Aura - Die Gabe - Ann-Kristin Gelder - E-Book
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Aura - Die Gabe E-Book

Ann-Kristin Gelder

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Beschreibung

Eine geheimnisvolle Gabe. Eine verhängnisvolle Liebe. Auf den ersten Blick unterscheidet sich Hannahs Leben nicht groß vom Leben ihrer Schulkameraden. Sie erledigt halbwegs gewissenhaft ihre Hausaufgaben, hat ihre Gruppe bester Freundinnen und einen Crush, der sich kein Stück für sie zu interessieren scheint. Doch hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt Hannah ein Geheimnis: Sie besitzt eine mysteriöse Gabe, deren eigensinnige Macht seit ein paar Wochen ihren sonst so routinierten Alltag bestimmt. Niemand darf von ihrer neuen Fähigkeit erfahren, doch als ihr Schwarm, der unnahbare Jan, endlich beginnt, Interesse zu zeigen, kann Hannah nicht anders: Sie vertraut sich ihm an – eine Entscheidung, die ihr Schicksal für immer verändern könnte … »Spannender Auftakt einer Trilogie.« Neue Presse Band 1 der fesselnden Dark-Academia-Trilogie, der Fans von Olivia Blake und Ruby Brown in ihren Bann ziehen wird. Warum Dark-Academia-Fans diese Reihe lieben werden: • Elite University/School Setting • Morally Gray Characters • Relationships that Become Toxic • Main Character as the Outsider • Mysterious Mentor • United Against Evil. Begeisterte LeserInnen: »Ein gelungener Auftakt, der mich sehr begeistert hat.« Lovelybooks-Rezensentin »Überwältigend. Mit Abstand eines der besten Bücher, das ich seit langem gelesen habe.« Amazon-Rezensentin »Dieser Reihenbeginn macht nicht nur Lust auf mehr, sondern lässt gleichzeitig die Erwartungen an Teil 2 ziemlich in die Höhe wachsen. Go, Hannah, go!« Amazon-Rezensentin

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Seitenzahl: 420

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Über dieses Buch:

Auf den ersten Blick unterscheidet sich Hannahs Leben nicht groß vom Leben ihrer Schulkameraden. Sie erledigt halbwegs gewissenhaft ihre Hausaufgaben, hat ihre Gruppe bester Freundinnen und einen Crush, der sich kein Stück für sie zu interessieren scheint. Doch hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt Hannah ein Geheimnis: Sie besitzt eine mysteriöse Gabe, deren eigensinnige Macht seit ein paar Wochen ihren sonst so routinierten Alltag bestimmt. Niemand darf von ihrer neuen Fähigkeit erfahren, doch als ihr Schwarm, der unnahbare Jan, endlich beginnt, Interesse zu zeigen, kann Hannah nicht anders: Sie vertraut sich ihm an – eine Entscheidung, die ihr Schicksal für immer verändern könnte …

Über die Autorin:

Ann-Kristin Gelder, Jahrgang 1981, ist Deutsch- und Musiklehrerin und lebt mit ihrem Mann, einem Kater, zwei Hunden, drei Kindern und zwölf Musikinstrumenten an der Weinstraße. Wenn sie nicht gerade liest oder an einem neuen Roman schreibt, zockt sie Horrorspiele oder steht mit ihrer Band auf der Bühne.

Die Website der Autorin: www.akgelder.de

Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/a.k.gelder

Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/bookcatish/

Die Autorin auf TikTok:  www.tiktok.com/@bookcatish/

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Aura-Trilogie, »AURA – Die Gabe«, »AURA – Der Verrat« und »AURA – Der Fluch«, sowie ihren Thriller »21 Tage«.

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eBook-Neuausgabe September 2024

Copyright © der Originalausgabe 2018 Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-471-2

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Ann-Kristin Gelder

Aura – Die Gabe

Die Aura-Trilogie 1

dotbooks.

Widmung

Für Mayra Valentina

Kapitel 1eigenartig

»Eines Tages lauerten sie Eve auf dem Heimweg auf und zerrten sie hinter sich her bis zur Gartenhütte, die sie als Treffpunkt nutzten. Eve schrie, weinte und wehrte sich, doch keiner wollte sie hören. Niemand hatte Mitleid. Sie sperrten Eve in einen Schrank, damit die Welt von ihrer Hässlichkeit verschont bleiben würde.«

Ich lehne mich bequem an das Kopfteil meines Bettes und ziehe die Beine an. Mit einem Ohr lausche ich meiner Freundin Laro, die voller Hingabe eine Gruselgeschichte erzählt. Sie ist mit derartiger Leidenschaft bei der Sache, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann. Leider ist sie die Einzige, die diese Begeisterung empfindet. Jasmin sitzt vor meinem Schminkspiegel und beschmiert sich die Lippen in einem fragwürdigen Rotton. Sie macht nicht den Eindruck, als würde sie viel von der Handlung mitbekommen. Viv ist seit einer Viertelstunde im Bad verschollen, wo sie einen aussichtslosen Kampf gegen ihre blonden Locken austrägt.

Immerhin verkürzen Laros Bemühungen die Wartezeit, und außerdem hatte sie uns ohnehin keine Wahl gelassen.

»Natürlich hatten sie fest vor, Eve am nächsten Morgen wieder zu befreien, doch es sollte anders kommen«, verkündet Laro in unheilschwangerem Ton. »In derselben Nacht brach ein Feuer in der Gartenhütte aus. Eve, in ihrem Schrank gefangen, nahm zuerst das trockene Knistern wahr. Dann stieg ihr der beißende Qualm in die Nase. Der durchdringende Geruch von brennendem Holz und verschmortem Plastik erfüllte ihr Gefängnis. Im Spiegel, der an der Innentür befestigt war, sah sie ihr eigenes, hässliches Gesicht, auf dem der zuckende Flammenschein tödliche Muster malte. Eine verzerrte Fratze.«

Gähnend prüfe ich die Anzeige meines Funkweckers. 20:30 Uhr. Mittlerweile ist es draußen sicher nicht nur dunkel, sondern auch empfindlich kühl geworden. In unregelmäßigen Abständen werden Regentropfen an die Scheiben geweht. Richtiges Herbstwetter, und das im April. Am liebsten würde ich zu Hause bleiben.

Als meine Freundinnen sagten, wir würden um 20 Uhr loslegen, hatte ich angenommen, dass sich diese Zeit auf den Aufbruch beziehen würde. Ich stöhne leise.

Was für eine Schnapsidee, unter der Woche auszugehen. Das funktioniert auch bloß, weil bald Osterferien sind.

»Eve begann, wie von Sinnen zu klopfen, doch niemand hörte sie«, fährt Laro mit Grabesstimme fort. »Sie schrie sich heiser, doch keiner kam. Sie schlug so fest gegen die Tür, dass der Spiegel splitterte. Die Scherben gruben sich tief in ihre Haut, doch der Schrank blieb verschlossen. Eingesperrt in ihrem Gefängnis verbrannte Eve bei lebendigem Leib, die eigene Hässlichkeit bis zuletzt vor Augen.«

»Tragisch«, stelle ich unbeeindruckt fest.

»Ich bin noch nicht fertig«, äußert Laro mit ernster Miene, während Jasmin seufzend eine Tube mit undefinierbarem Inhalt zuschraubt.

»Durch den brutalen und grauenvollen Tod konnte Eves Geist keine Ruhe finden. Voll von rasendem Zorn und getrieben vom Wunsch nach Rache ergriff die Wesenheit die Spiegelscherben und machte sich auf den Weg, um die Schuldigen zu bestrafen. Und das tut sie heute noch. Sie lauert den Mädchen im Schatten auf, in dunklen Ecken, unter ihrem Bett, und sie bewegt sich blitzschnell hinter den Spiegeln.«

Unwillkürlich läuft mir ein Schauer über den Rücken.

Das leichte Rauschen des Regens hat sich mittlerweile in ein stetiges Prasseln verwandelt, und immer wieder kratzen Zweige an der Fensterscheibe.

Von meiner Reaktion amüsiert wende ich mich wieder Laro zu. Die einzige Erklärung für die plötzliche Beklommenheit ist, dass meine Freundin ausgesprochen gut erzählen kann.

