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Eine mysteriöse Akademie. Ein gefährliches Geheimnis. Hannahs Leben schwebt in Gefahr. Einzig an der renommierten Akademie für künstliche Former scheint sie vor ihrem gefährlichen Widersacher in Sicherheit zu sein. Doch selbst hinter den altehrwürdigen Mauern der Institution muss sie unerkannt bleiben. Denn Hannahs Gabe ist um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als die Gabe ihrer Kommilitonen. Sollte Wissen darüber in die falschen Hände geraten, wäre das ihr sicheres Todesurteil – und ihr Gegner hat seine Augen und Ohren überall … Deshalb kann sich Hannah auch kaum freuen, als Ausbilder Raphael, einer der talentiertesten Former der Akademie, sie nicht aus den Augen lassen will. Welche Gefahr verbirgt sich hinter seiner undurchschaubaren Fassade? Und wird es Hannah gelingen, ihre riskante Farce zu wahren? Band 2 der fesselnden Dark-Academia-Trilogie (auch bekannt unter »AURA – Der Verrat« von Clara Benedict), die Fans von Olivia Blake und Ruby Brown in ihren Bann ziehen wird. Warum Dark-Academia-Fans diese Reihe lieben werden:
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Seitenzahl: 407
Über dieses Buch:
Hannahs Leben schwebt in Gefahr. Einzig an der renommierten Akademie für künstliche Former scheint sie vor ihrem gefährlichen Widersacher in Sicherheit zu sein. Doch selbst hinter den altehrwürdigen Mauern der Institution muss sie unerkannt bleiben. Denn Hannahs Gabe ist um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als die Gabe ihrer Kommilitonen. Sollte Wissen darüber in die falschen Hände geraten, wäre das ihr sicheres Todesurteil – und ihr Gegner hat seine Augen und Ohren überall … Deshalb kann sich Hannah auch kaum freuen, als Ausbilder Raphael, einer der talentiertesten Former der Akademie, sie nicht aus den Augen lassen will. Welche Gefahr verbirgt sich hinter seiner undurchschaubaren Fassade? Und wird es Hannah gelingen, ihre riskante Farce zu wahren?
Über die Autorin:
Ann-Kristin Gelder, Jahrgang 1981, ist Deutsch- und Musiklehrerin und lebt mit ihrem Mann, einem Kater, zwei Hunden, drei Kindern und zwölf Musikinstrumenten an der Weinstraße. Wenn sie nicht gerade liest oder an einem neuen Roman schreibt, zockt sie Horrorspiele oder steht mit ihrer Band auf der Bühne.
Die Website der Autorin: www.akgelder.deDie Autorin bei Facebook: www.facebook.com/ak.gelderDie Autorin auf Instagram: @bookcatish
Die Autorin auf TikTok: @bookcatish
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Aura-Trilogie: »AURA – Die Gabe«, »AURA – Der Verrat« und »AURA – Der Fluch« sowie ihren Thriller »21 Tage«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Copyright © der Originalausgabe 2018 Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser-Medienagentur, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-586-3
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Ann-Kristin Gelder
Aura – Der Verrat
Die Aura-Trilogie 2
dotbooks.
Für Jano Lukas
Benommen stütze ich mich mit der Schulter am Türrahmen ab und versuche vergebens, meine Augen auf einen Punkt zu fokussieren. Die kühle Nachtluft sorgt dafür, dass ich vollends vom Schwindel erfasst werde. Ich fühle mich unglaublich schwach. Wäre es schlimm, wenn ich mich nur kurz ausruhen würde? Einfach auf der Türschwelle zusammensacken und schlafen. Der Flucht widmen kann ich mich, wenn ich etwas Erholung hatte. Meine Knie geben nach, und ich kippe nach vorne. Reflexartig will ich mich festhalten, stürze aber trotzdem die zwei Stufen vor der Haustür hinunter. Spitze Kieselsteine bohren sich in meine Haut, sodass mich ein stechender Schmerz kurz zurück in die Realität bringt. Ich muss das Anwesen so schnell wie möglich verlassen.
In der Küche liegt eine Leiche. Die Leiche von Jan, den ich umgebracht habe. Schon das allein wäre Grund genug, Reißaus zu nehmen. Stattdessen ist zudem der Unbekannte hinter mir her, den Jan am Telefon erwähnt hat.
Natürlich wird sie das nicht überleben.
Diese Worte brennen in meiner Erinnerung. Was auch immer dieser Levander von mir will, er wird sicherlich nichts Gutes im Sinn haben.
Unter Aufbietung aller verfügbarer Willenskraft kämpfe ich mich in den Stand hoch und stolpere auf den Waldrand zu, um im dichten Gestrüpp Schutz zu suchen. Vor meinen Augen tanzen blitzende Funken, sodass es unmöglich ist, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Wie eine Blinde setze ich einen Fuß vor den anderen, die Arme weit ausgestreckt, um Verletzungen zu vermeiden. Äste schlagen mir ins Gesicht und hinterlassen blutige Striemen auf Wangen und Stirn. Ich darf nicht anhalten. Wenn das Formerteam zurückkehrt, bedeutet dies mein Ende.
Die Zeit verschwimmt. In meiner Wahrnehmung gibt es ausschließlich Raum für Müdigkeit. Am Rande des Bewusstseins lauert die Dunkelheit, die darauf wartet, dass ich ihr nachgebe und meinem Körper endlich die ersehnte Auszeit gönne. Die Stille des Waldes wird nur durch das Splittern der Äste, die unter meinen unsicheren Schritten zerbrechen, und durch meinen keuchenden Atem gestört. Meine Beine werden stetig schwerer, und immer häufiger muss ich stehen bleiben, weil sich Gestrüpp wie Schlangen um meine Knöchel gewunden hat.
Ein greller Schmerz an der Schläfe lässt mich in die Knie gehen. Warm fließt das Blut meine Wange hinunter und vermischt sich mit meinen Tränen. Zitternd fahre ich mit den Fingernägeln über die raue Oberfläche eines Baumstamms und suche vergeblich nach Halt. Mittlerweile bin ich zu schwach, um mich aufzurichten. Verzweifelt kauere ich auf dem kalten Boden und fühle die Mischung aus feuchtem Moos und verfaultem Laub unter meinen schmerzenden Handflächen. Der modrige Geruch der Erde steigt mir in die Nase.
Gefangen im Zustand grenzenloser Erschöpfung entdecke ich erst nach einiger Zeit eine fast unmerkliche Veränderung in meinen Empfindungen. Eine vage bekannt scheinende Präsenz, deren Anwesenheit erneut das Adrenalin durch meinen Körper schießen lässt.
Jan. Ich kann ihn spüren.
Ausgeschlossen. Jan ist tot. Zwar nicht durch meine Hand gestorben, doch auf jeden Fall durch mich. Ich habe ihn getötet. Daran besteht kein Zweifel.
Mit brennenden Augen starre ich in die Dunkelheit. Außer dem Knarren der Äste und dem Rauschen der Blätter ist nichts zu hören. Drehe ich jetzt völlig durch? Mühsam ringe ich um Beherrschung und versuche, mich zu beruhigen. Vergeblich. In meinem Kopf verschwimmt alles zu einer unentwirrbaren Masse. Mit letzter Kraft schaffe ich es, mich am Baumstamm emporzuziehen. Wenige Schritte später strauchle ich aufs Neue. Fieberhaft zerre ich mit bloßen Händen an der Dornenranke, die sich in meiner Kleidung verfangen hat. Ich bin derart aufgelöst, dass ich den reißenden Schmerz gar nicht bemerke. Weg hier.
