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Ein Vertreter bricht aus dem täglichen Trott aus, kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück und erzählt uns dabei sein Leben. Ein hellsichtiges, in seinen Analysen prophetisches Buch.
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Seitenzahl: 384
George Orwell
Auftauchen,
um Luft
zu holen
Roman
Aus dem Englischen von
Helmut M. Braem
Titel der 1939 erschienenen Originalausgabe:
›Coming Up for Air‹
Copyright © by The Estate of the late
Sonia Brownell Orwell
Die deutsche Erstausgabe erschien 1953
unter dem Titel
›Das verschüttete Leben‹
im Diana Verlag, Zürich
Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 20804 7 (7.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60226 5
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Er war tot, aber stilliegen wollte er nicht
[7] ERSTER TEIL
[9] ERSTES KAPITEL
DER GEDANKE KAM mir eigentlich erst an dem Tag, als ich mein künstliches Gebiß erhielt.
Ich erinnere mich noch genau an den Morgen. Um Viertel vor acht war ich aus dem Bett gesprungen und ins Badezimmer gegangen, gerade noch rechtzeitig, ehe die Kinder kamen. Es war ein abscheulicher Januarmorgen mit einem schmutzigen, gelbgrauen Himmel. Durch das kleine Badezimmerfenster konnte ich drunten die zehn auf fünf Meter Grasfläche sehen – mit der Ligusterhecke und dem kahlen Fleck in der Mitte. Wir nennen das den hinteren Garten. Es ist derselbe Garten, derselbe Liguster und dasselbe Gras wie hinter jedem Haus in der Ellesmere Road. Es gibt nur einen Unterschied: wo keine Kinder sind, da ist kein kahler Fleck in der Mitte.
Ich versuchte mich mit einer stumpfen Klinge zu rasieren, während das Wasser in die Wanne einlief. Mein Gesicht sah mich aus dem Spiegel an, und darunter lagen in einem Wasserglas auf einem kleinen Bord über dem Waschbecken die Zähne, die in dieses Gesicht gehörten. Es war die Aushilfsgarnitur, die mir Warner, mein Zahnarzt, gegeben hatte, bis die neuen fertig wären. Ich sehe im Grund nicht schlecht aus. Ich habe eines von diesen knallroten Gesichtern mit strohblonden Haaren und blaßblauen Augen. Gottseidank bin ich weder grau noch kahl, und wenn ich erst meine Zähne habe, wird man mir wahrscheinlich nicht mehr ansehen, daß ich fünfundvierzig bin.
In Gedanken machte ich einen Knoten, um nicht zu vergessen, daß ich Rasierklingen kaufen mußte. Dann stieg ich ins Bad und begann mich einzuseifen. Ich wusch mir die [10] Arme (dicke Arme, mit Sommersprossen übersät bis zu den Ellbogen), dann nahm ich die Rückenbürste und schrubbte meine Schulterblätter, die ich anders nicht erreichen kann. Es ist ärgerlich, aber ich habe wirklich ein paar Stellen an meinem Körper, an die ich heute einfach nicht mehr drankomme. Ich neige ein bißchen zur Korpulenz. Das soll aber nicht heißen, daß ich wie eine Jahrmarktsfigur aussähe. Ich wiege nicht ganz hundertachtzig Pfund, und als ich neulich meinen Taillenumfang maß, waren es etwa hundertzwanzig oder hundertzweiundzwanzig, genau weiß ich es nicht mehr. Ich bin auch nicht, was man »widerlich fett« nennt. Mein Bauch hängt nicht wie bei andern halb bis zu den Knien herunter. Ich bin nur etwas breit und neige zur Tonnenform. Kennen Sie diesen Typ des aktiven, lebhaften dicken Mannes, diesen Athletentyp, der mit Spitznamen Fatty oder Tubby heißt und immer das belebende Element einer Gesellschaft ist? So einer bin ich. Fatty nennen mich die meisten. Fatty Bowling. George Bowling ist mein richtiger Name.
Aber in diesem Augenblick fühlte ich mich gar nicht wie das belebende Element einer Gesellschaft. Und es fiel mir auf, daß ich neuerdings am frühen Morgen fast immer verärgert war, obwohl ich doch gut schlief und meine Verdauung in Ordnung war. Aber ich wußte, woher das kam. Es lag an diesen verdammten falschen Zähnen. Die Dinger glitzerten durch das Wasser im Glas und grinsten mich an wie die Zähne in einem Totenschädel. Man hat so ein morsches Gefühl, wenn man sich seinem Zahnfleisch gegenübersieht, ein widerlich bitteres Gefühl, als hätte man in einen sauren Apfel gebissen. Außerdem, man kann sagen, was man will, ein künstliches Gebiß ist ein Markstein. Wenn man die letzten echten Zähne verliert, dann ist die Zeit [11] endgültig vorbei, wo man sich einbilden konnte, ein Hollywoodstar zu sein. Und ich war dick und fünfundvierzig.
Als ich aufstand, um mich weiter zu waschen, sah ich an mir hinunter. Es ist Unsinn, zu behaupten, daß dicke Männer nicht auf ihre Füße blicken können. Aber es ist leider wahr, daß ich nur meine Zehen sehe, wenn ich aufrecht stehe. Keine Frau, dachte ich, während ich mir den Bauch einseifte, würde mich näher betrachten, wenn sie nicht grade dafür bezahlt würde. In diesem Augenblick hatte ich allerdings auch keinen besonderen Wunsch danach, daß mich irgendeine näher ansähe.
Eigentlich hätte ich an diesem Morgen besserer Laune sein sollen. Erstens brauchte ich heute nicht zu arbeiten. Der alte Wagen, mit dem ich meinen Bezirk abgrase (ich muß noch erklären, daß ich in der Versicherungsbranche tätig bin, beim »Fliegenden Salamander«: Leben, Feuer, Einbruch, Zwillinge, Schiffbruch – einfach alles), mein Wagen also war gerade in Reparatur, und obgleich ich im Londoner Bureau einige Formulare abgeben mußte, nahm ich mir den Tag doch frei, um mein künstliches Gebiß zu holen. Außerdem aber beschäftigte mich schon seit längerer Zeit noch etwas ganz anderes. Ich besaß nämlich siebzehn Pfund, von denen keiner etwas ahnte – wenigstens keiner von der Familie. Das kam so. Einer von unserer Firma, Mellors hieß er, hatte ein Buch mit dem Titel »Astrologie – angewandt auf Pferderennen« aufgegabelt. Darin stand, es hänge alles von der Konstellation der Planeten und ihrem Einfluß auf die Farben der Jockeys ab. Ja, und dann lief in einem Rennen ein Pferd namens »Seeräuberbraut«, ein völliger Outsider. Aber der Jockey trug Grün – genau die Farbe, welche für den derzeitigen Planetenstand im Horoskop angegeben war. Mellors, der von seiner Astrologie ganz besessen war, setzte [12] ein paar Pfund auf das Pferd und beschwor mich, es doch auch zu tun. Obwohl ich sonst nie wette, riskierte ich aus Nachgiebigkeit schließlich zehn Schilling. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Bedingungen, aber jedenfalls gewann ich siebzehn Pfund. Aus einer Art Instinkt – einem sonderbaren Gefühl, das wahrscheinlich einen neuen Markstein in meinem Leben ankündigte – brachte ich das Geld stillschweigend zur Bank, ohne irgend jemand davon zu erzählen. Ein braver Ehemann und Vater hätte mit dem Geld ein Kleid für Hilda (meine Frau) und Schuhe für die Kinder gekauft. Aber ich war fünfzehn Jahre lang ein braver Ehemann und Vater gewesen und hatte es allmählich satt.