Jasmin hat ihre Verschönerungsaktion beendet und schüttelt ihre Haare in Form.

Laro atmet ein, als wolle sie etwas sagen. Als wir sie beide erwartungsvoll mustern, hebt sie langsam die Hand.

»Sie lauert ihnen auf und dann«, sie wird stetig lauter, »sticht sie ihnen mit der Scherbe die Augen aus!«, endet sie fast schreiend.

»Das werden meine Eltern mit dir auch tun, wenn du weiter so rumbrüllst«, werfe ich trocken ein.

Jasmin gähnt. »Sehr spannend.«

Laro ignoriert unsere Sticheleien, holt ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche und entfernt das Teelicht aus meiner Duftlampe. Mit einer vorsichtigen Bewegung schiebt sie Jasmins Make-up zur Seite und stellt stattdessen die Kerze vor meinen Schminkspiegel.

»Was wird das?«, erkundige ich mich, während Laro den Docht anzündet.

»Wir beschwören Eve«, informiert sie mich. »Was sonst?«

Klar. Total naheliegend.

Kopfschüttelnd schaue ich meiner Freundin zu, die sorgfältig einen kleinen Zettel mit den Buchstaben E, V und E beschriftet.

»Und was soll das bringen?«, frage ich skeptisch.

»Spaß?«, erwidert Laro verständnislos, woraufhin Jasmin kichert und ihr braunes Haar in den Nacken wirft. Im Gegensatz zu mir wirkt sie nicht abgeneigt.

»Lustige Idee«, bestätigt sie schulterzuckend meinen Verdacht.

»Das wird sowieso nicht funktionieren«, wende ich ein.

»Hannah, sei kein Spielverderber. Wenn es sowieso nicht funktioniert, kannst du auch mitmachen«, fordert Laro. »Oder hast du Angst?«

Ich seufze schicksalsergeben. »Höchstens um euren Geisteszustand. Aber von mir aus. Wenn es euch so viel bedeutet, mache ich eben mit. Viv scheint ohnehin noch länger zu brauchen.«

Laro nickt zufrieden, während ich meinen gemütlichen Platz auf dem Bett aufgebe, um sie bei ihrer hirnrissigen Aktion zu unterstützen. Bevor ich mich komplett aufgerichtet habe, lässt mich ein ziepender Schmerz zusammenzucken.

»Spinnst du?«, fauche ich meine Freundin gereizt an, die eines meiner dunkelblonden Haare zwischen den Fingern hält.

»Hast doch genug«, tut sie meinen Protest ab. »Außerdem brauchen wir das für die Beschwörung.«

Mürrisch stelle ich mich neben Jasmin und Laro, sodass ich unsere Abbilder im Spiegel sehe.

»Und wie funktioniert die Sache jetzt?«, will ich missmutig wissen.

»Die Beschwörung besteht aus drei Stufen«, erklärt Laro. »Zuerst klopft Eve nur zurück – natürlich dreimal. Beim nächsten Durchgang sieht man das Spiegelbild des Haarsträhnenspenders mit blutenden Augen. Bei der letzten Stufe erscheint der Geist von Eve und übernimmt einen der Anwesenden. Der Besessene zerbricht den Spiegel und sticht einer hübschen Person die Augen aus.«

»Ähm –«, unterbreche ich gereizt. »Wieso, um Himmels willen, sollten wir eine solche Beschwörung machen? Wenn es wenigstens viel Geld oder eine lebenslange Kaffee-Flatrate gäbe. Aber ein rachsüchtiger Geist, der eine von uns mit einer Spiegelscherbe angreifen will?«

Jasmins Augen glitzern aufgeregt. »Ist doch cool.«

Ergeben zucke ich mit den Schultern und stelle mich zu meinen beiden Freundinnen vor den Spiegel. Wieso braucht Viv derartig lange im Bad? Wenn sie sich für Till nicht so aufstylen würde, bliebe mir dieses Trauerspiel erspart.

Laro hat währenddessen das Licht gelöscht, sodass lediglich der spärliche Schein der Kerze das Zimmer erhellt. Die Flamme flackert leicht in der Zugluft.

Gerade will ich erneut auf die lächerliche Situation hinweisen, da legt Laro ihren Finger auf die Lippen.

»Leise«, zischt sie energisch. »Wir fangen an.«

Konzentriert befördert sie das mit meiner Strähne umwickelte Papier ins Feuer.

Direkt erfüllt der unangenehme Geruch nach brennendem Haar den Raum. Regungslos sehen wir zu, wie Zettel und Strähne zu Asche zerfallen. Im Raum ist es totenstill, nur das trockene Knistern des brennenden Papiers und das stetige Geräusch des Regens sind zu hören.

Wie hypnotisiert starren wir auf die zuckende Flamme.

Widerstrebend stellte ich fest, dass mir ein wenig beklommen zumute ist. Das flackernde Licht des Feuers und die tanzenden Schatten erzeugen eine unheimliche Atmosphäre.

»Eve hinter den Spiegeln – erwähle uns«, rezitiert Laro heiser.

Sie hebt die Hand und klopft eine kurze rhythmische Folge an den Spiegel.

kurz – kurz kurz kurz lang – kurz

»Eve in Morse«, flüstert sie.

Fröstelnd reibe ich mir die Oberarme. Die Beschwörungsformel in Kombination mit dem hohlen Geräusch, das Laros Knöchel auf dem Spiegel hinterlässt, erzeugt eine Gänsehaut. Von unserer ausgelassenen Stimmung ist nichts mehr übrig.

Nervös lausche ich in das angespannte Schweigen. Ich muss zugeben, dass das Ritual unheimlich ist. Noch Furcht einflößender wäre es, wenn tatsächlich ein Antwortklopfen erklingen würde. Ein Geräusch, dröhnend und markerschütternd. Nicht nur aus dem Spiegel, sondern widerhallend, als käme es aus allen Wänden gleichzeitig. kurz – kurz kurz kurz lang – kurz

Ich zucke zusammen und schaue alarmiert zu meinen Freundinnen. Mir wird eiskalt, und mein Mund fühlt sich an wie ausgetrocknet. Es klopft nicht bloß in meiner Fantasie. Fassungslos starren wir einander an. Das kann nicht sein.

»Habt ihr das auch gehört?«, krächzt Laro tonlos. Jasmin hat die Augen weit aufgerissen und wirkt wie versteinert, während ich langsam nicke.

kurz – kurz kurz kurz lang – kurz

Das Geräusch scheint von überallher gleichzeitig und doch direkt aus dem Spiegel zu kommen. Eine Welle blanken Entsetzens überläuft mich. Was ist das?

kurz – kurz kurz kurz lang – kurz

Bewegungslos und mit hochgezogenen Schultern fixieren wir den Spiegel.

»Das ist unmöglich«, wispert Jasmin und krampft die Finger um den Saum ihres dünnen Pullovers.

»Krass«, bringt Laro mit einem gezwungenen Kichern hervor.

Ich schüttle hilflos den Kopf. Wir hätten mit dem Mist gar nicht anfangen sollen. Definitiv eine von Laros blödesten Ideen.

Plötzlich durchströmt mich Erleichterung. Garantiert wollen mich meine Freundinnen auf den Arm nehmen und haben die ganze Sache inszeniert. Vermutlich schlägt Viv im Badezimmer auf irgendwelche Rohre. So leicht kriegen sie mich nicht.

»Na los«, ermutige ich gespielt munter. »Machen wir weiter! Stufe 2.«

Laro stiert mich ungläubig an.

»Du willst weitermachen? Hast du das Klopfen eben nicht gehört?«

»Doch«, bestätige ich leichthin. »Die nächste Stufe verspricht noch spannender zu werden. Also, was ist jetzt?«

Sowohl sie als auch Jasmin sind bleich. Haben sie Angst vor ihrem eigenen Theater?

Laut der Geschichte wäre nun mein Spiegelbild mit blutenden Augen an der Reihe. Bestimmt ist es kein Zufall, dass Laro ausgerechnet mein Haar ausgerissen hat. Meine Freundinnen haben wohl erwartet, dass ich zitternd in einer Ecke sitze.