Nachdem ich mich befreit habe, halte ich inne und schaue über die Schulter in die mich umgebende Schwärze. Im selben Moment kann ich ihn hören. Unter dem Schritt meines Verfolgers zerbersten kleine Zweige, was in der nächtlichen Stille um ein Vielfaches lauter klingt. Er nähert sich mir unaufhaltsam. Ich beginne zu rennen, doch im dichten Unterholz komme ich nur geringfügig schneller voran als zuvor. Ganz im Gegensatz zu dem Unbekannten hinter mir, der weiter aufschließt. Erbarmungslos treibe ich meinen geschundenen Körper an.
Deutlich spüre ich Jans Gegenwart in meinem Nacken.
Das ist unmöglich! Er ist tot! Ich bin mir vollkommen sicher!
Dieses Tempo halte ich nicht mehr lange durch. Wieder verhakt sich mein Fuß in einer hervorstehenden Wurzel, und diesmal schaffe ich es nicht, das Gleichgewicht zu bewahren. Mit einem gedämpften Schrei gehe ich zu Boden. Mit beiden Händen umklammere ich meinen linken Knöchel, der unglaublich schmerzt.
Ich kann nicht mehr. Weitere Flucht ist zwecklos. Unnötig, mich noch länger durch den Wald zu quälen, denn in meinem Zustand besteht keine Chance auf Entkommen.
In diesem Moment gebe ich auf. Zitternd rolle ich mich auf dem klammen Untergrund zusammen und warte. Jeden Augenblick rechne ich damit, dass mein Verfolger zwischen den Bäumen hervorbricht und mich überwältigt. Obwohl ich die Lider zusammenkneife, ziehen Tränen heiße Spuren über meine Wangen. Ich bedecke mein Gesicht mit den Handflächen und warte.
Nichts geschieht. Meine gehetzten Atemzüge sind das einzige Geräusch, das die Stille des Waldes durchdringt. Dennoch kann ich seine Anwesenheit deutlich spüren. Wo ist er? Wieso kommt er nicht näher?
In der Ferne brechen Zweige. Deutlich weiter weg als zuvor. Zieht er sich zurück? Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und lausche. Mittlerweile ist meine Benommenheit so groß, dass das Rauschen in meinen Ohren alle anderen Laute übertönt. Erneut erfasst mich Schwindel wie eine riesige Welle. In der erdrückenden Nacht verliere ich die Orientierung. Meine Welt kippt. Alles dreht sich. Um Halt zu finden, grabe ich die Hände in die nasse Erde und presse meine Wange in die kühlen Blätter.
Ganz in der Nähe bricht ein Ast mit einem lauten Knall. Ich zucke zusammen. Gleichzeitig höre ich ein trockenes Knirschen aus der anderen Richtung.
Nun ist mir klar, warum mich mein Verfolger nicht angegriffen hat. Er wartet auf Verstärkung, da er nicht weiß, wie schwach ich wirklich bin. Für ihn stelle ich eine potenzielle Gefahr dar. Wie viele dieser Former sind hinter mir her?
Entkräftet hebe ich den Kopf und versuche, meine Aufmerksamkeit zu bündeln. Schritte kommen näher und halten plötzlich an. Anscheinend bewegt sich nur eine weitere Person auf mich zu. Gleichgültig. Im Moment könnte mich auch ein Einzelner leicht niederstrecken.
Stille. Nervtötend. Aufreibend. Verstörend, denn ich bin sicher, Jan in meiner unmittelbaren Umgebung zu fühlen. Kein Laut ist zu hören. Die Ruhe, bevor der Sturm losbricht. Eingefrorene Zeit.
Dann reißt mich eine angespannte Stimme aus der Leere. »Wer ist da?«
Unwillkürlich stoße ich den Atem aus. Definitiv nicht Jan. Der Sprecher klingt sehr jung. In seinem Tonfall kann ich deutliche Anzeichen von Nervosität ausmachen. Leises Geraschel. Metall, das über Stoff schabt.
»Elric! Wieso sind Sie hier? Wo ist Dr. Levan –« Er zieht scharf die Luft ein. »Was machen Sie da? Warum –« Der bereits schrille Tonfall steigert sich in der Lautstärke und mündet in einen hysterischen Schrei, der schlagartig abbricht und durch ein feuchtes Gurgeln ersetzt wird. Anschließend höre ich den dumpfen Aufprall eines Körpers auf dem Waldboden.
Entsetzt presse ich die Lider zusammen, während ich von einer Welle der Angst überflutet werde. Ich bin zweifellos die Nächste. Verbissen versuche ich, meine Energie zu sammeln, um dem Mörder meines Verfolgers einen Fluchtimpuls einzugeben.
Geh w–
Das unterschwellige Rauschen in meinen Ohren wird zu einem aggressiven Summen. Übelkeit erfüllt mein Bewusstsein. Ich kann nicht mehr. Meine Reserven sind aufgebraucht. Dieser erneuten Anstrengung bin ich nicht gewachsen. Mein Körper lässt mich nun endgültig im Stich. Die Erschöpfung legt sich wie schwerer Nebel auf meine Sinne. Ich versinke in einer Finsternis, die schwärzer ist als die mich umgebende Nacht.
Als ich wieder zu mir komme, umfängt mich absolute Stille. Die Lider weiterhin geschlossen lausche ich angestrengt. Kein Geräusch ist zu hören, dennoch fühle ich deutlich, dass ich nicht alleine bin. Vorsichtig öffne ich die Augen. Statt des erwarteten Grüns der Baumkronen sehe ich eine weiße Zimmerdecke über mir. Drei Halogenstrahler tauchen meine Umgebung in kaltes Licht. Benommen wende ich den Kopf und starre auf eine helle Wand. Ich drehe mich zur anderen Seite und zucke erschrocken zusammen.
Direkt neben mir sitzt ein etwa fünfzigjähriger Mann an einem schlichten Schreibtisch und mustert mich aufmerksam. Er hat kurze, dunkelbraune Haare, die von grauen Strähnen durchzogen sind, eine etwas zu lange Nase und hellgraue Augen.
Bevor ich panisch losschreien oder hektisch einen Befehl formulieren kann, hebt er beschwichtigend die Hände. »Du wunderst dich bestimmt, dass du noch am Leben bist«, stellt er gelassen fest. »Um deine Fragen kümmern wir uns später. Ich kann die Videoaufnahme nicht beliebig lange unterbrechen. Fokussiere einen Wahrheitszwang und hör einfach zu.«
Ich schlucke. »Okay.«
Völlig überrumpelt komme ich seiner Aufforderung nach.
Sag die Wahrheit.
»Dass ein gefährlicher Mann hinter dir her ist, hast du hoffentlich begriffen. Lass mich kurz erklären, worum es geht. Du bist ein Former. Das heißt, du kannst die Realität durch deinen Willen verändern. Du kannst sie beugen. Diese Gabe existiert in zwei verschiedenen Ausprägungen: Künstliche Former bedürfen einer genauen Anleitung, gewissermaßen eines Rucks von außen, um ihre Kraft zu nutzen. Zudem sind die meisten eher schwach und brauchen zur Ausübung sehr viel Konzentration. Anders verhält es sich bei der Gruppe, zu der du gehörst. Du bist ein natürlicher Former. Diese verfügen über deutlich größeres Potenzial und sind in der Lage, den Umgang eigenständig zu lernen. Außerdem funktioniert ihre Gabe auch intuitiv. Sie können in Extremsituationen einen Befehl ausgeben, ohne sich explizit darauf zu konzentrieren. Kannst du mir folgen?«
Mit größter Anstrengung gelingt es mir, nicht nachzuhaken. »Ja«, antworte ich knapp.
