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»Es ist unsere Heimat und nun auch deine, Lucy, denn du bist eine von uns. Du bist eine Augenschöne. Eine junge Göttin.« Lucy de Mintrus kann nicht glauben, was sie von den Fremden erfährt, nachdem sie ihre Familie zurücklassen musste. Doch ihr bleibt keine Wahl. Die Siebzehnjährige muss lernen, zu kämpfen und ihre magischen Fähigkeiten zu kontrollieren, um in den Inneren Zeitschleifen zu überleben, denn unheimliche Nächtliche Geschöpfe bedrohen die Augenschönen. Als Lucy für ihren ersten Auftrag durch die Zeit reisen muss, begleitet sie Atlas, der unter einem düsteren Geheimnis aus seiner Vergangenheit leidet. Obwohl er alles andere als ein Prinz Charming ist, löst er verwirrende Gefühle in Lucy aus. Während sie noch dabei ist, sich über ihre Empfindungen klar zu werden, nimmt ihre Reise eine unerwartete und gefährliche Wendung … Augenschön - Das Ende der Zeit ist der Auftakt der göttlichen Zeitreise-Trilogie von Judith Kilnar. Eine aufregende Romantasy-Reihe aus dem Tomfloor Verlag.
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Seitenzahl: 419
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Judith Kilnar
Augenschön
Das Ende der Zeit
Impressum
Ebook-Konvertierung und Titelbildgestaltung:
© T.C., Tomfloor Verlag
Umschlagbild: Shutterstock.com
© Blackspring, © Eastimages, © Elnur
2018
ISBN 9783964640017 (epub)
ISBN 9783964640024 (mobi)
ISBN der gedruckten Ausgabe 9783964640000
Tomfloor Verlag
Thomas Funk
Alex-Gugler-Straße 5
83666 Waakirchen
https://tomfloor-verlag.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Caity, Lea und Lea.
Und für Janna und Sabse – als Beweis dafür, dass auch Archibalde Totenkopftattoos haben können.
Prolog
Es war der Tag vor Weihnachten. Durch die Fenster der kleinen Häuser, die entlang der Allee standen, drang flackerndes Licht von Kerzen, die die grün benadelten Christbäume schmückten. Leise Weihnachtsmusik waberte auf die schneebedeckte Straße. Draußen war kaum jemand unterwegs, da alle in den wohlig warmen Wohnzimmern mit der Familie vor dem Kamin saßen.
Nur eine Gestalt, ein Mann, eingehüllt in einen dicken Wintermantel, eilte die Straße entlang, um der eisigen Kälte und den wirbelnden Schneeflocken zu entkommen. Der Schnee knirschte unter seinen schweren schwarzen Stiefeln. Vor einem erhellten Fenster leuchtete kurz das Gesicht des Mannes auf, dann war er erneut in schützende Dunkelheit getaucht. Vor dem letzten Haus der Cottage Hill Street hielt er inne. Er streckte den Arm aus. Kurz verharrte sein Finger in der Luft, doch nur eine Sekunde später drückte er entschlossen auf die Klingel. Ein leises Läuten ertönte und das Gelächter, das eben noch aus dem Wohnzimmer zu hören gewesen war, verstummte.
»Ich gehe schon, esst ihr weiter«, hörte man eine junge Frauenstimme gedämpft sagen.
Das Gespräch wurde wieder aufgenommen und das Schaben eines zurückgeschobenen Stuhls gab zu erkennen, dass die Frau aufstand. Schritte klackerten den Flur entlang. Kurz darauf öffnete eine hübsche junge Frau mit schwarzrotem Haar und intensiven blauen Augen lächelnd die Tür. Als das Licht der Diele auf das Gesicht des Mannes fiel, gefror ihr das Lächeln jedoch im Gesicht. Sie erbleichte.
»Was willst du hier?« Ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.
»Das Gleiche wie letztes Mal«, erwiderte der Mann ruhig.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt«, zischte sie wütend, »ich habe nichts damit zu tun.«
»Und ich habe dir schon einmal gesagt, was ich von dieser Lüge halte«, erwiderte der Mann nicht mehr ganz so ruhig wie zuvor. »Du warst bei ihm, als es passiert ist, und ich glaube, du weißt mehr darüber, als du der Polizei verraten hast.«
»Nein, weiß ich nicht!« Auf den Wangen der Frau bildeten sich hektische rote Flecken. »Zum hundertsten Mal, ich habe nichts mit dem Tod deines Bruders zu tun! Und jetzt lass mich in Ruhe!« Sie wollte die Tür mit einem Ruck schließen, doch der Mann stellte flink seinen Fuß dazwischen.
»Ich lasse mich nicht so schnell abwimmeln wie letztes Mal, Cara!« Den Namen stieß er hervor, als würde es sich um ein Stück Dreck handeln.» Die Untersuchungen haben nichts ergeben! Mein Bruder soll angeblich eines plötzlichen und natürlichen Todes gestorben sein. Aber das glaube ich nicht, im Gegensatz zu diesen dämlichen Polizisten. Ich habe ein bisschen nachgeforscht, Cara. Auf eigene Faust. Und ich finde meine Ergebnisse sehr erstaunlich, aber äußerst interessant. Was hast du denn mit meinem Bruder allein im Wald gemacht? Mitten in der Nacht? Und erzähl mir nichts von geheimen Liebesbeziehungen, die mich nichts angehen. Ich weiß, dass das nicht stimmt. War der Grund für das Treffen, dass er etwas über dich wusste? Dass er etwas gesehen hatte? Weißt du, Cara, ich bin nicht dumm. Ich kann eins und eins zusammenzählen. In seinem Tagebuch hat er …«
Bei diesen Worten wurde die Frau, die der Mann Cara genannt hatte, noch blasser.
Der Mann bemerkte es und grinste hämisch. »Ja, daran hattest du nicht gedacht, was? Dass mein Bruder ein begeisterter Tagebuchschreiber war. Sonst wärst du vielleicht vorsichtiger gewesen, hmm? Jedenfalls standen einige Informationen darin. Er schrieb, du hättest etwas mit dem Tod von Verena Noston zu tun. Er hätte dich bei etwas gesehen und du wolltest es ihm erklären. Er sei äußerst verwirrt, schrieb er. Und noch etwas stand da, etwas über deine Augen. Ich habe es nicht richtig verstanden, aber du wirst es mir bestimmt verraten, oder? Du weißt, dass ich dich mit all meinen Informationen enorm in Schwierigkeiten bringen könnte. Was die Polizei wohl dazu sagen würde? Oder der Richter?«
Die Haut zart und blass wie Elfenbein, stand die hübsche junge Frau da und versuchte ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Doch die Wut und der Zorn, zusammen mit der Angst, waren schier überwältigend. Schnell, fast panisch, schloss sie die Augen.
Lass es nicht zu, ermahnte sie sich selbst. Bekomm es unter Kontrolle!
»Was ist?«, höhnte der Mann. »Hast du etwa Angst, mir in die Augen zu schauen? Ist dein schlechtes Gewissen so groß?« Er packte sie unsanft an der Schulter. »Los, erzähl mir die Wahrheit! Sieh mich …«
»Nein!« Der verzweifelte Ruf der Frau hallte durch die stille Nacht.
»… an!«, beendete der Mann unbeeindruckt seinen Satz.