»Eve hinter den Spiegeln – erwähle uns.« Laro hebt zögerlich die Faust und lässt sie erneut auf die Spiegeloberfläche prallen.

kurz – kurz kurz kurz lang – kurz

Sind meine Freundinnen wirklich so gute Schauspielerinnen?

Die Stimmung ist derartig angespannt, dass ich für einen Moment fest daran glaube, dass Stufe 2 tatsächlich wie in Laros Erzählung verlaufen wird. Schaudernd male ich mir aus, wie die beiden in die leeren Augenhöhlen meines Spiegelbildes blicken, aus denen Blut in tiefroten Schlieren über meine hellen Wangen fließt.

Ein ohrenbetäubender Schrei reißt mich aus meinen beklemmenden Gedanken.

Laro springt förmlich vom Spiegel zurück und reißt dabei einen Stuhl um, der mit lautem Gepolter auf den Boden knallt.

Jasmin taumelt nach hinten und lässt sich aufs Bett fallen. Sie legt eine Hand an die Brust und beginnt, trocken zu würgen. Beide können ihre Augen nicht vom Spiegel abwenden.

Gleichzeitig fliegt die Tür auf, und Viv betritt den Raum.

»Was treibt ihr da eigentlich?«, wundert sie sich und schaltet das Licht an.

Ich drehe ratlos die Handflächen nach oben.

Jasmin ist mittlerweile auf dem Bett zusammengesunken. Sie hat die Knie mit den Armen umschlungen und starrt mich an, als sei ich der Teufel höchstpersönlich. Laro hingegen hat sich leidlich gefangen, ist aber bleich wie eine Wand.

Verunsichert wage ich einen Blick in den Spiegel: Ich sehe aus wie immer. Möglicherweise etwas blasser als sonst, aber es gibt keinen Grund für die entsetzte Reaktion meiner Freundinnen.

»Deine Augen!«, wimmert Jasmin leise. »Deine Augen!«

Laro beißt auf ihren Fingerknöcheln herum und mustert mich argwöhnisch.

»Mensch, jetzt hört doch auf mit dem Mist«, murre ich verärgert. »Die Idee war ja ganz witzig. Aber es reicht jetzt.«

Viv steht nach wie vor irritiert in der Mitte des Zimmers. »Würde mir mal jemand erklären, was hier los ist?«

Da die beiden anderen noch immer vor Angst wie erstarrt wirken, erkläre ich Viv in wenigen Worten die Situation.

Jasmin und Laro lauschen stumm meinem Bericht.

Als ich am Ende angelangt bin, schüttelt Viv entgeistert den Kopf.

»Ist das euer Ernst? Ihr schafft es, euch mit euren eigenen Gruselgeschichten in Panik zu versetzen? Das muss man erst mal hinkriegen … «

»Hannah hatte keine Augen mehr«, murmelt Laro dumpf. »Stattdessen nur leere Höhlen, aus denen Blut über ihre Wangen gelaufen ist. Ekelhaft.«

Jasmin bestätigt Laros Beschreibung mit einem erstickten Geräusch.

»Du hast nicht geklopft?«, frage ich in Vivs Richtung.

»Ich wusste bis eben nicht einmal, dass eine Gruselgeschichte erzählt wurde«, entgegnet meine beste Freundin.

»Hannah«, versichert Laro eindringlich. »Das war kein Witz. Ich schwör’s dir.«

Jasmin schüttelt lediglich den Kopf.

Aufmerksam forsche in den bleichen Gesichtern meiner Freundinnen nach Anzeichen von Belustigung oder Spott, doch ich werde nicht fündig.

»Ihr wollt mir also erzählen, dass das Ritual funktioniert hat?«, fasse ich misstrauisch zusammen. »Das ist doch kompletter Blödsinn.«

»Vielleicht war es dein Bruder?«, schlägt Laro schließlich zögerlich vor.

»Simon?«, vergewissere ich mich zweifelnd. »Ich weiß gar nicht, ob er zu Hause ist.« Nach einem Blick auf Jasmin wird mir klar, dass ich diesen Ausweg nicht zerstören sollte. Meine Freundin wirkt völlig verängstigt. »Es könnte schon sein, dass zumindest das Klopfen von ihm stammt«, räume ich ein. »Eine solch kindische Aktion würde zu ihm passen.«

»Bisher die schlüssigste Erklärung«, entscheidet Laro, die sich wieder gefangen hat. Jasmin nickt, doch ihr Unbehagen ist weiterhin erkennbar.

»Ich nehme an, dass das Ritual für uns beendet ist«, bemerke ich zynisch, woraufhin mir Viv den Ellbogen in die Seite rammt.

Kurze Zeit später trotten wir die Treppe hinunter zur Haustür. Mit einem komischen Gefühl im Magen registriere ich, dass im Zimmer meines älteren Bruders kein Licht brennt. Er scheint tatsächlich nicht daheim zu sein.

Jasmin schaut ebenfalls auf die nur angelehnte Tür und schluckt hörbar. »Er ist nicht da«, stößt sie hervor, ohne eine von uns anzusehen, und klingt dabei schon wieder, als sei sie den Tränen nahe. »Von ihm kam das Klopfen also nicht.«

»Es tut mir echt leid. Ich wollte nicht … «, fängt Laro hilflos an, verstummt dann aber wieder.

Jasmin gibt ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem Schluchzen klingt. »Ist auch egal«, murmelt sie, während Laro betreten den Kopf senkt. »Ich will nach Hause.«

»Jetzt?«, stößt Viv ungläubig hervor. »Aber wir wollten doch ins Pub?«

»Dieses Mal ohne mich«, entscheidet Jasmin. »Mir ist wirklich nicht nach Feiern zumute. Seid nicht böse.«

Laro betrachtet unbehaglich ihre Schuhspitzen. »Geht mir ähnlich.«

Vivs Blick pendelt zwischen unseren beiden Freundinnen hin und her. »Ist das euer Ernst? Zuerst bekniet ihr uns den kompletten Vormittag, damit wir euch ins Pub begleiten. Jetzt stehen wir perfekt gestylt und bereit zum Aufbruch im Flur, und ihr lasst uns hängen? Wegen dieser lächerlichen Gruselgeschichte?«

Jasmin und Laro nicken unglücklich.

»Hannah?«, wendet sich Viv an mich. »Kommst du mit? Ich hatte doch gehofft, Till heute Abend zu treffen.«

»Klar«, bestätige ich. »Von mir aus kann’s losgehen.«

Nachdem sich Laro und Jasmin mit knappen Worten verabschiedet haben, machen wir uns durch den Nieselregen auf den Weg in das Pub unseres Vertrauens.

Laros Beschwörung ist nach wie vor zentrales Thema. Immer wieder diskutieren wir verschiedene Erklärungen, die zu dem Geschehen geführt haben könnten. Eine lose Dachrinne, die vom Wind an den First geschlagen wurde. Simon, der uns einen Streich gespielt hat und seine Abwesenheit nur vorgetäuscht hat. Eine optische Täuschung im Spiegel, hervorgerufen durch schlechte Lichtverhältnisse. Viv glaubt noch immer an einen blöden Scherz von Laro und Jasmin, doch ich habe meine Zweifel. Die beiden hatten sich den ganzen Tag über auf unseren Mädelsabend im Pub gefreut. Sie waren es, die heute Abend unbedingt ausgehen wollten. Außerdem wirkte insbesondere Jasmins Panik unglaublich echt.

Egal wie sehr ich mich bemühe: Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas Eigenartiges geschehen ist.

Als wir an dem kleinen Tisch in der Nähe der Theke Platz nehmen, fühle ich mich auf seltsame Art erleichtert, der Dunkelheit vorerst entkommen zu sein.

Zufrieden widme ich mich meinem Christmas Latte. Diese Spezialität wird hier immer verkauft, und in mir hat man zu jeder Jahreszeit einen dankbaren Abnehmer gefunden.

Sorgfältig wickle ich den kleinen Karamellkeks aus, der zum Kaffee serviert wird, und verfolge amüsiert Vivs heimliche Suche nach Till.