»Seit einigen Jahren gibt es eine Akademie, die sich darauf spezialisiert hat, künstliche Former zu finden und in der Nutzung der Gabe anzuleiten«, fährt mein Gesprächspartner fort. »Dr. Levander ist der Kopf dieser Organisation. Er selbst ist ein natürlicher Former, der diese Information jedoch strikt geheim hält. Die komplette Schule steht unter seinem Kommando. Die Ausbildung künstlicher Former ist aber nur ein Mittel zum Zweck. Sein eigentliches Ziel ist es, andere natürliche Former in seine Gewalt zu bringen. Anschließend zwingt er sie zur Ausübung eines Heilimpulses. Dieser hat zur Folge, dass Dr. Levander selbst verjüngt wird, während der natürliche Former dafür so viel Energie benötigt, dass er tot zusammenbricht.«
»Wie bitte?«, unterbreche ich nun doch und stoße ungläubig die Luft aus. »Ein Doktor, der mir das Leben aussaugen will?«
»Es handelt sich nicht um eine direkte Übertragung. Stattdessen ist der Ausführende einer solchen Belastung ausgesetzt, dass er seine letzten Reserven mobilisiert und schließlich völlig entkräftet stirbt.«
»Wie soll das funktionieren? Bisher wurde ich bei jeder Überanstrengung ohnmächtig.«
»Es verhält sich anders, wenn du mit einem mentalen Impuls dazu gezwungen wirst. Du kanalisierst weiter, während dein Bewusstsein gewaltsam aufrechterhalten wird. Dein Körper fleht um Erholung, aber du kannst sie nicht gewähren. Dein Verstand ahnt, dass du sterben wirst, wenn du nicht aufhörst. Trotzdem verschenkst du deine letzten Lebensfunken, bis nichts mehr da ist. Bis dein Herz vor Erschöpfung aufhört zu schlagen.«
Ich ziehe scharf die Luft ein. Mir war zwar klar, dass Jans Team nichts Gutes vorhatte, aber die Bestätigung zu erhalten, dass sie mich diesem Levander zum Fraß vorwerfen wollten, ist verstörend.
»Jan hat mich mit einer Spritze außer Gefecht gesetzt. Weshalb hat er mich nicht einfach in der Betäubung belassen und direkt diesem Typ übergeben?«, wende ich ein. »Wieso war diese aufwendige und riskante Manipulation nötig?«
»Ganz so einfach ist es nicht«, erklärt mein Gesprächspartner. »Der Former muss den Befehl bei vollem Bewusstsein formulieren. Der Heilimpuls ist sehr komplex und funktioniert lediglich, wenn die Konzentration ohne Einschränkung gebündelt wird. Keine Drogen, kein Alkohol, sonst ist der Erfolg der Fokussierung gefährdet.«
»Und Sie retten mich ganz uneigennützig vor diesem schrecklichen Schicksal?«, frage ich skeptisch.
»Hannah, wenn ich dir etwas Böses wollte, hätte ich das vollbringen können, als du heute Nacht bewusstlos zu meinen Füßen lagst.« Er lacht leise. »Stattdessen habe ich dich nicht nur in Sicherheit gebracht, sondern auch geheilt.«
Stimmt. Schmerzvoll erinnere ich mich an meine Kollision mit dem Baum und die blutigen Kratzer, die ich mir bei der überstürzten Flucht durch die Dunkelheit zugezogen habe, ganz zu schweigen von meinem verdrehten Fuß. Von den zahlreichen Verletzungen ist nicht das Geringste mehr zu spüren.
»Sie waren in der Nähe, als ich ohnmächtig wurde«, stelle ich fest und krame angestrengt in meinem Gedächtnis nach dem Namen, den der unglückliche Former im Wald hervorgestoßen hatte. »Sie sind … Eric.«
»Elric«, korrigiert er mich.
»Was ist mit meinem Verfolger geschehen? Haben Sie ihn –«
»Denkst du, dass ihn bei Dr. Levanders Eintreffen ein anderes Schicksal erwartet hätte? Ich habe die Dinge lediglich beschleunigt. Das Opfer war notwendig, um deine Entdeckung zu verhindern.«
»Aber –«
»Glaubst du im Ernst, dass Gnade gezeigt wird, nachdem ein Team so versagt hat?«, schneidet er mir das Wort ab. »Mach dir nichts vor. Mittlerweile ist keiner mehr von ihnen am Leben. Sie alle haben für…«, er zögert, »Jans Versagen bezahlt.«
Ich schließe kurz die Augen und bleibe stumm. Es gibt nichts, was ich auf diese Enthüllung erwidern könnte.
»Hannah«, setzt er schließlich an. »Jetzt ist nicht der richtige Moment, um Schuldgefühle zu entwickeln oder Gewissensfragen zu erörtern. Für deine Rettung musste ich ein großes Risiko eingehen. Aber das ist nichts gegen die Gefahren, die auf uns zukommen.«
»Auf uns?«, bohre ich misstrauisch nach.
»Ich habe dich an der Akademie eingeschleust.«
»Bitte?« Obwohl ich mich um einen ruhigen Tonfall bemühe, gleicht meine Äußerung einem hysterischen Aufschrei.
»Das ist deine einzige Chance.« Elric seufzt resigniert. »Natürliche Former sind eine Seltenheit. Dr. Levander wird nicht eher ruhen, bis er dich gefunden hat. Er weiß über deine Familie, deine Freunde Bescheid. Er kann an jede Information kommen, ohne dass sich die Quelle auch nur daran erinnern wird. Du bist schon lange nicht mehr sicher. Und deine Familie wird es auch nicht sein, solltest du zu ihnen zurückkehren.«
»Ich hätte fliehen können, statt mich ausgerechnet hier zu verbergen!«, werfe ich verzweifelt ein.
»Dr. Levanders Teams sind über das ganze Land verteilt. Ein unglücklicher Zufall genügt. Jeder Former, dem du über den Weg läufst, könnte dich sofort enttarnen.«
»Wie erkennen sie mich?«
»Es ist deine Aura! Hast du das nicht begriffen? Jeder Former, unabhängig ob künstlich oder natürlich, strahlt eine Präsenz aus, die von anderen seiner Art wahrgenommen wird. Sobald du auch nur im Abstand von fünfzig Metern an einem von ihnen vorbeiläufst, wirst du bemerkt. Bei erfahrenen Formern ist die Distanz sogar noch größer. Darauf basiert das System der Akademie. Auf diese Weise findet Dr. Levander immer wieder neue Opfer.«
Meine Knie werden weich, als ich endlich verstehe. Bei unserem Gespräch erwähnte Jan ebenfalls etwas von Auren. Die gegenseitige Anziehungskraft war nichts als eine kindische Illusion. Eine Manifestation unserer Gabe. Wie konnte ich so dumm sein, anzunehmen, dass zwischen uns etwas Besonderes bestand? Bereits seit meinem Erwachen spüre ich unbewusst die Auren der mich umgebenden Former und insbesondere Elrics Präsenz direkt neben mir.
Voller hilfloser Wut starre ich ihn an. Werde ich jemals wieder mein altes Leben aufnehmen können? Abgesehen von dem Risiko, erwischt zu werden, würde ich zusätzlich meine Familie und meine Freunde in Gefahr bringen. Meine Kehle schnürt sich zusammen.
»Ich will so viel Entfernung wie möglich zwischen mich und diesen Levander bringen«, stoße ich hervor. »Es ist absoluter Wahnsinn, mich genau vor seiner Nase zu positionieren!«
»Du wirst als künstlicher Former in der Masse untertauchen«, eröffnet Elric ungerührt.
»Sind künstliche und natürliche Former nicht anhand ihrer Aura zu unterscheiden?«, suche ich nach Schwachstellen im Plan.
»Nein. Die Aura verrät nichts über die Stärke. In einer Schule voller Former bist du sicherer als an jedem anderen Ort. Zumindest wenn du unauffällig bleibst. Bist du zu stark, wird Dr. Levander früher oder später auf dich aufmerksam werden. Bist du zu schwach, sodass du die Prüfungen nicht bestehst, wirst du … eliminiert.«
»Prüfungen?»
