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Logan ist in der Welt der Schatten verschwunden, ein ruheloser Geist für alle Ewigkeiten. Es gibt kein Zurück, und Aura muss an ihre Zukunft denken … vielleicht sogar mit Zach. Als sie Abschied nimmt, steht Logan jedoch wieder vor ihr – greifbarer als je zuvor, nicht als violettes Licht, sondern für kurze Zeit körperlich fassbar … küssbar! Seine Rückkehr stellt nicht nur Auras Herz auf den Kopf, sondern alles, was sie bisher über den Shift und Geister wusste. Sie muss mehr erfahren, doch dazu braucht sie die Hilfe beider Jungs …
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Seitenzahl: 525
© Szemere Photography
DIE AUTORIN
Jeri Smith-Ready hat Umweltpolitik studiert und lebt mit ihrem Mann, zwei Katzen und einem pensionierten Renn-Windhund in Maryland. Für ihre Romane hat sie bereits mehrere Preise gewonnen. »Aura« ist ihre romantische Serie um die geheimnisvolle Welt nach dem Shift und die junge Geisterseherin Aura Salvatore.
Jeri Smith-Ready
Aura
Geküsst von einem Geist
Aus dem Amerikanischen von Britta Keil
Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2014Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenDie Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Shift« bei Simon Pulse, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division.© 2011 by Jeri Smith-ReadyAus dem Amerikanischen von Britta KeilLektorat: Katarina GanslandtUmschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,unter Verwendung eines Motivs von MILA Zed / ShutterstockMG · Herstellung: ReDSatz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-13769-4www.cbj-verlag.de
Für alle Musiker.Ohne Musik wären viele Sachen undenkbar –Bücher schreiben zum Beispiel, oder leben.
Erstes Kapitel
Seine letzte Playlist. Sucks to be a Ghost (Sometimes). Ich hielt den Atem an, als die letzte Strophe des letzten Songs begann.
In den vier Jahren, die ich mit Logan zusammen gewesen war, hatte er mir unzählige musikalische Botschaften hinterlassen – eine kostbarer als die andere: zum Beispiel den selbst zusammengestellten Balladen-Mix Missing the Shit out of You, die Punk-Hip-Hop-Compilation Songs for Breaking Stuff und den Mix How to Not Hate Calculus, den ich »Streberrock« getauft hatte, weil er der perfekte Soundtrack zum Lernen war.
Ein paar davon hatte er mir auf CD gebrannt. Schatzkästchen aus Plastik, fein säuberlich einsortiert in meinem Bücherregal. Andere hörte ich auf dem MP3-Player, der auf meinem Nachttisch lag und mir half, in den Schlaf hinüberzudämmern.
In den vergangenen zehn Wochen hatte ich alle Playlists durchgehört. Jeden Abend eine. Am offenen Fenster stehend, hatte ich gebannt jeder einzelnen Note gelauscht und gewartet. Seinen Namen gerufen. Zugesehen, wie mein Atem sich in der kalten Winterluft in Dampfwolken verwandelte.
Solange mir seine Musik nicht ausging, hatte ich noch Hoffnung, er würde zurückkehren. Aber nun verklang mit ein paar leisen Akkorden auch der allerletzte Song, der mich so schmerzlich daran erinnerte, wie oft Logan mir auf der Gitarre vorgespielt und dazu gesungen hatte. Auf dem Originalalbum war er nicht mehr als ein Bonustrack gewesen – eine Fußnote –, für mich war er der Strohhalm, an den ich mich verzweifelt geklammert hatte.
Alle waren sich sicher, dass Logan nie wieder zurückkommen würde. Wenn ein violett schimmernder Geist erst einmal zu einem dunklen, wütenden Schatten mutiert ist, ist es endgültig vorbei. Seine Seele, all seine Gedanken und Sehnsüchte sind für alle Ewigkeit ausgelöscht.
Ein zum Schatten gewordener Geist kann nicht länger unter den Menschen weilen – es sei denn, um sie zu quälen oder in den Wahnsinn zu treiben.
Er kann nichts mehr klären, nichts wiedergutmachen.
Nicht in die nächste Sphäre hinüberwechseln und Frieden finden. Niemals.
Zum Schatten zu mutieren ist eine Reise in die Hölle. Ohne Rückfahrschein.