»Nicht da«, stellt sie enttäuscht fest, nachdem sie sich unauffällig umgesehen hat. »Hoffentlich kommt er noch.«

Ich nicke abwesend und schiebe mir das Gebäck in den Mund. Gleichzeitig lasse ich meinen Blick beiläufig durch den Raum schweifen.

Jan!

Direkt an der Theke!

Ich zucke zusammen. Sein unverhofftes Erscheinen bringt mich derartig aus der Fassung, dass mir beim Schlucken ein Krümel im Hals stecken bleibt.

Mit tränenden Augen und hustend hänge ich auf der Tischplatte. Unterdessen klopft mir Viv viel zu fest auf den Rücken und murmelt aufmunternde Dinge wie »Musst du immer so schlingen?«. Wild gestikulierend und nach Luft japsend versuche ich, ihr klarzumachen, dass wenige Meter entfernt der unglaublichste Typ unserer Schule gemeinsam mit seinen Freunden steht. Gebannt starre ich Richtung Theke und bewundere seine dichten schwarzen Haare, seine schlanke, aber dennoch athletische Figur, die durch sein eng anliegendes T-Shirt und die tief sitzende Jeans zusätzlich betont wird. Vivs amüsiertes Schnauben blende ich nach Kräften aus.

Wäre es nicht toll, wenn er sich umdrehen würde? Unsere Blicke könnten sich für einen Moment treffen. Genau so lange, dass ich ihm ein schmales, mysteriöses Lächeln zuwerfen könnte, durch das er endlich auf mich aufmerksam wird und mich unbedingt kennenlernen will. Da er erst seit Kurzem auf unsere Schule geht und zudem die Oberstufe besucht, hat er mich leider bisher nicht registriert.

Los doch, Jan! Dreh dich um! Hier bin ich!

Er dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich.

Ganze zwei Sekunden kann ich seinen stahlblauen Augen standhalten, dann spüre ich, wie mir glühende Hitze in die Wangen steigt. Ich bezweifle, dass ich mit dieser Gesichtsfarbe in irgendeiner Weise mysteriös wirke. Verlegen greife ich nach meinem Christmas Latte, bekomme ihn jedoch nicht richtig zu fassen. Stattdessen fege ich mit dem Handrücken meine Tasse vom Tisch.

Jan zieht die Augenbrauen hoch und mustert mich irritiert. Argh. Was für eine blöde Aktion. Schnell tauche ich unter die Tischplatte ab, um den Schaden zu begutachten. Ich werde einfach den Rest meines Lebens hier verbringen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit höre ich Vivs Stimme.

»Hannah, du kannst wieder hochkommen«, sagt sie trocken. »Er ist weg.«

Zögerlich richte ich mich auf und vergrabe das Gesicht in den Handflächen.

»Das eben war unfassbar peinlich«, stelle ich fest.

Viv öffnet den Mund zu einer Antwort, schließt ihn jedoch wieder, ohne etwas zu entgegnen. Hilflos hebt sie die Schultern und seufzt zustimmend. Betreten schauen wir uns an.

»Vielleicht findet er deine Tollpatschigkeit ja charmant?«, spekuliert sie halbherzig.

Das wage ich zu bezweifeln.

Nach dieser beschämenden Aktion will sich bei mir keine richtige Feierlaune mehr einstellen. Von Till ist ebenfalls nichts zu sehen, sodass wir uns bereits nach einer knappen Stunde auf den Nachhauseweg machen.

Leider können wir nur den ersten Teil der Strecke gemeinsam zurücklegen, da wir nicht in der gleichen Straße wohnen. Mit einem Winken verabschieden wir uns an der Kreuzung, die ungefähr die Mitte zwischen unseren Häusern bildet.

Nachdem meine Freundin in der Dunkelheit verschwunden ist, erscheint mir die Nacht plötzlich viel bedrohlicher. Ich klemme meine Handtasche fest unter den Arm und laufe mit schnellen Schritten los.

Durch den strömenden Regen kann ich keine zwei Meter weit sehen. Von allen Seiten umgibt mich Finsternis. Lediglich die kleinen Lichtinseln der Straßenlaternen bieten Schutz vor der Schwärze.

Der Wind hat aufgefrischt, sodass mir die Tropfen ins Gesicht peitschen. Ich ziehe den Kopf ein und wickle mich fester in meine Jacke.

Obwohl die Straße menschenleer ist, bilde ich mir ein, dass sich jemand in der Nähe befindet. Fröstelnd stecke ich die Hände in die Taschen, während in mir eine Kälte emporsteigt, die nichts mit dem schlechten Wetter zu tun hat.

Es fühlt sich an, als würde sich eine Präsenz gerade außerhalb meiner Wahrnehmung bewegen. Ich bin nicht allein. Als ich in mich hineinhorche, bemerke ich verstört, dass sich dieses Gefühl bereits seit dem Verlassen des Pubs eingestellt hat. Der Geist von Eve hinter den Spiegeln, der mir folgt?

Das ist komplett lächerlich. Dennoch beschleunige ich meine Schritte, sodass ich fast rennend unsere Straße erreiche und erst aufatme, als die Haustür hinter mir ins Schloss fällt.

Wenn ich nicht gerade an der perfekten Bloßstellung vor meinem Traumtyp arbeite, bin ich wirklich ein dankbares Opfer für Gruselgeschichten.

In meinem Zimmer angekommen lasse ich mich rücklings aufs Bett fallen. Eigentlich wollte ich ein wenig lesen, aber nach der Blamage im Pub bin ich nicht in der Verfassung, mich auf irgendetwas zu konzentrieren.

Verdammter Mist.

Seit Wochen hoffe ich auf die Gelegenheit, Jans Aufmerksamkeit zu erregen. Heute war es endlich so weit. Aber statt mysteriös zu lächeln, was ich sogar vor dem Spiegel geübt habe, werfe ich mit Kaffeetassen um mich. Deprimiert starre ich an die Decke. Ich habe mich total lächerlich gemacht.

Doch auch ohne diesen blamablen Vorfall hätte ich keine Chance bei Jan. Bereits seit einigen Wochen ist er mit einem Mädchen aus meiner Klasse zusammen. Es scheint ihn nicht zu stören, dass sie erst sechzehn ist. Vor ihrem Anbändeln mit Jan war mir Denise ganz sympathisch. Seit sie aber ihre Krallen in meinen Traumtyp geschlagen hat, könnte ich schon durchdrehen, wenn ich sie aus der Ferne sehe. Gute Noten, wahnsinnig hübsch und immer perfekt gestylt, Gast auf jeder angesagten Party. Sie behält in jeder Situation ihre Selbstsicherheit. Im Gegensatz zu mir, die bereits damit überfordert ist, den Henkel einer Tasse richtig zu greifen.

Kapitel 2überfordert

Der nächste Morgen beginnt mit purem Stress, denn ich erwache eine halbe Stunde später als sonst. Anscheinend habe ich vergessen, meinen Wecker zu stellen.

Schnell bürste ich mein schulterlanges, dunkelblondes Haar und fasse es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Anschließend tausche ich den Schlafanzug gegen Jeans und T-Shirt, dann schlüpfe ich in meine neuen blauen Chucks. Während ich die Schnürsenkel des zweiten Schuhs binde, hüpfe ich auf einem Bein ins Bad, putze mir die Zähne und betone meine blaugrauen Augen mit ein wenig Make-up. Das muss reichen, auch wenn ich mir am liebsten eine Papiertüte über den Kopf stülpen würde. Der Spiegel zeigt unbarmherzig die Spuren einer unruhigen Nacht. Der seltsame Vorfall gestern Abend spielte dabei aber keine Rolle.

Statt schnell einzuschlafen, habe ich mich im Bett herumgewälzt und mir Gedanken gemacht, mit welchem coolen Spruch ich Jan kundtun könnte, dass mir die Aktion mit der Kaffeetasse keineswegs peinlich ist. Verschiedene mehr oder weniger witzige Wortspiele sind mir eingefallen:

Glück gehabt, dass sie mich nicht für die krasse Tasse zur Kasse gebeten haben. – Hihi, da habe ich wohl eine fliegende Untertasse erschaffen. – War das nicht ganz fan-tasse-tisch gestern?