»Ihr steht unter dauerhaftem Leistungsdruck.« Er schnaubt missmutig. »Scheitern wird bestraft. Hart. Diese Lektion wird als erste gelehrt, auch wenn den Schülern vordergründig etwas anderes vermittelt wird. Zudem erleichtert die Freisetzung von Adrenalin die Verwendung der Gabe. Adrenalin entsteht durch Stress. Genau diese Verbindung machen sich die Ausbilder zunutze. Lass dich nicht blenden. Versager erhalten selten eine zweite Chance.«
»Was passiert mit ihnen?«
»Das willst du nicht wissen. Kümmere dich lieber darum, dass es dir anders ergeht. Halte dich im Mittelfeld. Und vermeide um jeden Preis eine Formerprobe.«
»Formerprobe?«, wiederhole ich verständnislos. Allmählich ist die Grenze meiner Aufnahmefähigkeit erreicht. Düstere Andeutungen helfen nicht weiter.
»Sie kann jederzeit gefordert werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sich unter den Schülern ein natürlicher Former befindet. Das kam in den vergangenen Jahren äußerst selten vor, aber lass es mich so sagen: Die Formerprobe hat noch nie ein erfreuliches Ende genommen. Für keinen der Beteiligten.«
»Aber wie können natürliche von künstlichen Formern unterschieden werden? Wie funktioniert diese Probe?«, frage ich. »Sollte ich darüber nicht mehr wissen, wenn sie so gefährlich werden kann?«
Elric stößt einen tiefen Seufzer aus. »Zuerst ist es leicht, denn die Gabe der natürlichen Former zeigt sich von selbst. Später gibt es nur einen Weg, um die beiden Typen sicher voneinander abzugrenzen. Künstliche Former müssen immer und überall Konzentration aufwenden, um ihre Kraft zu nutzen. Bei den natürlichen Formern hingegen funktioniert dies auch intuitiv und ungeplant. Bei der Probe wird der Former durch eine überraschend herbeigerufene Extremsituation gezwungen, innerhalb von wenigen Sekunden seine Gabe einzusetzen, um dadurch sein Leben zu schützen. In diesem Moment kann er gar nicht anders. Seine Überlebensreflexe sorgen dafür, dass er seine wahre Kraft offenbart. Ob er will oder nicht. Man hat gar nicht die Möglichkeit, anders zu handeln, weil man die Entscheidung nicht bewusst trifft. Die Formerprobe ist unfehlbar. Das wäre nicht nur dein, sondern auch mein Ende. Lass es auf keinen Fall so weit kommen und achte darauf, keine unnötigen Stresszustände herbeizuführen.«
Beunruhigt beiße ich auf meine Unterlippe. Kopflose Flucht scheint mit einem Mal nicht mehr die schlechteste Alternative zu sein. »Wie soll ich diese Täuschung aufrechterhalten? In einer Schule voller Former? Ich muss die Aufgaben nicht bloß erledigen, sondern zusätzlich darauf achten, dass das Ergebnis nicht zu gut ausfällt. Ich kann kaum mit meiner Gabe umgehen! Ich soll Stresssituationen vermeiden? Allein diese Aufforderung setzt mich unter Stress!«
»Es ist deine einzige Chance. Das sagte ich bereits. Überlege dir gut, welche Kontakte du knüpfst. Vertraue niemandem. Sprich ausschließlich dann, wenn du genau weißt, was du sagen willst. Verhalte dich unauffällig. Keine Affekthandlungen!«
»Was wird in dieser Akademie überhaupt gelehrt? Woher soll ich wissen, was man von mir erwartet? Wie stark sind die anderen?«
»Je mehr du weißt, desto gefährlicher wird es. Du musst deine Rolle überzeugend spielen. Dein Leben hängt davon ab.« Er wirft mir einen eindringlichen Blick zu. »Du bist ab sofort Gwendolin Merz, geboren am 15. Mai.
Mutter Hausfrau, Vater Softwareentwickler. Einzelkind. Mittelmäßige Schülerin. So weit klar?« Ich hebe unschlüssig die Schultern, woraufhin er ungehalten die Mundwinkel verzieht. »Halte dich mit Erzählungen über dein Privatleben zurück, dann reichen diese Informationen aus. Gwendolin Merz war ohnehin keine schillernde Persönlichkeit.«
»War?«, wiederhole ich zögernd. »Diese Gwendolin ist nicht… erfunden?«
Elric schnaubt spöttisch. »Meinst du, ich hatte die Gelegenheit, hier ein perfektes Täuschungsmanöver für dich zu inszenieren? Mit passenden Kleidern und einer extra entworfenen Biografie?« Er hält kurz inne und mustert mich kopfschüttelnd. »Blödsinn. Du hast Glück, dass es eine Schülerin ähnlicher Statur gab, in die wir dich verwandeln konnten. Im Verlauf der Intensivphase haben die neuen Former lediglich zu ihrem jeweiligen Ausbilder Kontakt. Niemand aus der Akademie kannte Gwendolin Merz gut genug, um den Austausch zu bemerken.«
Ich schlucke hart. Gwendolin Merz musste verschwinden, damit ich ihren Platz einnehmen kann? »Was ist mit ihr ge–«
»Spar dir die überflüssigen Fragen und kümmere dich um dein eigenes Wohlergehen«, schneidet er mir das Wort ab. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. »Jeder Schüler wird zu Beginn seiner Ausbildung mit gefälschten Informationen gefüttert. Die Lüge beinhaltet, dass es lebenswichtig sei, die Kontrolle der Gabe zu lernen. Wer es nicht schafft, wird wahnsinnig.« Bevor ich etwas einwerfen kann, spricht er ungeduldig weiter. »Das ist natürlich kompletter Quatsch. Es ist lediglich Dr. Levanders Art, seine Former gefügig zu halten.
Normalerweise haben die neuen Schüler nicht die geringste Kenntnis davon, dass die Gabe in ihnen schlummert, geschweige denn eine Chance, auf sie zuzugreifen. Erst wenn die Kraft erweckt wurde, können sie langsam ihre ersten Schritte als Former tun. Das ist jedoch nur im Jugendalter möglich. Sobald sie erwachsen sind, erlischt der Funke und kann nicht reaktiviert werden. Je nach Begabung des Formers kann sich die Erweckung über mehrere Wochen hinziehen. Da du ab morgen den Unterricht besuchen wirst, muss dir klar sein, dass du das entsprechende Einzeltraining angeblich auch durchgemacht hast. Deine Gabe ist also erst vor Kurzem erwacht.«
Ich nicke niedergeschlagen.
»Bemühe dich einfach, nicht aufzufallen. Und sprich mich um Himmels willen nicht auf diese Unterhaltung an, sonst sind wir beide geliefert. Halte dich an die anderen Schüler.«
»Wie lange muss ich hierbleiben?«, erkundige ich mich mutlos.
»Du trainierst ein Jahr lang die Beherrschung deiner Fähigkeiten. Die Ausbildung an der Akademie schützt dich vor dem vermeintlichen Wahnsinn und rettet scheinbar dein Leben. Dafür stehst du in Dr. Levanders Schuld. Um deine Dankbarkeit zu zeigen, arbeitest du für ihn im Außendienst, um nach neuen Formern zu suchen. Du tust also vordergründig etwas Gutes, indem du für ihn potenzielle Wahnsinns-Opfer aufspürst. Aber genug davon! Vorherrschendes Ziel ist es, dich aus der Gefahrenzone zu bringen und Zeit zu gewinnen, sodass wir in Ruhe einen Plan entwickeln können. Alle anderen sind zwar etwas früher, aber ebenso ahnungslos an die Akademie gekommen. Das gehört zum Konzept. Versuche, dich anzupassen. Ich werde dich wieder kontaktieren. Gib dein Bestes, um bis dahin keine Aufmerksamkeit zu erregen.«
Ich muss meine komplette Selbstbeherrschung aufwenden, um ihm nicht an die Kehle zu gehen. Er schleust mich an der Akademie ein und erwähnt danach in einem Nebensatz, dass noch kein Plan existiert? Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. Ausrasten ist keine Option. Stattdessen sollte ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen.