Kurz war es, als wollte sie erneut widersprechen, doch der Nachhall seiner Worte war bereits verklungen. Die marmornen Lider der Frau hoben sich. Wie in Trance öffnete sie ihre Augen. Diese Augen, vorher noch warm und lebendig, blickten nun kalt und starr in die des Mannes. Ein seltsames Blau schien von ihnen auszugehen. Jetzt hatten sie nicht mehr nur eine strahlende und leuchtende Farbe, sondern sie leuchteten wirklich. Ein intensives blaues Strahlen. Licht züngelte aus den Augen heraus, wie gierige Flammen flirrte es in der Luft und leckte gierig an den Augen des Mannes. Es drang hinein, brannte wie Feuer, verspeiste und verwandelte jeden Zentimeter der inneren Nerven, alles Leben, zu Asche. Rasend schnell schoss der blaue Blitz weiter, bahnte sich seine Wege tiefer hinein in den Mann. Wie Gift breitete er sich in seinem Körper aus, lechzend nach Zerstörung spaltete er sich weiter, um zum Zentrum des Denkens, dem Gehirn, und zur Lebensquelle, dem Herzen, zu gelangen.
Einen Augenblick schaute der Mann verdutzt drein und ließ die statuenhafte junge Frau los. Dann öffnete er den Mund in einem stummen verzweifelten Schrei, als das quälende Gefühl von eisiger Kälte und brennender Hitze unerträglich wurde, doch im nächsten Moment sackte sein lebloser Körper auf den Stufen vor der Tür zusammen.
Als das Lichtband zwischen den beiden Augen zerrissen wurde, zog sich das Blaue blitzschnell, wie ein überdehntes Gummiband, zurück in die Augen der Frau. Sie erwachte aus ihrer Starre und blickte voller Grauen auf die tote Gestalt des Mannes zu ihren Füßen.
Betäubende Angst machte sich in ihr breit. Ihre bleiche, zitternde Hand tastete hilfesuchend hinter sich nach der Kommode. Sie stolperte rückwärts ins Haus, drehte sich zur Seite und stützte sich Halt suchend auf die Kante des schweren Möbelstücks. Sie blickte in den Spiegel, betrachtete das kalkweiße, wunderschöne Gesicht vor sich. Die vollen rosa Lippen, die langen Wimpern, die einen Kranz um ihre panisch aufgerissenen Augen bildeten, deren schöne Farbe so oft gelobt wurde, die jedoch nichts anderes waren als eine Waffe. Die Farbe, die schon zuvor genauso erbarmungslos zugeschlagen und immer den Tod gebracht hatte. Immer.
Ein wahnwitziger Gedanke kam ihr in den Sinn. Was wenn …?
Sie lehnte sich vor, bereit zu sterben, um all dieser Folter ein Ende zu bereiten. Hoffend auf Erlösung schaute sie ihrem Spiegelbild in die Augen. Sie musste sich nicht einmal weiter anstrengen, ihre Gefühle waren ohnehin aufgewirbelt, chaotisch und unkontrolliert. Sie hatte sich nie in den Griff bekommen, hatte immer die Kontrolle über sich und ihre Gefühle verloren. Zu viele hatten für ihre Fehler bezahlen müssen, und nun hatte sie keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen.
Die junge Frau lehnte sich noch weiter vor. Ihre Nasenspitze berührte fast den Spiegel. Sie sah sich selbst ein letztes Mal in die Augen, die schon so häufig Aufmerksamkeit erregt hatten, und überließ ihrem inneren Feuer die Oberhand. Erneut wurden die Augen kalt und starr, der strahlende Flammenblitz schoss hervor. Er prallte auf den Spiegel, hinterließ einen schwarzen Brandfleck und die Flamme züngelte zurück, drang in sich selbst ein, in den Körper der jungen Frau, und zerstörte sie. Scheinbar leblos sackte sie am Boden zusammen, angegriffen von ihren eigenen Augen, und verschwand.
Augenschöne
das Augenschön; die Augenschöne (f); der Augenschöne (m)
Bezeichnung für einen Menschen, der innerhalb seiner ersten sieben Lebensjahre von einem Gott cyniert wird, dem somit dessen Gene zugefügt werden, sodass er zu einem Schleifenwesen wird mit der Fähigkeit zu magizieren. Durch die Augen kann er Gebrauch von dieser Fähigkeit machen, durch die Cynierung wird ihm traumhafte Schönheit zugeteilt. Augenschöne gibt es in jeder Zeit, in jedem Jahrhundert, bis sie in die Inneren Schleifen überwechseln.
Kapitel 1
Südosten Englands, 1603
»Darf ich Euch daran erinnern, Mylady, dass in einer Dreiviertelstunde der Besuch eintreffen wird?«, tadelte mich eine ungeduldige Stimme.
Die Worte der groß gewachsenen Frau, die neben meinem Bett stand, wischten die letzten verschwommenen Spuren des Schlafes aus meinen Augen.
»W-was? Bereits so bald?«, stieß ich entsetzt hervor und schwang meine Beine über die Kante des Himmelbetts. »Weshalb teilt Ihr mir das erst jetzt mit? Rasch, helft mir doch!«
Ich hielt mitten in meinen Bemühungen, mir das weiße Nachthemd über den Kopf zu ziehen, inne und sah Mrs Murphy, die mir vorübergehend als Zofe zur Verfügung stand, anklagend an.
Sie eilte sofort herbei, um mir zu helfen. »Natürlich, Mylady.«
Schnell befreite sie mich aus meinem Nachthemd.
»Welche Uhrzeit haben wir denn?«, keuchte ich, während ich anfing, mir mit dem Wasser aus der Waschschüssel hastig die Arme zu reinigen. Meine Haut kribbelte, denn es war eiskalt. War ich denn so spät dran, dass nicht einmal genug Zeit war, mein Waschwasser aufzuheizen?
»Gleich halb fünf«, antwortete Mrs Murphy und nickte zu der bronzenen Wanduhr. »Die ersten Gäste haben sich für die nächste halbe Stunde angekündigt.«
Sie stellte die Waschschüssel weg und half mir in die Unterkleider. Am heutigen Tage waren es zwei, da das winterliche Wetter nichts anderes zuließ.
Meine Zofe bugsierte mich zum Kleiderschrank und holte mein neues Überkleid heraus. Die Schneiderin hatte es erst vor zwei Tagen fertiggestellt und ich war sehr zufrieden. Durch den goldenen Stoff zogen sich Muster aus eingestickten Blumen, die in kreiselnden Spiralen den Samtstoff luftiger wirken ließen. Meine Seidenärmel schienen bei jeder Bewegung in der Luft zu schweben.
Als Nächstes nahm sich Mrs Murphy meine hüftlangen, silberblonden Locken vor und legte sie in einem geflochtenen Kranz um meinen Hinterkopf. Nachdem meine Wangen gepudert und die Ohrringe eingehängt waren, legte sie mir die Halskette um, während ich in meine Schuhe schlüpfte.
Mit klappernden Absätzen verließ ich eilig mein Zimmer und Mrs Murphy folgte mir wie ein Schatten. Über mehrere Flure und Treppen gelangten wir in die Eingangshalle.
Mrs Murphy knickste vor meinen Eltern, dem Duke und der Duchess de Mintrus, und nickte auch meinen beiden älteren Schwestern Florence und Evelyna zu, bevor sie sich an die Wand neben die anderen Bediensteten zurückzog.
Ich eilte nervös neben meine Schwestern, und wartete darauf, dass ich Schelte bekommen würde. Doch außer, dass mein Vater mir einen Blick unter seinen buschig zusammengezogenen Augenbrauen zuwarf, sagte niemand etwas. Glück gehabt!
Ich wagte einen Seitenblick auf meine beiden Schwestern. Florence, die Ältere, lächelte mich aufmunternd an und Evie – Evelyna, wurde sie nur genannt, wenn unsere Eltern verärgert waren – zwinkerte mir neckisch zu. Doch noch rechtzeitig, sollte das vermutlich heißen.
Wie lange sie wohl schon hier stand?
Meine Überlegung wurde durch ein lautes Klopfen unterbrochen.