Bei Tageslicht betrachtet denke ich nicht, dass ich meine kreativen Ideen an den Mann bringen werde. Am besten lasse ich die ganze Sache unter den Tisch fallen – genau wie meine Tasse.

Argh.

Wahrscheinlich messe ich der Blamage viel zu viel Bedeutung bei. Er erinnert sich bestimmt nicht mehr an den Vorfall. Wer weiß, ob ihm überhaupt bewusst ist, dass ich auf seine Schule gehe. Jüngere Schüler sehen für die älteren alle gleich aus. Das kann ich aus Erfahrung sagen.

Nachdem ich mir also selbst glaubwürdig versichern kann, dass keinerlei Gefahr besteht, gebe ich mir einen Ruck und mache mich auf den Weg.

Die ersten beiden Stunden verlaufen ereignislos. Immerhin nimmt mir meine Deutschlehrerin ab, dass ich die Hausaufgabe mündlich gemacht habe. Die hektische Handyrecherche kurz vor Unterrichtsbeginn hat sich definitiv gelohnt.

Meine Freundinnen scheinen sich von der vermeintlichen Spukerscheinung erholt zu haben, insbesondere Laro ist aufgedreht und gut gelaunt wie immer. Dennoch vermeiden wir das Thema, als bestünde eine stillschweigende Übereinkunft, nicht mehr darüber zu sprechen.

Je näher die Pause rückt, desto nervöser werde ich. Vergeblich versuche ich, mich zu beruhigen. Er wird mir nicht über den Weg laufen. Das passiert schließlich an den übrigen Tagen nur dann, wenn ich absichtlich an den Räumlichkeiten der Oberstufe vorbeischlendere. Trotzdem verbringe ich die Pause im Panik-Modus, drehe mich ständig um und werfe so lange wilde Blicke in die Gegend, bis mich Viv fragt, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Herzlichen Dank für die Erinnerung. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die sich an schlechten Wortspielen versucht.

Natürlich taucht Jan nicht auf. Sowohl in den Pausen als auch nach Unterrichtsschluss bleibe ich von einer Konfrontation verschont.

Zu Hause angekommen stelle ich mir die Reste vom gestrigen Abendessen in die Mikrowelle. Während ich ungeduldig auf die langsam rotierenden Käsespätzle im Innern des Geräts blicke, sinniere ich über Zeitphänomene. Wenn man versucht, trotz Verspätung den Bus zu kriegen, verfliegen zwei Minuten in Sekundenschnelle. Wartet man jedoch hungrig aufs Essen, kann die gleiche Spanne eine Ewigkeit sein. Ich hypnotisiere den Teller.

Nun mach schon, du blödes Teil! Ich habe Hunger!

Die Mikrowelle gibt einen lang gezogenen Piepton von sich.

Na endlich. Die erste Gabel schiebe ich mir stehend in den Mund, dann besinne ich mich auf meine gute Erziehung und setze mich an den Küchentisch.

Drei Schultage muss ich bis zu Miris School’s out-Party überstehen, mit der wir den Beginn der Osterferien feiern. Sie hat den gesamten Jahrgang samt Anhang eingeladen. Ich gehe davon aus, dass Jan ebenfalls da sein wird, denn Denise wird garantiert in männlicher Begleitung erscheinen. Natürlich wird sie den ganzen Abend nicht die Finger von ihm lassen. Na gut. Das würde ich genauso machen, wenn dieser Leckerbissen mein Freund wäre.

Spontan fasse ich den Plan, auf der Party etwas ganz Besonderes zu machen. Ich werde zur Abwechslung nicht negativ auffallen und mich nicht in irgendeiner Form blamieren, sondern endlich mein schmales, mysteriöses Lächeln ausprobieren. Wäre doch eine Schande, wenn ich es umsonst trainiert hätte!

»Hallo, Schatz! Stimmt etwas nicht mit dem Essen? Weshalb ziehst du so ein Gesicht?«

Ertappt zucke ich zusammen, als ich bemerke, dass meine Mutter die Küche betreten hat. Schnell ändere ich den Gesichtsausdruck von geheimnisvoll zu liebenswürdig.

»Hi, Mama. Alles okay. Schmeckt gut«, antworte ich knapp.

»Was hast du heute vor? Viele Hausaufgaben?«

Ich schlucke den letzten Bissen meiner Käsespätzle runter und trinke einen Schluck Saft. »Es hält sich in Grenzen. Sind ja nur drei Tage bis zu den Ferien. Nachher gehe ich mit Viv shoppen. Sie braucht Schuhe für ihr Party-Outfit am Samstag.«

»Ihr zieht schon wieder los? Ihr wart erst gestern Abend unterwegs … «

»Wir waren erst gegen neun hier weg, und ich war früh zu Hause«, verteidige ich mich. »Außerdem läuft in der Schule ohnehin nicht viel. Alle sind schon im Ferienmodus.«

Meine Mutter lächelt geduldig. »In Ordnung. Dann hoffe ich, ihr findet heute die passenden Schuhe. Scheint eine besondere Party zu sein, wenn sie dafür extra neue Sachen kauft.«

»Vermutlich liegt das weniger an der Party als an Till, der auch eingeladen ist«, offenbare ich mit einem Grinsen. Für diesen Verrat würde mir Viv mit Sicherheit an den Hals springen.

»Gibt’s für dich ebenfalls einen Grund, dich schick zu machen?«, erkundigt sich meine Mutter vorsichtig.

Ich verdrehe die Augen. »Keinen Grund, der mich bisher wahrgenommen hätte«, murmle ich und verbanne Jans irritierte Miene nach meiner Tassenaktion aus meinen Gedanken.

»Was nicht ist, kann ja –«, setzt sie an, verstummt jedoch, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. »Egal. Ich spare mir die Weisheiten. Wenn du darüber reden willst, weißt du, wo du mich findest.«

Dankbar nicke ich. Ein Blick und sie merkt, dass sie besser das Thema wechseln sollte. Sie ist wirklich klasse.

»Du denkst daran, dass du um 17 Uhr 30 Klavierstunde hast?«, erinnert sie beiläufig. Sofort legt sich meine kurzzeitig entflammte Mutterliebe wieder.

»Ja. Sicher«, knurre ich undeutlich. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen überlege ich, wann ich zum letzten Mal geübt habe. Mehrere Tage ist das mit Sicherheit schon her.

Seufzend stelle ich meinen Teller in die Spülmaschine und mache mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Vor der Klavierstunde sollte ich die Stücke wenigstens einmal gesehen haben. Hoffentlich erkennt die Lehrerin meinen guten Willen an.

Leider ist das nicht der Fall, wie ich drei Stunden später feststellen muss. Nach einem entspannten Nachmittag in der Einkaufspassage sitze ich mit hochgezogenen Schultern am Konzertflügel und muss eine äußerst unangenehme Strafpredigt über mich ergehen lassen. Der Inhalt lässt sich auf einen Satz beschränken: Meine Klavierlehrerin ist keineswegs erbaut von meinen Fortschritten.

Deprimiert trete ich den Heimweg an. Heute Abend werde ich mir ein paar Toastbrote machen, ein wenig lesen und früh ins Bett gehen. Ich muss dringend den Schlaf der vergangenen Nacht nachholen.

In der Küche treffe ich auf Simon, der den Inhalt des Kühlschranks inspiziert. Ich nehme zwei Brote aus der Packung und werfe sie in den Toaster. Fertig.

»Hey, machst du mir auch welche?«

Ich drehe mich um.

»Du bist siebzehn Jahre alt!«, schnaube ich genervt. »Mach dir dein Zeug selbst. Du hängst schon die ganze Zeit in der Küche rum. Ich bin gerade erst gekommen.«

Geschickt staple ich Käse, Schinken und Tomatenscheiben auf den warmen Toast.

»Aber wenn du’s machst, geht es viel schneller!«, hält Simon entgegen.

»Ja klar. Alles geht schneller, wenn man es nicht selbst machen muss. Und natürlich schmeckt es viel besser«, erwidere ich kopfschüttelnd und ergänze mein Abendessen mit zwei Salatblättern. Zufrieden lege ich die zweite Scheibe auf mein Kunstwerk.