Allerdings gab es da etwas, das außer mir niemand wusste: Logan war schon einmal aus der Hölle zurückgekehrt. Er hatte sich von einem Geist in einen Schatten und wieder zurück in einen Geist verwandelt – genau hier, in unserem Vorgarten.
Wenn er es ein Mal geschafft hatte, konnte er es auch ein zweites Mal schaffen. Ich musste nur fest daran glauben. Und warten.
Am Anfang war mir das Warten noch relativ leichtgefallen – den ersten Tag, die erste Woche, den ersten Monat –, denn ich konnte mich mit den schönen Erinnerungen aus seiner Zeit als Geist über Wasser halten: wie wir uns auf seiner Trauerfeier heimlich im Beichtstuhl getroffen hatten. Wie er im Gerichtssaal gesagt hatte, ich sei das Einzige, was er jemals gewollt habe. Wie wir nebeneinander auf meinem Bett gelegen hatten und meine nackte Haut in seinem geisterhaften Licht violett schimmerte.
Doch als der eisige Winter einem lauen Frühling wich und der Schnee taute, gewannen immer öfter die schrecklichen Erinnerungen die Oberhand: Ich musste daran denken, wie eifersüchtig Logan auf meine Freundschaft mit Zachary gewesen war, wie er getobt hatte und beinahe zum Schatten mutiert wäre, weil ich mit ihm Schluss gemacht hatte, und wie er dann tatsächlich zu einem geworden war, als er versucht hatte, hinüberzuwechseln und ewigen Frieden zu finden.
Wenn ich an den Abend im Green Derby Pub dachte, versetzte es mir jedes Mal einen schmerzhaften Stich. Logan hatte alle Menschen eingeladen, die ihm am Herzen lagen, um sich von ihnen zu verabschieden. Zuerst mit Worten, indem er eine kleine Rede gehalten hatte, und dann mit Musik, als er den irischen Klassiker The Parting Glass sang, von seinem Bruder auf der Gitarre und von seiner Schwester auf der Fiedel begleitet. Es hätte das perfekte Finale sein können – sein Abschied von dieser Welt. Für immer.
Doch als das strahlend goldene Licht in seinem Inneren gerade zu pulsieren begann, ging irgendetwas schief. Plötzlich sprühte er schwarze Funken, verwandelte sich vor unseren Augen in einen Schatten und wurde schließlich ganz von der Dunkelheit verschlungen. Was ein Moment des Glücks hätte sein sollen, endete in Scham, Kummer und Verzweiflung. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.
Ich umklammerte das Fensterbrett fester, als der Sänger seine letzten flehenden Worte flüsterte und einen sachten Schlussakkord anschlug. In die darauf folgende Stille mischten sich die nächtlichen Geräusche Baltimores: das Summen einer flackernden Straßenlaterne, das Ächzen der Bäume im Wind, das entfernte Jaulen einer Sirene.
Ich hatte keine Musik mehr, um ihn zu locken. Nur noch Worte.
»Logan, wo bist du?« Mit dem Daumen ertastete ich unsere Initialen, die er einmal in die Unterseite des Fensterbretts geritzt hatte, und das gab mir die Kraft weiterzusprechen. »Ich weiß genau, dass du so, wie du jetzt bist, nicht sein willst!«, rief ich. »Ich weiß, dass du zurückkommen willst. Also bitte, tu es. Komm zurück!«
Zweifel und Angst schnürten mir die Kehle zu. Was, wenn er gar nicht zurückkommen wollte? Nicht einmal um meinetwillen? Ich brauchte Gewissheit, egal wie weh es tat.
»Oder bist du womöglich glücklich so? Möchtest du ein … ein Schatten bleiben? Wenn ich dich aufgeben soll, dann sag es mir einfach. Gib mir ein Zeichen.« Ich schloss die Augen und wartete – vielleicht zum letzten Mal.
Ein markerschütternder Schrei dröhnte in meinem Schädel. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, konnte aber das Fensterbrett nicht loslassen. Ich musste mich festhalten, um nicht ins Bodenlose zu stürzen, musste um jeden Preis verhindern, dass mein Körper und mein Geist unter Logans verzweifelter Wut zerbarsten.