Mein Vater winkte kurz mit seiner Hand und zwei der Diener öffneten das schwere Eichentor. Auf den marmornen Stufen davor stand eine ältere Frau mit grauen Haaren, die in einer komplizierten Hochsteckfrisur um ihren Kopf verteilt waren. Sie trug ein elegantes oranges Kleid und auf ihrem Busen, der aus dem Dekolleté zu quellen schien, thronte eine reich verzierte Goldkette. Neben ihr stand ein glatzköpfiger Mann mit weißem Schnauzbart und einem faltigen Gesicht, der mindestens einen Kopf kleiner war als die Frau.
Mein Vater breitete die Arme aus und knipste ein strahlendes Lächeln an. »Mr und Mrs Hughes, was für eine Freude, Euch zu sehen!«
»Die Freude ist ganz auf unserer Seite, mein lieber Duke«, erwiderte Mrs Hughes und gab ihr übliches, gekünsteltes Lachen von sich.
Derweil hatte mein Vater Mr Hughes die Hand geschüttelt und ihn freundlich hereingebeten.
»Welch ein Tag, welch ein Tag«, plapperte Mrs Hughes weiter und trat zu meiner etwas überfordert aussehenden Mutter. »Da erinnere ich meine Clarice doch gestern Abend noch, sie solle mir mein neues Kleid zurechtlegen, und was sehe ich heute Morgen? Das falsche Kleid ist herausgelegt worden und Clarice schlummert friedlich in ihrer Kammer.«
Meine Mutter schaute verwirrt. »Wer ist …?«
»Clarice?«, fiel ihr Mrs Hughes ins Wort. »Aber meine liebe Celine, das ist doch meine Zofe. Durchaus noch sehr jung, doch sie war die beste, die ich auftreiben konnte«, stöhnte sie theatralisch. »Sie werden immer schlechter, die Zofen, nicht wahr? Und die guten sind schon weg. Wobei Clarice eigentlich recht erzogen ist. Ein bisschen vergesslich vielleicht, aber – wer vergisst nie etwas und hat immer alles bereit und ist über alles informiert? Ach, wenn wir dabei sind, Clarice ist ein wahrer Quell, was Klatsch betrifft. Sie weiß einfach über alles Bescheid! Stellt Euch nur vor, sie hat gehört, dass die Duchess von Wederssay eine Affäre mit einem der Stallburschen gehabt haben soll.« Mrs Hughes beugte sich vertraulich zu meiner Mutter. »Es dürfte also keine Überraschung sein, dass der kleine Sohn mehr Ähnlichkeiten mit ihm aufweisen soll, als mit dem Duke, seinem angeblichen Vater …«
Ich wandte mich ab. Immer die gleichen langweiligen Klatschgeschichten.
Doch den nächsten Gast, den mein Vater begrüßte, hatte ich noch nie gesehen. Neugierig musterte ich ihn. Es war ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und markanten Wangenknochen.
»Ihr müsst der Earl of Holeweavers sein«, sagte mein Vater gerade und reichte dem Mann die Hand.
Der Earl musterte meinen Vater mit hochgezogenen Augenbrauen. »Genau der bin ich«, erwiderte er kühl und ließ meinen Vater einfach stehen.
Verdutzt schaute mein Vater ihm nach, wandte sich dann aber wieder ab, da bereits die nächsten Besucher eintrafen. Ich sah mich um. Florence und Evie plauderten mit Mr Hughes über das kalte Wetter, meine Mutter hörte immer noch der quasselnden Mrs Hughes zu, die Geschichten aus Clarice’ Gerüchteküche zum Besten gab, und mein Vater war mit den neuen Gästen beschäftigt. Nur der Earl starrte mich von der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle aus an. Es würde also fast niemand merken, wenn ich mich davonstahl.
Ich schlich in den Flur zurück, die Treppe hinauf, vorbei an den Gemälden, die den Flur schmückten, auf mein Zimmer. Stöhnend ließ ich mich auf das Bett fallen und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Wie ich dieses ganze Theater verabscheute!
Es hatte sich hier in der Gegend die Mode entwickelt, mindestens einmal im Jahr eine Gesellschaft zu veranstalten und alle Adligen und wichtigen Persönlichkeiten aus der Umgebung einzuladen, um Kontakte zu pflegen. Meiner Ansicht nach hatte das Ganze jedoch nur einen Zweck – mit seinem Reichtum zu prahlen.
Man führte die Gäste an den eleganten Spiegelsälen vorbei, servierte die feinsten Speisen, kleidete sich mit den edelsten Samt- und Seidenstoffen und untermalte das ganze Spektakel mit kostspieliger Musik aus Paris. Wer Geld und Macht hatte, zeigte beides gern und ließ sich von den anderen dafür bewundern und beneiden.
Oft genug hatte ich die zusammengekniffenen Lippen bemerkt, mit denen die Besucher alles genau beobachteten, um ihr eigenes Fest noch besser zu gestalten und das vorige zu übertrumpfen. Den größten Reichtum hatte man jedoch durch sich und seine Familie. Je hübscher die Gesichter, je seidiger die Haare und je perfekter geformt der Körper in den prächtigen Kleidern, desto größer die Anerkennung der Leute. Nur deswegen wurden meine Schwestern und ich auf das Herrlichste hergerichtet. Damit wir herumgeführt werden und mein Vater und meine Mutter sagen konnten: »Dies hier ist unsere hinreißende Tochter Lucy.«
Daraufhin wurde ich von meinem jeweiligen Gegenüber begutachtet, wie von einem Forscher, der seinen neuesten Fund bewertet, und bekam einen anerkennenden, oft von Eifersucht begleiteten Blick. Florence hingegen, die nicht die Schönheit in Person war, und deren Kleider einige Nummern größer waren als meine, erntete meist nur ein amüsiertes Lippenkräuseln und ein sarkastisches: »Ja, ja, sehr schön«, und dann wurden wir schon weitergewinkt, um dem Nächsten vorgeführt zu werden.
Man könnte eigentlich meinen, ich müsste das Ganze toll finden, da ich wie alle hübschen Mädchen nur gelobt wurde, aber das war falsch.
Nach den bewundernden und neidischen Blicken, setzten die meisten Leute an, um etwas zu sagen, und sahen mir so, wie die Höflichkeit es verlangte, in die Augen. Sofort kam das verwunderte Augenbrauenhochziehen und das irritierte Stirnrunzeln, denn im Gegensatz zu den meisten Menschen hatte ich keine normalen grünen, braunen oder blauen Augen, sondern goldene. Als wäre das nicht genug, strahlte meine goldene Farbe auch noch so hell, dass jeder sie bemerkte. Ich hatte keine Ahnung, woher diese ungewöhnliche Färbung kam. Jedenfalls wandten sich die Leute schnell ab und versuchten, das unbehagliche Gefühl loszuwerden, das sie beim Anblick meiner Augen überkam. Selbst wenn sie versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen, konnte ich ihr Befremden und ihre Ablehnung deutlich spüren.
Ich kniff die Augen fester zusammen und zog mir ein weiteres Daunenkissen über den Kopf.
Um möglichst wenig mit meinen Augen aufzufallen, versteckte ich mich immer so lange in meinem Zimmer und versuchte nicht an die Besucher zu denken, bis es jemandem auffiel und man mich holen ließ.
Leise pochte es an meine Tür.
»Lucy?«, hörte ich Evies gedämpfte Stimme durch das Kissen.
»Grmph«, antwortete ich und drehte mich auf den Rücken. »Was willst du?«
»Verzeih bitte, dass ich störe«, entschuldigte sich meine Schwester und ließ sich auf die Bettkante sinken, »aber Mutter bat mich, dich zu holen.«
»Prächtig!«, grummelte ich sarkastisch und funkelte Evie wütend an, was eigentlich ungerecht war, denn sie war ja nicht schuld an meiner schlechten Laune.