Mein Bruder beobachtet interessiert mein Tun. In seine Augen hat sich ein gieriges Funkeln geschlichen.

»Vergiss es«, fauche ich und boxe ihm unsanft gegen den Oberarm.

»Kannst du mir übrigens mal sagen, was das gestern Abend sollte?«, lenke ich von meinem Brot ab. »Du hast Jasmin in echte Panik versetzt.«

»Gestern Abend?«, wiederholt Simon überrascht. Er verschränkt die Arme und lehnt sich locker gegen die Arbeitsplatte.

»Ich war bei Christoph. Wir haben gezockt.«

Misstrauisch studiere ich seine Miene, doch ich kann keine Anzeichen einer Lüge erkennen.

»Was war denn los?«, hakt er nach.

»Nichts Besonderes«, winke ich ab. »Nur ein Missverständnis.«

Ich setze mich an den Küchentisch und beiße schnell in mein Sandwich, um das peinliche Gespräch zu beenden. Definitiv will ich Simon keine neue Munition gegen mich und die Sumpfhühner – wie er meine Clique nennt – liefern.

Mein Bruder hebt irritiert die Schultern.

»Du und deine komischen Freundinnen«, murmelt er. Seufzend nimmt er eine Tüte Chips aus dem Küchenschrank, klemmt sie sich unter den Arm und verlässt die Küche.

Am nächsten Morgen fühle ich mich nur leidlich erholt, obwohl ich mich gestern in einem Akt der Selbstbeherrschung von meinem spannenden Buch losgerissen habe und somit tatsächlich früh ins Bett gegangen bin. Ich glaube, ich habe von Kaffeetassen geträumt. Anscheinend beschäftigt mich eine gewisse Begebenheit mehr, als ich zugeben möchte. Dementsprechend gereizt bin ich, als ich mich für die Schule fertig mache.

Ob ich es schaffen kann, ihm die komplette Woche über aus dem Weg zu gehen? Alternativ könnte ich aufhören, derartig zu übertreiben. Mein Gott, ich habe eine Tasse vom Tisch geworfen. Wie tragisch. Vermutlich hat er das längst vergessen. Spätestens auf der Party am Samstag werde ich ihn Wiedersehen. Vielleicht ergibt sich eine unverfängliche Gesprächsmöglichkeit, um zu zeigen, wie locker ich mit der Situation umgehe.

Miris Eltern werden dieses Jahr bereits am Freitagmittag statt wie in den Jahren zuvor am Samstagmorgen in Urlaub fahren. Ihrer Meinung nach ist das Töchterchen mit sechzehn Jahren verantwortungsbewusst genug, alleine zu feiern. Ist wohl besser für ihr Seelenheil, dass die Partyvorbereitungen an ihnen Vorbeigehen. Miri hat nicht nur Unmengen an Alkohol geordert, sondern auch diversen Oberstufenschülern eine Zusage entlockt. Diese Party wird definitiv anders als die bisherigen. Vielleicht kann ich Denise etwas in ihren Drink schütten und dann Jan abschleppen?

Dummerweise fehlt mir für die Umsetzung dieses Plans die nötige kriminelle Energie. Schade eigentlich.

Den Schulweg über schwelge ich in verbrecherischen Fantasien, die ein abruptes Ende finden, als ich kurz vor der Pausenhalle einen Blick auf Jan erhasche. Er steht mit dem Rücken zu mir im Flur, sodass ich ihn in Ruhe beobachten kann.

Dieser Typ ist einfach phänomenal. Er trägt schwarze Boots zu eng anliegenden Jeans und einem dunklen T-Shirt, das seine muskulösen Oberarme gut zur Geltung bringt. Seine dichten, schwarzen Haare wirken etwas zerzaust. Ich vermute jedoch, dass er sie mit ein wenig Gel bewusst in diese Form gebracht hat. Es sieht einfach zu gut aus, um keine Absicht zu sein. Jetzt dreht er mir das Profil zu. Ich kann seine gerade Nase und die markanten Wangenknochen erkennen, die ihm einen leicht exotischen Ausdruck verleihen und mich geradezu magisch anziehen.

Nein! Ich gebe gerade das perfekte Klischee eines verliebten Teenagers ab. Nicht nur, dass ich völlig in die Betrachtung dieses Typs vertieft bin. Ich gebe zusätzlich eine genaue Beschreibung seines Aussehens und nutze zu allem Überfluss das Wort magisch.

Mit schlechtem Gewissen himmle ich ihn weiter an, versuche aber, die zahlreichen schmückenden Adjektive, die mir bei der Betrachtung in den Sinn kommen, zu verdrängen.

Noch bevor ich meinen unbeabsichtigten Starrangriff beenden kann, dreht sich Jan langsam in meine Richtung, und sein stahlblauer Blick bohrt sich in meinen. Unwillkürlich halte ich die Luft an, nicht fähig, die Verbindung zu lösen. Er verzieht keine Miene. Nichts an ihm lässt erkennen, ob er sich an das Intermezzo im Pub erinnert. Regungslos verharre ich in meiner Position und versuche krampfhaft, standzuhalten. Auf keinen Fall werde ich wieder als Erste aufgeben, auch wenn mir dieser Moment alles abverlangt.

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Vor Aufregung verliere ich kurzzeitig die Kontrolle über meine Mimik. Ich lächle ihn schüchtern an. Seine Lippen verziehen sich zu einem kaum merklichen, abfälligen Grinsen. Er mustert mich kalt, dreht sich weg und beginnt ein Gespräch mit seinen Freunden, während ich entsetzt versuche, das Ausmaß der Blamage zu bewerten.

Ich ergreife die Flucht. So peinlich!

Wie ein hypnotisiertes Kaninchen habe ich ihn angestarrt und darauf gewartet, dass er mich verschlingt. – Metaphorisch gesprochen. Dann setze ich dem Ganzen die Krone auf, indem ich ihn anlächle. Ich kenne ihn doch gar nicht! Was habe ich mir dabei gedacht? Mit diesem dämlichen Grinsen habe ich endgültig unter Beweis gestellt, dass ich exakt der Vorstellung eines schwärmerischen Mädchens entspreche. Wieso konnte ich nicht souverän reagieren und mich einfach wegdrehen?

Im Nachhinein empfinde ich die Situation als derartig beschämend, dass mich Viv zu Beginn der ersten Stunde völlig aufgelöst an unserem Tisch vorfindet. Weder Trost noch verständnisvolle Worte können mir weiterhelfen. Ich schäme mich wirklich.

Im Kopf spiele ich verschiedene Szenarien durch und quäle mich mit alternativen Reaktionen. Allesamt wären sie besser gewesen als das, was ich getan habe. Ein kühler Blick, leicht die Augenbrauen hochziehen und zuerst wegdrehen. Möglicherweise ein ironisches Lächeln andeuten, das ihm mitteilt: Ach, du dachtest, ich himmle dich an? Träum weiter. Ich schaue rein zufällig in deine Richtung.

Gar nicht erst anstarren. Das wär’s gewesen!

Den restlichen Vormittag bade ich in Selbstmitleid, durchbrochen von Schuldzuweisungen (Dieser Idiot hätte meinen Blick nicht erwidern müssen.) und Vorwürfen (Zwei Blamagen in drei Tagen. Das ist einfach armselig.). Ich sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, die Party am Wochenende ins Wasser fallen zu lassen. Vor ein paar Stunden erschien sie mir als perfekte Gelegenheit, Jan besser kennenzulernen und zu zeigen, dass ich zu einer normalen Unterhaltung fähig bin. Nach diesem erneuten Zwischenfall glaube ich nicht, dass ich eine Chance bekommen werde.

Vielleicht ist das auch gut so. Es hat den Anschein, als sei Jan kein besonders netter Mensch. An der unangenehmen Situation trage ich nicht die alleinige Schuld. Er hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, die Lage mit einem kleinen Lächeln zu entschärfen. Wäre es für ihn so schlimm gewesen, mir zumindest zuzunicken?