Nachdem ich mich ganz abgeseift hatte, war mir wohler; ich legte mich in die Wanne, dachte an meine siebzehn Pfund und wie ich sie verwenden könnte. Es blieb mir die Wahl, entweder ein Wochenende mit einer Frau zu verbringen oder das Geld für allerlei Kleinigkeiten, wie Zigarren und Whisky, zu verbrauchen. Ich hatte mir gerade noch etwas heißes Wasser einlaufen lassen und dachte so über Frauen und Zigarren nach, als plötzlich etwas wie eine Büffelherde die beiden Stufen zum Badezimmer herabgetrampelt kam. Natürlich waren es die Kinder. Zwei Kinder in einem Haus von der Größe des unsern – das ist wie ein Maß Bier in einem Viertelliterglas. Auf das rasende Stampfen folgte markerschütterndes Geschrei.
»Daddy! Laß mich rein!«
»Jetzt geht’s nicht. Troll dich!«
»Aber Daddy! Ich muß wohin!«
»Dann geh woanders hin. Oder wart’ noch ein bißchen. Ich bade jetzt.«
»Daddy! Ich muß aber –!«
[13] Hoffnungslos. Ich kannte das Gefahrensignal. Das W.C. ist im Badezimmer – natürlich, in einem Haus wie dem unsern. Ich ließ das Badewasser ablaufen und rieb mich notdürftig trocken, so schnell ich konnte. Als ich die Tür öffnete, schoß der kleine Billy – mein Jüngster, er ist sieben – herein, wobei er der Ohrfeige auswich, die ich ihm geben wollte. Erst als ich fast angezogen war und nach einer Krawatte suchte, bemerkte ich, daß mein Hals noch voll Seife war.
Es ist widerlich, einen seifigen Hals zu haben. Man hat ein ekelhaft klebriges Gefühl, und das Komischste ist: wenn man ihn noch so sorgfältig abwäscht, fühlt man sich doch den ganzen Tag noch klebrig. Ich ging in schlechter Laune die Treppe hinunter und war ganz darauf eingestellt, mich unbeliebt zu machen.
Unser Eßzimmer ist – wie alle Eßzimmer in der Ellesmere Road – eng und klein, vier auf dreieinhalb Meter, oder sogar nur dreieinhalb auf drei, und die Anrichte aus japanischer Eiche mit den zwei leeren Karaffen und dem silbernen Eierständer, den Hildas Mutter uns zur Hochzeit schenkte, läßt nicht viel Platz übrig.
Die gute Hilda saß trübsinnig hinter der Teekanne, in ihrem gewohnten Alarmzustand, weil die News Chronicle ankündigte, daß die Butter oder sonst etwas teurer werde. Sie hatte den Gasofen nicht angezündet, und trotz der geschlossenen Fenster war es verdammt kalt. Ich bückte mich und hielt ein Streichholz an den Ofen, wobei ich heftig schnaufte – das kam vom Bücken – damit es Hilda auch merkte. Sie warf mir einen Blick von der Seite zu, wie immer, wenn sie findet, daß ich etwas Verrücktes tue.
Hilda ist neununddreißig, und als ich sie kennenlernte, sah sie wie ein Häschen aus. Diesen Eindruck erweckt sie zwar [14] immer noch, aber sie ist jetzt sehr mager und verwelkt; sie hat ewig ein mürrisches, verärgertes Gesicht, und wenn sie noch gereizter ist als gewöhnlich, macht sie einen Buckel und verschränkt die Arme über der Brust wie ein altes Zigeunerweib am Feuer. Sie gehört zu den Menschen, deren Hauptvergnügen im Voraussehen irgendwelcher Katastrophen besteht. Natürlich nur ganz unbedeutender Katastrophen. Um Kriege, Erdbeben, Seuchen, Unfälle, Hungersnöte und Revolutionen kümmert sie sich nicht. Die Butter wird teurer, die Gasrechnung ist viel zu hoch, die Kinder sind aus den Schuhen gewachsen, die nächste Rate fürs Radio ist fällig – das ist Hildas Litanei. Mit besonderer Vorliebe wiegt sie sich hin und her, kreuzt die Arme über der Brust und starrt mich düster an. »Aber George, es ist wirklich ernst! Ich weiß nicht mehr, was wir tun sollen! Woher soll das Geld kommen? Du scheinst dir nicht darüber klar zu sein, wie ernst es ist!« Und so weiter und so weiter. Sie hat die fixe Idee, daß wir einmal im Armenhaus enden werden. Tatsächlich aber – falls es je so weit käme – würde dies Hilda nicht halb so viel ausmachen wie mir. Wahrscheinlich würde sie sogar ein Gefühl der Sicherheit genießen.
Die Kinder kamen schon die Treppe herunter. Sie hatten sich blitzschnell gewaschen und angezogen, wie immer, wenn sie im Badezimmer niemandem im Weg sind. Als ich mich an den Frühstückstisch setzte, stritten sie sich: »Doch, das hast du!« – »Nein, hab’ ich nicht!« – »Doch!« – »Nein!« Das wäre den ganzen Morgen so weitergegangen, wenn ich sie nicht zur Ruhe verwiesen hätte. Ich habe nur diese beiden, den siebenjährigen Billy und die elfjährige Lorna. Mein Verhältnis zu ihnen ist sonderbar. Meistens mag ich sie gar nicht sehen. Ihre Gespräche sind überhaupt [15] nicht zu ertragen. Sie sind in diesem schrecklichen Alter, wo sich alles nur um Lineale, Federetuis und die besten Noten im Französisch dreht. Dann wieder, besonders, wenn sie schlafen, empfinde ich ganz anders. Schon manchmal beugte ich mich an hellen Sommerabenden über ihre Betten, betrachtete ihren Schlaf, ihre runden Gesichter und die strohblonden Haare – ein wenig heller als meine – und es fiel mir ein, was in der Bibel über unsere Sehnsucht steht. In solchen Augenblicken spüre ich, daß ich eine vertrocknete Samenhülse bin, die keinen Wert mehr hat, und daß mein einziger Zweck war, diese Wesen in die Welt zu setzen und sie zu ernähren, bis sie groß sind. Aber das sind nur so Augenblicke. Meistens kommt mir mein eigenes Dasein äußerst wichtig vor, ich fühle, daß noch Leben in mir altem Hund steckt und gute Zeiten vor mir liegen, und ich denke nicht daran, nur eine brave Milchkuh zu sein, die von Weibern und Kindern herumgehetzt wird.