Er rauschte durchs Fenster und durch mich hindurch wie ein schwarzer Sturm, der alle Energie aus mir heraussaugte. Am ganzen Körper zitternd, sank ich zu Boden und mir wurde so übel, dass ich würgen musste.
»AURA!! ICH HABE DIR GESAGT, DASS DU NICHT AUF MICH WARTEN SOLLST!!«
»Ich höre aber … nicht … auf Schatten«, stammelte ich, obwohl ich kaum mehr klar denken konnte.
Sein nächster schriller Schrei hob meine Welt endgültig aus den Angeln und ich verlor die Kontrolle. Es kam mir vor, als raste ich in einem entgleisten Waggon durch eine Achterbahn. Ich verkrallte mich in den Teppich, kämpfte dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren, und versuchte verzweifelt, ein anderes Bild von Logan in mir heraufzubeschwören: Logan, wie er vor einem knappen halben Jahr mit der Band auf der Bühne gestanden hatte, ein paar Stunden bevor er starb, mit blond gefärbten Haaren, die im Scheinwerferlicht fast weiß aussahen, und meerblauen Augen, die vor Hingabe funkelten. Mein Shootingstar.
»Mir kannst du nichts vormachen, Logan«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du brennst vor Leidenschaft hell wie eine Fackel.«
Von einem Moment auf den anderen wurde es so still, als hätte jemand ein Leichentuch über die Welt geworfen.
Er war fort.
Ich kniff die Augen fest zusammen, weil ich den Anblick meines leeren Zimmers nicht ertragen hätte. Schwindelgefühl und ohnmächtige Trauer drückten mich zu Boden. Am liebsten wäre ich einfach für immer so liegen geblieben.
Doch dann nahm ich hinter geschlossenen Lidern auf einmal ein helles violettes Leuchten wahr, schnappte nach Luft und öffnete die Augen.
»Wow.«
Als ich Logans andächtiges Flüstern hörte, blieb mir fast das Herz stehen. Vor mir standen seine knöchelhohen Vans, die in der Dunkelheit violett schimmerten. Mein Blick wanderte an seinen Skater-Shorts hinauf zu seinem Hemd, das aufgeknöpft war, genau wie in der Nacht, als er starb. Und dann schaute ich ihm ins Gesicht.
»Aura, es hat funktioniert!«, rief er, als könnte er es selbst nicht fassen. Er hob seinen schimmernden Arm und betrachtete ihn fasziniert, dann sah er erschrocken zu mir herunter. »Oh Gott, ist alles okay mit dir?« Er kniete sich vor mich hin und streckte die Hand nach mir aus, wie er es schon Hunderte Male zuvor getan hatte – als Lebender und als Geist. »Hab ich dir irgendwie wehgetan? Bist du verletzt? Soll ich Hilfe holen?«
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf. Das Schwindelgefühl ließ langsam nach. Ich wollte etwas sagen, aber die Tränen erstickten meine Stimme.
»Hey, hey, bitte nicht weinen«, sagte Logan sanft und streichelte über meine Wange, auch wenn ich die Berührung nur mit dem Herzen fühlen konnte. »Du weißt, dass ich das nicht ertrage.«
Ich hob den Blick und sah ihn an. Alles an ihm war mir so vertraut: seine Stimme, sein Lächeln, der violette Schimmer, der heller zu leuchten schien als bei allen anderen Geistern.
Er war es wirklich. Er war wieder da.
Ich stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Schluchzen und Lachen klang. »Ich habe gedacht, ich sehe dich nie wieder.«
»Oh nein, das hast du nicht eine Sekunde lang gedacht, Aura. Du hast an mich geglaubt«, flüsterte er zärtlich. »Ich liebe dich.«
»Und ich dich.« Ich wischte mir die Tränen weg, doch es kamen sofort neue nach.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Logan. »Ich bin wirklich hier. Lass dich anschauen.« Mit zitternden Fingern zeichnete er den Umriss meines Körpers nach, als müsste auch er sich vergewissern, dass ich wirklich da war. »Hey, Baby, kann es sein, dass du in letzter Zeit ziemlich wenig geschlafen hast?«, fragte er besorgt.