Mein Verhalten war merkwürdig, aber nicht unbedingt peinlich. Dazu hat er es mit seinem geringschätzigen Grinsen gemacht. Vermutlich sollte ich einfach aufhören, hinter ihm herzurennen. Wenn sich Gefühle nur leichter abstellen ließen.

Kapitel 3verwirrt

Die nächsten beiden Tage vergehen im Vergleich zur bisherigen Woche ereignislos. Je näher der Samstag rückt, desto weniger Lust verspüre ich, auf Miris Party zu gehen. Jan aus der Ferne anzuhimmeln war spannend. Ziel seiner abfälligen Blicke zu sein ist hingegen furchtbar.

Viv nutzt jede freie Minute, um mich zu überreden, sie doch zu begleiten. Tatsächlich haben wir uns schon lange auf den Abend gefreut, denn immerhin wurde eine Menge netter Leute eingeladen. Das werde ich mir nicht von einem Typen kaputt machen lassen, egal wie finster er mich anstarrt.

Fest entschlossen, eine schöne Zeit zu verbringen, stehe ich also am Samstagabend in Minirock, schwarzer Strumpfhose, Stiefeln und meinem neuen grünen Top, das ich am Dienstag im Ausverkauf ergattern konnte, vor Vivs Tür. Einerseits voller Vorfreude, andererseits mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Sicherlich wird Jan ebenfalls da sein. Ich habe nicht die mindeste Motivation, erneut negativ aufzufallen. Immerhin zeugt es von einer gewissen Größe, sich jetzt nicht zu verkriechen.

Als wir vor Miris Haus ankommen und die Musik bereits dermaßen laut zu hören ist, als hätte ich in meinem Zimmer die Anlage komplett aufgedreht, bekomme ich Angst vor meiner eigenen Courage. Auf dem Bett liegen und lesen erscheint mir plötzlich als wirklich erstrebenswerte Idee.

Gerade will ich mich auf dem Absatz umdrehen und davonstürmen, da öffnet Miri die Tür. Mieses Timing! Dann beiße ich eben in den sauren Apfel und gehe Jan, so gut ich kann, aus dem Weg.

Zumindest dieser Plan scheint leicht umsetzbar zu sein, denn das Haus ist bereits voller Leute, von denen ich höchstens die Hälfte kenne. Wo hat Miri all diese Menschen aufgetrieben?

Viv und ich schlagen uns zur Bar durch, um mit einem angemessenen Partygetränk in den Abend zu starten.

Wenig später halte ich einen farbenfrohen Cocktail in den Händen, über dessen genaue Bestandteile sich nur spekulieren lässt. Immerhin habe ich etwas, woran ich mich festhalten kann, und zudem ist er schön bunt.

Mit unseren fragwürdigen Drinks ausgerüstet, schlendern Viv und ich durch die verschiedenen Räume. Miris Haus ist derart groß, dass es schwierig ist, innerhalb der Menschenmasse einen Überblick zu erlangen.

Schließlich landen wir auf der Terrasse. Bei jedem männlichen, schwarzhaarigen Gast zucke ich zusammen und atme anschließend erleichtert wieder auf, weil es sich doch nicht um Jan handelt.

Gleichzeitig ärgere ich mich über mich selbst. Einfach bescheuert, sich von ihm so nervös machen zu lassen.

Wenn er da ist, werden wir uns ohnehin mit Sicherheit irgendwann über den Weg laufen. Die Frage ist lediglich, wann es geschieht.

»Hey, ihr zwei! Schön, dass ihr hier seid!«

Hastig drehe ich mich um und bin erleichtert, als ich Tills hellen Haarschopf hinter mir entdecke. Für einen Moment dachte ich wirklich, dass uns Jan angesprochen hätte. Als ob er mich auf diese Art begrüßen würde. Viv hingegen versteift sich an meiner Seite und weiß offensichtlich nicht, wie sie reagieren soll. Amüsiert mustere ich meine Freundin. Uns ist beiden klar, dass Till der Hauptgrund für unseren Partybesuch ist. Jetzt haben wir ihn endlich gefunden, und Viv verwandelt sich prompt in ein Nervenbündel.

Um die peinliche Situation zu überspielen, setze ich schnell ein strahlendes Lächeln auf. »Hallo, Till! Bist du schon lange da?«

Er schüttelt den Kopf. »Gerade erst gekommen. Ich habe mich bisher nicht einmal mit etwas Trinkbarem eingedeckt. Wartet ihr auf mich? Dann hole ich mir ein Bier und treffe euch wieder.«

Ich nicke erfreut, und Till verschwindet im Haus.

Im selben Moment lässt sich Viv gegen meine Schulter fallen.

»Na großartig. Das habe ich wirklich toll hinbekommen!« Sie presst ihren Handballen gegen die Stirn. »Danke, dass du entsprechend reagiert hast. Da steht er vor mir, und ich kriege kein Wort raus.«

Besänftigend streiche ich über ihren Arm. »Alles in Ordnung! Ist doch nichts passiert. Du kannst ihn begrüßen, wenn er mit seinem Getränk zurückkommt.«

»Und was sage ich dann? Worüber sollen wir reden? Was mache ich, wenn mir keine Gesprächsthemen einfallen? Ich hätte mich viel besser vorbereiten müssen!«, bringt meine Freundin atemlos hervor.

»Viv, nicht durchdrehen. Er hat sich definitiv gefreut, dich zu sehen. Zudem hat er dafür gesorgt, dass er uns wiederfindet. Ich bin sicher, dass es ihm dabei nicht um meine Anwesenheit geht«, beruhige ich sie mit einem Grinsen.

Viv schaut mich hoffnungsvoll an. »Er hat mir in der Pause wirklich schon häufiger zugenickt. Schade, dass er in die Parallelklasse geht, sonst hätten wir wesentlich mehr Gesprächsstoff.«

»Ach Blödsinn. Momentan möchte sowieso niemand über die Schule reden, immerhin sind wir auf einer School’s out-Party. Sprich mit ihm über deine neueste CD oder über ein Buch, das du gelesen hast. Erzähle ihm von unseren Ferienplänen, berichte von dem witzigen Vorfall im Tanztraining. Komm schon! Du bist toll! Du bringst problemlos eine Unterhaltung in Gang!« Ich nicke vielsagend zur Terrassentür. »Und du kannst direkt loslegen.«

Wenige Sekunden später steht Till mit einem Becher Bier in der Hand neben uns.

»Willkommen zurück«, empfange ich ihn und berühre Viv unauffällig am Bein. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um die Unsicherheit zu überwinden.

»Hi, Till«, sagt sie in betont lockerem Tonfall. Das ist doch immerhin ein Anfang.

Till freut sich offenkundig über ihre Begrüßung.

»Glück gehabt, am Ausschank war keine Schlange!« Er fährt sich mit der freien Hand durch die blonden Haare. »Und, was habt ihr in den Ferien vor?«

Obwohl er die Frage höflicherweise uns beiden gestellt hat, ist klar, dass sie eigentlich Viv gilt, denn er schaut aufmunternd in ihre Richtung. Sie greift das Thema dankbar auf, und wenige Minuten später sind die beiden in ein Gespräch über Campingplätze vertieft. Kurzzeitig empfinde ich einen gewissen Neid, dass die Unterhaltung dermaßen entspannt in Gang gekommen ist. So einfach könnte alles sein, wenn man sich den Richtigen aussucht.

Da die beiden nur Augen füreinander haben, fühle ich mich fehl am Platz. Natürlich weiß ich, dass Viv niemals von mir verlangen würde, zu verschwinden, aber ich möchte nicht stören. Vielleicht ist der Zufall auf meiner Seite, und ich finde Laro oder Jasmin unter den Partygästen.

Kurz berühre ich Viv an der Schulter. »Ich drehe mal eine Runde und schaue, ob die anderen Mädels schon da sind. Treffen wir uns in einer Stunde hier auf der Terrasse?«

Mit einem leichten Kopfschütteln wehre ich ihren unausgesprochenen Einwand ab und stürze mich in die Menge. Wieder bin ich beeindruckt von den vielen Bekannten, die Miri hat. Wahrscheinlich wurden alle mit dem Versprechen von Gratis-Alkohol geködert.

