Augenschön Das Labyrinth der Zeit (Band 2) - Judith Kilnar - E-Book

Augenschön Das Labyrinth der Zeit (Band 2) E-Book

Judith Kilnar

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Beschreibung

»Nuvolas sind für gewöhnlich sehr stark«, beantwortete Atlas meine Frage. »Es sollte eigentlich unmöglich sein, sie zu zerstören.« Kaum starten Lucy und Atlas auf eine vage Prophezeiung hin eine neue gefährliche Mission durch die Zeitschleifen, entdecken sie, dass die Nächtlichen Geschöpfe stärker geworden sind, als je vermutet. Zudem begleitet die beiden ausgerechnet James, mit dem Atlas eine alte Feindschaft verbindet. Lucy, die sich bemüht, zwischen ihnen zu vermitteln, kämpft noch immer mit ihrer unerwiderten Liebe zu Atlas. Als reichten diese Gründe nicht schon aus, keine allzu positiven Erwartungen an die Reise zu haben, ist da auch noch die unheimliche Todesdrohung … Der Feind scheint gewarnt, und die Augenschönen müssen befürchten, dass es in den eigenen Reihen einen Verräter gibt. Wem können Lucy, Atlas und James jetzt noch vertrauen? Können sie die Nächtlichen Geschöpfe überhaupt noch aufhalten? Und wie sollen die drei etwas finden, von dem sie nicht einmal wissen, wie es aussieht? Das Labyrinth der Zeit ist die spannende Fortsetzung der Zeitreise‐Romantasy‐Trilogie Augenschön.

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Judith Kilnar

 

Augenschön

Das Labyrinth der Zeit

 

Impressum

 

E-Book-Konvertierung und Titelbildgestaltung:

© T.C., Tomfloor Verlag

Umschlagbild: Shutterstock.com

© Blackspring, © Eastimages, © Elnur

 

ISBN 9783964640048 (epub)

ISBN 9783964640055 (mobi)

ISBN der gedruckten Ausgabe 9783964640031

 

Tomfloor Verlag

Thomas Funk

Alex-Gugler-Straße 5

83666 Waakirchen

https://tomfloor-verlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist

urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meine kleine Schwester.

 

Und für Frieder - um mein Versprechen zu halten. Mal sehen, was uns auf der nächsten Liftfahrt so Verrücktes einfällt.

Prolog

 

Hätte jemand am heutigen Tage einen Blick in die Wäschekammer geworfen, wäre er überrascht gewesen.

Er hätte sich gefragt, was die neue Bedienstete dort machte, obwohl sie doch freihatte. Er hätte sich gewundert, warum sie den Tag nicht draußen in der warmen Sonne verbrachte, in die Stadt oder sonst wohin ging, sondern hier zwischen den Bergen Schmutzwäsche saß. Er hätte nicht verstanden, warum sie den Kopf in den Händen vergraben hatte und warum ihre Schultern bebten, als würden sie von Schluchzern geschüttelt. Und erst recht wäre es für ihn seltsam gewesen, wenn das Dienstmädchen aufgeschaut hätte und er die Tränen gesehen hätte, die in Bächen aus den Augen gekullert kamen und über die glatte Haut rannen. Sonst war die hübsche junge Frau nämlich immer fröhlich und munter gewesen, seitdem sie ihre neue Stelle vor einer Woche angetreten hatte.

Aber es schaute heute niemand in die Wäschekammer. Und das war auch der Grund dafür, warum sie sich hier versteckte. Sie wollte allein sein, nicht gesehen werden, wenn sie in solch einem Zustand war. Der Eindruck, den man hier von ihr hatte, sollte nicht getrübt werden, nicht jetzt schon, denn sie war doch erst so kurze Zeit hier.

Sie drückte sich noch weiter in die Ecke der Kammer und brachte einen Wäschestapel gefährlich ins Wanken. Sie fand es doch selbst schlimm, an ihrem freien Tag nicht wirklich freizuhaben. Vielleicht, wenn sie sich nicht in diesem schrecklich aufgelösten Zustand befunden hätte, wäre sie hinausgegangen, hätte einen Spaziergang an der frischen Luft unternommen und den Ausblick genossen, den man von den Klippen auf das Meer hatte.

Das Herrenhaus lag etwas abgelegen und weit draußen in der hügeligen Landschaft – einer der Gründe, warum sie ausgerechnet hierhergekommen war. Der salzige Geruch des Meeres gefiel ihr auch sehr, und sie war mehr als froh, hier eine Stelle gefunden zu haben.

Allerdings würde sie niemals in das kleine Dorf oder gar ins weiter entfernte Städtchen gehen. Nicht heute und auch sonst nie. Das Risiko war zu groß, dass sie entweder erkannt wurde, oder sie die Kontrolle verlor. Beides wäre entsetzlich. Bei Ersterem wäre sie schneller ihre Anstellung los, als sie »Aber«sagen konnte, und wahrscheinlich sofort im Gefängnis. Und bei Letzterem … Sie schüttelte den Kopf, denn sie wollte sich gar nicht vorstellen, was dann passieren würde. Natürlich würde man sie auch in diesem Fall entlassen und einsperren, aber das war es nicht, wovor sie sich fürchtete. Nein, es war die Vorstellung, dass dort tote Menschen liegen würden, ermordet von einem seltsamen Leuchten, das sie sich nicht erklären konnte.

Bei dem Gedanken, dass der Mord ihre Schuld wäre – wieder einmal –, zog sie zitternd die Knie an den Körper und drückte die Stirn gegen die Beine, während die Tränen weiterliefen. Genau das war auch der Grund gewesen, weshalb sie hier nach einer Arbeit gesucht hatte, im kalten Norden am Meer, weit weg von ihrer vorherigen Anstellung, wo sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte, die Stimme, die ihr auch jetzt immer wieder zuflüsterte, sie solle an die letzten Male denken und im Haus bleiben, sich von den Menschen fernhalten. Damals war sie trotz der Warnung in das angrenzende Dorf gegangen und hatte dort erneut die Kontrolle über ihre Gefühle verloren, als der Schneiderlehrling ihr zu nahe gekommen war. Ihre Schönheit hatte ihn angezogen, und er hatte sich ihr auf diese unziemliche Weise genähert, die sie so wütend gemacht hatte. Natürlich hatte sie sich gewehrt und ihn angeschrien, und dann war das seltsame Leuchten gekommen und … Sie schlug die Hände vor das Gesicht bei der furchtbaren Erinnerung.

Sie war aus der Schneiderwerkstätte geflohen, in der neben dem Schneiderlehrling auch noch der Meister und zwei Kundinnen tot am Boden gelegen hatten. Panisch hatte sie ihre paar Habseligkeiten gepackt und war zu Fuß auf der Landstraße geflohen, bevor eine Droschke vorbeigefahren war und sie mitgenommen hatte.

Es war besser zu fliehen, denn vielleicht hatte sie jemand gesehen, wie sie die Schneiderei betreten hatte. Sicher war sicher. Außerdem hätte sie keinem Bewohner dort mehr in die Augen schauen können.

Hier, das hatte sie sich geschworen, würde sie auf die innere Stimme hören. Ach, wenn sie es doch nur zuvor auch schon getan hätte! Sie hätte verhindern können, dass sie sich selbst hasste. Dass sie überall Angst hatte, dass jemand sie wiedererkannte, sie mit den seltsamen Todesfällen in Verbindung brachte, die überall geschehen waren, wo sie gearbeitet hatte und dann plötzlich verschwunden war. Aber sosehr sie Angst davor hatte, so sehr wünschte sie es sich manch-mal herbei. Sollte sie nicht genau die Strafe erhalten, die sie eigentlich verdiente? Die jeder Mörder verdiente?

Die junge Frau richtete sich auf. Ganz plötzlich fasste sie einen Entschluss. Höchstwahrscheinlich stand auf so viele Morde die Todesstrafe, und sie selbst würde sie vollstrecken. Sie würde selbst die Strafe ausführen, die gleichzeitig eine Befreiung sein würde.

Mit wackeligen Knien stand sie auf und stützte sich an der Wand ab. Ihr einfaches Kleid war an den Knien nass, dort, wo sie ihren Kopf abgelegt hatte. Doch es war unwichtig. Nichts war mehr wichtig.

