrys Grundthese lautet, dass unsere Eltern unser Denken in vielen Bereichen prägen und wir diese Prägung oft an unsere Kinder weitergeben. Sie leitet in ihrem Buch dazu an, unbewusste Denkmuster aufzuspüren und zu überwinden – vor allem, wenn sie uns und unser Kind belasten, oder wenn damit verbundene Gefühle uns blockieren, statt uns zu befreien. Und es lohnt sich, wenn wir als Eltern scheinbar selbstverständliche Gewissheiten hinterfragen, denn wir möchten bei unseren Kindern ja eine gute, gesunde Entwicklung fördern, und nicht falsche oder hemmende Vorstellungen weitergeben.
Die eigene Aufklärung – oder Nicht-Aufklärung – wirft also einen langen Schatten auf die nachfolgenden Generationen. Genau darum biete ich Ihnen in diesem Buch selbstreflexive Einheiten an, die Zugang zu tiefen Überzeugungen und komplizierten Gefühlen ermöglichen sollen. Das hat zwei Vorteile: Einerseits können Sie damit Ihre persönlichen Überzeugungen ins Bewusstsein holen und überprüfen. Darüber hinaus bringt dieser Blick Sie auf Augenhöhe mit Ihrem Kind: Sie können nachfühlen, was es gerade bewegt (und was nicht). Dementsprechend können wir mit der buchstäblichen Rück-Sicht auf die eigene Kindheit besser verstehen, vor welchem Hintergrund das Kind Fragen stellt oder handelt. Das macht es einfacher, altersgerecht zu reagieren.
Ich verspreche: Wenn Sie in den Tiefen der Vergangenheit schürfen, soll Sie das nicht belasten. Selbst wenn nicht alle Erinnerungen schön ausfallen und Sie beispielsweise Wut verspüren angesichts dessen, was Eltern vermittelt haben (und was nicht): Sie können durch die Beschäftigung damit nur gewinnen – zuerst vielleicht Verständnis dafür, dass die eigenen Eltern es nicht besser konnten »mit der Aufklärung«. Vermutlich litten sie selbst unter den inneren Begrenzungen und lückenhaftem Wissen. Darüber hinaus bietet das Nachdenken Ihnen die Chance, negative Muster zu erkennen und zu verändern. Wir können lernen, besser für uns sorgen, Gefühle klären und anders handeln. Wer weiß, vielleicht bringen die neuen Erkenntnisse sogar frischen Wind in die eigene Sexualität und Partnerschaft. Was, wenn ein alter Glaubenssatz nicht der Wahrheit entspricht? Zum Beispiel die Vorstellung, dass man über sexuelle Wünsche nicht sprechen darf. Oder die, dass weibliche sexuelle Wünsche weniger wichtig sind als die des Mannes. Oder das Gefühl, dass man sich für Partien des eigenen Körper schämen müsse. Hier liegt eine Chance für jeden und jede, denn sexuelles Lernen funktioniert ein Leben lang.
Aufregende Entwicklungen: Das geht unsere Kinder an
Eine fundamental wichtige Begründung für dieses Buch erwähne ich erst jetzt, obwohl sie als Thema in den Medien ständig präsent ist: der aktuelle Umgang mit Sexualität, Sex im 21. Jahrhundert. Die Normen und Verhaltensregeln rund um die Sexualität sind immer in Bewegung und ändern sich. Darum muss jede Generation neue Antworten finden, für die eigene Gestaltung von Sexualität – und für die Aufklärung der nächsten Generation.
Neue religiöse und gesellschaftliche Strömungen, technische und medizinische Möglichkeiten, Pandemien (wie das HI-Virus gezeigt hat) – sie alle führen dazu, dass sich nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Gefahren rasant verändern. Ob Corona die Beziehungswelt verändert, wird sich zeigen. Darum ist (auch für Eltern) aktuelles Wissen rund um Sexualität wichtig. Was geben wir Kindern mit, damit sie für die realen positiven wie negativen Entwicklungen gewappnet sind?
Ein paar Beispiele, um zu verdeutlichen, worum es geht: Die sexuelle Revolution der 70er-Jahre hat die Sexualität von vielen Tabus befreit, doch die (scheinbar) unbegrenzten Möglichkeiten haben Lust und Beziehungen auch zur Verfügungsmasse gemacht. Sex wird heute oft als Grad- und Leistungsmesser für Attraktivität und Beziehungsgüte betrachtet, wirkt wie ein Handelsgut und ein To-do, in dem Stellungseinlagen wie im Porno erforderlich sind. Manchmal scheinen der Zauber von Liebe, Leidenschaft und geheimnisvoller Intimität keine Rolle mehr zu spielen. Wollen wir Eltern das kommentarlos gelten lassen?