Ich rieb mir die Augen. »Ich habe solche Angst um dich gehabt«, sagte ich mit gedämpfter Stimme, weil ich Tante Gina, die im Zimmer nebenan schlief, auf keinen Fall wecken wollte. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Logan stieß einen tiefen Seufzer aus und presste die Hände an die Schläfen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. In meinem Kopf tobt immer noch ein Wirbelsturm.«
»Lass dir ruhig Zeit. Komm, setz dich erst mal.« Ich klopfte neben mich auf den Teppich. Aus irgendeinem Grund hatte ich Panik, Logan würde womöglich wieder verschwinden, wenn ich ihn nicht dazu brachte, sich zu setzen. »Fang einfach ganz von vorne an. Warum hast du dich überhaupt in einen Schatten verwandelt?«
Er setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber und ließ erschöpft die Schultern hängen. »Eigentlich hatte ich vor, am Abend nach der Gerichtsverhandlung hinüberzuwechseln. Das war doch der Sinn der ganzen Veranstaltung, oder?«
»Ja, schon.« Meine Tante arbeitete in einer Anwaltskanzlei und war darauf spezialisiert, den Geistern von Menschen, die durch Gewaltverbrechen ums Leben gekommen waren, zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Sie war der festen Überzeugung, dass sie erst dadurch ihren Seelenfrieden finden und in die nächste Sphäre hinüberwechseln könnten.
»Nachdem wir den Prozess gewonnen hatten, habe ich mich blendend gefühlt, so als wäre ich total im Reinen mit mir und der Welt. Als hätte ich alles gesagt, was noch zu sagen war.« Er rieb sich übers Gesicht. »Aber während des Abschiedskonzerts im Green Derby war ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher.«
»Dylan hat mir erzählt, du hättest dich beschmutzt gefühlt.« Ich dachte daran zurück, wie schuldbewusst Logans jüngerer Bruder ausgesehen hatte. »Er macht sich Vorwürfe, weil er dich nicht davon abgehalten hat, hinüberwechseln zu wollen, obwohl er nach eurem Gespräch schon geahnt hat, dass du eigentlich noch nicht bereit bist.«
»Das darf er nicht! Es war ganz allein meine Schuld! Ich habe mich beschmutzt gefühlt, weil ich mich schon einmal kurz in einen Schatten verwandelt hatte. Außerdem hat mich der Gedanke fix und fertig gemacht, was ich euch allen angetan habe, dir und meinen Eltern und meinen Geschwistern.« Er senkte den Blick. »Und der Gedanke daran, dich für immer zu verlieren.«
Ich wickelte mir eine Haarsträhne um den Finger und spürte, wie das schlechte Gewissen in mir aufstieg. »Aber du hast so glücklich gewirkt, als wir uns verabschiedet haben …«
»Weil ich es sein wollte. Ich wollte dich mit einem guten Gefühl zurücklassen, dich und mein ganzes Leben hier. Aber so wie es aussieht, war ich einfach noch nicht so weit.«
Es verletzte mich, dass er seine Zweifel Dylan anvertraut hatte und mir nicht. Er musste wohl gespürt haben, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, endlich wieder ein richtiges Leben zu haben.
»Warum hast du dir nicht mehr Zeit gegeben, wenn du noch nicht bereit warst?«
»Weil ich euch nicht enttäuschen wollte. Euch und all die Leute, die extra gekommen waren, um sich von mir zu verabschieden. Und den Rest meiner Familie. Dass ich tot bin, ist schon schlimm genug. Ich habe gedacht, es wäre vielleicht einfacher für sie, wenn ich hinüberwechsle.« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Stattdessen habe ich alles nur noch schlimmer gemacht.«
Es tat wahnsinnig weh, ihm dabei zuzusehen, wie er den schrecklichen Moment noch einmal durchlebte, aber ich musste genau wissen, was geschehen war. »Was ist passiert?«, fragte ich noch einmal.