Während sie die steinerne Treppe hinaufschlich und unbemerkt durch die Hintertüre aus dem Haus schlüpfte, lächelte sie, obwohl ihr gar nicht froh zumute war. Wie töricht doch alle Menschen waren! Wie sie sich von Schönheit blenden ließen und nicht genauer hinsahen! Es war ihr immer von Vorteil gewesen, dass die meisten eher ihre wohlgeformte Gestalt betrachteten, als ihr in die Augen zu blicken. Nur manche taten das und waren dann überrascht, wenn sie die ungewöhnliche Farbe sahen, ein seltsames Zitronengelb, eine Farbe, die Augen eigentlich nie hatten. Aber wie gesagt, das bemerkten nur die wenigsten. Zudem sah sie meist zu Boden, um sie zu verbergen, und wenn nichts anderes half, dann trug sie ihre hellblonden Haare eben offen und versuchte sich hinter diesem Vorhang zu verstecken.

Der Saum ihres Kleides wurde schmutzig, als sie über die sanften Hügel hinter dem Haus lief, auf die Klippe zu. Sie hielt die Kleidung so schlicht wie möglich – noch schlichter, als es für die Bediensteten ohnehin üblich war –, um ihre Schönheit nicht noch zu betonen.

Sie stolperte und fiel hin. Als sie wieder auf die Beine kam und an sich heruntersah, war ihr Kleid völlig ruiniert, aber das spielte jetzt ohnehin keine Rolle mehr. Als sie weiterrannte, liefen wieder Tränen über ihre Wangen. Sie wischte sie nicht fort, ließ ihre Haut vom salzigen Wasser benetzen. Vor sich konnte sie schon den Rand des Grasbewuchses sehen, wo die Klippe anfing.

Plötzlich stoppte sie und bemerkte, was ihr einen Schauer über ihren Rücken jagte. Sie bemerkte das Brennen in den Augen. Das Brennen, das immer dann einsetzte, wenn sie ihre Gefühle nicht kontrollieren konnte – wie jetzt gerade die Trauer und den Selbsthass.

Von aufkeimender Angst gepackt, warf sie sich einfach auf den Boden und drückte den Kopf in das piksende Gras. Ihr ganzer Körper erstarrte, als der gelbe Strahl sich hinausschlängelte und verwirrt vor dem Boden innehielt, bevor er sich in ihn hineingrub.

Sie selbst konnte sich nicht bewegen und wartete stocksteif darauf, dass der Strahl zurück in ihre Augen wanderte, diesmal hoffentlich, ohne etwas Schlimmes angerichtet zu haben. Tatsächlich dauerte es keine zwanzig Sekunden, bis das Brennen nachließ und das gelbe Leuchten ruckartig zurück in ihre Augen zischte. Seltsamerweise begann die Erde dort, wo das Licht in sie eingedrungen war, leicht zu vibrieren.

Ängstlich sprang die junge Frau auf, drehte sich weg und rannte schnell weiter. Sie wollte das Seltsame nicht mitansehen, wie aus dem Boden ein kleines Bäumchen zu wachsen begann, sich Zweige daraus hervorwanden, Blätter sprossen, Knospen wuchsen und sich letztendlich kleine, ovale Dinger formten, die kaum später kleine Zitronen waren, die von einem gerade gewachsenen Baum hingen.

Stolpernd kam sie schließlich am Klippenrand zum Stehen. Zitternd strich sie sich über die Augen und starrte auf das Meer hinaus. So sah sie die tanzenden Schaumkronen auf dem türkisblauen Wasser, das sich zu Wellen zusammenzog, die sich dann laut krachend an der dunkelbraunen Wand der Klippe brachen und schillernde Tropfen umherspritzten.

Sie holte tief Luft und ließ dann den Blick in die Ferne gleiten. Ihr gefiel es hier. Ihr gefiel es hier wirklich. Mehr als an jedem anderen Ort, an dem sie schon gewesen war. Sie hatte sich sogar vorstellen können, ihr ganzes Leben hier zu verbringen. Und jetzt, an der frischen Luft, zum ersten Mal wieder ruhig atmend, überlegte sie, ob sie ihren Entschluss nicht doch ändern sollte. Könnte sie es nicht noch schaffen, sich zu kontrollieren? Wenn sie es nur wirklich versuchte und den Willen dazu hatte?

Einen Augenblick später stand sie mit neu erwachtem Lebenswillen ruhig an der Klippe, ohne die Absicht hinunterzuspringen. Vielleicht würde sie es auch schaffen zu vergessen und …

»Caitlin! Caitlin!«

Überrascht fuhr sie herum und entdeckte den fünfjährigen Sohn ihrer Herrschaft, der fröhlich winkend auf sie zustürmte.

»Caitlin! Ich habe dich gesehen, wie du aus der Hintertür gegangen bist. Willst du mit mir spielen?« Der Junge blieb ein paar Meter vor ihr stehen und strahlte sie erwartungsvoll an. Die Tatsache, dass sie nur ein Dienstmädchen war, ignorierte er wie üblich.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und wollte einen Schritt vortreten, um den Ungezogenen zurück ins Haus zu schicken, als ihr Fuß auf dem Gras keinen Halt fand und nach hinten rutschte. Panisch riss sie die Augen auf und ruderte mit den Armen durch die Luft. Doch sie fand das Gleichgewicht nicht wieder. Rückwärts stürzte sie von der Klippe, auf die schäumende Gischt zu.

»Caitlin! NEIN!«, brüllte der kleine Junge auf. Er hatte das Dienstmädchen sehr gern gehabt. Aber jetzt fiel es dem mit dem Aufprall verbundenen Tod entgegen.

Ihre Leiche wurde jedoch nie gefunden.

 

 

Nur Sekunden nach dem harten Aufprall, den unerträglichen Schmerzen, die sie in die Bewusstlosigkeit katapultiert hatten, wurde Caitlin aus den Äußeren Schleifen gerissen und erwachte, nachdem die unzähligen Brüche verheilt waren, in den Inneren Schleifen.

Wie jedes Augenschön.

 

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 3, Kapitel 15)

 

Die durchschnittliche Zeit, die ein Augenschön für gut kontrollierte Grundmagizismen braucht, beträgt nach Beginn des regelmäßigen Trainings etwa ein Jahr. [...] Dabei handelt es sich um die einfachen Arten der Grundmagizismen – der ausgeführte Ortssprung ist noch weit entfernt. Für das Erlernen der Variantmagie bedarf es bei jedem Augenschön eines unterschiedlich langen Zeit-raums. Die bisherigen Zeitspannen liegen zwischen zehn Monaten und fünf Jahren.

 

Aus dem Bericht:

Magizieren – Übung macht den Meister

von H. Wreckins

Kapitel 1

 

Atlas hatte recht gehabt, es war tatsächlich etwas unangenehm, nicht genau zu wissen, wann man in den Lichterstrudel gezogen wurde. Nur Atlas’ und James’ haltende Hände hielten mich davon ab, mich vor Überraschung zu überschlagen, wie ich es schon einmal getan hatte, was meinem Magen gar nicht gut bekommen war.

Die Fahrten in fremde Schleifen dauerten anscheinend genauso lange wie Fahrten in die Äußeren Schleifen. Ich schwebte mindestens fünfzig Sekunden lang durch die weiße Lichtluft, bevor ich harten Boden unter mir spürte und vorsichtig die Augen öffnete. Atlas und James neben mir schauten sich ebenfalls suchend um und ließen dann meine Hände los. Ich schob sie in die Jackentasche und musterte meine Umgebung.

Eine weite, hügelig-steinige Landschaft breitete sich vor uns aus, die sich endlos weit und ohne jedes Anzeichen von Leben bis an den Horizont erstreckte. Ziemlich trist.

»Dann, äh … lasst uns losgehen«, sagte James und wollte augenscheinlich direkt in diese Steinwüste laufen.

»Moment!«, riefen Atlas und ich gleichzeitig.

»Du zuerst«, ließ er mir grinsend den Vortritt.

Ich drehte verlegen eine Locke aus meinem Pferde-schwanz um die Finger.

»Ich ... also, ich würde jetzt mal gerne genau hören, wie unser Plan lautet. Wie werden wir die nächsten Tage, Wochen, Jahre verbringen?«

Atlas seufzte und kramte in seiner Hosentasche. »Du hast es in London eigentlich bereits gesagt. Wir werden einfach von Schleife zu Schleife reisen, und nach … Sekunde …,« er holte ein zerknittertes Blatt Papier aus der Hosentasche und faltete es auseinander, »… nach den Hinweisen aus der Prophezeiung Ausschau halten.« Er reichte mir das beschriebene Blatt.

 

- helfend, wenn die Sonne lacht

- brauchen eine reine Seele

- nicht vom heiligen Stern kosten

- nicht von Rache verätzt sein

- auf goldgleichen Schwingen erheben

- lautstarke Glocken werden klingen

- in Tiefen fallen

- auf Höhen steigen

- im Blutgewand das Ende wird sich zeigen

 

Das waren also die sehr aufschlussreichen Informationen aus den Prophezeiungen.