Beim Frühstück sprachen wir nicht viel. Hilda war in ihrer Ich-weiß-nicht-mehr-was-tun-Stimmung, zum Teil wegen des Butterpreises, zum Teil, weil die Weihnachtsferien fast vorbei und noch fünf Pfund Schulgeld für das letzte Semester zu bezahlen waren. Ich aß mein weiches Ei und strich mir Golden-Crown-Marmelade aufs Brot. Hilda kann es einfach nicht lassen, dieses Zeug zu kaufen. Das Pfund kostet fünfeinhalb Pence, und auf der Etikette steht im kleinsten Druck, den es überhaupt gibt: »Unter Verwendung künstlicher Fruchtsäfte.« Das veranlaßte mich, in der unangenehmen Art, die ich manchmal habe, über künstliche Obstbäume zu sprechen und zu fragen, wie sie wohl aussehen und in welchen Ländern sie wüchsen, bis Hilda schließlich wütend wurde. Nicht etwa, weil sie Neckereien übelnähme, sondern weil sie den nebelhaften Grundsatz hat, [16] daß man über etwas, woran man Geld spart, keine Witze machen darf.
Ich sah in die Zeitung, aber es stand nicht viel Neues darin. Unten in Spanien und hinten in China brachten sie sich wie üblich um, die Beine einer Frau waren in einem Bahnhofwartesaal gefunden worden, und König Zogus Hochzeit blieb weiterhin in der Schwebe. Ungefähr um zehn Uhr, viel früher, als ich vorgehabt hatte, machte ich mich endlich auf den Weg in die Stadt. Die Kinder waren zum Spielen in die Anlagen gegangen. Es war ein schneidend kalter Morgen. Als ich zur Haustür hinaustrat, fuhr ein ekelhafter Windstoß über die seifige Stelle an meinem Hals, und plötzlich war mir, als paßten mir meine Kleider nicht mehr und als wäre ich überall klebrig.
[17] ZWEITES KAPITEL
WER DIE STRASSE, in der ich wohne, die Ellesmere Road in West Bletchley nicht kennt, der kennt doch fünfzig andre Straßen dieser Art.
Man weiß ja, wie diese Straßen die Vorstädte durchziehen. Immer dasselbe. Lange; lange Reihen kleiner Doppelhäuser – die Nummern der Ellesmere Road gehen bis 212, und wir haben 191. Und alle sehen aus wie Siedlungshäuser für Beamte, nur häßlicher. Stuck-Vorderfront, mit Kreosot imprägniertes Gartentor, Ligusterhecke, grüne Haustür. Und vielleicht bei einem einzigen Haus von fünfzig ist von irgendeinem antibürgerlichen Typ, der wahrscheinlich im Armenhaus enden wird, die Haustür blau gestrichen statt grün.
Das klebrige Gefühl an meinem Hals hatte mich in einen moralischen Katzenjammer versetzt. Komisch, wie einen so ein klebriger Hals niederschmettern kann. Es nimmt einem allen Schwung, ungefähr so, wie wenn man entdeckt, daß sich einem mitten auf der Straße die Sohle vom Schuh löst. An diesem Morgen machte ich mir nichts vor. Es war beinahe, als ob ich in einiger Entfernung von mir selbst stünde und mich beobachtete, wie ich die Straße entlang ging – mit einem dicken roten Gesicht, meinem Gebiß und dem schäbigen Anzug. Ein Mann wie ich bringt es einfach nicht fertig, wie ein Gentleman auszusehen. Schon auf etwa zweihundert Meter Entfernung merkt man mir sofort an – nun, nicht gerade, daß ich in der Versicherungsbranche arbeite, aber doch, daß ich irgendein Vertreter oder Kaufmann bin. Die Kleider, die ich trug, waren eigentlich nichts andres als eine Uniform der ganzen Zunft. Grauer Anzug [18] in Fischgrätmuster, etwas abgetragen, blauer Mantel – er hatte fünfzig Shilling gekostet – steifer Hut und keine Handschuhe. Mit der Zeit hatte ich das Aussehen der Leute angenommen, die etwas im Auftrag zu verkaufen haben – ein grobes, dreistes Aussehen. In meinen besten Stunden, wenn ich einen neuen Anzug anhabe oder eine Zigarre rauche, hält man mich vielleicht für einen Buchmacher oder Wirt, und wenn es ganz schlecht um mich steht, für einen Staubsaugervertreter, aber im allgemeinen bin ich gleich richtig einzuschätzen. ,Fünf bis zehn Pfund in der Woche’, würde jemand sagen, der mich sähe. Ich bin sowohl finanziell als auch gesellschaftlich so der Durchschnitt der Ellesmere Road.
Ich hatte die Straße fast ganz für mich. Die Männer waren gerannt, um den Acht-Uhr-Zug zu erwischen, die Frauen hantierten noch an ihren Gasöfen herum. Wenn man Zeit hat und in der rechten Stimmung dazu ist, bringt es einen zum Lachen, so eine Straße in den Vorstädten entlangzugehen und an das Leben zu denken, das sich hier abspielt. Denn was ist schon so eine Straße wie die Ellesmere Road? Ein Gefängnis mit vielen Zellen nebeneinander. Eine Reihe zusammengekoppelter Folterkammern, wo die armen Fünf-bis-zehn-Pfund-pro-Woche-Verdiener zittern und beben, jeder von ihnen mit einem Chef, der ihm die Ohren langzieht, einer Frau, die wie ein Nachtmahr auf ihm herumreitet, und Kindern, die wie Blutegel an ihm saugen. Es wird viel Unsinn über die Leiden der Arbeiter geredet. Mir tun die Proletarier nicht so leid. Hat man je einen Erdarbeiter gesehen, der wegen einer Kündigung nachts nicht schlafen konnte? Der Proletarier leidet körperlich, aber er ist ein freier Mensch, wenn er nicht arbeitet. Aber in jedem von diesen kleinen Stuckhäusern wohnt so ein armer Schlucker, der nie[19] frei ist, es sei denn, wenn er schläft und träumt, daß er den Chef niedergeschlagen hat und ihn mit einem Berg Kohle zuschaufelt.
Natürlich, sagte ich mir, ist das Hauptübel bei Leuten wie uns, daß wir glauben, wir hätten etwas zu verlieren. Erstens bilden sich neun Zehntel der Leute in der Ellesmere Road ein, ihre Häuser gehörten ihnen. Die Ellesmere Road und das ganze Viertel bis zur High Street gehört einer riesigen Gesellschaft von Schiebern, genannt Hesperides Estate, Eigentum der Cheerful Credit Building Society. Baugenossenschaften sind wohl die raffinierteste Schieberei unseres Zeitalters. Mein eigner Geschäftszweig, das Versicherungswesen, ist ja auch ein Schwindel, das gebe ich zu. Aber es ist doch wenigstens ein Schwindel, bei dem die Karten offen auf den Tisch gelegt werden. Am Baugenossenschaftsschwindel dagegen ist das Allerschönste, daß die Kunden meinen, man tue ihnen einen Gefallen. Man schlägt sie k.o., und sie küssen einem die Hand dafür. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn auf der Hesperides Estate eine gewaltige Statue des Gottes der Baugenossenschaften thronen würde. Es müßte ein ganz sonderbarer Gott sein. Unter anderem wäre er zweigeschlechtlich. Die obere Hälfte wäre ein Verwaltungsdirektor, die untere Hälfte eine Frau in andern Umständen. In der einen Hand hielte er einen riesigen Schlüssel, den Schlüssel zum Armenhaus natürlich, und in der anderen – wie nennt man doch diese Dinger, die wie Waldhörner aussehen und aus denen Geschenke herausfallen? – ja, ein Füllhorn, aus dem es Kofferradios, Lebensversicherungspolicen, falsche Zähne, Aspirin und Gartenwalzen herausregnen würde.