Sie seufzte. »Ich weiß, du magst diese Besuche nicht, aber es gibt wirklich vorzügliches Essen. Und denke daran, dass morgen alles vorbei sein wird, und niemand mehr an dich denkt!«
»Ich weiß.« Gereizt setzte ich mich auf. »In ein paar Wochen jedoch werden wir wieder bei jemandem eingeladen sein. Die ganzen Qualen werden von vorn beginnen. Welch einen Sinn soll das deiner Meinung nach haben?«
Als Evie nicht antwortete, murrte ich: »Siehst du, habe ich es doch gewusst«, und ließ mich wieder auf den Rücken fallen.
»Nein, ich weiß es auch nicht«, gab Evie zu und stand auf, »doch was ich weiß, ist, dass das heutige Fest auch Schönes bringen wird. Es gibt ein Buffet mit Speisen unseres neuen wunderbaren Kochs, und die Musikanten aus Paris werden die Herzen zum Schmelzen bringen.«
Ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Abgesehen davon gilt es, Vater und Mutter nicht zu enttäuschen. Das wäre unverzeihlich.«
Mit diesem Argument bekam mich Evie immer herum. Meine Eltern lagen mir am Herzen und ich wollte ihnen nicht mehr Unannehmlichkeiten bereiten, als ich es ohnehin schon tat. Ich gab mich geschlagen und stand auf.
Evie hielt mir die Zimmertür auf und sah mich aufmunternd an.
Ich schnitt eine Grimasse und sie lachte.
»Wie gut du gelaunt bist!«, spottete sie und zog mich an der Hand den Flur entlang zur Treppe. Auch die Gesichter auf den Gemälden schienen mir hämisch zuzugrinsen und die Stufen unter unseren Füßen knarzten unheilvoll.
Hätte ich auch nur geahnt, was geschehen würde, dieses Mal wäre ich nicht mit Evie mitgegangen.
Als wir den Spiegelsaal betraten, war das Fest bereits in vollem Gange. Vor den hohen Wänden bogen sich die Tische unter der Last des Buffets.
Lachen und Geplauder erfüllten den Saal und übertönten die sanften Melodien, die die Musiker aus Paris zum Besten gaben.
Meinen Vater entdeckte ich zwischen einem alten Herrn und einer korpulenten braunhaarigen Dame mittleren Alters, die wild gestikulierend auf ihn einsprach. Papas Blick fand meinen und ich verstand seine stumme Bitte darin. Ich schlängelte mich um die Leute herum zu ihm durch, nachdem Evie mit einem kurzen Winken in Richtung Buffet davongeeilt war.
»… wahrhaftig, mein lieber Ferris, Ihr habt vollkommen recht. Es ist tatsächlich ein echter Rubin!«, sagte die Frau gerade zu meinem Vater. Dabei schwenkte sie ihre dicke, klirrende Kette mit einem roten Anhänger vor seiner Nase herum.
Als mein Vater mich neben ihr erblickte, huschte ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht und er zog mich vor sich.
»Eine wundervolle Rubinkette besitzt Ihr da, Lady Mephins«, erwiderte er freundlich und deutete dann auf mich. »Ihr erinnert Euch noch an meine Tochter Lucy Elizabeth? Sie ist inzwischen siebzehn Jahre alt und noch unverheiratet.«
Was sollte das jetzt heißen? Hatte er etwa vor, mir einen Bräutigam zu suchen?
Lady Mephins musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Oh tatsächlich, ein wahres Prachtstück«, tönte sie, während ihr Blick eifrig über meinen Körper wanderte und sie jede Einzelheit gierig aufzunehmen schien. Dann streckte sie ihre pummelige Hand aus und grapschte sich meine.
»Ihr seid wahrhaftig eine Augenweide, mein Kind«, piepste sie mit ihrer näselnden Stimme.
Ich atmete erleichtert auf. Da Lady Mephins mir nur bis zur Brust ging, konnte sie meine Augen gar nicht erkennen.
»Sehr freundlich, Mylady«, leierte ich so höflich wie möglich meine Erwiderung herunter und entzog meine Hand schnell ihrem verschwitzten Händedruck.
Lady Mephins wandte sich wieder an meinem Vater. Sie hatte wohl das Interesse an mir verloren.
»Hatte ich erwähnt, dass mein Schneider mir Bernsteine in das Kleid eingearbeitet hat? Das trägt man jetzt überall in Paris«, verkündete sie stolz und zupfte an ihrem zu engen schlammbraunen Kleid herum.
Ich drehte mich weg. Meine Schuldigkeit hatte ich getan.
Doch als ich mir durch die vielen Menschen einen Weg zum Buffet bahnen wollte, von dem Evie so geschwärmt hatte, legte sich mir unerwartet eine kalte Hand auf die Schulter. Erschrocken und genervt zugleich wandte ich mich um.
Vor mir stand der Earl of Holeweavers.
Ich fragte mich, warum er noch immer seinen Mantel trug, und fühlte mich gleichzeitig unwohl unter seinem prüfenden Blick.
»Sie müssen die junge Lady de Mintrus sein«, sagte er mit seiner kühlen Stimme, die leicht überheblich klang.
Ich richtete mich auf und reckte das Kinn in die Luft. Jetzt konnte ich endlich eine der Sachen anwenden, die wir in unserem täglichen Unterricht lernten. Dem Rang nach stand der Earl unter mir, der Tochter eines Dukes, auch wenn ich weitaus jünger war als der Adlige.
»Genau die bin ich«, antwortete ich ihm hochmütig und benutzte dabei die gleichen Worte, die er zuvor zu meinem Vater gesagt hatte.
Der Earl lächelte. »Ah, ich stelle fest, wir verstehen uns. Sind vom gleichen Schlag.«
Überrascht und etwas verärgert über seine plumpe Vertraulichkeit, sah ich ihn an. »Ich wüsste nicht, was es bei uns für Ähnlichkeiten geben könnte, Mylord. Da müsstet Ihr mich schon aufklären.«
»So, müsste ich das?«, fragte der Earl in seinem überheblichen Ton und mustert mich aus seinen … schwarzen Augen.
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Der Mann hatte tatsächlich kohlrabenschwarze Augen!
Der Earl of Holeweavers öffnete erneut den Mund, um etwas zu sagen, doch ein erfreutes, hohes Quieken ließ ihn innehalten.
»Lucieeeeeeee!«
Evie tauchte hinter dem Mann auf.
»Da bist du ja!« Sie schien ihn, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, gar nicht zu bemerken, als sie sich torkelnd an mir festhielt.
Ich starrte sie entsetzt an. Wie viel Wein hatte sie bloß getrunken?
»Wo bleibst du denn? Ich hatte dir doch gesagt, das Buffet ist vorzüglich.« Sie rüttelte an meinem Arm. »Komm doch! Begleite mich! Du musst unbedingt auch davon kosten!«
Ich ließ mich bereitwillig von ihr mitziehen, nur um dem Mann mit den schwarzen Augen zu entkommen.
Fühlten sich die Leute ebenso, nachdem sie mir in die Augen geschaut und das leuchtende Gold bemerkt hatten? Wenn ja, würde ich ihnen künftig keinen Vorwurf mehr machen. Die schwarzen Augen, die mich suchend gemustert hatten und bei denen man die schwarze Iris nicht von den Pupillen hatte unterscheiden können, waren wahrhaftig unheimlich gewesen.
»Luce?« Evie schaute mich erwartungsvoll an.
Ich musterte erst sie, dann die Teller mit Speisen auf dem Buffet neben uns. Wir standen neben dem Tisch mit den Desserts, auf dem sich fluffige Törtchen neben sahnigen Teigtaschen und krossen Keksen stapelten. Meine Schwester musterte mich leicht verärgert.
»Kannst du mir mal zuhören?« Sie deutete auf ein hellbraunes Teigröllchen. »Sieh dir diese Köstlichkeiten an!« Sie nahm eines der Röllchen in die Hand und hielt es mir hin. »Ich weiß nicht, wie ihr Name lautet, doch sie sind fabelhaft. Unser neuer Koch ist ein Meister seines Handwerks!«
Zerstreut nahm ich das Röllchen und biss davon ab. Es hatte eine cremige Füllung, in der sich kleine Schokoladenstückchen tummelten. Ich schob mir den Rest der Rolle in den Mund.