Eine andere – positive – Entwicklung ist das Empowerment einst marginalisierter Gruppen. Die Frauen- wie die Lesben-, Schwulen- und queere Bewegung hat Gleichberechtigung für alle vorangetrieben. Für Stars wie Pink, Beyoncé, Lady Gaga oder Billie Eilish, in Filterblasen und Videos scheint die Gleichberechtigung kaum mehr eine Frage zu sein. Doch auf dem Pausenhof einer Grundschule sind die Akzeptanz von Vielfalt und die Gleichwertigkeit der Geschlechter längst nicht selbstverständlich. Die mediale Offenheit für sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten2 ist größer denn je – doch ob ein Teenager das eigene Selbstgefühl im Alltag ohne Ausgrenzung und verletzende Reaktionen zum Ausdruck bringen kann, ist extrem vom Umfeld abhängig. Das betrifft unsere Kinder.
Stichwort Internet: Hier herrscht oft große Offenheit, doch auf der anderen Seite machen die perfekten Vorbilder in den sozialen Medien Kindern von früh auf Druck. Scheinbar muss sich jeder und jede mit perfekter Äußerlichkeit selbstoptimiert als Gesamtkunstwerk präsentieren. Die digitale Welt bringt sexuelle Spielwiesen wie Tinder und Onlinepornos hervor, die Chancen, aber auch Risiken bergen. Womit muss ein Kind sich beim Aufwachsen auseinandersetzen?
Moment, Ihr Kind ist noch ganz klein. Das ist doch alles weit weg, könnte man denken. Stimmt nicht ganz. Denn durch Bilder in den Medien, Serien, Kleidung, Spielzeug rücken stereotype Ideale und Themen massiv in die Kindheit vor. Denken Sie an Babypuppen, Barbie, Elfen, Lichtschwerter und Bausätze, die den Krieg zwischen Galaxien thematisieren, schon in der Kitazeit. Das Umfeld können wir nicht ausschalten.
Und apropos Geschlechter: Zu Hause geht die Prägung der Kinder sofort los, denn wir Eltern sind ihre ersten Vorbilder, meist als Prototypen von Mann und Frau. Zum Glück nehmen heute mehr Väter Elternzeit, viele sind aktiver in der Familie als ihre eigenen Väter es waren. Und doch diskutiert sicher jedes Paar über Job und Haushalt. An der hohen Teilzeitquote der Mütter und der Vollzeitquote von Vätern lässt sich ablesen, wie die Mehrheit der Kinder aufwächst. Dabei möchte ich nicht kritisieren, wofür sich Eltern oft aus guten Gründen entscheiden. Ich selbst war und bin zu Hause präsenter als mein Mann. Doch der gründliche Blick hilft, um realistisch einzuschätzen, inwieweit wir Geschlechtergerechtigkeit wirklich vorleben. Selbstverständlich nehmen kleine Mädchen und Jungen wahr, wer wickelt, wer zum Arzt begleitet, sie sehen Germanys next Topmodel (zumindest die Werbung dafür) und hören Rap. Das Weihnachtsbasteln in der dritten Klasse meiner Tochter begleiteten drei Väter und 15 Mütter. All unser Handeln rund um die unterschiedlichen Aspekte von Sexualität prägt unsere Kinder, ob wir wollen oder nicht.
Es gibt ein letztes aktuell herausforderndes Feld: Eltern brauchen fundierte Informationen über den Umgang mit den Gefahren der Sexualität. Eine neue Studie zu sexuellem Missbrauch zeigt, dass Übergriffe in der Familie in der Hälfte der Fälle vor dem sechsten Lebensjahr beginnen5. Experten und Expertinnen zufolge ist in jedem Klassenzimmer ein Kind von sexueller Gewalt betroffen. Wenn ich darüber hinaus Pornoclips anspreche, ist mir klar, dass die erregten Bilder in Kita- und Vorschulzeit kaum eine Rolle spielen. Doch schon in der Grundschulzeit können Kinder beim Surfen aus Versehen Hardcorebilder zu Gesicht bekommen. Der erste Blick darauf findet bei den meisten Jugendlichen heute zu Hause statt, fanden Forscher 2018 heraus.6 30 Prozent der befragten Elfjährigen geben an, bereits pornografische Akte oder Bilder gesehen zu haben, zeigt eine andere Studie von 2016.7 Zur sexuellen Grenzüberschreitung gehören auch sexuell abwertende Worte wie »Hure«, heute eher »bitch«, oder »schwul« und »fuck« – sie sind nach wie vor auf dem Schulhof unterwegs.
Darum gilt als Leitlinie für den Umgang mit diesen Entwicklungen: Geben wir Kindern ab dem Kleinkindalter das Handwerkszeug mit, um die eigene Integrität zu verteidigen und die Grenzen anderer zu respektieren. Kinder haben sogar ein Recht darauf, siehe Grundgesetz. Es braucht Wissen, um die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu ermöglichen. Das gibt Sicherheit, für jetzt und für später. Als Eltern fungieren wir als Mittlerinnen und Entwicklungshelfer dafür.