In Wirklichkeit gehören uns in der Ellesmere Road die Häuser nie, sogar dann nicht, wenn wir alles bezahlt haben. [20] Sie sind kein freier Grundbesitz, sondern nur gepachtet. Sie sind mit fünfhundertfünfzig Pfund festgesetzt, zahlbar innerhalb sechzehn Jahren, und bei Barzahlung würden sie rund dreihundertachtzig Pfund kosten. Das bedeutet also einen Gewinn von hundertsiebzig für die Cheerful Credit, aber man braucht wohl nicht zu sagen, daß die Cheerful Credit viel mehr dabei herausschlägt. Dreihundertachtzig schließt den Gewinn des Bauherrn mit ein, aber die Cheerful Credit baut unter dem Namen Wilson & Bloom die Häuser selbst und steckt diesen Profit in die eigene Tasche. Alles, was sie zu zahlen hat, ist das Material. Aber sie macht auch damit ein Geschäft. Denn unter dem Namen Brookes & Scatterby verkauft sie an sich selbst Backsteine, Ziegel, Türen, Fensterrahmen, Sand, Zement und auch Glas, glaube ich. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie unter irgendeinem andern Namen das Holz verkaufte, aus dem Türen und Fensterrahmen angefertigt werden. Und noch etwas – und das hätten wir wirklich voraussehen können, obgleich es uns allen einen Schock gab, als wir es entdeckten: die Cheerful Credit hält nicht einmal immer ihre Kaufverträge ein. Als die Ellesmere Road gebaut wurde, gab es dort noch freies Land – nicht gerade schön, aber doch gut genug für Kinderspielplätze, genannt ,Platts Wiesen’. Zwar hatten wir es nicht Schwarz auf Weiß, aber es hieß immer, daß ,Platts Wiesen’ nicht bebaut würden. West Bletchley jedoch wuchs zur Vorstadt an, Rothwells Marmeladenfabrik entstand anno 28, die anglo-amerikanischen Alles-Stahl-Fahrradwerke anno 33, die Bevölkerung nahm zu, und die Wohnungen wurden knapp. Ich habe zwar Sir Hubert Crum oder einen andern Bonzen der Cheerful Credit nie in natura gesehen, aber im Geiste sah ich ihre Mäuler wässern. Plötzlich kamen die Baumeister, und auf ,Platts [21] Wiesen’ schossen die Häuser nur so empor. Fürchterliches Geschrei der Hesperides – eine Mieterschutzgesellschaft wurde gegründet. Es war natürlich zwecklos. Crums Anwälte hatten uns in fünf Minuten erledigt, und ,Platts Wiesen’ wurden bebaut. Aber die größte Schuftigkeit, die mich davon überzeugt, daß der alte Crum seine Baronetswürde verdient, ist das Psychologische an der Sache. Nur für die Illusion, daß uns die Häuser gehören – daß wir, wie man so sagt, ein eigenes Stückchen Heimat haben – sind wir, arme Irren der Hesperides und aller anderen solcher Viertel, für immer zu Crums ergebenen Sklaven geworden. Wir sind sämtlich respektable Hausbesitzer, das heißt also Konservative, Verräter und Parasiten. Tötet keine Hennen, die goldene Eier legen! Und die Tatsache, daß wir in Wirklichkeit gar keine Hausbesitzer sind, daß wir alle noch mitten im Abbezahlen stecken und von der höllischen Angst verzehrt werden, irgendwas könnte passieren, ehe wir damit fertig sind, macht die Sache nur noch schlimmer. Wir sind gekauft worden, und – was noch schöner ist – wir sind mit unsrem eigenen Geld gekauft worden. Jeder dieser armen unterdrückten Teufel, der sich zu Tode schindet, um das Doppelte des eigentlichen Wertes für ein Backsteinpuppenhaus zu bezahlen, das sich Belle Vue nennt, weil es keine Aussicht hat – jeder dieser Dummköpfe würde auf dem Schlachtfeld sein Leben lassen, um sein Vaterland vor dem Bolschewismus zu retten.
Ich ging durch die Walpole Road zur High Street. Um 10.14 fährt ein Zug nach London. Als ich am Sixpenny-Bazar vorbeikam, fiel mir der Knoten ein, den ich am Morgen in Gedanken gemacht hatte, um die Rasierklingen nicht zu vergessen. Als ich an den Verkaufstisch für Parfümerien trat, kanzelte der Abteilungsleiter gerade ein Mädchen ab, [22] das er hier unter sich hatte. Im allgemeinen sind um diese Zeit nicht viel Leute im Sixpenny. Manchmal, wenn man kurz nach Eröffnung des Ladens hinkommt, kann man sehen, wie die Mädchen in einer Reihe stehen und ihren morgendlichen Rüffel einstecken müssen – als sollten sie gleich für den ganzen Tag zurechtgestutzt werden. Man sagt, diese großen Filialgeschäfte hielten sich extra solche Kerle von ausgesuchter Brutalität, die von Filiale zu Filiale geschickt werden, um die Verkäuferinnen aufzupulvern. Dieser Abteilungsleiter war ein häßlicher kleiner Teufel, untersetzt, mit eckigen Schultern und einem spitzen grauen Schnurrbart. Er war gerade auf sie losgefahren wegen irgend etwas – offenbar einem Irrtum im Geldherausgeben – und beschimpfte sie nun mit einer Stimme wie eine Kreissäge.
»Natürlich können Sie nicht rechnen! Natürlich nicht! Das wäre Ihnen zu mühsam, auch noch nachzuzählen!«
Ehe ich mich zurückziehen konnte, fing ich einen Blick der Verkäuferin auf. Es war nicht gerade angenehm für sie, daß so ein dicker, rotgesichtiger Kerl mittleren Alters zusah, wie sie beschimpft wurde. Ich drehte mich rasch um und tat, als ob mich irgend etwas am andern Tisch – Vorhangringe oder ähnliches – interessierte. Da fing er wieder an. Er gehörte zu den Leuten, die sich zuerst abwenden, um dann plötzlich wieder auf einen loszufahren – wie eine Libelle.