»Was ist?«, fragte ich, denn Evie starrte mich so merkwürdig an. Als sich unsere Blicke begegneten, spürte ich ein heftiges Brennen in meinen Augen. Ich schloss sie schnell und rieb mir über die Lider.
Evie hickste laut und ich sah sie erneut an. »Wirklich, Evie, wie viel Wein hast du getrunken?«
Meine Schwester wirkte empört. »Keinen einzigen Schluck. Aber nun, da du es erwähnst, ich fühle mich tatsächlich ziemlich wackelig auf den Beinen.«
Ich nahm mir eines der Röllchen und schnüffelte daran. Rum! Das erklärte einiges.
»Das Gebäck ist wirklich sehr schmackhaft, besonders der Rum.«
»Rum?« Evie betrachtete schuldbewusst die Röllchen. »Das war mir nicht bekannt …«, fing sie an, sich zu rechtfertigen, doch was sie sonst noch sagte, hörte ich nicht. Mein Blick traf erneut auf zwei schwarze kalte Augen.
Der Earl of Holeweavers stand nicht weit von uns entfernt und fixierte mich.
»Du hörst mir schon wieder nicht zu«, beklagte sich Evie.
»Doch schon. Es ist nur …« Ich brach ab. Nur wieso? Ich hatte ihr doch immer alles erzählen können. Warum nicht auch das?
»Kann ich dir etwas anvertrauen?«
Evie runzelte die Stirn, vermutlich, weil mein Ton plötzlich so ernst war.
»Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst.« Sie klang, als wäre sie mit einem Schlag wieder nüchtern und ich war in diesem Moment unheimlich froh, jemanden wie Evie als Schwester zu haben.
Keine Ahnung, weshalb ich gerade jetzt daran dachte, aber sie war so oft die Einzige gewesen, die mir zugehört und mich verstanden hatte.
Auch wenn meine Eltern und Florence es niemals zugegeben hätten, verunsicherten meine besonderen Augen sie. Ebenso wie die Zofen, die meine Mutter für mich aussuchte. Keine von ihnen ertrug meine Gegenwart länger als ein paar Wochen.
Nur Evie blieb mir. Sie hatte als Einzige kein Problem mit meinen strahlenden goldenen Augen.
Sie war nicht nur meine große Schwester und Spielkameradin, sie war vor allem meine beste Freundin und Vertraute. Als früher niemand mit dem Mädchen mit den seltsamen goldenen Augen spielen wollte, war es Evie gewesen, die alle Freundinnen, die ich verloren oder niemals gehabt hatte, ersetzte. Meine wunderbare Schwester war immer da, wenn ich sie brauchte, und über die Jahre hatte sich unser Band noch mehr verfestigt. Ich verdankte ihr so viel.
»Komm!« Evie griff nach meiner Hand und zog mich durch die Menge auf die Tür des Personals zu, die wir manchmal heimlich benutzten.
Ich stolperte hinter ihr her, rempelte einige Gäste an, die mir missbilligend nachsahen, und war froh, als wir endlich zwischen den engen Wänden des Dienstbotenganges an den alten Türen vorbeischlichen. Evie öffnete eine der Türen, die ein knarzendes Geräusch von sich gab, und schob mich in den Raum dahinter.
»Bin gleich so weit«, flüsterte sie und holte ein Streichholz aus einer Rockfalte. Sie riss es am Steinboden entlang an, entzündete drei Kerzen, die auf einem Regal standen, und schloss die Tür.
»Also? Welche Sorge bedrückt dich?«
Ich ließ mich auf einen der verstaubten Schemel in der Abstellkammer sinken.
»Ich weiß auch nicht recht«, setzte ich an und knetete nervös meine Hände. Mein Blick glitt durch die Abstellkammer und mich überkam ein warmes Gefühl, als ich an die Momente dachte, in denen Evie und ich uns vor dem Unterricht oder an den winterlichen Waschtagen hier versteckt hatten. An diesem Ort fühlte ich mich irgendwie geborgen.
»Vor diesem Mann graut es mir«, gestand ich schließlich und erzählte ihr von meinem Gespräch mit dem Earl of Holeweavers und seiner kalten, überheblichen Art. Ich verschwieg auch nicht, wie seine schwarzen unheimlichen Augen mich gemustert hatten, und dass er auf meine goldenen Augen überhaupt nicht reagiert hatte. Das fiel mir jetzt erst überhaupt auf.
Evie hörte mir wie bei all meinen Problemen ruhig zu und eine nachdenkliche Falte erschien auf ihrer Stirn.
»… er beobachtet mich die ganze Zeit. Auch als wir am Buffet standen«, jammerte ich.
Die Falte verschwand und ein kleines Lächeln zuckte über Evies Gesicht. »Womöglich ist er an dir interessiert. Ich habe nämlich gehört, er sei noch unverheiratet.«
»Evie!«, zischte ich sie an. »Das ist nicht witzig! Ich habe Angst vor diesem Mann.«
»Du und Angst?«, kicherte sie. »Das ist ja wie Feuer und Wasser.«
Verärgert stand ich auf. »Könntest du bitte so höflich sein und dich ein bisschen zusammennehmen, um mir hilfreiche Antworten zu geben?«
»Meine Antwort ist hilfreich«, Evie zog einen Schmollmund, »denn so abwegig mit dem Interesse ist das gar nicht. Als wir heute Nachmittag in der Eingangshalle auf dich und die Gäste gewartet haben, hat Vater mir und Florence mitgeteilt, dass er uns, dich eingeschlossen, gern vermählen würde. Er will uns in sicheren Händen wissen, so wie unsere anderen Schwestern und unseren Bruder, falls er vorzeitig sterben sollte. Der Earl steht im Rang zwar unter uns, doch er ist bestimmt ein wohlhabender und angesehener Mann, wenn Vater ihn eingeladen hat. Vielleicht denkt Papa, dass er eine von uns heiraten könnte?«
Ich setzte mich wieder und ließ mir Evies Neuigkeit durch den Kopf gehen.
»Und selbst wenn, ich finde ihn immer noch unheimlich. Diese grässlichen schwarzen Augen.« Ich schauderte.
Evie zuckte die Achseln. »Mir ist gar nichts bei ihm aufgefallen. Vielleicht haben dich deine Augen ja getrogen?« Plötzlich kicherte sie. »Ich finde ihn übrigens gar nicht so übel und wäre dir sehr gern bei der Suche nach einem Brautgewand behilflich. Welches Stoffmuster wünschst du dir denn?« Sie prustete los.
»Herrgott, Evie!«, fluchte ich und fixierte sie zornig. Heute war wirklich ein schlimmer Tag.
Sie kringelte sich jedoch vor Lachen und nahm die ganze Sache nun nicht mehr ernst.
Ich wurde immer wütender. Nicht nur auf Evie, sondern auch auf den Earl und dieses unerträgliche Fest.
Ein Schmerz durchzuckte meine Augen, so wie vorhin am Buffet, nur viel stärker. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Autsch!«
Evie verstummte sofort. »Lucy?«, fragte sie besorgt und legte ihre Hände auf meine. »Luce, was ist los?«
Ich stöhnte gequält auf. »Meine … meine Augen, sie brennen so fürchterlich.«
Evie sog scharf die Luft ein. »Hast du dir ins Auge gefasst? Oder Staub hineinbekommen?«
»Nein.« Ich krümmte mich zusammen, die Hände immer noch auf meinen Augen. »Es … es kommt irgendwie von innen.«
Evie zog mich hoch. »Ganz langsam, Lucy, alles wird gut werden«, murmelte sie beruhigend, doch ihre Stimme zitterte. »Nimm deine Hände bitte für einen Augenblick von den Augen. Ich bin zwar nicht der Medicus, vielleicht erkenne ich aber trotzdem, woher die Schmerzen kommen, die dich plagen.«
Ich nahm langsam die Hände vom Gesicht und öffnete die schmerzenden Augen.