Logan ließ die Hände sinken und warf mir einen gequälten Blick zu. »Ich war fast da, Aura. Ich konnte den Himmel schon sehen. Die Pforte stand offen, ich sah das Licht und hörte diese geniale Musik. Und dann – bäm!«, er ließ seine Faust geräuschlos in die Handfläche sausen, »… knallte mir die Tür vor der Nase zu und plötzlich war es wieder stockfinster. Es hat sich angefühlt, als würde ich in einer einzigen Sekunde hundertmal sterben.« Er fuhr sich durch die hochgegelten Haare. »Tja, und dann bin ich durchgedreht und zum Schatten mutiert. Es tut mir so leid.«
»Aber jetzt bist du wieder ein Geist, Logan. Das ist das Einzige, was zählt.« Wie gern hätte ich seinen Kummer mit einer einzigen Berührung weggewischt, aber das ging ja nicht. Stattdessen nestelte ich hilflos an der Knopfleiste meines kurzen dunkelvioletten Seidennachthemds. »Was ist passiert, nachdem du zum Schatten mutiert bist? Wo warst du die ganze Zeit?«
»Wieso die ganze Zeit?« Er sah sich in meinem Zimmer um. »Welcher Tag ist heute?«
»Der 20. März.« Ich warf einen Blick auf die blau leuchtenden Ziffern des Digitalweckers auf meinem Nachttisch. »Oh, stimmt nicht. Seit acht Minuten ist sogar schon der 21.«
»Krass – das sind fast drei Monate!« Logan brauchte einen Moment, um diese Erkenntnis zu verdauen. »Ich wusste nicht, ob Tag oder Nacht ist. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich mich von den Menschen fernhalten muss.« Er zog die Knie an die Brust und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich wollte nicht noch mehr Unglück über die Welt bringen.«
Damit hatte sich Logan den Mächten des Bösen länger widersetzt als die meisten anderen Schatten. Die bloße Anwesenheit dieser dunklen Kreaturen schwächte jeden, der Geister sehen konnte – Leute wie mich und alle, die jünger waren als ich.
Obwohl Schatten immer noch selten waren – Logan mit eingerechnet hatte ich in meinem Leben erst vier gesehen –, war ihr Auftauchen längst nichts Ungewöhnliches mehr. Nachdem vor ein paar Jahren drei Jugendliche wegen eines Schattens vom Balkon gestürzt waren, hatte das Federal Department of Metaphysical Purity, die staatliche Behörde zur Aufrechterhaltung der metaphysischen Ordnung, eine neue Spezialeinheit gegründet: das Obsidian Corps. Während sich das DMP (zumindest offiziell) ausschließlich um Forschung und Technologie kümmerte, hatten die Leute vom Obsidian Corps den Auftrag, Schatten auszurotten.
Doch weil sich Schattenwesen jedem Zugriff entzogen, setzten die Obsidians kurzerhand alle Geister fest, die unter Verdacht standen, bald zu mutieren – sogenannte »gefährdete Objekte«. Das hieß, man sperrte sie in ein schwarzes versiegeltes Kästchen, aus dem sie nie wieder herauskamen.
Viele unschuldige Geister waren auf diese Weise schon gefangen genommen worden – Seelen, die Hilfe brauchten, keine Bestrafung. Logan wollte ich dieses Schicksal um jeden Preis ersparen.
»Wie hast du es geschafft, dich in einen Geist zurückzuverwandeln?«
»Du hast mich gerufen und ich bin zu dir gekommen«, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Du hast es geschafft, mich zurückzuverwandeln, Aura.«
Ich blinzelte verwirrt. »Aber ich habe jeden Abend nach dir gerufen, seit du zum Schatten geworden bist.«
»Keine Ahnung. Ich habe dich heute das erste Mal gehört. Es war einfach zu laut.« Er hielt sich die Ohren zu. »Da war so ein permanentes Fiepen und Quietschen wie bei einer Rückkopplung aus einer Million Verstärkern.«
»Oh Mann, das muss die reinste Folter gewesen sein.«
»Ja, war es.« Logans Stimme zitterte. »Die Hölle gibt es wirklich, Aura. Ich war da, und ich will nie wieder dorthin zurück.«
»Das werde ich auch nicht zulassen«, erwiderte ich und glitt mit meiner Hand durch seine. Am liebsten hätte ich ihn einfach nur festgehalten und nie wieder losgelassen, aber ich wusste, dass Logan nicht für immer bei mir bleiben konnte. »Glaubst du denn, dass du jetzt hinüberwechseln kannst?«, fragte ich.
Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Nein, ich fürchte, ich bin immer noch nicht so weit. Da sind noch zu viele negative Schwingungen in mir. Aber damit sich das ändert, muss ich mich ändern. Mir ist klar geworden, dass es nichts bringt, weiter in Selbstmitleid zu zerfließen oder irgendwelchen Leuten hinterherzurennen, bei denen ich mich ausheulen kann. Denn genau das habe ich getan, als ich ein Geist war.«
»Genau wie alle anderen Geister! Und ehrlich gesagt kann ich euch gut verstehen. Es muss frustrierend sein, wenn man nirgendwohin kann, wo man zu Lebzeiten noch nie war, und keine Möglichkeit hat, sich mit Schicksalsgefährten auszutauschen, weil man sie nicht sehen kann.« Das Leben als Geist war wirklich verdammt langweilig und deprimierend, was auch der Grund dafür war, dass die meisten direkt in die nächste Sphäre überwechselten, selbst wenn es auf Erden etwas – oder jemanden – gab, an dem sie hingen. »Und was willst du jetzt machen?«
»Ich hab da schon ein paar Ideen«, erwiderte er aufgeregt. »Okay, pass auf.« Er rutschte ein Stück näher an mich heran. »Als ich ein Schatten war, haben mich drei Dinge davor bewahrt, endgültig durchzudrehen. Erinnerst du dich noch daran, wie ich mal zu dir gesagt habe, dass ich im Leben gern mehr getan hätte, um die Welt zum Guten zu verändern? Jetzt habe ich die Möglichkeit, wirklich was zu bewegen!« Er sah mich eindringlich an. »Ich bin der Erste, der sich von einem Schatten zurück in einen Geist verwandelt hat, oder?«
»Soweit ich weiß, schon.«
»Es gibt einen Haufen Leute, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie ich an dem Abend im Green Derby zum Schatten mutiert bin. Wenn bekannt wird, dass so eine Verwandlung umkehrbar ist, hören die Obsidians vielleicht auf, gefährdete Geister einzusperren, und suchen stattdessen nach Wegen, ihnen zu helfen.« Logan machte eine kurze Pause. »Vielleicht können wir rausfinden, wie man ihnen helfen kann, du und ich.«
»Ja, vielleicht.« Beim Gedanken an den neuen Medienrummel, den das unweigerlich nach sich ziehen würde, bekam ich Magenschmerzen. Aber grundsätzlich hatte Logan recht. Statt vor der Welt davonzulaufen, war es an der Zeit, sie zu verändern. »Übrigens sind die beiden Agenten vom Obsidian Corps, die hinter dir her waren, von der Presse in der Luft zerrissen worden.«
»Sehr gut. Ich habe mitbekommen, wie brutal sie im Green Derby auf dich und Dylan losgegangen sind. Haben sie dich verletzt?«
»Nicht wirklich. Ich hatte höchstens ein paar Kratzer.« Ich rieb mir mein Handgelenk, das schon verstaucht gewesen war, bevor ich einem der Agenten die Faust in den Magen gerammt hatte.
Logan legte den Kopf schräg und grinste. »Heißt das, mein Fall ist durch die Presse gegangen? Bin ich jetzt berühmt?«
Für meinen Geschmack sah er bei dieser Frage ein bisschen zu selbstzufrieden aus, weshalb ich das Thema wechselte. »Du hast von drei Dingen gesprochen. Was waren die anderen beiden?«
Seine Miene hellte sich auf. »Musik. Ich will unbedingt wieder Musik machen.«
»Aber du weißt doch, dass Mickey und Siobhan keine Geister sehen und hören können.« Sein Bruder Mickey und dessen Zwillingsschwester Siobhan waren schon achtzehn und damit vor dem Shift geboren.
»Na und? Dann mache ich eben mit Post-Shiftern Musik. Ist ja durchaus von Vorteil, wenn man während der Proben mit seinen Bandkollegen kommunizieren kann.«
»Und was ist mit dem Publikum?«
»Was soll damit sein? Du kannst mich hören – genau wie alle anderen, die jünger sind als du.« Er grinste. »Wir konzentrieren uns auf die Post-Shifter als Hauptabsatzmarkt und werden die erste Band sein, die nur für euch spielt. Ich sage dir, die Labels werden Schlange stehen, um uns unter Vertrag zu kriegen.«
Ich starrte Logan ungläubig an. Wie konnte er sich so darüber freuen? Schließlich war es die Aussicht auf einen Plattenvertrag gewesen, die ihn indirekt das Leben gekostet hatte. Um ihm einen Vertrag bei ihrem Label noch schmackhafter zu machen, hatten die A&R-Manager von Warrant Records ihm Kokain zugespielt, das ihn in Kombination mit reichlich Alkohol am Ende umgebracht hatte.