»Natürlich können Sie nicht rechnen! Was kümmern Sie die zwei Shilling? Überhaupt nichts. Was sind schon zwei Shilling für Sie? Warum sollten Sie sich die Mühe machen, ordentlich nachzurechnen? Ach was! Sie interessiert nur Ihr eigener Vorteil – an andere denken Sie überhaupt nicht!«
Das ging so fünf Minuten weiter – in einer Lautstärke, daß es durch den halben Laden zu hören war. Er ließ immer [23] wieder von ihr ab, so daß sie denken mußte, er sei fertig, und dann fuhr er von neuem auf sie los. Ich zog mich ein wenig von ihnen zurück und betrachtete sie mir näher. Das Mädchen war ein achtzehnjähriges Ding, ziemlich mollig, mit einem Mondgesicht – eine von denen, die nie richtig Geld herausgeben können. Sie war rot geworden und wand sich förmlich vor Scham, als hätte er mit einer Peitsche auf sie eingeschlagen. Die Mädchen an den andern Tischen taten, als merkten sie nichts. Er war ein häßlicher, starrköpfiger Zwerg, ein Spatzenmännchen, einer, der den Brustkasten herausstreckt und die Hände unter den Rockschößen faltet – ein Typ, der Feldwebel hätte sein können, nur daß er nicht groß genug dazu war. In solchen Tyrannenstellungen findet man sehr häufig untersetzte Männer. Er fuhr ihr mit seinem Schnurrbart fast ins Gesicht, um sie noch wirkungsvoller anzuschreien. Und das Mädchen krümmte sich immer noch schamrot.
Endlich war er wohl der Meinung, daß es genüge, und stolzierte davon wie ein Admiral auf dem Achterdeck. Ich trat an den Tisch, um die Rasierklingen zu kaufen. Er wußte, daß ich jedes Wort gehört hatte, und sie auch, und beide wußten, daß ich wußte, was sie wußten. Aber das Ärgste war, daß die Verkäuferin mir zuliebe tat, als wäre nichts gewesen, und ein zurückhaltendes, abstandwahrendes Gesicht aufsetzte, wie es Ladenmädchen männlichen Kunden gegenüber an den Tag legen. Sie spielte die erwachsene junge Dame – eine halbe Minute, nachdem sie abgekanzelt worden war wie ein Schulmädchen! Ihr Gesicht glühte noch, und ihre Hände zitterten. Ich bat sie um Penny-Klingen, und sie wühlte in der Drei-Penny-Lade. Dann ging der kleine Teufel von Abteilungsleiter an uns vorbei, und einen Augenblick dachten wir beide, er komme zurück, um wieder [24] anzufangen. Das Mädchen zuckte zusammen wie ein Hund, der die Peitsche sieht. Aber sie schaute mich dabei schräg von der Seite an. Ich merkte, daß sie mich nun wie die Pest haßte, weil ich Zeuge der Schimpferei gewesen war. Komisch!
Ich machte mich mit meinen Rasierklingen davon. Warum lassen sie sich so etwas gefallen? Ich dachte nach. Aus reiner Angst natürlich. Eine Widerrede – und man kündigt ihnen. Es ist überall dasselbe. Ich erinnerte mich an den Burschen, der mich manchmal in dem Kolonialwarenladen bedient, wo wir einkaufen. Ein kräftiger, zwanzigjähriger Kerl, mit knallroten Backen und riesigen Armen, der besser zu einem Grobschmied getaugt hätte. Und da steht er nun in seiner weißen Jacke, macht Bücklinge über den Ladentisch und reibt sich die Hände zu seinem: »Ja, mein Herr! Ganz recht, mein Herr! Herrliches Wetter für diese Jahreszeit, mein Herr! Was darf es heute sein, mein Herr?« als ob er einen bäte, ihm einen Tritt zu geben. Natürlich auf Anweisung. Der Kunde hat immer recht. In seinem Gesicht steht nackte Angst geschrieben, daß man sich wegen Unhöflichkeit beschweren könnte und ihm gekündigt würde. Außerdem – wer weiß – ist man vielleicht der Spitzel, den die Gesellschaft in den Filialen herumschickt? Angst! Wir schwimmen in Angst. Sie ist unser Element. Jeder, der nicht davor zittert, seinen Posten zu verlieren, zittert vor dem Krieg, dem Faschismus, dem Kommunismus oder sonst etwas. Mir kam der Gedanke, daß der kleine Teufel mit dem spitzen Schnurrbart womöglich noch mehr um seinen Posten zitterte als das Mädchen. Wahrscheinlich hatte er eine Familie zu ernähren. Und vielleicht – durchaus möglich – ist er zu Hause sanft und freundlich, zieht Gurken im Hintergarten, läßt seine Frau auf seinem Schoß sitzen und [25] die Kinder seinen Schnurrbart zausen. Genau so, wie man nie von einem spanischen Inquisitor oder einem dieser Bonzen in der russischen GPU liest, ohne daß betont wird, sie seien im Privatleben so nette Menschen gewesen, die besten Gatten und Väter – hätten ihren zahmen Kanarienvogel vergöttert und so fort.
Die Verkäuferin bei den Parfümerien sah mir nach, als ich aus der Tür ging. Sie hätte mich am liebsten umgebracht. Sie haßte mich, weil ich alles gesehen hatte. Mich noch mehr als den Abteilungsleiter.
[26] DRITTES KAPITEL
DICHT ÜBER UNSERN Köpfen flog ein Bomber. Ein oder zwei Minuten lang schien er mit dem Zug die gleiche Geschwindigkeit zu halten.
Zwei ordinäre Mannsleute in schäbigen Überziehern, offenbar Reisende der niedrigsten Sorte, Zeitschriftenvertreter vielleicht, saßen mir gegenüber. Der eine las die Mail, der andere den Express. An ihrem Benehmen merkte ich, daß sie mich als ihresgleichen betrachteten. Am andern Ende des Wagens führten zwei Angestellte aus einem Anwaltsbureau eine blödsinnige juristische Unterhaltung, die uns klarmachen sollte, daß sie nicht zum Pöbel gehörten.
Ich sah mir die Rückfronten der vorübersausenden Häuser an. Die Strecke von West Bletchley führt fast nur durch Slums, aber irgendwie ist es ein friedlicher Anblick – die kleinen Hinterhöfe mit dürftigen Blumenkästen, die flachen Dächer, wo die Frauen die Wäsche aufhängen, und der Vogelkäfig an der Hausmauer. Der große schwarze Bomber machte einen weiten Bogen und stieg höher, so daß ich ihn nicht mehr sehen konnte. Ich saß mit dem Rücken zu ihm. Einer der beiden Reisenden blickte einen Moment zu ihm hinauf. Ich wußte, was er dachte. Dasselbe, was jeder dabei denkt. Man braucht kein Intellektueller zu sein, um heutzutage solche Gedanken zu haben. In zwei Jahren vielleicht – oder schon in einem – was werden wir dann wohl tun, wenn so ein Ding kommt? In den Keller hinunterstürzen und vor Angst die Hosen naßmachen.
Der eine Reisende ließ die Daily Mail sinken.
»Die Sieger von Templegate kommen«, sagte er.
Die Bureauangestellten redeten irgendeinen gelehrten [27] Unsinn über Eigengut und Pachtzinse. Der andere Vertreter suchte in seiner Brusttasche und holte eine zerdrückte Zigarette heraus. Er tastete seine andere Tasche ab, dann beugte er sich zu mir herüber.
»Hast du Feuer, Tubby?«
Ich suchte nach meinen Streichhölzern. Das war interessant, daß er mich mit »Tubby«, mit »Dicker«, ansprach. Für einen Augenblick vergaß ich die Bomben und dachte über meine Figur nach, wie ich sie heute morgen im Bad betrachtet hatte.