»Was …?«, schrie Evie auf.
»Evie!« Jetzt packte ich ihre Schultern. »Was hast du?« Doch im selben Moment erstarrte auch ich. Der Raum wurde von einem hellen goldenen Licht erleuchtet, das von meinen brennenden Augen zu kommen schien. Ich sah Evies aufgerissene Augen vor mir. Sie starrte mich an. Ich starrte zurück und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Ein goldener Strahl aus meinen Augen schoss in ihre, und ließ die Luft vor Hitze flimmern. Keine Sekunde später fiel Evie zu Boden.
Der dumpfe Aufprall ihres leblosen Körpers holte mich aus meiner Starre. Das Leuchten zog sich in meine Augen zurück, verschwand aber nicht ganz, sondern ließ sie weiterhin im Halbdunkeln glühen.
Was ging hier nur vor sich?
Ich ließ mich neben meine Schwester in den Staub fallen. »Evie …«, flüsterte ich entsetzt und rüttelte leicht an ihren Schultern. Meine brennenden Augen waren vergessen, jetzt zählte nur noch Evie. Was war mit ihr passiert? Was hatte dieser goldene Strahl mit ihr gemacht? Panisch drehte ich sie auf den Rücken und legte meine Hand dorthin, wo ich ihr Herz vermutete. Nichts. Ich hob mein Ohr über ihren Mund und ihre Nase und lauschte auf ihren Atem. Auch nichts.
»Nein! Nein!!!«, schluchzte ich. Tränen traten mir in die Augen, aber ich spürte, wie sie in der Hitze des goldenen Glimmens einfach verdampften.
Das konnte nicht sein! Nein, Evie war nicht tot. Sie konnte es einfach nicht sein!
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 1, Kapitel 5)
Die Augen eines Augenschönen sind von dem Moment der Cynierung an bereit, Magizismen auszuführen. Willentlich wurde dies vor der Ersten Fahrt (siehe Kapitel 6) bisher noch nicht geschafft, lediglich die Gefühlsausbrüche eines Augenschön in den Äußeren Schleifen können Magizismen verursachen, welche dann besonders stark ausfallen und häufig mit dem Tod einer oder mehrerer Personen enden.
Wenn die Augen zum ersten Mal einen Magizismus produzieren, ist das für das Augenschön sehr schmerzhaft. In den meisten Fällen kommt es sogar zu Blutungen der Augen, da diese die große Kraft nicht gewohnt sind. Bei den später folgenden Magizismen sind die Augen bereits auf die Ballung der Magie eingestellt und mit steigender Häufigkeit sinkt die Anzahl der Nebenwirkungen.
Aus dem Bericht:
Der erste Magizismus von E. Shepden
Kapitel 2
»Evie!« Ich wusste, dass es sinnlos war, doch ich redete weiter auf sie ein. »Evie, alles wird gut werden. Bewahre deine Kräfte noch kurz. Ich werde dich zum Medicus bringen.«
Ich mühte mich, sie hochzuheben, und legte ihren Arm um meine Schulter. Unter ihrem schweren Gewicht keuchte ich leise und wankte zwei Schritte vor zur Tür. Ich drückte die quietschende Klinke herunter und taumelte in den Gang. Bei der nächstbesten Tür, die aus den Dienstbotengängen hinausführte, hielt ich an und drückte sie ebenfalls auf. Ich zog Evie hinter mir hinaus auf den Flur und sah mich um.
Wir waren in einem der Spiegelgänge gelandet, die sich durch das gesamte Schloss zogen. Ich schaute den Gang entlang und suchte nach Hinweisen, wo wir uns genau befanden. Vor lauter Angst hatte ich nicht auf den Weg geachtet und war vollkommen orientierungslos. Mein Blick blieb an einem der großen Spiegel hängen.
Ich ließ Evie sanft zu Boden gleiten und trat auf die gegenüberliegende verspiegelte Wand zu. Ich sah zwei Mädchen. Eines auf dem Boden hinter mir und eines, das mich entsetzt anstarrte.
Aber das konnten nicht Evie und ich sein, denn die Kleider der Mädchen waren an einigen Stellen zerrissen und schmutzig. Über die Gesichter und die Arme waren Rußspuren verteilt, als hätten sie sich in einem Kamin gewälzt. Rote Striemen und Kratzer zogen sich über die Haut. Doch das Verrückteste war das goldene Leuchten.
Ich trat noch näher an den Spiegel und musterte mein Gegenüber, das wohl ich sein musste. Meine Augen bestanden aus einem goldsilbernen, tanzenden Feuer. Die Flammen leckten an meinen Pupillen und an den äußeren Rändern der Iris, als wollten sie alles verbrennen. Sie leuchteten heller als Kerzenschein und warfen glitzernde Punkte an die Spiegelränder.
Ich hatte meine Augen schon oft im Spiegel betrachtet, um besser verstehen zu können, was alle anderen daran so abstieß. Sie waren schon immer ungewöhnlich gewesen, mit ihrer intensiven goldenen Farbe und dem leichten Glitzern, besonders wenn ich sie bei Sonnenschein betrachtete. Doch so ein Leuchten wie jetzt hatte es noch nie gegeben.
»Interessant, nicht wahr?«, vernahm ich eine hohe kalte Stimme.
Ich fuhr herum und hätte am liebsten laut geschrien. Es war der Earl. Er stand etwa vier Meter von mir entfernt und lächelte mich kühl an.
»Was … was wollt Ihr?«, stotterte ich unsicher.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Sein Blick wanderte zu Evie.
Ich stellte mich schnell schützend vor sie und versuchte, ruhig zu bleiben.
»Diesmal musste also die eigene Schwester dran glauben.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Wer war es davor?«
»Was meint Ihr mit davor?«, fragte ich und wich ängstlich einen Schritt in den Gang zurück. Es behagte mir überhaupt nicht, Evie allein auf dem Boden zwischen mir und diesem Mann liegen zu sehen, der mir Angst machte.
»Ach Engelchen«, sagte er gespielt entrüstet, »ich weiß doch ohnehin alles. Mit siebzehn begeht kein Augenschön seinen ersten Mord.«
»M-mord?« Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hatte, doch dieses Wort schon. Stimmte das, was er sagte? Hatte ich meine eigene Schwester ermordet?
Der Mann schaute wieder zu mir auf. Kurze Verunsicherung huschte über sein Gesicht, dann war es erneut unbewegt und ausdruckslos.
»Ja, meine Süße, Mord. Du hast dein hübsches Schwesterchen getötet, so wie all die anderen, die du mit deinen Augen ausgebrannt hast.«
Mit meinen Augen ausgebrannt? Was schwafelte dieser seltsame Earl da nur?
»Ich habe noch nie jemanden ausgebrannt«, widersprach ich mutiger, als ich mich fühlte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was ausbrennen bedeutete.
»Also Herzchen …«
Ich zuckte zusammen, als er mich mit dem Kosenamen anredete, den meine Mutter immer benutzte.
»… so belügen kannst du mich nicht«, fuhr er fort und machte einen Schritt in meine Richtung. »Eine hast du mindestens umgebracht.« Er wies mit dem Finger auf Evies leblosen Körper. »Du sagst, es war die Einzige?« Er schaute mir fragend ins Gesicht und ich nickte schnell.
»Hmm … dann bist du wohl eine Schwache? Oder eine besonders Mächtige? Die Augen leuchten immer noch«, murmelte er leise. »Sonne auf jeden Fall, aber was noch? Nun ja, wen interessiert das schon? Niemand wird es je herausfinden.«
Er hatte kurz geistesabwesend gewirkt, doch nun wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Für dich macht das keinen Unterschied.«
Als ob ich überhaupt irgendetwas von dem verstanden hätte, was er gesagt hatte!