Atlas sah meinen skeptischen Blick und nahm mir das Blatt wieder ab.

»Es stimmt, es ist sehr vage. Dazu kommt noch, dass man nicht weiß, ob die Worte auch für das stehen, was sie normalerweise meinen, oder ob es Symbole oder Redewendungen für etwas anderes sind.«

Das wurde ja immer besser. Langsam, aber sicher beschlich mich das Gefühl, dass die anderen nicht viel mehr Ahnung vom Verlauf unserer Reise hatten als ich. Und das hieß, dass wir nahezu völlig uninformiert in den sicheren Tod starteten.

Atlas steckte das Blatt zurück in seine Hosentasche und wandte sich dann an James. »Wir sollten trotzdem nicht einfach losmarschieren. Wer weiß, was für Kreaturen hier leben!«

James zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Hast du Angst?«

Atlas lachte abfällig. »Mach dir da mal keine Hoffnungen. Ich dachte eher daran, was deine vielen Bewunderinnen von ihrem großen Helden denken würden, wenn wir ihnen erzählen, dass du nicht einmal die ersten zehn Minuten überlebt hast.«

James zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Du bist nur eifersüchtig, dass dir nicht so viele Mädchen hinterherrennen. Ich würde ja sagen, dass es deine eigene Schu-«

»Stopp!«, unterbrach ich ihre Zankereien genervt. »Was seid ihr denn für Streithähne? Könnt ihr eure Feindschaft nicht für einen Moment beilegen und euch um unsere Aufgabe kümmern? Ich finde, dass Atlas recht hat und wir nicht einfach mir nichts, dir nichts losgehen sollten. Außerdem würde ich gern wissen, was ihr euch von dieser spartanischen Wüste erhofft.« Ich stemmte die Hände in die Seiten und musterte James und Atlas aufgebracht, während sie mich verblüfft anstarrten.

James erholte sich als Erster von seiner Überraschung. »Ich habe keine Ahnung, was wir hier finden könnten. Wer weiß das schon? Ich würde einfach los-laufen und mich umschauen.«

Atlas runzelte die Stirn. »Ich würde eher vorschlagen, dass wir getrennt Ortssprünge vollführen, uns einzeln umschauen und uns dann in zehn Minuten wieder hier bei dem verdorrten Strauch treffen.«

Ich nickte zustimmend. »Und wenn irgendetwas ist, schickt man einen Lichtstrahl in den Himmel.« Endlich konnte ich auch einen produktiven Vorschlag unterbreiten.

James erklärte sich ebenfalls einverstanden. »Dann aber in einer Viertelstunde wieder hier!« Er holte seine Omunalisuhr aus der Tasche und verschwand in einem grünen Lichtstrahl. An der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, wuchs ein dorniger Strauch zwischen den Steinen empor.

Atlas löste sich eine Sekunde später in dem strahlenden Türkis seiner Augen auf und spritzte mich mit einem Wasserschwall nass. Wenigstens würden wir nicht verdursten, dachte ich, bevor ich golden aufleuchtete.

 

 

Wie vermutet konnten wir in der Kieswüste nichts finden. Kein Leben außer kleinen, verdorrten Sträuchern – und schon gar nicht etwas von Atlas’ Liste.

In den fünfzehn Minuten sprang ich quer durch die Wüste, darauf bedacht, nicht aus Versehen am Rand einer Schlucht zu landen, die es hier zahlreich gab. Ab und zu sah ich türkisfarbene und grüne Lichtpunkte an den Orten, an denen Atlas und James auftauchten und verschwanden. Als ich nach einem Blick auf meine Omunalisuhr erkannte, dass die Zeit um war, ließ ich mich von meinem kleinen Diamanten an unserer verabredeten Landestelle ausspucken.

Atlas wartete dort schon, und James kam zeitgleich mit mir an. »Ich habe etwas entdeckt!«, rief er aus und zeigte in Richtung eines großen Felsens, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Katzenkopf hatte.

»Dort drüben«, sagte er, leuchtete auf und sprang dorthin zurück.

Leicht genervt folgten Atlas und ich ihm. Was sollte es denn schon Interessantes geben?

James’ Fund stellte sich als ziemlich rätselhaft heraus.

»Igitt«, murmelte Atlas.

»Gruselig.« Mir rann ein kleiner Schauer über den Rücken, denn auf dem steinigen Boden vor uns lag ein menschliches Skelett. Da jedoch keine Menschen in den Inneren Schleifen lebten, mussten es die Überreste eines Augenschöns sein. Die Knochen waren braun und zerfallen, sie schienen schon eine Weile hier zu liegen. Mir wurde schlecht. Als ich sie näher betrachtete, stellte ich fest, dass an den Armknochen Spuren von ... Zähnen waren.

»Herr im Himmel, glaubt ihr ...« Ich beendete den Satz nicht, ich zitterte zu stark.

Atlas kniete sich hin und zog einen Zettel, den ich noch gar nicht entdeckt hatte, unter dem zerfallenen Schädel hervor. Nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, sog er scharf die Luft ein. »Das kann nicht sein.« Er stand auf und reichte uns das Blatt.

Ich traute mich kaum, einen Blick darauf zu werfen, doch das musste ich gar nicht, denn James las den kurzen Text bereits vor.

»Liebe Lucy, lieber James, und lieber Atlas, ich freue mich darauf, im Jenseits eure Bekanntschaft zu machen.« Seine Stimme war immer leiser geworden, und in seinem Gesicht konnte ich das lesen, was vermutlich auch auf meinem Gesicht zu sehen war: Fassungslosigkeit und Angst.

»Woher kennt der Verfasser des Briefes unsere Namen?« Zu meinem bebenden Körper gesellte sich ein metallener Geschmack im Mund.

»Genau das ist hier die Frage«, murmelte Atlas, während er die Knochen, ohne sie zu berühren, nach weiteren Botschaften durchsuchte.

Ein stummes Schluchzen kroch meine Kehle empor. Die Kieswüste, die mir zuvor noch trist, langweilig und ungefährlich vorgekommen war, erschien mir jetzt wie der Vorhof zur Hölle. Hinter jedem Stein vermutete ich jemanden, der sich jederzeit auf uns stürzen könnte. Mir wurde übel. »Ich will hier weg«, flüsterte ich.

Atlas blickte von seiner Suche auf. »Himmel, Izzy, du bist ja ganz bleich!«

Ich fühlte mich eher so, als wäre ich grün im Gesicht, denn der bittere Geschmack verursachte mir noch mehr Übelkeit. Zitternd stand ich da und umklammerte Halt suchend meine Rucksackträger.

Atlas hatte sich erhoben und schwang sich seinen Rucksack, den er an die Felswand gelehnt hatte, auf den Rücken. »Du musst keine Angst haben. Du bist unsterblich, schon vergessen? Dich kriegt so schnell keiner tot.«

Es sollte wohl aufmunternd klingen, aber viel brachte es mir nicht.

»Ich würde auch lieber weitergehen«, mischte sich James ein und schauderte. »Diese Wüste ist mir nicht mehr geheuer.«

Atlas öffnete den Mund, um – wie ich vermutete – James wegen seines Anflugs von Schwäche aufzuziehen, sagte dann aber nach einem Blick auf mich bloß: »Einverstanden.«

Ich wurde in ihre Mitte genommen und ließ mich erleichtert in das weiße Licht und das Schwebegefühl sinken. Einen unheilvolleren Start unserer Reise hätte ich mir nicht vorstellen können.

 

 

»Wozu hast du ein Zelt dabei und wir alle Schlafsäcke?«, fragte ich, als ich mich hinter Atlas um einen Baum schlängelte und wir in ein kleines Birkenwäldchen gelangten.

Dieses Mal hatte unsere Fahrt in einem fröhlich grünen Sommerwald geendet, in dem meine panische Angst verschwand und mich die lustig um uns herumhüpfenden Eichhörnchen in eine fröhlichere Stimmung versetzten.

Atlas wandte den Kopf kurz zu mir. »Wir sind zwar Nocturnals und müssen nicht schlafen, aber wir haben auch keine unbegrenzten Energiereserven. Deswegen bauen wir über Nacht unser Zelt auf, legen uns in die Schlafsäcke und lesen oder machen irgend-etwas anderes Ruhiges. Das hat uns Tatjana noch einmal explizit eingeschärft, damit wir nicht vor Erschöpfung zusammenbrechen. Während der Nacht sollen sich unsere Körper erholen und Kraft für den neuen Tag schöpfen.«

»Oh, na dann …« Ich drückte einen herunter-hängenden Ast zur Seite, und wir traten auf eine Lichtung.