Es stimmt, ich bin dick, meine obere Hälfte hat wirklich die Form einer Tonne. Aber was mir daran interessant ist: man braucht nur ein bißchen dick zu sein, und jeder – sogar ein völlig Fremder – fühlt sich berechtigt, einem einen beleidigenden Spitznamen zu geben, der die äußere Erscheinung lächerlich macht. Angenommen, einer hat einen Buckel oder schielt oder hat eine Hasenscharte – wer würde ihm deswegen einen Spitznamen geben? Aber jeder Dicke ist von vornherein als Ausnahme abgestempelt. Ich bin der Typ, dem die Leute sofort auf den Rücken klopfen oder einen Rippenstoß geben, und fast alle glauben, das gefiele mir. Ich kann nie in das Restaurant von Crown und Pudley kommen (einmal in der Woche gehe ich geschäftlich dorthin), ohne daß dieser Esel Waters, der in Seafoam-Seife reist, jedoch mehr oder weniger ununterbrochen in dem Lokal von Crown hockt, mich in die Rippen stößt und verkündet: Hier kommt das rollende Faß vom Schloßkeller. Ein Spaß, von dem die andern Esel dort nie genug kriegen. Waters hat einen Finger wie eine Eisenstange. Sie bilden sich alle ein, ein Dicker spüre nichts.
Der Reisende nahm noch eins von meinen Streichhölzern, um damit in seinen Zähnen zu stochern, und warf mir dann [28] die Schachtel wieder zurück. Der Zug donnerte über eine eiserne Brücke. Tief unten sah ich das Lieferauto eines Bäckers und eine lange Reihe zementbeladener Lastwagen. Und ich dachte dabei: eigenartig ist nur, daß sie gar nicht so ganz Unrecht haben mit den Dicken. Tatsächlich ist ein Dicker, besonders einer, der es von Geburt – das heißt von Kindheit – an war, nicht wie andere Menschen. Er steht auf einer andern Stufe des Lebens, auf einer des leichten Lustspiels, obgleich es, wenn man an die Schwerathleten auf den Jahrmärkten denkt oder überhaupt an jeden, der über zwei Zentner wiegt, viel eher eine schlechte Posse als ein Lustspiel ist. Ich bin in meinem Leben beides gewesen – dick und schlank – und ich kenne den Unterschied, wie Dicksein das Weltbild beeinflußt. Es ist dann beinahe unmöglich, etwas schwer zu nehmen. Ich zweifle daran, ob ein Mann, der von jeher dick gewesen ist, den man Dicker rief, seit er nur laufen konnte, je den Zustand tiefster Niedergeschlagenheit kennengelernt hat. Wie sollte er auch? Er hat keinerlei Erfahrung darin. Er könnte nie in einem Drama auftreten, denn ein Stück, in dem ein Dicker mitspielt, ist nicht tragisch, sondern komisch. Man stelle sich einen dicken Hamlet vor! Oder Oliver Hardy als Romeo. Seltsamerweise hatte ich gerade ein paar Tage vorher über dieses Thema nachgedacht, als ich einen Roman aus der Leihbibliothek gelesen hatte. »Verheerende Leidenschaft«, hieß er. Der Mann in diesem Buch entdeckte, daß sein Mädchen mit einem andern ging. Er war einer dieser Romanhelden, die blasse, empfindsame Gesichter, dunkles Haar und Privatvermögen haben. Ich erinnere mich noch ungefähr an die betreffende Stelle:
David schritt im Zimmer hin und her, die Hände an die[29] Stirn gepreßt. Er war wie betäubt von der Nachricht. Lange wollte er es nicht glauben. Sheila betrog ihn! Es konnte nicht wahr sein. Dann begriff er plötzlich im ganzen furchtbaren Ausmaß, was geschehen war. Es überwältigte ihn. Schluchzend brach er zusammen.
In diesem Stil ging es weiter. Schon damals mußte ich darüber nachdenken. Da hat man das beste Beispiel. Eine solche Aufführung erwartet man von manchen Leuten. Aber von einem Menschen wie mir? Angenommen, Hilda würde übers Wochenende mit einem andern wegfahren – nicht, daß mir das viel ausmachen würde, es würde mich sogar freuen, wenn sie noch soviel Schwung hätte – aber angenommen, es würde mir doch etwas ausmachen; würde ich schluchzend zusammenbrechen? Würde man das von mir erwarten? Niemals – bei meiner Figur. Es wäre geradezu lachhaft.
Der Zug brauste an einem Damm entlang. Unter uns lagen die Dächer vieler Häuser, kleine, rote Dächer, auf die man Bomben abwerfen würde, und die im Augenblick zart glänzten, weil die Sonne auf sie schien. Seltsam, daß man immer an Bomben denkt. Natürlich besteht kein Zweifel, daß sie bald fallen werden. Man merkt es an all dem optimistischen Gewäsch, das die Zeitungen darüber schreiben. Kürzlich las ich im News Chronicle einen Artikel, in dem es hieß, daß Bombenflugzeuge heutzutage keinen Schaden mehr anrichten könnten. Die Abwehrgeschütze seien jetzt so ausgezeichnet, daß die Bomber in einer Höhe von siebentausend Metern bleiben müßten. Der Verfasser glaubte wohl, wenn ein Flugzeug nur hoch genug fliege, dann würden die Bomben nicht die Erde erreichen. Wahrscheinlich meinte er aber damit, das Woolwich-Arsenal könnten sie [30] auf diese Weise nicht treffen, sondern höchstens eine Straße wie die Ellesmere Road.
Aber ganz allgemein betrachtet, ist es gar nicht so schlimm, dick zu sein. Denn eines ist sicher: ein Dicker ist immer beliebt. Es gibt keine Gesellschaft, angefangen vom Buchmacher bis zum Bischof, wo ein Dicker nicht hineinpaßt und sich wohlfühlt. Und was die Frauen anbetrifft, so haben die Dicken mehr Glück bei ihnen, als man gemeinhin annimmt. Es ist Unsinn, wenn manche Leute glauben, daß Frauen einen dicken Mann nur als Witzfigur betrachten. In Wirklichkeit sieht eine Frau keinen Mann als Witzfigur an, wenn er ihr nur weismachen kann, daß er in sie verliebt ist.
Ich war nicht von jeher dick. Ich bin es vor acht oder neun Jahren geworden und habe jetzt wohl alle entsprechenden Merkmale entwickelt. Es ist aber nicht so, daß ich auch innerlich, geistig so verfettet bin. Nein. Das wäre eine unrichtige Annahme. Ich möchte mich nicht als empfindsame Blume darstellen – das blutende Herz unter der lachenden Maske und so weiter. So einer kann im Versicherungswesen niemals vorwärtskommen. Ich bin grob und gefühllos und passe in meine Umgebung. Solange auf der Welt noch irgend etwas in Kommission verkauft wird und man sich nur mit Frechheit und Dickfelligkeit durchbringen kann, werden sich Leute wie ich danach verhalten. Ich könnte mir fast unter allen Umständen den Lebensunterhalt verdienen – den Lebensunterhalt immer, aber nie ein Vermögen – und sogar bei Krieg, Revolution, Seuchen und Hungersnöten würde ich mich länger über Wasser halten als die meisten andern Menschen. Das ist mein Typus. Aber ich habe auch noch etwas anderes in mir: vor allem die Vergangenheit. Davon erzähle ich später. Ich bin fett – aber innerlich bin [31] ich zart. In jedem Dicken steckt ein zarter Mensch – so wie in jedem Steinklotz eine Statue verborgen ist.