»Tot ist tot«, fauchte er in veränderter Stimmlage.
Tot? Das verstand ich. Entsetzt stolperte ich zurück.
Auch der Earl trat einen halben Schritt zurück und kauerte sich auf den Boden. So wie eine Katze, die sich bereit zum Sprung machte. Er stieß ein unmenschliches Knurren hervor, das mir die Haare zu Bergen stehen ließ und meinen Fluchtinstinkt wachrief.
Der Earl fing an, sich zu verändern. Seine Finger wurden länger und länger, bogen sich wie die Klauen eines Adlers.
Sein Gesicht schien aufzureißen, Fellbüschel sprossen aus der Haut. Seine schwarzen Augen wurden größer und zogen sich in die Breite. Sein Bauch hingegen zog sich in die Länge. Als sein Hemd aufplatzte, konnte ich runde, matschbraune Schuppen erkennen. Die Beine wuchsen in seinen Körper hinein und die Arme immer weiter hinaus, bis er auf ihnen zu stehen schien.
Er riss sich den Mantel herunter und ich konnte erkennen, warum er ihn die ganze Zeit getragen hatte. Aus seinem Rücken entfalteten sich zwei lederne Flügel, die zwischen den Gangwänden kaum Platz hatten, sodass er sie nicht ganz ausbreiten konnte. Die Nase und der Mund wuchsen zusammen zu einem braunen, krummen Schnabel, den das Geschöpf jetzt öffnete, wobei es einen grellen Schrei hervorstieß. Es war ein Knurren, Zischen und Krähen zugleich.
Es war der unpassendste Moment, aber beim Anblick der Kreatur fiel mir die alte Henne unseres Gärtners ein, die voriges Jahr gestorben war. Nur hatte das Huhn keinen schuppigen Schlangenkörper mit einem Hundegesicht gehabt. Außerdem war diese Kreatur leider äußerst lebendig. Gerade legte sie den Kopf in den Nacken, stieß ein weiteres keckerndes Knurren aus und schlängelte sich auf mich zu. Es war närrisch, da ich diesem Monster nie entkommen würde, doch mein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand. Ich drehte mich um und rannte panisch los. Ein hämisches Zischeln erklang hinter mir, als würde das Monster mich für meinen erbärmlichen Fluchtversuch auslachen. Ich rannte trotzdem weiter, so schnell ich konnte. Nur war ich nicht besonders erfolgreich damit, da ich ein schweres Kleid mit mehreren Unter- und Überröcken trug.
Ein schleifendes Geräusch hinter mir informierte mich, dass der Schlangenkörper mir folgte. Ich strengte mich in panischer Angst bis zum Äußersten an und meine Augen fingen erneut an zu brennen. Es war ein quälender Schmerz, der mir fast den Verstand raubte. Diesmal hielt ich meine Augen geöffnet, da es zuvor ohnehin nichts genutzt hatte, sie zu schließen, und rannte einfach weiter. Vor mir konnte ich eine Biegung im Gang sehen, und auf dem Spiegel, der dort die Wand schmückte, sah ich mich und das Monster. Mich mit strahlenden goldenen Augen, die Blitze in alle Richtungen abschossen.
Instinktiv duckte ich mich, als einer von dem Spiegel abprallte und zurückkam. Der Blitz zischte über mich hinweg und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ich wirbelte herum und sah eine große Staubwolke. Das Monster war verschwunden.
Verwirrt schaute ich mich um. Meine Augen schossen brennende Pfeile umher, deren flackerndes Licht den Gang golden erhellte. Was war nur los mit mir?
Da hörte ich plötzlich das leise Zischeln von Flammen direkt vor mir. Ich konnte den Blick nicht schnell genug abwenden und ein goldener Feuerblitz, der von einem Spiegel zurückgeworfen wurde, traf mich mitten in den Augen. Es war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie verspürt hatte, als würde ich innerlich verbrennen, als wäre alle Peinigung in meinen Körper übertragen worden und wollte mich zerstören.
Mein gellender Schrei hallte durch die Gänge, bevor alles schwarz wurde, und ich fiel. Immer tiefer. Doch gleichzeitig schien ich in Millionen Stücke zerrissen zu werden und meine Schreie konnten die gefühlte Qual nicht mehr ausreichend ausdrücken.
Ich spürte und roch warmes Blut, das mir die Wangen hinunterlief. Es tropfte aus meinen Augen und verklebte meine Wangen, wie Tränen. Dann war alles schwarz.
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 1, Kapitel 6)
Das erste Zeichen dafür, dass jemand ein Augenschön ist, ist die Veränderung der Augenfarbe innerhalb der ersten sieben Lebensjahre. Meist ereignen sich in der Zeit danach viele Unfälle, die erst nach und nach seltener werden. Bei solchen Gefühlsausbrüchen kann es auch zum Tod einer oder mehrerer Personen kommen. Die Erste Fahrt in die Inneren Schleifen ereignet sich in der Regel zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr während gewünschten Zauber in Beibehaltung eines Gefühlsausbruchs. Beim gewöhnlichen Tode fährt das Augenschön sofort in die Inneren Schleifen. (So ist auch die Erste Fahrt mit nur dreizehn Jahren möglich.)
Aus dem Bericht:
Die Erste Fahrt von E. Shepden
Kapitel 3
»… ist einfach so hier reingeplatzt.«
»In die dritte Schleife?«
»Ja … ist ungewöhnlich … wohl eine mächtige Magie.«
»Welches Alter?«
»Ich schätze so sechzehn, siebzehn.«
»Ehrlich? Ganz schön spät für so eine Kraft.«
»Ja, … die anderen kommen meistens früher. Der normale Durchschnitt kommt eher in diesem Alter.«
»Könnte das womöglich eine Titanin sein? … mehrere … Elternteile?«
»Die letzten Titanen … schon eine Weile her …«
»Die Möglichkeit kann bei so einer Kraft durchaus bestehen.«
»Ja, aber … schaut! Sie bewegt sich.«
Verschwommene Gesprächsfetzen sickerten langsam in meinen Kopf, der pochte, als wollte er die Trommeln am Hofe des Königs übertönen. Ein leises Stöhnen drang über meine Lippen und ich drehte den Kopf herum, sodass meine Wange kühlen Boden berührte. Marmor vielleicht? Ich öffnete die Augen und sah in ein schummrig waberndes Licht, das aus der Luft selbst zu kommen schien. Leicht hob ich eine Hand an und fuhr durch den weißen Nebel, der den Boden bedeckte. Ja, er war aus Marmor. Hatte ich es doch gewusst! Wo war ich hier?
»Bin ich tot?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme zu niemand Bestimmtem.
»Schön wär’s«, antwortete eine fremde männliche Stimme hinter mir.
»Pssst«, zischte ein weiterer Mann.
Ich richtete mich ein Stück auf und dachte angestrengt nach. Was war passiert? Evie!, durchschoss es mich. Das seltsame Leuchten, das von meinen Augen auszugehen schien, der Mann im Mantel. Die Blitze, die das Monster getötet hatten, das zuvor noch der Earl gewesen war. Der eine Blitz, der auf mich zugekommen war, die Schmerzen und das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden.
Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Hand zu meinen Augen und betastete sie. Als ich den Finger vor mein Gesicht hielt, glänzte er blutrot. Geschockt und verwirrt sah ich mich aus meiner halb liegenden Position weiter um. Ich befand mich in einem riesigen Raum, dessen Decken ich ebenso wie die Wände nur schemenhaft erkennen konnte. Einige Schritte von mir entfernt waberte der Nebel um vier Gestalten, die im aufsteigenden Dunst ebenfalls nicht richtig zu sehen waren.