Der Nachmittag ging bereits in den Abend über, und die Sonne zauberte rosa Schlieren an den Himmel. Die Lichtung lag leer und verträumt da, nahezu kreisförmig und von Birken umgeben.

»Hier könnten wir unser Zelt aufschlagen«, meinte James, der hinter mir aus dem Wald trat. »Es ist ein ruhiges Plätzchen, und ich weiß nicht, ob wir heute noch eine andere geeignete Stelle finden«, fügte er mit Blick zum Himmel hinzu.

Atlas lud bereits seinen Rucksack ab und löste das daran befestigte Zelt. »Denke ich auch. In der Zeitrechnung unserer Schleifen ist es schon acht Uhr.«

Das erklärte meine Erschöpfung, die ich mir allein anhand meines Zeitgefühls nicht hatte erklären können. Erleichtert stellte auch ich meinen schweren Ruck-sack ab und ließ mich ins Gras sinken.

Eine halbe Stunde später war das kleine, dunkelblaue Zelt fertig aufgebaut und unsere Schlafsäcke darin ausgebreitet. Zum Glück war der Innenraum größer, als er von außen aussah, und man konnte auch noch problemlos die großen Rucksäcke in dem niedrigen Vorzelt verstauen. Ich bemerkte erst, welch großen Hunger ich hatte, als James mehrere Tüten und Dosen aus seinem Rucksack holte und vor dem Zelt ein kleines, wenig abwechslungsreiches Picknick bereitete.

»Wie kommen wir an neuen Proviant, wenn wir das alles aufgebraucht haben?«, fragte ich und knabberte an einer etwas labberigen Gurke. »Ich meine, wir haben doch unmöglich genug Essen für fünf Jahre dabei, oder?«

James hob die Hand als Zeichen, dass er mir antworten würde, sobald er fertig gekaut hätte. »Unser mitgenommenes Essen reicht vielleicht für eine Woche, wenn wir es aufsparen. Wir gehen einfach davon aus, dass wir früher oder später entweder in einer der Inneren Schleifen etwas zu essen finden oder durch Zufall in die Äußeren Schleifen geworfen werden und dort Essen auftreiben können. Du brauchst dir somit keinerlei Sorgen zu machen, du könntest verhungern, Süße«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Süße. Jetzt ging das schon wieder los! Ich verdrehte die Augen, was James geflissentlich ignorierte.

»Und falls wir doch nichts bekommen, essen wir einfach unser eigenes Fleisch. Es wächst ohnehin nach«, meinte Atlas sarkastisch.

»Das ist ja … ekelhaft!« Ich schüttelte mich angewidert. »Wir sind keine Kannibalen!« Ich biss in eines der belegten Brote, das – so hoffte ich – mit Schweine-fleisch belegt war.

»Apropos eklig …« James trank einen Schluck aus einer Flasche und rülpste ungeniert.

Eklig, eklig, eklig!

»… wir sollten mal überlegen, was das mit dem Skelett zu bedeuten hatte.«

Nein! Ich weigerte mich, auch nur daran zu denken, und drängte das Bild entschieden aus meinem Kopf.

»Müssen wir das?«, fragte ich mit sichtlicher Nichtbegeisterung.

Doch Atlas nickte bedauerlicherweise. »Ich glaube, es liegt auf der Hand. Derjenige, der den Zettel wirklich geschrieben hat, auch wenn es so aussehen sollte, als hätte es der Tote getan, kann die Information über unsere Namen nur von jemandem aus unserer Schleife haben. Und da die Dromeden weder hören noch sprechen können – es würde mich ohnehin wundern, wenn sie von unserer Reise bereits etwas mitbekommen hätten –, kann es nur ein Augenschön gewesen sein. Es ist also ein Verräter in unseren Reihen. Mindestens einer, vielleicht sind es sogar mehrere. Und sie oder er müssen gut informiert sein. Denn dass Izzy mit auf die Reise kommt, wussten bis gestern nur wenige. Und der Zettel lag bei dem Skelett auf jeden Fall länger als eine Nacht, so, wie er aussieht. Aber wer ist oder sind die Verräter?« Nachdenklich kaute er an seinem belegten Brot.

Ich musste erst einmal schlucken. Ein Verräter, möglicherweise jemand, den ich bereits kennengelernt hatte, sollte unter den Augenschönen sein? Das kam mir absurd vor. Doch Atlas’ Überlegungen ergaben auch Sinn.

»Du müsstest doch wissen, wer es ist«, sagte James unbestimmt, doch an seinem Tonfall merkte ich, dass seine Worte gut gewählt waren und er es mit ihnen auf Atlas abgesehen hatte. »Du hast doch so viel Erfahrung mit Verrätern.«

Ehe ich auch nur blinzeln konnte, war Atlas aufgesprungen und funkelte James an. »Sag noch einmal etwas über mich und Verräter, und deine Tage sind gezählt!«

James sprang ebenfalls auf. Atlas’ Drohung schien ihn kalt zu lassen. »Ach, macht dich das immer noch so wütend? Immer noch nicht drüber hinweg?«, höhnte er.

Ich hatte keine Ahnung, worüber die beiden sprachen, aber ihre feindselige, lauernde Haltung machte mir Angst.

»Sei verdammt noch mal still!«, zischte Atlas.

»Und warum sollte ich schweigen?« James ging zwei Schritte von der Picknickdecke weg, Atlas folgte ihm parallel. »Ach, übrigens habe ich dir noch gar nicht zu deinem neu aufgebauten Selbstbewusstsein gratuliert. Andere Kleidung, anderer Haarschnitt, deine Redseligkeit. Bist wohl endlich aus dem hinterlassenen Scherbenhaufen auferstanden, nicht mehr der Ascherest der Flamme, die du erst so gelieb-«

James wurde von einem lauten Platschen übertönt und von einem aus dem Nichts auftauchenden Wasserstrahl nach hinten geschleudert.

Ich blickte entsetzt zu Atlas, in dessen Augen blanker Hass glitzerte und wohin sich der türkisfarbene Strahl zurückzog. James war aufgesprungen, und ein grüner Strahl schoss an Atlas vorbei und traf die Birke hinter ihm, deren Äste rasant wuchsen, sich zurückbogen und klatschend Atlas von den Füßen rissen.

Ich sah Blut an seiner Stirn hinunterlaufen, als er sich zur Seite rollte und eine Handvoll leuchtender Blitze aus seinen Augen auf James schleuderte. Mein Kopf zuckte ihnen nach, und ich bemerkte, wie James’ Haut an den getroffenen Stellen ungesund rot wurde und Wasser aus seiner Haut quoll. Wurde ihm etwa das im Körper enthaltene Wasser entzogen? James heulte vor Schmerz auf, und nach einem Leuchten seinerseits schlangen sich breite, aus dem Boden wachsende Pflanzenschlingen um Atlas’ Arme und schnürten ihm das Blut ab.

Ich hatte nicht vorgehabt oder gedacht, die Variant-magie so kennenzulernen. In gewisser Weise hatte Rose recht gehabt, es war tatsächlich interessant. Besser hätte ich es jedoch gefunden, wenn Atlas und James es nicht aneinander demonstrieren würden. Herr im Himmel, die brachten sich noch gegenseitig um!

James hatte sich gerade erfolgreich vor einem nahenden türkisfarbenen Blitz zur Seite gedreht und richtete den Blick konzentriert auf Atlas. Was würde er jetzt tun? Atlas hatte sich von den Pflanzenarmen befreien können und stand, stark im Gesicht blutend, in halb kauernder Haltung da. Seine Wunden anzusehen tat mir jetzt bereits so weh, als hätte ich sie selbst. Ich wusste, ich würde es nicht ertragen können, ihn ein weiteres Mal vor Schmerzen gekrümmt am Boden liegen zu sehen. Also zögerte ich nicht. Mit einem panischen Aufschrei warf ich mich nach vorne, um Atlas vor James’ grünem Leuchten zu schützen. Ein scharfer Schmerz traf mich am Arm, und ich schlug rotierend auf dem Boden auf. Mir bleib die Luft weg, und vor meinen Augen begannen Sterne zu tanzen. Alles wurde schwarz.