Als ich das Wohnzimmer betrete, lässt mich ein Prickeln zwischen den Schulterblättern innehalten. Obwohl ich mich mitten im Gedränge befinde, fühle ich mich plötzlich beobachtet. Es ist das gleiche sonderbare Gefühl, das ich am Montagabend auf dem Heimweg vom Pub hatte.

Verärgert reibe ich mir über die Unterarme, um die beginnende Gänsehaut zu vertreiben. Ich habe eindeutig eine zu rege Fantasie, wenn mir diese blöde Gruselgeschichte noch immer im Kopf herumspukt. Entschieden straffe ich die Schultern und beschließe, weitere Spinnereien nach Kräften zu unterdrücken und endlich die Party zu genießen.

Zuerst schlage ich mich zur Bar durch und lasse mich auf einen Cocktail ein, der noch farbenfroher ist als die Mischung, die ich davor hatte. Anschließend halte ich Ausschau nach vertrauten Gesichtern. Einige Gäste kenne ich vom Sehen, jedoch nicht gut genug, dass ich mich einfach zu ihnen stellen würde.

Mit beherztem Einsatz meiner Ellbogen kämpfe ich mich die Treppe hoch und betrete das nächstbeste offene Zimmer.

Der Aufwand hat sich gelohnt. Mehrere Leute aus meiner Klasse, darunter auch Laro und Jasmin, sitzen im Kreis auf dem Boden und spielen laut kichernd Wahrheit oder Wahrheit. Diese originelle Variante haben wir auf einer Schulfahrt im vergangenen Jahr aus dem Klassiker Wahrheit oder Pflicht heraus entwickelt.

Das Prinzip der ursprünglichen Form ist denkbar einfach. Die Spieler sitzen im Kreis auf dem Boden. In der Mitte liegt eine Flasche, die gedreht wird. Ist man unglücklicherweise die Person, auf die der Flaschenhals nach dem Stillstand zeigt, hat man die Wahl zwischen Wahrheit, die eine meist unangenehme Frage beinhaltet, oder Pflicht, was eine mehr oder weniger sinnvolle, aber vor allem peinliche Aufgabe nach sich zieht. Auf der letzten Klassenfahrt bekam ein Mitschüler die Pflicht auferlegt, den Flur der Jugendherberge einmal nackt auf und ab zu rennen. Leider endete er nach der ersten Teilstrecke in den Armen unserer Klassenlehrerin, die den Vorfall nicht halb so lustig fand wie wir. Seitdem traut sich kaum noch jemand, Pflicht zu wählen.

Laro strahlt, als sie mich sieht. »Hannah! Wir haben uns schon gewundert, wo ihr steckt! Wo hast du Viv gelassen? Ist sie bei –«

»Sie ist irgendwo unten!«, schneide ich ihr das Wort ab, bevor sie der Runde diverse Informationen über Vivs Interesse an Till preisgibt.

Glücklicherweise deutet Laro meinen warnenden Gesichtsausdruck richtig und wechselt das Thema. »Los, setz dich zu uns und mach mit.«

Seufzend ziehe ich meinen Rock zurecht und lasse mich auf dem Boden nieder. Zwar habe ich überhaupt keine Lust auf dieses dämliche Spiel, aber alles ist besser, als alleine durchs Haus zu geistern. Zudem ist es denkbar unwahrscheinlich, dass mir Jan in einer Zimmerecke über den Weg läuft.

Völlig unkompliziert werde ich von der Gruppe aufgenommen. Selbst wenn ich wenig für solchen Quatsch übrighabe, muss ich zugeben, dass die Fragen zeitweise ganz lustig sind. Das Glück scheint heute auf meiner Seite zu sein. Bisher zeigte die Flasche kein einziges Mal auf mich, wodurch ich meine Aufmerksamkeit auf die witzigen Geständnisse meiner Mitschüler konzentrieren kann. Speziell unsere Gastgeberin Miri fühlt sich für besonders verfängliche Themen zuständig. Ich kann schwer nachvollziehen, wie man sich daran erfreuen kann, andere in die Enge zu treiben.

Abgelenkt vom Spielgeschehen nehme ich zuerst nicht wahr, dass hinter mir die Person steht, der ich eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Plötzlich steigt mir der Geruch eines frischen Aftershaves in die Nase. Die bunten Getränke haben mittlerweile ihre Wirkung voll entfaltet, sodass ich den würzigen, männlichen Duft inhaliere, ohne mir über dessen Quelle Gedanken zu machen. Es riecht einfach fantastisch nach Abenteuer, einem Abend am Lagerfeuer, Erde, die von der Sonne getrocknet wird …

»Hallo zusammen. Kann man noch mitspielen?«

Ich drehe mich um und fühle mich schlagartig wieder nüchtern.

Jan.

Man sollte sich eben nie zu sicher fühlen.

Was will er hier? Mit einem Haufen Zehntklässlern ein albernes Spiel machen? Wo ist Denise?

Auch meine Klassenkameraden schauen ihn irritiert an.

Was jetzt? Aufspringen und kopflos aus dem Zimmer rennen? Nein. Aufstehen und jodeln? Definitiv nicht.

Hannah, bleib ernst! Nicht der richtige Zeitpunkt für Galgenhumor. Am liebsten würde ich mich unsichtbar machen. Ich starre also auf den Boden und simuliere Abwesenheit.

Nach einem kurzen Moment der Verwirrung nehmen meine Mitspieler Jan in unsere Runde auf. Mit einer fließenden Bewegung setzt er sich zwischen uns. Das Spiel geht weiter.

»Hannah?«

Laros Stimme lässt mich zusammenzucken. Da ich vollständig mit Nicht-Auffallen beschäftigt bin, registriere ich erst mit einiger Verspätung, dass mich alle anschauen.

Die Flasche zeigt auf mich.

Wie komme ich da wieder raus? Was für eine miese Idee, bei diesem blöden Spiel mitzumachen. Wieso musste sich Jan zu uns gesellen? Fällt ihm nicht auf, dass außer ihm kein Oberstufenschüler beteiligt ist?

Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Frage möglichst elegant zu beantworten. Miri setzt ein fieses Grinsen auf. Ausgerechnet sie. War ja klar. Ruhig bleiben. Mein Ziel: Heute Abend keine Blamagen!

»Hannah, wie viele Freunde hattest du schon?«, erkundigt sie sich unschuldig.

Ja. Das war’s dann mit meinem Plan.

So eine blöde Kuh! Sie will mich bloßstellen. Vermutlich hat sie im Moment von Jans Erscheinen meine Nervosität bemerkt. Ich spüre seinen kühlen Blick auf mir und bemühe mich krampfhaft, die Fassung zu wahren.

»Noch keinen«, murmle ich mit zusammengebissenen Zähnen. Am liebsten würde ich Miri umbringen. Sie weiß ganz genau, dass ich total unerfahren bin. Und dank ihr ist Jan jetzt ebenfalls darüber informiert. Wieso tut sie mir das an?

Ich höre das Klopfen meines Herzens so laut in den Ohren, dass ich Miris Reaktion kaum registriere. In meinem Kopf dreht sich alles – verdammter Alkohol. Jetzt schnell die Flasche anstupsen und die Sache ist erst mal ausgestanden.

Ich versetze sie in Bewegung. Was, wenn sie bei Jan stehen bleibt? Ich habe keine Ahnung, was ich ihn fragen könnte. Mein Kopf ist leer. Himmel, ich werde mich gleich richtig blamieren.

Die Flasche wird auf ihn zeigen. Ich weiß es. Sie wird auf ihn zeigen. Die Flasche …

Die Flasche stoppt mitten in der Bewegung.

Sie zeigt auf Jan. Ich wusste es.

Er fixiert mich. Wieder blendet mein Gehirn alle Störfaktoren aus. Die Welt scheint auf uns beide zusammengeschrumpft zu sein. Wir starren uns an. Mein Kopf ist leer. Ich öffne den Mund, ohne irgendeinen Plan zu haben, was ich gleich sagen werde.

Im selben Moment fliegt die Tür auf, und Denise kommt hereingestürmt. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie dermaßen erleichtert. Alle drehen sich zu ihr und beobachten gespannt ihren Auftritt.