»Weshalb hat Dr. Levander ein scheinbares Interesse daran, die Schüler vor dem Wahnsinn zu bewahren? Welchen Grund gibt er vor? Dass er dies aus reiner Nächstenliebe tut, glaubt ihm doch kein Mensch.«
»Zum Lügenkonstrukt gehört ebenfalls die Information, dass natürliche Former immer wahnsinnig werden, egal wie umfassend ihre Ausbildung ist. Dr. Levander schickt seine Teams aus, um sie zu finden und in psychologische Betreuung zu überantworten. Er erzählt eine erschütternde Geschichte, in der er angeblich selbst durch den Wahnsinn eine ihm nahestehende Person verloren hat. Er will nun um jeden Preis dafür sorgen, dass es euch besser geht, und die Welt dadurch etwas sicherer machen. Das ist auch seine Rechtfertigung für die erbarmungslose Härte an der Akademie. Jede sich bietende Gelegenheit zur Bloßstellung und Bestrafung wird genutzt. Die Schüler werden unter Dauerstress gehalten und kommen nie zur Ruhe. Durch die permanente Anspannung hinterfragt keiner seine Beweggründe.«
Er stellt sich selbst als Diener einer guten Sache dar und nutzt diese Ausrede, um Entsetzen zu verbreiten? Der Kerl wird mir immer unsympathischer. Ich schnaube verärgert. Die Akademie tischt den Schülern also ein irrwitziges Märchen auf, um deren Widerstand möglichst gering zu halten. Ein Geschäft mit der Angst. Der mit der Gabe einhergehende Wahnsinn ist tatsächlich eine geschickte Methode, um die neuen Former an die Akademie zu binden und sie gefügig zu machen. Wenn sie kapieren, worum es wirklich geht, stecken sie schon zu tief in Levanders tückischem System.
Elric beobachtet die wechselnden Gefühle, die sich deutlich auf meinem Gesicht abzeichnen, und nickt leicht. »Ich schlage vor, du denkst in Ruhe über deine neue Situation nach. In Kürze wirst du zu den anderen Schülern stoßen und gemeinsam mit ihnen den Unterricht besuchen. Ebenso wirst du Dr. Levander und die übrigen Ausbilder kennenlernen.«
Unmittelbar wird mir schlecht. Levander unterrichtet selbst? Bisher hatte ich gehofft, ihm vorerst aus dem Weg gehen zu können.
Bevor ich einen der Zweifel, die mir auf der Zunge liegen, formulieren kann, ist Elric aufgestanden. Er lächelt gequält und winkt mir knapp zu. »Mach bloß keinen Mist, sonst sind wir beide dran.«
Nachdem Elric gegangen ist, starre ich noch lange auf die Tür. Es gibt keinen Plan. Er hat mich an der Akademie eingeschleust, ohne ein brauchbares Konzept im Hinterkopf zu haben. Zu allem Übel bin ich nicht sicher, wie erfolgreich der Wahrheitszwang war. Die Geschichte um Levander hat mich derart aus der Bahn geworfen, dass ich die Fokussierung völlig vergessen habe. Ich stöhne verzweifelt. Mir bleibt nichts als die Hoffnung, die Zeit hier irgendwie unbeschadet zu überstehen.
Zögerlich richte ich mich auf und schaue in dem kleinen, fast quadratischen Zimmer umher. Am Kopfende des Bettes steht ein kleiner Nachttisch. Das Glas und die Flasche, die darauf positioniert wurden, rufen mir unangenehm ins Gedächtnis, dass viel Zeit seit meinem letzten Schluck Wasser vergangen sein muss. Ich fühle mich regelrecht ausgetrocknet und habe mit einem Mal unglaublichen Durst. Vorsichtig lehne ich mich zur Seite, fülle das Glas und stürze es in einem Zug hinunter. Nachdem ich zweimal nachgeschenkt habe, ist zumindest das akute Bedürfnis nach Flüssigkeit gestillt.
Mit wackligen Schritten nähere ich mich der Zimmertür und fahre mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche. Langsam drücke ich die Klinke hinunter. Abgeschlossen. Das Teil bewegt sich keinen Millimeter. Resigniert drehe ich der Tür den Rücken zu und mustere den Rest des Raumes. Neben dem Schreibtisch erkenne ich einen Durchgang, der mit einem fahlgelben Vorhang abgetrennt ist. Vermutlich das Badezimmer. Neben mir befindet sich ein Schrank aus hellem Holz, der den Großteil der linken Wand einnimmt. Unentschlossen öffne ich eine der Türen. Obwohl ich mit dem Inhalt gerechnet habe, weiche ich verstört einen Schritt zurück. Fast alle Fächer sind gefüllt. Wahllos ziehe ich eines der fein säuberlich zusammengelegten Kleidungsstücke heraus und falte es auseinander. Das müssen die Sachen von Gwendolin Merz sein.
Ich schaue an mir herunter. Blaue Röhrenjeans mit einem dunklen Gürtel, der locker um meine Hüfte geschlungen ist, dazu ein enger, hellgrauer Wollpullover mit Kapuze. Unauffällige schwarze Turnschuhe. Die Kleider einer Toten? Hastig unterdrücke ich die aufsteigende Beklommenheit und schaue mich weiter um. Keine Spur meiner persönlichen Besitztümer. Fahrig öffne ich die Schubladen des Schreibtisches. Weißes Papier, einige Bleistifte, der Grundriss eines Gebäudes, anscheinend der Lageplan der Akademie. Sonst nichts.
Automatisch werfe ich einen prüfenden Blick auf mein Handgelenk. Na toll. Man hat mir meine Uhr abgenommen, sodass ich keine Ahnung habe, wie lange ich schon hier eingesperrt bin. Entmutigt lasse ich mich auf den einzigen Stuhl im Zimmer sinken, stütze die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und vergrabe den Kopf in den Händen. Im selben Moment, in dem ich meine Haare berühre, erstarre ich. Hysterisch springe ich auf und haste ins Bad, das sich tatsächlich hinter dem Plastikvorhang befindet.
Für einige Minuten stehe ich regungslos vor dem Spiegel, umklammere mit den Händen den Waschbeckenrand und starre fassungslos mein Abbild an. Mein Gehirn weigert sich, den Anblick zu akzeptieren. Meine Haare. Meine schönen, dunkelblonden Haare, die ich seit meiner Kindheit schulterlang trug, sind einem Kurzhaarschnitt gewichen. Und als ob das alleine nicht schlimm genug wäre, hat man sie auch noch hellblond gefärbt. Ich sehe furchtbar aus. Tränen steigen mir in die Augen. Reicht es nicht, mich von meiner Familie zu trennen, mich einzusperren, mir alles zu nehmen? War es wirklich nötig, mich dermaßen zu entstellen? Ich habe weder um die Aufnahme an dieser bescheuerten Akademie noch um den dämlichen Haarschnitt gebeten!