Noch immer wackelig setzte ich mich richtig auf und stellte fest, dass es sich bei den Gestalten um drei Männer, einer davon noch ziemlich jung – nur wenige Jahre älter als ich – und um eine Frau handelte. Entgeistert starrte ich sie an. Sie trug Hosen. Eine seltsam enge Hose, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und ich hatte auch noch nie davon gehört, dass es Frauenhosen gab. Doch nicht nur die Frau trug andersartige Kleidung, alle vier sahen seltsam aus.
Einer der Männer trat auf mich zu.
»Ich bin Mr Honk und sehr erfreut, dich kennenzulernen«, sagte er mit angenehm warmer Stimme. »Kann ich dir aufhelfen?« Er streckte eine Hand aus und ich ergriff sie erleichtert. Mr Honk zog mich hoch und stützte mich, als ich etwas benommen schwankte. Der andere ältere Mann und die Frau betrachteten mich mit kaum verhohlenem Interesse. Der junge Mann starrte nur missmutig zu Boden.
Die Frau lächelte mich an. »Ich bin Tatjana«, stellte sie sich vor und deutete auf den Mann neben sich, »und das ist Elvon.«
Der Mann nickte mir ebenfalls lächelnd zu, bevor er zu dem jüngeren Mann hinübersah. Der hatte die Hände in seinen Taschen vergraben und starrte noch immer nach unten. Doch zumindest brummte er nun eine undeutliche Begrüßung.
»Und wer bist du?«, fragte mich der Mann, der sich mir als Mr Honk vorgestellt hatte.
»Lucy Elizabeth de Mintrus.« Obwohl mich niemand darum gebeten hatte, nannte ich meinen vollen Namen, der mir hier irgendwie angebracht schien. Verlegen strich ich über mein Kleid, das zerrissen und rußverschmiert an mir herabhing.
Die zwei älteren Männer und die Frau tauschten schnelle Blicke aus. Und da fiel es mir auf. Ihre Augen.
Mr Honk hatte kastanienbraune, die Frau, Tatjana, graue und die des Mannes namens Elvon waren violett. Doch das war nicht das Seltsamste an ihnen. Alle waren von einer genauso strahlenden farbigen Intensität wie meine. Sie schienen zu leuchten, ohne einen einzigen Lichtfunken abzusenden.
Der junge Mann blickte kurz auf, sah mich an und mein Mund blieb offen stehen. Er hatte Augen in einem so wunderschönen Türkis wie das Meer. Winzige Wellen schienen durch seine Iris zu wogen und sich an seiner Pupille zu brechen. Als sich Mr Honk an mich wandte, drehte ich mich hastig um und klappte schnell meinen Mund wieder zu.
»Also … Lucy, ist es in Ordnung, wenn wir dir ein paar Fragen stellen?«
Ich nickte vorsichtig. Diese Leute wirkten nicht bösartig. Womöglich war ich ja doch tot und die Fragen waren eine Art Aufnahmeprüfung für den Himmel.
Tatjana und Elvon stellen sich neben Mr Honk, während der Jüngere blieb, wo er war.
»Dann fangen wir mal an.« Mr Honk musterte mich mit seinen leuchtenden braunen Augen. »Wie alt bist du?«
»Siebzehn.« Wozu wollte er das wissen?
»Wo wohnst … hast du gewohnt?«
»In dem Anwesen meiner Familie, im Südosten Englands.«
»Mit wem hast du dort gewohnt?«
Ich runzelte die Stirn. Wieso redete er immer in der Vergangenheit? »Mit meinen Eltern, meinen beiden älteren Schwestern und unseren Bediensteten.«
Die drei tauschten abermals Blicke aus.
»In welchem Jahr wurdest du geboren?«, übernahm nun Elvon.
»I-ich glaube, 1586.«
»Und wo?«
Seine violette Iris irritierte mich. »Bei uns auf dem Anwesen.«
»Und seit wann hast du deine Augen?«
»Ähm … schon immer?« Jeder Mensch hatte Augen, von Geburt an. Hatte ich die Frage falsch verstanden?
»Ich glaube, ich habe meine Frage falsch formuliert«, bestätigte mir Elvon und faltete die Hände zusammen. »Ich wollte eigentlich wissen, seit wann deine Augen diese ungewöhnliche goldene Färbung haben.«
Empörung machte sich in mir breit. Er bezeichnete meine Augenfarbe als ungewöhnlich, dabei hatte er selbst noch ungewöhnlichere Augen. Dennoch antwortete ich wahrheitsgemäß. »Meines Wissens habe ich diese Augenfarbe schon immer. Jedenfalls so lange ich mich zurückerinnern kann.«
Elvon runzelte die Stirn. »Und deine Eltern? Haben sie diesbezüglich mal irgendwann etwas erwähnt?«
Ich war gerade dabei, den Kopf zu schütteln, als eine uralte Erinnerung in mir aufstieg, die ich zu verdrängen versucht hatte. Die Erinnerung handelte von einem Tag, an dem mein Unterricht bei Miss Lessing, meiner Lehrerin, früher geendet hatte, und ich, keine sieben Jahre alt, auf dem Weg zu meinem Zimmer am Studierzimmer meines Vaters vorbeigekommen war und ein leises Schluchzen gehört hatte.
Leise schlich ich näher an die Tür und lauschte der Stimme meines Vaters, die durch das Holz etwas dumpf klang. »Celine, Schatz, beruhige dich bitte.«
Ein Stuhl knarzte und eine weibliche Stimme jammerte leise eine Antwort, die ich jedoch nicht verstehen konnte.
»Was bedrückt dich, Liebling?«, wollte mein Vater mit seiner beruhigenden dunklen Stimme wissen.
»Ach, es ist nur …«, vernahm ich dann die Stimme meiner Mutter deutlich, die sich darum bemühte, sich zusammenzureißen. »Oh Ferris! Ich bin so schrecklich in Sorge. Wegen Lucy.«
Eigentlich wollte ich gar nicht hören, worüber sie sich sorgte. Doch ich war wie gelähmt und blieb stehen.
»Sie ist so furchtbar einsam, ohne jegliche Freunde. Alle Kinder finden sie seltsam, befremdlich. Und weshalb? Wegen dieser abscheulichen goldenen Augen.«
»Celine! Gerade du solltest nicht so von ihr sprechen.« Mein Vater klang verärgert. »Sie ist ein wundervolles, kluges Kind. So schön und makellos …«
»Das ist es doch gerade«, unterbrach ihn meine Mutter aufgebracht. »Merkst du das nicht, Ferris? Jeder, der sie sieht, hält sie für perfekt.«
»Ja …«
»Eben! Sie ist einfach zu perfekt. Hat keinen einzigen Fleck auf ihrer glatten, pfirsichfarbenen Haut, keinen einzigen krummen Nagel an ihren zarten Händen oder Zehen, und kein einziges stumpfes Haar in ihrer prachtvollen, wallenden Mähne. Sie ist zu hübsch. Zu makellos, zu perfekt. Sie ist nicht normal, und obwohl das eigentlich gute Eigenschaften sind, macht es den Leuten Angst, weil sie so anders ist.« Ein Seufzen drang durch die Tür. »Und als Krönung von alledem, die goldenen Augen. Warum konnten sie nicht die schöne grüne Färbung, die sie hatten, behalten? Warum haben sich ihre Augen wenige Tage nach ihrer Geburt in diese goldenen Monster verwandelt? Warum …?«
Ich stolperte von der Tür weg und Tränen liefen mir über die Wangen. Meine Mutter hatte es mit ihren Worten geschafft, dass ich mich selbst hasste.
Von dem Tag erschien mir meine Schönheit wie ein Fluch und noch etwas veränderte sich. Evie wurde noch wichtiger für mich. Sie wurde so etwas wie meine Mutter, während mich meine richtige Mutter nach ihren Worten für immer verloren hatte.