 

 

»Izzy! Mistkerl, was hast du getan?«

»Ich wollte doch nicht sie treffen!«

»Ja, stimmt, du wolltest nur mich umbringen, jedenfalls für ein paar Sekunden, bevor meine Unsterblichkeit mich zurückgeholt hätte.«

»In dem Punkt hast du recht. Leider kann ich dich nicht für immer auslöschen.«

»Schade, was? Aber jetzt sag, was hast du für einen Blitz geschleudert?«

Kühle Hände, die meine Stirn abtasteten.

»Es ... es war ein Stechleuchten.« Die Stimme klang schuldbewusst.

»Ein was?! Spinnst du?«

»Ich ... ich wollte sie doch nicht treffen, wie oft denn noch!«

»Dir ist klar, dass sie trotz ihrer Unsterblichkeit von deinem Stechleuchten Narben haben wird?«

»Ich wollte …«

»… sie nicht treffen. Das habe ich inzwischen verstanden. Weißt du, wie gerne ich dich gerade tot sehen würde?«

Ein weicher Daumen strich über meine Wangen.

»Izzy? Izzy, kannst du mich hören?«

Etwas Weiches wurde unter meinen Kopf geschoben.

»Sie, ähm ... wird es schaffen. Hier, ein Kissen.«

»Ein Kissen ist das Beste, was dir jetzt einfällt? Und sie wird es schaffen? Verdammter Idiot!«

Das Weiche unter meinem Kopf ruckelte.

»Izzy?«

Vor meinen Augen war es noch immer schwarz, und doch pochte es überall blutrot in mir. Giftiger Schmerz fraß sich durch meinen linken Arm. Ich verzog den Mund und hörte ein erleichtertes Flüstern.

»Sie kommt zu sich. Izzy?«

Meine Lider flatterten. Verschwommene Bilder drangen zu meinem Bewusstsein durch. Lilafarbener Hintergrund, grünliche Punkte am Rand und zwei türkisblaue Punkte über mir. Ich blinzelte angestrengt, um diesen irritierenden Wirbel an Farben zu ordnen und ihnen Formen und Namen geben zu können. Der fürchterliche Schmerz in meinem Arm zuckte hoch, und ich stöhnte auf.

»Wo tut es dir weh?«

Der lila Hintergrund wurde zum abenddämmrigen Himmel, die grünlichen Punkte am Rand waren die Blätter der Birken über mir, und die beiden türkisblauen Punkte gehörten zu Atlas’ besorgtem Gesicht.

Ich hob ganz leicht den linken Arm an und ließ ihn mit einem schmerzgepeinigten Stöhnen wieder fallen. Atlas’ Blick wanderte an mir hinunter, vermutlich zu meinem Arm hin.

Zwei grüne Augen tauchten von links in meinem Blickfeld auf. »Süße, es ist alles gut.«

Ich hörte Atlas abfällig schnauben. Er sah mir wieder ins Gesicht. »Ja, es ist alles gut. Es hat dich lediglich ein Stechleuchten von dem Idioten getroffen, der sich ständig darum bemüht, dich mit Komplimenten zu überhäufen.«

»Was ist ein Stechleuchten?«, fragte ich matt.

»Es ist ein Zauber des Wundmagizismus, eine Art der Grundmagie, eine sehr komplizierte und anstrengende. Dabei werden mit dem Strahl so schlimme Verletzungen herbeigeführt, dass sie nicht sofort verheilen und trotz Unsterblichkeit zu Narben führen können. Bedanke dich für die Schmerzen also bei deinem tollen Verehrer.«

Ich schloss die Augen und atmete tief durch, versuchte meinen brennenden Arm zu ignorieren. Langsam drückte ich mich mit dem Rücken vom Boden ab und richtete mich auf den unverletzten rechten Arm gestützt auf. Plötzlich wurde mir schwindelig, und ich musste würgen.

Atlas sah mich alarmiert an. »Musst du dich über-geben?« James hielt mir eine leere Essensdose hin. »Hier, nimm die doch dafür. Oder geh in den Wald.«

Wenn er nicht aufpasste, würde ich bald auf ihn kotzen. Ich schüttelte schwach den Kopf. »Ich muss mich nicht übergeben, mir ist nur ein bisschen übel.« Ich zog die Knie an den Körper und legte die Stirn darauf.

»Es wäre auch ziemlich seltsam gewesen, wenn du dich hättest übergeben müssen. Das hat bisher keine Augenschöne getan.«

Ich ignorierte James. Es wurde schon wieder alles verschwommen, und mir brach der Schweiß aus.

»Hier.« Atlas hielt mir einer Wasserflasche hin.

Dankbar nahm ich sie entgegen und trank einige Schlucke. Das Wasser floss kühl und frisch in meine trockene Kehle, und mir ging es gleich etwas besser.

Atlas befühlte meine Stirn erneut mit seinen kühlen Händen. »Du bist ganz heiß. Vielleicht sollten wir dich in deinen Schlafsack im Zelt stecken, dort kannst du dich besser ausruhen.«

Müde nickte ich, und als ich von James oder Atlas hochgehoben wurde, fiel ich wieder in das erdrückende, bewusstlose Schwarz.

 

 

Der Einzige, den ich kannte, der wirkliche Narben gehabt hatte, war mein Großvater gewesen. Und jede einzelne hatte eine eigene Geschichte gehabt, die er uns gerne erzählt hatte, am Kaminfeuer, wenn wir ihn als kleine Kinder besucht hatten. Meine lang gezogene Narbe, die über den linken Ober- und Unterarm verlief, hätte ihm sicherlich gefallen.

Mir gefiel sie überhaupt nicht. Der breite und ebene Narbenstrich war weiß, die Haut drumherum in einem hellen, verletzlichen Babyrosa. Wenn ich meinen Arm bewegte, schmerzte er stark, was mich, obwohl ich Rechtshänderin war, ziemlich in meinen Bewegungen einschränkte. James’ tröstende Worte, sie sähe gar nicht so schlimm aus und die Schmerzen gingen bestimmt bald weg, machten es auch nicht besser.

Wir lagen inzwischen alle drei in unsere Schlafsäcke gehüllt im Inneren des Zeltes, da es zu regnen begonnen hatte. Die Tropfen klopften auf die Plane über uns und sorgten dafür, dass sich eine willkommene Ruhe in mir ausbreitete. Ich lag auf dem Rücken. James links neben mir hörte mit Ohrstöpseln Musik, die Lautstärke so stark aufgedreht, dass ich – hätte ich das Lied gekannt – ganz einfach hätte mitsingen können. Rechts von mir hatte es sich Atlas bequem gemacht, von dem leises Atmen und ab und zu Papiergeraschel zu mir drangen, wenn er eine Seite umblätterte. Erneut musste ich die trennende Wand zwischen ihnen sein.

Ich starrte an die Decke und hoffte inständig, dass der Regen morgen aufhören würde. Der Boden war ohnehin durchgeweicht, was das Laufen erschweren würde, und zusätzlich auch noch nasse Kleider und feuchte Haare waren wirklich keine guten Voraussetzungen.

»Luce?«

Ich erstarrte und drehte mich dann, stark darauf bedacht, meinen linken Arm nicht zu bewegen, zu Atlas um, der sein Buch zugeklappt hatte und auf den Ellenbogen gestützt zu mir schaute.

»Ja?« Ich stützte mich ebenfalls auf den Arm, den rechten, und sah Atlas aufmerksam an. Er sagte aber erst einmal nichts mehr, sondern nahm eine Strähne meiner Haare, die wie immer sorgfältig gebürstet waren und glänzten, in die Hand und spielte damit. Er drehte die Locke um den Finger, erst in die eine, dann in die andere Richtung.

Ich beobachte dabei sein Gesicht, das mir von Anfang an so vertraut gewesen war, als hätte ich ihn mein ganzes Leben lang gekannt. Die ozeanfarbenen Augen, in denen ich jedes Mal, wenn er mich ansah, zu ertrinken drohte; die perfekt gewachsenen Augenbrauen, die sich, wenn er nachdachte oder sich über etwas aufregte, zusammenzogen. Der weich geschwungene Mund, seine Lippen, die er schon so oft missbilligend und verschlossen aufeinandergepresst hatte, und seine geraden Wangenknochen, die vor seinem Kinn endeten. Er war wunderschön.

Atlas ließ meine Haarsträhne los und warf einen Blick über meine Schulter zu James. Automatisch schaute auch ich hinter mich.

James lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, den Kopf Richtung Zeltwand gedreht, und lauschte der Musik. Manchmal bewegte er die Lippen und sang lautlos die Lieder mit. Er bekam nichts von Atlas und mir mit.

»Noch einmal, wegen London und unserem Kuss …«, griff Atlas das Thema auf, das mich vor unserer Abreise so beschäftigt hatte.

Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass er fortfuhr.