Wütend schlage ich mit der Faust so oft gegen die Wand neben dem Spiegel, bis mir die Knöchel wehtun. Danach fühle ich mich geringfügig besser. Die Schmerzen helfen mir, einen klaren Kopf zu bekommen, sodass ich mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren kann. Lange, dunkelblonde Haare weichen einem weißblonden Kurzhaarschnitt. Wen interessiert die Optik? Aus Hannah Sophie Reichenau wird Gwendolin Merz. Als ich erschöpft im Wald lag, war ich sicher, dass mein Weg zu Ende sein würde. Ich sollte mich über die unverhoffte Chance freuen. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich am Leben bin. Im Gegensatz zur wahren Gwendolin Merz, die vermutlich dankbar wäre, ihren Namen noch tragen zu dürfen. Ich scheine meiner Umgebung nur Unglück zu bringen. Jan. Seinem Team, insbesondere dem Former im Wald. Gwendolin Merz.
Die nächsten Stunden verbringe ich mit düsteren Mutmaßungen, während ich außerdem versuche, mich nicht in Schuldgefühlen zu verlieren. Meine innere Uhr ist komplett ausgehebelt. Wegen der fehlenden Fenster ist die Tageszeit unmöglich erkennbar, was mich völlig aus der Bahn wirft. Noch nie war ich so orientierungslos wie jetzt. Also liege ich bewegungslos auf dem Rücken und stiere mit glasigen Augen an die weiße Decke.
Nach einer Ewigkeit schaffe ich es, mich aufzuraffen. Müde schwanke ich ins Bad und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend unterziehe ich den kleinen Raum einer eingehenden Inspektion. Duschkabine, Toilette, Waschbecken und ein schmaler Schrank, in dessen Innern ich nicht nur Handtücher und Waschlappen, sondern auch Kleinkram wie Shampoo und Duschgel entdecke. Sogar mehrere originalverpackte Zahnbürsten sind vorhanden.
Das Geräusch einer zufallenden Tür weckt meine Aufmerksamkeit. Schnell schiebe ich den Plastikvorhang zur Seite. Der Raum ist leer. Lediglich eine Kunststoffkiste steht nun auf dem Boden, darauf ein Tablett mit Deckeln unterschiedlicher Größe. Ein äußerst appetitlicher Geruch geht davon aus. Mein Magen quittiert den Anblick mit einem lauten Knurren, und mir wird klar, dass ich seit den Chips beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel nichts gegessen habe. Keine Ahnung, wie lange das jetzt her ist. Ein oder zwei Tage? Meine Ohnmacht hat mich völlig durcheinandergebracht. Fürs Erste ignoriere ich die Box und setze mich mit meiner Mahlzeit an den Schreibtisch.
Knapp zehn Minuten später untersuche ich frisch gestärkt den Behälter, auf dem das Tablett positioniert war, und mache eine freudige Entdeckung. Im Innern befindet sich nicht nur ein schwarzer Armeerucksack mit Schulbüchern, einem Mäppchen und einem Block, sondern auch eine Armbanduhr. Ein Blick auf das Display gibt mir endlich mein Zeitgefühl zurück: Samstagabend, ungefähr 21 Uhr. Ich muss mehr als einen Tag lang ohnmächtig gewesen sein.
In Jans Zimmer dachte ich noch, mein einziges Problem sei ein durchgeknallter Typ, der mich mit Psychospielchen manipuliert. Jetzt sitze ich mit einer neuen Identität an einer zwielichtigen Akademie fest und habe jemanden umgebracht. Wie konnte das geschehen? Wie konnte ich zum Mörder werden? Hatte ich wirklich keine andere Wahl? Hätte es zur Flucht ausgereicht, das Formerteam in Angst und Schrecken zu versetzen? War es wirklich nötig, bis zum Äußersten zu gehen? War Jans Tod eine von mir veranlasste Bestrafung?
Er hat mit mir gespielt. Er hat mich getäuscht, gedemütigt und nie echte Gefühle investiert. Von Anfang an verfolgte er nur ein Ziel: Er wollte mein Vertrauen erlangen und mich seinem Auftraggeber ausliefern. Unsere gemeinsamen Momente bedeuteten ihm nichts. Ohne zu zögern, hätte er mich geopfert. Letztendlich war er es, der den Preis zahlen musste. Ich habe Rache genommen auf die schlimmstmögliche Art.
Erfolglos versuche ich, mich nicht erneut von Schuldgefühlen überwältigen zu lassen, aber meine lärmenden Gedanken gönnen mir keine Ruhe. Ich habe einen Mord begangen. Hätte ich diese verdammte Gabe nur niemals entdeckt. Hätte ich Jan nur niemals kennengelernt. In kürzester Zeit habe ich alles verloren. Meine Familie, meine Freunde, meine Zukunftsperspektive. Wie geht es meinen Eltern? Sie müssen verrückt vor Sorge um mich sein, und ich habe keine Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ich kann rein gar nichts tun. Hilflos balle ich die Hände zu Fäusten und unterdrücke das Schluchzen, welches in mir hochsteigt. Findet in meiner Heimatstadt gerade ein Großeinsatz der Polizei statt? Durchkämmen sie die Gegend auf der Suche nach mir? Was werden sie in Jans Elternhaus vorfinden? Werden sich meine Eltern die Schuld an meinem Verschwinden geben? Werden sie annehmen, ich sei weggelaufen? Wird die Akademie die Tat verschleiern? Wer war Jans Gesprächspartner am Handy? Hatte er mit Elric telefoniert? Offenbar war meine Entführung, anders kann ich es nicht bezeichnen, von langer Hand geplant. Auch wenn es Jan zu Beginn nicht sonderlich geschickt anstellte, war er letztlich erfolgreich. In der Verkörperung seiner Rolle wurde er immer besser, sodass er sich mein Vertrauen erschleichen konnte. Bei unseren ersten Aufeinandertreffen hatte ich die Gelegenheit, einen Blick auf den echten Jan hinter der Fassade zu werfen. So attraktiv seine äußere Hülle war, so hässlich war er im Innern. Der finstere Ausdruck, das Lächeln voller Geringschätzung, der erzwungene Kuss und der Überfall in seinem Haus. In diesen Situationen zeigte er sein wahres Gesicht; brutal, berechnend und kalt. Nicht rücksichtsvoll, zärtlich und einfühlsam, wie ich gerne glauben wollte. Und ich Idiotin …
Ich beiße die Zähne zusammen und presse die Lippen aufeinander. Neutral beurteilen. Er hat meinen Schmerz über seinen Verrat ausgenutzt, um mich zu betäuben und festzuhalten. Er wollte mich an Levander ausliefern und hat dafür bezahlt. »Sie wird sterben. Sie oder ich«, sagte Jan am Telefon. Ich habe die Entscheidung getroffen und ihn dazu gezwungen, sich die Kehle durchzuschneiden. Irgendwann wird mich diese Schuld einholen.
Ein kaum wahrnehmbares Summen aus der gegenüberliegenden Zimmerecke reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Ein Blick genügt, um zu erkennen, worum es sich handelt. An der Decke ist eine kleine, schwarze Kuppel befestigt, aus deren Mitte mich ein schwaches Licht wie ein blutrotes Auge anstarrt. Eine Kamera.
Erst jetzt erinnere ich mich, dass Elric zu Beginn unseres Gesprächs eine Videoaufzeichnung erwähnte. Werde ich dauerhaft beobachtet? Wie krank ist das denn? Privatsphäre spielt an dieser zwielichtigen Akademie wohl keine Rolle. Sogar wenn ich vermeintlich alleine bin, muss ich mir größte Mühe geben, um unscheinbar zu bleiben. Ich kann mir keinen Fehltritt erlauben. Ich darf um keinen Preis auffallen. Leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wie ich das anstellen soll. Die Informationen, die ich habe, sind mehr als dürftig.