Der Vertreter, der mich um Streichhölzer gebeten hatte, stocherte über dem Express gemütlich in seinen Zähnen herum.
»In der Sache mit den Beinen scheinen sie nicht weiterzukommen«, sagte er.
»Den erwischen sie nie«, antwortete der andere. »Wie soll man ein paar Beine identifizieren? Die sind doch alle verdammt gleich! «
»Vielleicht findet man eine Spur durch die Zeitung, in die sie eingewickelt waren«, sagte der erste.
Unten sah man die Dächer, die sich an die Straßenzüge schmiegten, ins Endlose, wie ein riesiges Feld. Wo man in London auch hinsieht; überall Häuser, ohne Unterbrechung, meilenweit. Mein Gott – wie sollten uns die Bomber da verfehlen, wenn sie kommen? Wir sind wie ein einziges großes Praliné. Und wahrscheinlich alles aus heiterm Himmel. Denn wer wäre heutzutage noch so ein Narr, den Krieg zu erklären? Wenn ich Hitler wäre, würde ich meine Bomber mitten in eine Abrüstungskonferenz jagen. An einem friedlichen Morgen, wenn die Angestellten über die London Bridge strömen, die Kanarienvögel singen und die alte Frau Wäsche aufhängt – süiii – whum! Häuser fliegen in die Luft, die Wäsche wird mit Blut durchtränkt und der Kanarienvogel singt über Leichen weiter.
Es wäre eigentlich schade, dachte ich und blickte über das weite Dächermeer. Endlose Straßen, Fischläden, Kinos, kleine Druckereien in Hintergassen, Fabriken, Mietskasernen, Molkereien, Kraftwerke – und immer so weiter. Überwältigend! Und dieser Friede! Wie in einer großen Wildnis ohne wilde Tiere. Keine donnernden Geschütze, niemand [32] wirft Bomben, keiner schlägt den andern mit einem Gummiknüttel nieder. Wenn man es sich überlegt, gibt es in diesem Augenblick wohl in ganz England kein einziges Schlafzimmerfenster, aus dem jemand mit einem Maschinengewehr knattert. Aber in fünf Jahren? Oder in zwei? Oder in einem Jahr?
[33] VIERTES KAPITEL
ICH HATTE IM Bureau meine Formulare abgegeben. Warner ist einer dieser billigen amerikanischen Zahnärzte; er hat seinen Behandlungsraum – oder ,Sprechzimmer’, wie er es nennt – in halber Höhe eines riesigen Häuserblocks mit lauter Bureaux, zwischen einem Photographen und einem Gummiwarengrossisten. Ich hatte noch ein wenig Zeit, so daß ich etwas essen konnte. Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, in eine Milchbar zu gehen. Sonst meide ich Milchbars grundsätzlich. Wir Fünf-bis-zehn-Pfund-pro-Woche-Verdiener finden in London nicht viele billige Gaststätten. Wenn man für ein Essen nicht mehr als einen Shilling und drei Pence ausgeben kann, kommt nur Lyons, Express Dairy oder A.B.C. in Frage – sonst bleibt einem nur der Fraß, den sie einem in den Kneipen servieren, ein Glas Bier und ein Stück kalter Hackbraten, so kalt, daß er kälter ist als das Bier. Vor der Milchbar riefen die Jungen die ersten Ausgaben der Abendzeitungen aus.
Hinter dem glänzendroten Schanktisch stand ein Mädchen mit einer großen weißen Mütze und werkte am Eisschrank herum. Irgendwo im Hintergrund spielte ein Radio, dum didel didel dum, eine blecherne Musik. Warum zum Teufel bin ich hierhergegangen? dachte ich schon beim Eintreten. An solchen Orten herrscht eine Atmosphäre, die mich niederdrückt. Alles ist glatt, glänzend, modern – überall Spiegel, Emaille, Chromstahl. Alles wird für die Aufmachung verwendet, nichts auf das Essen. Es gibt überhaupt nichts Richtiges zu essen. Lange Listen von Zeug mit amerikanischen Namen, Phantasiegebilde, die nach nichts schmecken. Jedes kommt aus einem Karton, einer [34] Konservenbüchse, wird aus dem Eisschrank gezogen, aus einem Hahn gespritzt oder aus einer Tube gedrückt. Keine Gemütlichkeit, nichts Persönliches. Hohe Stühle zum Sitzen, eine schmale Leiste, von der man ißt – und überall Spiegel. Man macht Propaganda dafür – vermischt mit dem Radiolärm – daß Essen und Gemütlichkeit nichts seien, nur Glätte, Glanz und Stromlinie seien wichtig. Heutzutage ist alles Stromlinie, sogar die Kugel, die Hitler für einen bereit hält. Ich bestellte Kaffee und ein paar Frankfurter. Das Mädchen mit der weißen Mütze schob sie mir so gleichgültig hin, als würfe sie einem Goldfisch Ameiseneier zu.
Draußen schrie ein Zeitungsjunge. Ich sah die Überschrift gegen seine Knie schlagen: Beine. Neue Enthüllungen. Nur ,Beine’, nichts sonst. Das genügte. Vor zwei Tagen hatten sie die Beine einer Frau in einem Bahnhofwartesaal gefunden, in Packpapier eingewickelt, und nach den Zeitungen zu schließen, war das ganze Land so leidenschaftlich an diesen verfluchten Beinen interessiert, daß es gar keiner näheren Erklärung bedurfte. Es waren die einzigen Beine, die zur Zeit Aktualität besaßen. Sonderbar, dachte ich, während ich ein Brötchen aß, wie langweilig die Morde heutzutage geworden sind. Immer dieses Zerstückeln der Leichen und dann das Irgendwo-Liegenlassen der einzelnen Teile. Nichts⅞ mehr von den früheren häuslichen Giftdramen: Crippen, Seddon, Mrs.Maybrick. Es ist wohl so, daß man keinen ordentlichen Mord zustandebringen kann ohne die Überzeugung, daß man dafür einmal in der Hölle schmachten wird.
In diesem Augenblick biß ich in eine meiner Frankfurter und – lieber Himmel!
Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich etwas Gutes erwartet hatte. Ich hatte erwartet, daß es nach nichts [35] schmecken werde, so wie das Brötchen. Aber das – nun, es war ein Erlebnis. Ich will versuchen, es zu beschreiben. Die Frankfurter hatten natürlich eine künstliche Haut, und meine gegenwärtigen Zähne taugten nicht viel. Ich mußte die Haut daher erst vorsichtig ansägen, ehe ich sie durchbeißen konnte. Dann endlich zerplatzte mir das Ding im Mund wie eine faule Birne. Ein schrecklich weiches Zeug floß über meine Zunge. Und dieser Geschmack! Einen Augenblick lang konnte ich es kaum glauben. Dann kostete ich nochmals vorsichtig mit der Zunge. Es war Fisch! Eine Wurst, die sich Frankfurter nannte, mit Fisch gefüllt! Ich stand auf und ging hinaus, ohne meinen Kaffee anzurühren. Weiß der Himmel, wonach der geschmeckt hätte!