»Ich ... also, ich möchte nicht, dass du das falsch verstehst, es war nicht so, dass ...«

Sein ewiges Herumgestottere machte mich nervös. Was wollte er sagen?

Atlas schüttelte, offensichtlich ebenfalls verärgert über seine unzusammenhängenden Sätze, den Kopf und holte tief Luft. »Also, es ist so … der … der Kuss war nicht so geplant, aber er war trotzdem schön.«

Das war doch positiv, oder?

»Ich möchte allerdings nicht, dass du denkst, dass wir jetzt ein Paar wären oder dergleichen. Ich glaube, eine Beziehung zwischen uns wäre zu kompliziert und würde nicht funktionieren. Ich will, dass wir ganz normale Freunde sind, die diese Reise schaffen und die einander vertrauen und helfen. Der Kuss war nur … Ich meine, ist das in Ordnung, wenn wir Freunde sind?«

Leer.

Mein Kopf war ganz leer, bis auf einen Gedanken, der in Dauerschleife in mir abzulaufen begann: Atlas ist nicht in dich verliebt, du bist für ihn ein ganz normales Mädchen, das er nur aus Langeweile ein bisschen geküsst hat.

Es tat so unfassbar weh! Ein schrecklicher Schmerz. Schlimmer als der in meinem Arm. Doch ich nickte. »Natürlich geht das in Ordnung.« Meine Stimme klang völlig ruhig und verriet nichts von dem, was in mir tobte.

»Wirklich?« Atlas sah mich an, sein Ozean wirkte auf einmal wie eingefroren.

»Ja, klar. Ich meine, der Kuss hatte ja auch keine besondere Bedeutung, und eine Beziehung wäre wirklich undenkbar.« Ich versuchte weiterhin völlig unbeteiligt zu wirken.

Offenbar funktionierte es, denn auf Atlas’ Gesicht erschien ein schwaches Lächeln, das sich schließlich in ein erleichtertes Grinsen verwandelte. »Dann ist ja wirklich alles gut. Ich wollte das nur geklärt haben, damit du dir nichts Falsches einbildest, es keine Missverständnisse gibt und ich dich verletzen würde.«

Verletzen war das falsche Wort. Es fühlte sich an, als ob ich langsam eingefroren werden würde, schmerzhaft und unaufhaltsam. Doch ich zwang mich weiterzulächeln. »Ja, gut, dass wir das geklärt haben.« Die Kälte fraß sich durch meine Adern.

Atlas wandte sich ab und schlug das Buch an der mit dem Lesezeichen markierten Stelle auf.

Ich legte meinen rechten Arm neben mich, drehte mich erst auf den Rücken und dann zur anderen Seite, zu James hin. Weg von Atlas, damit er nicht die stummen Tränen sah, die unter geschlossenen Augen hervor heiß und brennend wie Messerschnitte über meine eingefrorene Haut liefen. Was hätte ich nicht alles dafür gegeben, in diesem Moment allein sein zu können, um zu versuchen, die eisigen Krallen, die sich um mein Herz schlossen, lauthals weinend loszuwerden! Auch ohne, dass wir wirklich zusammen gewesen waren und obwohl es eigentlich nur diesen einen Kuss in der romantischen Londoner Gasse gegeben hatte, hatten Atlas’ Worte wie Faustschläge auf mich eingeschlagen, erbarmungslos auf mich eingeprügelt. Und dann hörte ich plötzlich Roses Stimme in mir: Atlas ist, glaube ich, nicht sonderlich aus auf Beziehungen mit Mädchen. In der Vergangenheit hat es ... Komplikationen dabei gegeben. Danach war er nicht mehr der Alte, weißt du?

Es schien Ewigkeiten her zu sein, dass Rose mich auf dem Hof vor Atlas gewarnt hatte. Und ich denke, dass er dir am Ende nur das Herz brechen wird.

Die Worte hallten in mir nach, unschön und hart. Und plötzlich hasste ich Rose. Ich hasste sie mehr, als ich je etwas anderes zuvor gehasst hatte, und wünschte ihr die Pest an den Hals. Ich hasste sie dafür, dass sie es gesagt hatte und ich nicht auf sie hatte hören wollen. Und ich hasste sie so sehr dafür, dass sie mit ihren Worten verdammt noch mal recht gehabt hatte.

 

Der Reisende ist,

der Bleibende wird nie sein.

 

(Ronald Noswich; Augenschöner, häufig Zeitler)

Kapitel 2

 

Ich verbrachte die folgenden drei Stunden damit, stumm zu weinen, ohne dass Atlas oder James es mitbekamen.

Die drei Stunden darauf las ich in einem der mitgebrachten Historikbücher. Als ich es nicht mehr aushielt, lieh ich mir James’ Musik inklusive der Ohrstöpsel und ließ mich mit sinnlosen Texten zudröhnen. Das einzig Gute daran war, dass mich der Lärm davon abhielt, über Atlas nachzudenken, was ja auch der Sinn dieser Aktion war.

Gegen sieben Uhr morgens standen wir auf und packten zusammen. Meine Hoffnungen waren nicht erfüllt worden, und es nieselte noch, sodass wir nach nur wenigen Minuten völlig durchnässt waren. Ich vermied jeden Kontakt mit Atlas, was wahrscheinlich unüberlegt und töricht war. Doch in diesem Moment brauchte ich Abstand. Stattdessen versuchte ich einen Moment abzupassen, in dem ich mit James allein sprechen konnte. Doch es kam keiner, und so wandte ich mich einfach in Atlas’ Beisein an James, um ihm die Frage zu stellen, die mich so brennend interessierte.

»Was würde passieren, wenn wir getrennt werden würden? Wenn wir uns nicht rechtzeitig zu fassen bekämen und daher in eine andere Schleife verschwänden? Der Zurückgebliebene könnte nicht folgen, was soll man in dem Fall machen?«

Atlas und James tauschten einen kurzen Blick.

»Wenn es dir passiert, dann fahr sofort zurück in die erste Schleife, ja? Dort wird man dann weitersehen.«

»Und wenn es euch passiert?«, fragte ich weiter. Ich hatte das »dir« in James’ Antwort nicht überhört.

»Wenn einer von uns verloren ginge, reiste derjenige vielleicht noch kurz weiter durch die Schleifen. Doch auch Atlas oder ich würden recht bald in die erste Schleife fahren. Nicht, dass wir uns völlig verlieren, nur zwei zurückkehren und der Dritte noch allein in den Schleifen fährt!«

»Und soll ich, wenn ich euch verliere, direkt zurück in die erste Schleife, von dort aus in die vierte und ihr reist weiter?« Klang eigentlich recht logisch. Vielleicht sollte ich sogar absichtlich verloren gehen, um die Mission abzubrechen. Dann müsste ich wenigstens nicht mehr Atlas ständig sehen.

»Ja, du solltest dich in Sicherheit bringen«, fügte James noch hinzu.

Ich runzelte die Stirn. »Und ihr etwa nicht?«

James zuckte mit den Achseln. »Doch, schon, aber wir sind erfahrener als du. Uns wird schon nichts passieren.« Er klang ungewohnt sanft, und bevor er auf irgendwelche seltsamen Gedanken kommen konnte, was meine Sorge um ihn und deren Grund betraf, nickte ich nur und drehte mich weg.

Das Zelt trockneten wir notdürftig, soweit es ging, ebenso wie die leicht nass gewordenen Sachen im Vorzelt. Als wir aufbrachen, war jeder erneut bepackt mit seinem Rucksack und ausgestattet mit einem kleinen belegten Brötchen zum Frühstück. Und so liefen wir ziellos weiter, quer über die Wiese, in den Wald hinein. Der Regen fiel auf die Blätter über uns und platschte von dort aus auf uns und den Boden. Es war stockdunkel, was kein Wunder war, da wir noch nach unserer Zeitrechnung lebten, die uns halb acht Uhr morgens an-zeigte. Ab und zu tschilpte ein Vogel ein paar Sekunden lang, aber als er bemerkte, dass ihm niemand antworten würde, hörte er auch schon wieder auf.

So stapften wir dahin, über altes Laub, kleine Büsche und herausstehende Wurzeln. Schweigend und tropfend. Es kam mir alles sinnlos vor. Dieses Suchen in den Schleifen nach irgendeinem beliebigen Ding kam mir vor wie die Suche nach einer Nadel in einem riesigen Heuhaufen. Wahrscheinlich war es sogar schlimmer, denn man würde den Heuhaufen irgendwann durch-gesehen haben, von den Schleifen gab es jedoch unendlich viele. Außerdem wusste man beim Heuhaufen, dass man nach einer Nadel suchte und nicht nach etwas, was man gar nicht kannte.