»Aufstehen! Du hast in einer Viertelstunde beim Frühsport zu sein!«, reißt mich eine unfreundliche Stimme am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Noch bevor ich prüfen kann, zu wem das barsche Organ gehört, hat sich meine Zimmertür schon wieder mit einem Knall geschlossen. Konfus taste ich nach dem Schalter und kneife die Augen zusammen, als ich vom grellen Licht der Halogenstrahler geblendet werde. Nach einem Blick auf mein Handgelenk sinke ich schlaff in die Kissen zurück. Es ist erst Viertel nach fünf. Frühsport? Heute ist Sonntag! Machen die hier etwa am Wochenende Frühsport? Dann wird mir klar, dass zu spätes Erscheinen nicht besonders unauffällig wäre; ganz im Gegenteil.
Hektisch springe ich aus dem Bett und spritze mir am Waschbecken eiskaltes Wasser ins Gesicht, um zumindest halbwegs wach zu werden. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir den positiven Aspekt meiner neuen Frisur: Auch nach einer schlechten Nacht sieht sie ähnlich chaotisch aus wie am Abend zuvor. Anschließend durchwühle ich zähneputzend den Kleiderschrank nach angemessenen Sportklamotten, die ich im kameralosen Bad überstreife. Wäre auch zu viel verlangt gewesen, wenn man mich am gestrigen Abend über den Beginn des kommenden Tages informiert hätte.
Kurze Zeit später stehe ich fertig angezogen an der Zimmertür und drücke die Klinke hinunter. Wie erwartet ist nicht mehr abgeschlossen, und ich trete auf den leeren Gang hinaus. Direkt gegenüber der Tür befindet sich eine lange Fensterfront, welche die Sicht auf einen großen Innenhof freigibt, wo sich ein Haufen Jugendlicher in Sportkleidung eingefunden hat.
Ich prüfe die Uhrzeit. Wenige Minuten bis halb sechs und ich habe keine Ahnung, wie ich diesen Treffpunkt am schnellsten erreiche. Ratlos schaue ich den Flur auf und ab, doch niemand ist zu sehen. Gerade will ich mich auf gut Glück in eine spontan gewählte Richtung aufmachen, da höre ich Schritte, die sich eilig nähern. Wenige Sekunden darauf biegt ein Mädchen in meinem Alter um die Ecke und stoppt abrupt. Sie hat ihr langes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und trägt trotz der frühen Stunde auffälligen Lipgloss. Ihr knallrotes Top liegt eng am Körper an, und die knappen Hotpants offenbaren lange, wohlgeformte Beine. Abgesehen von ihrem übertriebenen Styling sieht sie ganz nett aus.
»Oh Gott, an diese Frisur müsste ich mich doch erinnern. Bist du neu hier?«, fragt sie mit einem angewiderten Naserümpfen. Okay, ich überdenke meine Meinung. Was für eine blöde Schnepfe!
Mit einer eleganten Geste streicht sie sich eine lose Strähne ihres feinen Haars aus dem Gesicht. »Hat es dir die Sprache verschlagen? Oder kannst du nicht reden? Wie heißt du überhaupt?«
»Ha–« Ich stocke erschrocken. »Gwen.«
»Hagwenn?« Schnepfie kichert belustigt. »Was ist denn das für ein Name?«
Noch bevor ich die Gelegenheit zur Richtigstellung ergreifen kann, schaut sie auf die Uhr, stößt einen spitzen Schrei aus und rennt wie von der Tarantel gestochen los. Kurz entschlossen nehme ich die Verfolgung auf. Wenigstens erfahre ich dadurch, wie ich zum Treffpunkt gelange.
Im Höchsttempo jage ich Schnepfie hinterher und finde mich schließlich völlig außer Atem im Atrium wieder, das ich bereits durch das Fenster gesehen hatte. Für meinen Geschmack war das eindeutig genug Frühsport. Nachdem ich hektisch schnaufend einige Züge der frischen Morgenluft genommen habe, fühle ich mich in der Lage, die Umgebung zu sondieren und meine neuen Mitschüler, die gerade ein Dehnprogramm absolvieren, genauer in Augenschein zu nehmen. Während ich schwankend auf dem linken Bein stehe, hinter meinem Rücken den rechten Knöchel ergreife und zu mir ziehe, schaue ich mich unauffällig um. Der riesige, quadratische Innenhof ist ringsum von meterhohen Wänden umgeben, die über die komplette Länge von Fenstern durchbrochen werden. Beiläufig lege ich den Kopf in den Nacken und blicke die wuchtigen Mauern empor. Neben dem Erdgeschoss, in dem sich mein Zimmer befindet, verfügt die Akademie über weitere drei Stockwerke. Das vereinzelte Moos in den Fugen und die teilweise verwitterten grauen Steine lassen darauf schließen, dass das Gebäude bereits seit Jahrzehnten Wind und Wetter trotzen muss. Langsam senke ich den Kopf und verschränke die Hände im Nacken, um meine Wirbelsäule zu strecken. Bei der Musterung des Bodens verziehe ich kurz die Lippen. Ich bin sicher, dass der feine Sand problemlos einen Weg in meine Turnschuhe finden wird.
Obwohl sich auf dem Platz an die dreißig Personen versammelt haben, herrscht absolute Ruhe, sodass man das leise Zwitschern der Vögel hören kann, die den Sonnenaufgang begrüßen. Trotz der zahlreichen neugierigen Blicke, die mich streifen, spricht mich niemand an.
Stattdessen durchschneidet ein gebellter Befehl die Stille. »Wird’s bald? Zum Geländelauf aufstellen. Braucht ihr eine Extraeinladung?«
Innerhalb von Sekunden habe ich die Stimme erkannt, die mich vorhin unsanft aus dem Schlaf gerissen hat. Sie gehört zu einer kleinen, schlanken Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, die ein tarngrünes Tanktop und dunkelgraue Sporthosen trägt. Nach einem finsteren Blick in die Runde trabt sie in lockerem Tempo los, was die ganze Herde dazu veranlasst, sich an ihre Fersen zu heften. Joggend verlassen wir den Innenhof durch ein steinernes Tor, das die südliche Mauer durchbricht. Kurz darauf passieren wir die Grenze zum Waldrand.
»Hey, du bist neu, oder? Frisch aus der Einzelhaft?«, fragt mich ein blonder, ziemlich großer Typ, dessen Bewegungen eine Leichtigkeit haben, die mich vor Neid erblassen lässt.
»Ja«, antworte ich knapp, um meine Lufteinteilung nicht zu gefährden.
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Es wird besser«, versichert er freundlich. Obwohl ich beide Aussagen bezweifle, bemühe ich mich um einen neutralen Gesichtsausdruck.
»Ich habe überhaupt keine Ahnung, was hier läuft«, gestehe ich hilflos und frage mich im selben Moment, wieso ich ihm das direkt auf die Nase binde. Schnell riskiere ich einen Seitenblick und schaue direkt in warmherzige, blaue Augen.
Er lächelt mir aufmunternd zu. »Du wirst dich schnell einfinden.«
»Weniger reden, schneller laufen!«, unterbricht uns die schroffe Stimme der Ausbilderin. Gehorsam steigere ich mein Tempo und schaffe es sogar, während der ersten zehn Minuten meinen Platz im mittleren Drittel beizubehalten. Immerhin bin ich halbwegs trainiert durch die Joggingeinheiten mit Viv. Dachte ich. Dann allerdings zieht die Gruppe die Geschwindigkeit an.
Wenige Zeit später schnappe ich nach Luft. Meine Seiten beginnen zu schmerzen, doch die anderen behalten das wahnwitzige Tempo bei. Ich werde langsamer, falle immer weiter zurück, und nach und nach überholen mich die meisten Schüler. Ein Blick auf die Uhr lässt mich entsetzt aufkeuchen. Seit dem Loslaufen ist erst eine halbe Stunde vergangen. Für einen kurzen Moment bleibe ich stehen und versuche krampfhaft, zu Atem zu kommen. Als ich mich wieder in Bewegung setze, befinde ich mich im hinteren Drittel der Gruppe, das im Vergleich zum Spitzenfeld weit abgeschlagen ist. Dafür kann ich bei ihrem Lauftempo mithalten. Von der Umgebung sehe ich leider überhaupt nichts. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei nicht vor Erschöpfung umzukippen.