Draußen streckte mir der Zeitungsjunge den Standard ins Gesicht und schrie: »Beine! Schreckliche Enthüllungen! Beine! Beine!« Ich hatte immer noch das widerliche Zeug im Mund und überlegte, wo ich es ausspeien könnte. Ich erinnerte mich dunkel, in einer Zeitung etwas über diese Lebensmittelfabriken in Deutschland gelesen zu haben, in denen alles aus irgend etwas andrem gemacht wird. ,Ersatz’ nennen sie es. Dort, hieß es, machen sie Wurst aus Fisch – und den Fisch zweifellos aus sonst etwas. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich in die moderne Welt hineingebissen und dabei entdeckt hätte, aus was sie wirklich gemacht war. So weit sind wir gekommen. Alles glatt und modern – alles aus etwas anderem gemacht. Zelluloid, Gummi, Chromstahl überall, Lichtbogen, die die Nacht verjagen, Glasdächer über unseren Köpfen, Radios, die alle dasselbe spielen, kein unnötiger Pflanzenwuchs mehr, nein, alles zementiert. Künstliche Schildkröten grasen unter künstlichen Obstbäumen. Aber wenn man dann zur Sache kommen will und in etwas Solides beißt – eine Wurst zum Beispiel – was kommt [36] dabei heraus? Verdorbener Fisch in einer Gummihaut. Bomben von Schmutz platzen einem im Mund.
Als ich das neue Gebiß bekommen hatte, fühlte ich mich ein wenig besser. Es saß fest und angenehm auf dem Zahnfleisch; und wenn es auch etwas verrückt klingt, zu behaupten, mit einem Gebiß fühle man sich jünger – es ist doch so. Ich probierte, mir in einem Schaufenster zuzulächeln. Es sah gar nicht so schlecht aus. Warner hat, obwohl er billig ist, etwas von einem Künstler und richtet einen nicht wie eine Zahnpastenreklame her. Er hat viele Schränke voll falscher Zähne – er zeigte sie mir einmal – in allen Größen und Farbtönen, und er sucht sie heraus, wie ein Juwelier die Steine für ein Collier auswählt.
In einem andern Schaufenster spiegelte ich mich nochmals in voller Größe, und es fiel mir auf, daß ich eigentlich gar keine so schlechte Erscheinung war. Zugegeben, ein bißchen dick, aber nicht unangenehm dick. Eben das, was der Schneider eine »volle Figur« nennt – und manche Frauen mögen Männer mit gerötetem Gesicht. Es ist doch noch Leben in dem alten Hund, sagte ich mir. Ich dachte an meine siebzehn Pfund und beschloß endgültig, sie mit einer Frau durchzubringen. Es war noch Zeit, mir ein Gläschen zu genehmigen, ehe die Wirtshäuser schlossen – nur um die Zähne zu taufen. Und weil ich mich mit meinen siebzehn Pfund so reich fühlte, ging ich in einen Tabakladen und kaufte mir eine Sechs-Penny-Zigarre, meine Lieblingssorte. Sie sind zwölf Zentimeter lang, und es werden für sie garantiert nur Havannablätter verwendet. Wahrscheinlich wachsen in Havanna die Kohlköpfe genau so wie in andern Gegenden.
Als ich aus der Wirtschaft trat, war mir ganz anders zumute.
[37] Ich hatte ein paar Gläschen getrunken; sie wärmten mich inwendig, und der Zigarrenrauch, der an meinen neuen Zähnen vorbeistrich, gab mir ein frisches, sauberes, zufriedenes Gefühl. Plötzlich machte es mir Vergnügen, ein bißchen nachzudenken, zu philosophieren. Das lag hauptsächlich daran, daß ich nicht arbeiten mußte. Ich dachte wieder an den Krieg – wie heute morgen schon, als die Bomber über den Zug geflogen waren. Ich war in so einer prophetischen Stimmung, in der man das Ende der Welt vorhersieht und eine Art Freude daraus schöpft.
Ich ging nach Westen den ,Strand’ hinauf, und trotz der Kälte ging ich langsam, um meine Zigarre zu genießen. Die übliche Menge, durch die man sich einen Weg bahnen muß, strömte auf dem Trottoir dahin, alle mit diesem irren, sturen Blick, den die Menschen in den Londoner Straßen haben. Im Verkehr herrschte Gedränge wie immer. Die großen roten Omnibusse schlängelten sich zwischen den Autos hindurch, die Motoren heulten auf und die Hupen gellten. Genug Lärm, um die Toten aufzuwecken, aber nicht genug zum Aufwecken dieser Menschenmasse, dachte ich. Mir war, als wäre ich der einzige wache Mensch in einer Stadt von Schlafwandlern. Das war natürlich Einbildung. Wenn man einen Haufen fremder Leute vor sich hat, ist es einfach unmöglich, sie nicht für Wachsfiguren zu halten, aber wahrscheinlich denken sie das gleiche von einem selber. Und diese Vorahnung, die mich jetzt immer wieder überkommt, daß der Krieg nah bevorsteht und das Ende von allem bedeutet, dieses Gefühl habe nicht ich allein. Wir haben es mehr oder weniger alle. Wahrscheinlich waren sogar unter den Leuten, die in diesem Augenblick an mir vorübergingen, einige, die im Geist detonierende Bomben und den dann auffliegenden Dreck sahen. Über was auch [38] immer man sich Gedanken macht: im selben Augenblick denken Millionen andere das gleiche. Aber mir war nun einmal so, als stünden wir alle auf einem brennenden Schiff, und keiner außer mir merkte es. Ich betrachtete die Gesichter, die an mir vorbeizogen. Wie Truthähne im November, dachte ich. Keine Ahnung von dem, was kommen wird. Es war, als hätte ich Röntgenstrahlen in den Augen und könnte die Skelette daherspazieren sehen.
Ich dachte einige Zeit voraus und sah diese Straße in fünf oder drei Jahren (1941, sagen sie, sei es so weit), nachdem der Krieg begonnen hat.
Nein, nicht alles zertrümmert. Nur ein bißchen verändert, etwas verwahrlost und verdreckt, die Ladenfenster fast leer und so schmutzig, daß man nicht hineinsehen kann. Weiter unten in einer Seitenstraße ein riesiger Bombenkrater und ein ausgebrannter Häuserblock, der wie ein hohler Zahn aussieht. Thermit. Es ist überall sonderbar still, und alle sind abgemagert. Ein Zug Soldaten marschiert die Straße herauf. Sie sind dünn wie Bohnenstangen und bewegen sich schleppend. Der Sergeant hat einen Korkzieherschnurrbart und hält sich steif wie ein Ladestock, aber er ist genau so mager und hat einen Husten, der ihn beinahe zerreißt. Zwischen den einzelnen Husten-Ausbrüchen versucht er, seine Leute im alten Paradestil anzubrüllen. Plötzlich schüttelt ihn ein neuer Hustenanfall. Er versucht, ihn zurückzuhalten, aber es geht nicht. Er krümmt sich und hustet sich fast die Seele aus dem Leib. Sein Gesicht wird purpurrot, sein Schnurrbart schlaff, und das Wasser steigt ihm in die Augen.