Auf einmal blieb Atlas vor mir wie angewurzelt stehen. Ich wäre fast in ihn hineingelaufen.

»Psst! Habt ihr das gehört?«, kam ein Flüstern von ihm, kaum lauter als ein Atemzug.

Ich blieb stehen und lauschte. Der Regen über, auf und neben uns ... leise fiedelndes Grillenzirpen ... das melodische Pfeifen eines einsamen Frühaufsteher- und Schlechtwettervogels und ... da!

Was war das? Ein leises Knacksen von Zweigen und raschelndes Laub. Die Geräusche von etwas Größerem, sich Voranbewegendem. Ein Tier? Ein Augenschön oder eine Dromedin? Oder etwa ...?

»Lauft!«, schrie James auf einmal, und ohne weiterzuüberlegen, stürzten wir vor, rannten schnell durch den Wald, hetzten uns fast zu Tode, um genau dem zu entfliehen, was wir zwischen den Bäumen gesehen hatten und was uns den Tod gebracht hätte. Oder noch bringen würde, nach den Geräuschen hinter uns zu schließen, dem Krachen, das uns folgte.

Ich hatte noch nie etwas so Groteskes gesehen wie diese zwei Gestalten, die kauernd und schnüffelnd versucht hatten vorwärtszuschleichen. Ihr Anblick war noch schrecklicher als der des Nächtlichen Geschöpfs, der verwachsenen Tiergestalt, die mir damals im Spiegelflur begegnet war. Nur hatten diese Nächtlichen Geschöpfe, die gerade hinter uns her preschten und durch den Wald rannten, ein ganz anderes Aussehen. Es war die andere Art ihrer natürlichen Gestalt, die fledermausähnliche.

Fledermaus war eigentlich ein ganz falscher Ausdruck dafür. Sie hatten vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit durch die grau-schwarze Färbung der lederhäutigen Flügel, doch das war auch schon alles. Ihre Augen blickten pechschwarz aus einer dämonischen Fratze heraus, die ich wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen würde.

Ein wildes, gekreischtes Fauchen ertönte hinter uns. Atlas und James fuhrwerkten beim Rennen an ihren Rucksäcken herum, und ich wunderte mich kurz, bevor ich begriff, dass sie ihre Waffen hervorzuholen versuchten. Ich griff ebenfalls an die Rückseite meines Rucksacks und bekam den Bogen zu fassen, den ich hektisch losmachte und nach vorne zog. Nun musste ich bloß noch an die Pfeile im Seitenfach des Rucksacks kommen und, falls ich sie zu fassen bekäme, einen abfeuern oder wenigstens erst mal gerade an den Bogen anlegen.

James hatte ein langes Schwert hervorgezogen.

Herrje, schleppte er es die ganze Zeit mit sich herum?

Und auch Atlas hielt einen langen Speer in der Hand, der mir schon gestern aufgefallen war, da er weit aus seinem Rucksack geragt hatte. Wir stürmten zwischen zwei Bäumen hindurch ins Freie und landeten auf einem steinernen Grund. »Achtung!«, stieß ich hervor, als ich erkannte, wo wir waren. Der Wald grenzte an eine etwa fünfzehn Meter breite Steinfläche. Diese endete ebenso plötzlich an einer Klippe, von der man wer weiß wie weit in die Tiefe stürzen würde. Die Schlucht war etwa hundert Meter breit. Auf der anderen Seite war ebenfalls eine lange Steinfläche, die auch dort in einen dichten Wald überging.

Wir blieben strauchelnd stehen, und während ich mich nach einer erlösenden Fluchtmöglichkeit umsah, kramte Atlas fieberhaft in seinem Rucksack, holte ein mindestens genauso großes Schwert wie James heraus und warf mir dann ein kleines Bündel zu. »Die wirst du für deinen Bogen brauchen.« Es war ein Bündel Pfeile.

Ich lächelte kurz dankbar und löste die Schnur von den Pfeilen.

James drängte mich ein Stück zurück. »Du bleibst hinter uns und versuchst ein paar Pfeile in den Viechern zu versenken, in Ordnung? Atlas und ich gehen vor und kämpfen aus der Nähe.«

Wie auf Kommando warfen Atlas und James ihre Rücksäcke auf die Seite und stellten sich leicht versetzt vor mich, damit ich ein freies Schussfeld hatte. Als ich einen Pfeil anlegte und den Bogen zwischen ihren Schultern hindurch spannte, zitterte er leicht und verriet, wie sehr ich mich fürchtete.

Aus dem Wald ertönte ein Heulen, und zwei Sekunden später brachen die beiden Nächtlichen Fledermaus-Dämonen-Geschöpfe durch die Bäume.

»Zurück!«, zischte James mir noch mal zu, und ich gehorchte bereitwillig, denn auf die Nähe der beiden Monster legte ich es wirklich nicht an.

Ein pulsierender grüner Blitz traf das eine Geschöpf und eröffnete somit den Kampf. Die Fledermausdämonen zeigten die Zähne und schlugen mit ihren Krallen nach Atlas und James, die diese, so gut es ging, mit ihren Schwertern auf Distanz hielten. Gleichzeitig schleuderten sie leuchtende Blitze auf die Ungeheuer.

Ich beobachtete erstarrt die kleine Schlacht. Es erschien mir wie eine eingeübte Choreografie, jeder Schritt einstudiert und Teil des Tanzes. Auf einen Lichtblitz folgte ein Krallenhieb, auf diesen folgte ein Schlag mit dem Schwert. Doch plötzlich schrie James vor Schmerz auf und riss mich voller Wucht aus meiner Starre zurück auf den Boden der Tatsachen. Das da war kein eleganter Tanz einer fantastischen Gauklergruppe. Es war ein blutiger, schneller und todbringender Kampf, der ziemlich unausgeglichen war. Die beiden Nächtlichen Geschöpfe waren Atlas und James überlegen und drängten sie so wie mich mit meinem Sicherheitsabstand immer weiter auf den Klippenrand zu.

Zitternd hob ich erneut den Bogen und zielte vorsichtig. Es war doch eigentlich ein Kampf drei gegen zwei, nur dass unser dritter Mann, ich, vor sich hin träumte. Einer der Fledermausdämonen warf sich mit einem kleinen Flattern seiner Flügel nach vorn, und ich erkannte meine Chance. Blitzschnell richtete ich den Pfeil auf die Fratze und ließ ihn fliegen. Ein schriller Schrei wurde ausgestoßen, der Kopf schüttelte sich wild und drehte sich dann in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war: zu mir. Der Pfeil ragte wie ein dürrer Ast nahe dem Ohr des Nächtlichen Geschöpfs heraus. Blut sprudelte hervor und sammelte sich am Boden zu einer dreckigen Pfütze.

Angstvoll stolperte ich rückwärts, als das Untier, nur wenig von James und Atlas behindert, auf mich zuschaukelte. Die blanken Krallen schabten auf dem Felsen unheilvoll und scharf.

»Izzy, schieß noch einmal. Es hat dich ohnehin bemerkt, also wehr dich!«, hörte ich Atlas’ Ruf zwischen türkisfarbenem Leuchten.

Panisch griff ich nach drei weiteren Pfeilen und versuchte sie hektisch anzulegen. Wusch. Der zweite Pfeil schoss in einen Flügelarm und ließ ein wütendes Heulen erklingen und dunkles Blut tropfen. Schnell schoss ich noch einmal und noch einmal.

Kreischend schüttelte das Nächtliche Geschöpf die Pfeile von sich, zumindest versuchte es das. Mit einem mordlustigen Glitzern in den schwarzen Augen ließ es sich auf die vorderen Krallen fallen und bleckte seine spitzen, giftigen und tödlichen Zähne. Atlas und James wurden neben mir immer weiter zurückgedrängt. Es waren höchstens noch zwei Meter bis zum Abgrund. Ich legte einen weiteren Pfeil an und schoss ihn ab, obgleich er außer kurzfristiger Ablenkung nicht viel brachte. Gemeinsam zogen wir uns immer weiter zurück, und ich entdeckte Blutflecken, die Atlas’ und James’ weiße Oberteile durchtränkten. Die Fratzen rissen angriffslustig die Mäuler auf und stellten sich auf die Hinterbeine. Ich sah die beiden spitzen Krallen auf mich niederfahren, spürte mit wenigen Sekunden Verspätung die Schmerzen einer Schnittwunde und schrie. Lautes, angsterfülltes Schreien. Ich spürte zwei Arme, die mich an den Schultern fassten, Druck, der mich nach hinten stieß, und dann ... Schwerelosigkeit. Kühler Wind umwehte mein Gesicht, der auch die Schmerzen am Bauch etwas linderte.