Es ist schließlich fünf vor acht, als ich völlig entkräftet und durchgeschwitzt als eine der Letzten auf den Innenhof schwanke. Die Frau in Tarngrün steht mit verschränkten Armen an der Steinmauer und fixiert mich mit strengem Blick.
»Du hast dir Zeit gelassen. Wenn du der Meinung bist, lieber ein wenig mit deinen Mitschülern zu plaudern, statt das Training ernst zu nehmen – nun gut. Du wirst sehen, was du davon hast.«
Ich will etwas erwidern, doch sie schneidet mir mit einer ungehaltenen Handbewegung das Wort ab und bedeutet mir, ihr zu folgen. Hektisch eile ich hinter der Ausbilderin her und lasse ihre Kritik über mich ergehen. »Im Moment siehst du erbärmlich aus«, stellt sie ungerührt fest. »Um Viertel nach acht wirst du zum Unterricht erwartet. Ich rate dir davon ab, zu spät zu erscheinen. Du hast knappe zwanzig Minuten, um dich fertig zu machen. Das Frühstück musst du unter diesen Umständen wohl ausfallen lassen. Wird dir sicher nicht schaden.« Sie dreht sich um und lässt mich völlig betroffen vor meiner Zimmertür stehen.
Natürlich lag sie richtig. Als ich frisch geduscht und halbwegs zurechtgemacht auf die Uhr schaue, ist es bereits zehn nach acht. Keine Chance auf Frühstück, wenn ich pünktlich im Unterricht sein will. Mir bleibt nichts anderes übrig, als im Innenhof darauf zu hoffen, dass wieder jemand vorbeikommt. Vielleicht der nette Typ vom Frühsport? Hektisch werfe ich mir den Rucksack über die Schulter, renne nach draußen und schaue mich hilflos um. Wenn ich nicht schnell in Erfahrung bringe, wo man mich erwartet, ist der nächste Ärger vorprogrammiert.
»Was treibst du denn noch hier? Solltest du nicht im Unterricht sein?«
Ergeben schließe ich kurz die Augen, atme tief durch und wende mich der Sprecherin zu.
»Ich bin neu hier. Frisch aus der … Einzelhaft«, wiederhole ich die Worte, die der Typ beim Geländelauf zu mir gesagt hat.
Die Frau zieht irritiert die Augenbrauen hoch. »Intensivphase«, korrigiert sie mich dann belustigt.
Ich nicke resigniert. »Genau. Mir ist klar, dass der Unterricht um Viertel nach acht beginnt, aber mir hat niemand verraten, wohin ich muss.« Mittlerweile bin ich derartig angespannt, dass es mir schwerfällt, den gereizten Unterton komplett zu unterdrücken. Ist es wirklich zu viel verlangt, mich zumindest mit den nötigsten Informationen zu versorgen? Offenbar sind alle anderen Schüler schon länger hier und wissen, was von ihnen erwartet wird. Das Fettnäpfchen mit der Einzelhaft hätte ich auch auslassen können.
Die Frau schüttelt ihre dunkelbraunen Locken und lächelt mich an. »Stimmt. Dich habe ich hier noch nie gesehen. Du bist sicherlich Gwendolin. Damit ist der Jahrgang komplett. Willkommen an der Akademie. Anthea.« Sie deutet zuerst auf sich selbst, dann streckt sie mir die Hand zur Begrüßung hin. Vor Nervosität drücke ich so fest zu, dass ihre Finger knacken, doch Anthea lässt sich nichts anmerken und hat nach wie vor einen freundlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»Erstes Semester. Sonntagmorgen.« Ein Schatten zieht über ihr Gesicht, und kurz blitzt Besorgnis in ihren Augen auf. »Du solltest jetzt eigentlich in angewandter Psychologie bei Dr. Levander sitzen. Montag bis Samstag unterrichte ich nach dem Frühstück die Bildungsfächer und Schauspiel, doch der Sonntag gehört ihm.«
Nach dieser Erklärung habe ich noch mehr Angst vor Levander. Bisher war ausnahmslos alles, was ich von ihm gehört habe, höchst Furcht einflößend. Was sagt es über ihn aus, dass sogar eine Ausbilderin bei der Nennung seines Namens schaudert?
Anthea lässt sich jedoch von meiner skeptischen Miene nicht beirren und fordert mich auf, ihr zu folgen. Fröhlich plaudernd läuft sie vor mir her, während ich mit den Gedanken bei dem Mann bin, den ich gleich kennenlernen muss.
Vor einer Tür, die in meinen Augen wie jede andere aussieht, bleibt sie stehen.
»Setz dich am besten leise auf einen freien Platz. Er wird dich zwar bemerken, aber vielleicht wartet er mit der Bestrafung bis nach der Stunde. Viel Glück.« Mit diesen Worten öffnet sie die Tür und schiebt mich durch den entstandenen Spalt. Oh Gott.
»Schaut mal, das ist die Neue. Sie heißt Hagwenn. Bescheuert, oder?«
Hervorragend. Schnepfie hat mich entdeckt und sorgt umgehend dafür, dass ich die volle Aufmerksamkeit genieße. Ungefähr dreißig Augenpaare starren mich an. Ein hämisches Grinsen zuckt über die Lippen meiner neuen Lieblingsfeindin.
Gerade will ich den Mund öffnen, um das Missverständnis ein für alle Mal richtigzustellen und Schnepfie in ihre Schranken zu weisen, da peitscht eine harte Stimme durch den Saal.
»Elena, empfinden Sie die Störung meines Unterrichts als erheiternd?«
Schnepfie wird bleich und senkt furchtsam den Blick auf ihre Hände. Im ganzen Raum ist es so still, dass man die berühmte Stecknadel fallen hören könnte. Antheas beunruhigende Ankündigung noch im Hinterkopf widerstehe ich mühevoll dem Wunsch, schreiend zur Tür hinauszurennen. Stattdessen schaue ich mich angestrengt nach einem freien Platz um. Ich stehe in der hintersten Ecke eines großen, fensterlosen Saales mit hellgrauen Wänden, dessen hölzerne Klappsitze halbkreisförmig in absteigenden Reihen angeordnet sind. Neben dem Pult im Zentrum steht ein großer, schlanker Mann um die dreißig mit dunkelblondem Haar, der mich eindringlich mustert. Das muss Levander sein. Der kompromisslose Ausdruck in seinem Gesicht sorgt dafür, dass mir unangenehme Schauer den Rücken hinunterlaufen.
»Sehr schön«, sagt er mit kalter Stimme, »da haben wir ja eine Freiwillige. Warum kommen Sie nicht direkt zu mir?«
Zögerlich gehe ich die Stufen hinunter. Das erleichterte Aufatmen, das rings um mich herum zu hören ist, trägt nicht gerade zu meiner Entspannung bei. Das Herz klopft mir bis zum Hals, und ich versuche krampfhaft, mich zu beruhigen. Welches Fach wird gerade unterrichtet? Angewandte Psychologie? Kein Grund zur Panik. Was soll da schon groß passieren?
Als ich am Pult angekommen bin, bedeutet mir Levander, mich zu meinen neuen Mitschülern umzudrehen. Beim Anblick der vielen Gesichter, die von den Sitzreihen teils erwartungsvoll, teils besorgt herabschauen, schnürt sich meine Kehle zu. Die geballte Aufmerksamkeit von dreißig Menschen zu spüren, ist keine schöne Erfahrung.