Gebrauchsanweisung für die Lektüre
Lassen Sie mich zunächst noch einmal betonen, wie persönlich Sexualität ist. Sie rückt Menschen zu Leibe. Das ist natürlich. Sie geht nah, sogar unter die Haut. Seien Sie also gefasst darauf, dass manche Aussagen intime Gefühle berühren. Das ging auch mir beim Schreiben so, im Ringen um die passende Ansprache: Was ist offen genug, aber nicht offensiv? Doch drumherum reden bringt nichts, nur respektvolle Offenheit bringt uns weiter – auch wenn es manchmal kompliziert scheint, mit Kindern über Themen zu sprechen, über die »man« nicht spricht. Das ist vielleicht schon die erste Lektion in der Aufklärung von Anfang an.
Das ist mein Plan: Ich gehe Situation für Situation auf Erziehungsfragen ein, die Eltern zu sexuellen Themen bewegen. Vorgeschaltet ist ein eher theoretisches Kapitel mit grundsätzlichen Gedanken zu Kindheit und Sexualität, das ich Ihnen zur Einstimmung ans Herz legen will. Die Elternfragen und -aussagen, anhand derer ich die unterschiedlichen Aspekte und Themen beleuchte, habe ich schon genannt. Darüber hinaus finden Sie immer wieder Kästen und farblich hervorgehobene Abschnitte, die sachlich erläutern, Tipps und Input zusammenfassen. Kursiv gehalten sind kleine Übungen mit dem Titel »Rückblick«. Die dort gestellten Fragen können Sie intensiv überdenken oder überfliegen, je nachdem, ob sie Sie ansprechen oder nicht.
Wenn in Ihrem Erziehungsalltag gerade eine konkrete Frage brennt, können Sie direkt die entsprechende Seite aufschlagen. Ansonsten lautet meine Empfehlung, das Buch von vorn bis hinten durchzulesen, egal, wie alt Ihr Kind ist. Denn die Themen bauen aufeinander auf und sind für das ganze Leben von Klein und Groß relevant. Selbst wenn das eigene Kind über die Kleinkindzeit hinaus ist, kann das Kapitel zu »Wie heißt das da unten?« spannend sein. Passende Worte, das Körperbild, Beziehungen zu sich und anderen, Grenzen, all das ist für jeden Menschen ein Thema. So ist es (auch) in der Sexualität: Alles hängt mit allem zusammen.
Viel Freude beim Lieben und Lernen!
2 Als kurze Einordnung: Die Geschlechtsidentität fragt, wie wir uns selbst im Geschlecht definieren, in körperlichem Geschlecht und der Geschlechterrolle. Die sexuelle Orientierung fragt, wen wir lieben und begehren. Sexuelle Identität fasst etwas unscharf unsere Selbstbeschreibung in sexuellen Aspekten.
1Sexualität und Kindheit
Vier Antworten gleich zu Beginn
In den folgenden Kapiteln möchte ich Grundwissen zu Sexualität und Kindheit vermitteln, denn Eltern brauchen eine Vorstellung davon, welche Rolle Sexualität in den ersten Lebensjahren bis zum Ende der Grundschulzeit überhaupt spielt.
Im ersten Kapitel geht es darum, welche Aspekte von Sexualität in der frühen Kindheit vorkommen und wie sich die kindliche Sicht darauf von der erwachsenen Sicht unterscheidet.
Das zweite Kapitel fragt, welche Erfahrungen genau Menschen von klein auf in ihrer sexuellen Entwicklung beeinflussen; das sind nämlich nicht nur sexuelle Erfahrungen. In diesem Kapitel lade ich dazu ein, nachzuvollziehen, welche Erfahrungen Sie selbst geprägt haben.
Das dritte Kapitel zeigt auf, wann und wie Eltern jüngeren Kindern Inhalte zur Sexualität vermitteln können. Die Frage nach dem passenden Zeitpunkt und der richtigen Dosis von Wissen beschäftigt viele Eltern.
Das vierte Kapitel gibt schließlich einen umfassenden Überblick über die Meilensteine der psychosexuellen Entwicklung. Danach können Sie besser verstehen, wie Ihr Kind die Welt – hier die der Sexualität – begreifen lernt. Die zentralen Begriffe lauten: Augenhöhe, Augenmaß und Geschichte.
Ist Sexualität überhaupt ein Themafür kleine Kinder?
»Ich finde es unverantwortlich, kleinen Kindern etwas über Sex zu erzählen. Das ist viel zu drastisch. Sexualität kommt im Leben von Klein- und Kitakindern doch gar nicht vor.«
Marek, 35 Jahre, die Tochter Julika ist ein Jahr, Sohn Milos vier Jahre alt
Viele Menschen sind davon überzeugt, dass Sexualität kein Thema für kleine Kinder ist. Vermutlich haben sie die Gefahren und Rohheiten der sexuellen Welt im Blick. Doch bevor wir als Eltern das Thema pauschal ablehnen, sollten wir genauer schauen, welche Aspekte von Sexualität unseren Kindern beim Aufwachsen begegnen. Dann können wir sortieren – in Themen, die erklärungsbedürftig sind, in Situationen, die Erziehungshandeln erfordern, und in Tatsachen, die nicht ins Kinderleben gehören.