Langsam öffnete ich die Augen und sah ... Tiefe. Ich fiel in ein großes Loch. Ein Schrei über mir – und etwas Heißes traf mich im Gesicht und floss träge meine Stirn hinunter. Blut? Verwirrt blickte ich nach oben und sah Atlas und James, die wie ich schwerelos fielen – und Ewigkeiten höher sah ich zwei kleine, dunkle Punkte, die sich gegen den hellen Himmel abhoben, über die Klippenkante lugen. Waren das die Nächtlichen Geschöpfe?

Erneut sah ich nach unten, und in der Ferne nahm ich ein dünnes, goldenes Leuchten wahr. War das etwa der Himmel? Hatte uns das Gift dieser Nächtlichen Geschöpfe umgebracht?

Ich fiel schneller. Jetzt pfiff mir der Wind um die Ohren, und ich griff keuchend an die pochende und brennende Wunde an meinem Bauch. Das Licht wurde größer und heller. Ich erkannte eine Art goldgelben Fluss, der sich am Grund dieser tief liegenden Schlucht entlangschlängelte. War das flüssige Lava, wie sie manchmal aus Vulkanen trat? Doch die langsam dahinschwappenden Wogen waren eindeutig golden, nicht rötlich-orange-schwarz, und ich fühlte nicht einmal den Hauch einer sengenden Hitze. Eigentlich konnte mir jedoch egal sein, was das war, denn bei einem so tiefen Sturz kam es nicht mehr auf die Oberflächensubstanz beim Aufprall an. Wir würden uns alle Knochen brechen, und unsere Organe wären nur noch Brei.

Auf einmal stutzte ich. Je näher wir diesem Fluss kamen, desto deutlicher konnte man alles erkennen, und langsam, aber sicher schien der Fluss aus ... kleinen, flauschigen, goldenen Federn zu bestehen. Eine halbe Sekunde später machte es flaff!, und ich landete hustend und keuchend ganz weich in dem seltsamen Flaumenfluss. Neben mir krachten Atlas und James vom Himmel herab und fielen prustend ebenfalls in die leuchtenden Federn.

Mein Kopf dröhnte, meine Wunde pochte, und mein Herz raste. Der Fluss schluckte mich mit einem leisen Schlürfen hinunter. War ich soeben von einem Fluss, der aus leuchtenden, goldenen Federn bestand, verschluckt worden? Ich wurde hinuntergezogen, immer weiter; meine Lungen pressten sich zusammen, als sie im verzweifelten Ringen nach Luft nur Federn abbekamen, und das Kribbeln der Bewusstlosigkeit breitete sich unheilvoll in mir aus. Im nächsten Augenblick stieß ich mit etwas Hartem zusammen. Zwischen den Federn blitzte weißer Stoff hervor.

»Hallo?«, brachte ich hustend heraus.

»Izzy?«

»Ja?«

»Ich bin es, Atlas.«

»Und ich bin auch da – James«, erklang es dumpf irgendwo weiter rechts von mir.

»Was ist das hier?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Mörderfedern.«

»Und was machen die mit uns?«

»Weiß nicht.«

»Versuchen, uns umzubringen. Vielleicht werden wir gerade durch den Mund gezogen.«

Fressende Mörderfedern. Ich befand, dass James eine eindeutig zu lebhafte Fantasie hatte. Erneut erklang dieses Schlürfen wie von einem trinkenden Tier, einer Katze oder einem Hund.

»Was ...!«

»Ich kriege keine –«

» ... gefressen!«

Nur noch einzelne Wortfetzen erreichten mich, während ich selber schreiend in einen riesigen stürmischen Strudel gezogen wurde. Um mich selbst schlagend und rotierend wurde ich herumgeschleudert, immer im Kreis, bis ich anfing anzunehmen, dass mein Frühstücksbrötchen den Federn hier bald Gesellschaft leisten würde. Doch mit einem Mal blieb das Karussell stehen. Ich spürte seltsamen Druck an den Schultern, ein eigenartiges Gefühl breitete sich von dort aus; und wie von einem Trampolin geschleudert, flog ich mit einem Puff! und, gefolgt von aufwirbelnden Federn, aus dem Fluss hinaus und in die Luft. Aus einem mir bisher unbekannten Instinkt heraus spannte ich Schulter- und Rückenmuskeln an und ... flog. Ich flog höher und höher, auf den Klippenrand zu und dem Himmel entgegen.

»Heiliges Magieleuchten, ich fliege!«, kreischte es neben mir, und James flog mit goldenen, ihm aus dem Rücken wachsenden Flügeln an mir vorbei. Unter ihm erkannte ich auch Atlas mit den gleichen Flügeln. Als ich hinter mir selbst ein Rauschen vernahm, zuckte ich zusammen und sackte ein paar Meter tiefer, bevor der Instinkt mir erneut befahl, die Rückenmuskeln angespannt zu lassen. Plötzlich begriff ich: Dieser seltsame Fluss hatte uns nicht fressen oder umbringen wollen, ganz im Gegenteil. Er hatte uns Flügel verpassen wollen, die aus unserer Rückenhaut gewachsen waren und sich anfühlten, als wäre ich bereits mit ihnen geboren worden. Vorsichtig schickte ich mehr Kraft meinen Rücken entlang und flog prompt schneller, weiter dem grau verhangenen, trüben Himmel entgegen.

Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit – waren wir vorhin wirklich so tief gefallen? – an der Klippe vorbei emporstieg, keuchte ich erschöpft, und mein Shirt war komplett nass geschwitzt. Meine erhitzte Haut traf auf den inzwischen fast gänzlich abgeflauten Nieselregen, und ich legte erleichtert den Kopf in den Nacken. Meine Wunde meldete sich mit einem brennenden Pochen und holte mich zurück in die Gegenwart.

Ich sah zu der Kampfstelle hin – die Nächtlichen Geschöpfe waren verschwunden. Unsere Rucksäcke lagen umgekippt neben braunrötlichen Flecken. Schaudernd wandte ich mich von dem vielen Blut ab.

Die Aussicht von hier oben konnte ich jedoch nicht genießen, erst recht nicht, nachdem ich mich mit einem zweiten Blick vergewissert hatte, dass das, was ich erblickte, nicht nur einer meiner Fantasien entsprungen war. Der Wald war gespickt mit runden Lichtungen wie derjenigen, auf der wir übernachtet hatten, und das auf beiden Seiten der Schlucht. Wir mussten unfassbares Glück gehabt haben, dass wir seit der Ankunft in dieser Schleife nur auf zwei Nächtliche Geschöpfe gestoßen waren. Denn die beiden durch die Schlucht getrennten Wälder waren voll von diesen grässlichen Fledermausdämonen und verwachsenen Tiererscheinungen. Auf jeder Lichtung saß mindestens ein solches Wesen, und ab und zu erschienen in einer Lücke zwischen den Baumkronen weitere. Bestürzt blickte ich mich um und sah mein eigenes Entsetzen und die Angst in Atlas’ und James’ Gesichtern gespiegelt.

James deutete nach unten, und wir alle verstanden dieses Zeichen: landen, Rucksäcke holen und augenblicklich eine Zeitfahrt durchführen. Vorsichtig ließ ich mich hinuntersinken und landete leichtfüßig auf dem Boden neben James und Atlas. Ich spürte ein letztes, leichtes Flattern der großen, leuchtenden Flügel hinter mir und sah dies auch bei den anderen beiden, bevor eine Art geseufzter Windhauch zu hören war und die Flügel zu goldenem, sich schnell verwehendem Staub zerbröselten. Wehmütig sah ich den glitzernden Körnchen nach, als sie in den grauen Himmel aufstiegen. Ich glaubte, ich hatte einen Eindruck davon bekommen, wie man sich als Engel fühlen musste.

Atlas hatte sich unterdessen darangemacht, unsere Rucksäcke aufzurichten. Er reichte James den einen, den dieser schwungvoll schulterte. Meiner war ganz feucht von dem durch Wasser und Blut aufgeweichten Boden. Leicht angewidert schüttelte ich mich und wurde im nächsten Moment torkelnd nach vorn gezogen, von Atlas an der einen, von James an der anderen Hand gepackt. Sie hatten ihre Omunalisuhren in den Händen und verständigten sich durch ein Nicken. Das türkisfarbene Licht von links und das grüne von rechts leuchteten auf, und ich wurde in das weiße Nichts katapultiert.