Da war er wieder – der Logan, den ich kannte –, und so wie es aussah, war er nur ein klitzekleines bisschen weiser als zuvor. Ich hoffte, dieses bisschen mehr Weisheit würde reichen, um ihn davor zu bewahren, weitere Dummheiten zu machen.
»Ich habe in Gedanken ganz viele Songs geschrieben«, erzählte er mir begeistert. »In den Texten geht es hauptsächlich darum, wie es sich anfühlt, ein Geist und ein Schatten zu sein.« Seine Miene wurde sanft, fast feierlich. »Und darum, dass ich immer wieder sterben würde, wenn ich dafür die Chance bekäme, dich noch ein einziges Mal zu berühren.«
Er strich mit seiner schimmernden Geisterhand über meine eigene aus Fleisch und Blut, und einen winzig kleinen Augenblick lang kam es mir so vor, als würde ich einen leichten Lufthauch spüren. Aber das war nur Einbildung. Wunschdenken.
»Der dritte Grund, nicht aufzugeben, warst du, Aura. Der einzige, der wirklich zählt.«
Mein Herz zog sich zusammen. Logan war meinetwegen zurückgekehrt, aber wollte ich diese Rolle überhaupt?
Rückblickend kam es mir so vor, als hätte ich an dem Abend, an dem er zum Schatten mutierte, die Pause-Taste gedrückt und mein Leben angehalten.
Als der Frühling kam, war mein Leben wieder weitergelaufen – wenn auch nur in Zeitlupe. Ich hatte mich mit meiner besten Freundin Megan getroffen, war mit Tante Gina Shoppen gewesen und hatte mir ein Fußballmatch angeschaut, bei dem Zachary mitspielte. (Das Spiel selbst langweilte mich zu Tode, aber Zachary zuzuschauen machte Spaß – mehr, als ich mir eingestehen wollte.)
Nachdem Logan nun wieder da war, hätte ich eigentlich auf Play drücken und mein Leben wieder in Echtzeit abspielen können. Aber würde mich das wirklich glücklich machen? »Logan, ich … ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Ob du was kannst?«, fragte er und lächelte dabei, aber seine Stimme klang ein bisschen kratzig.
»Mit dir zusammen sein … als Geist.« Es auszusprechen tat weh, es war, als würden mir die Worte die Kehle aufschlitzen. »So wie früher.«
Logans Lächeln erstarb. Er rang nach Worten. »Aura, ich …« Er sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. »Aber ich bin nur deinetwegen zurückgekommen!«
»Nicht nur meinetwegen. Auch um dich selbst zu retten.«
»Du hast mich gerettet.« Es klang fast wie eine Anklage. »Du hast das erst möglich gemacht.«
»Das wissen wir doch gar nicht genau. Aber davon abgesehen hast du zu mir gesagt, dass ich nicht auf dich warten soll, schon vergessen?«
Logan blieb stehen. »Nein … Aber das habe ich nur gesagt, weil ich ein Schatten war. Und jetzt bin ich wieder ein Geist.«
»Wir haben uns schon voneinander verabschiedet, bevor du dich zum ersten Mal in einen Schatten verwandelt hast.«
»Und all deine Versuche, mich zurückzuholen …« Er hob beschwörend die Hände. »Hat das denn gar nichts zu bedeuten?«
»Ich habe dich nicht gerufen, weil ich wieder mit dir zusammen sein wollte, sondern weil ich wusste, dass du die Hölle durchlebst. Ich habe dich gerufen, weil ich dich liebe.«
»Aber wenn du mich liebst, musst du …« Er machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen. »Oder gibt es einen anderen? Bist du jetzt etwa mit diesem Schotten zusammen?«
»Ich bin mit überhaupt niemandem zusammen. Aber es stimmt, dass ich Zachary mag.« Mir fiel auf, dass ich Logan nicht in die Augen schauen konnte, als ich Zacharys Namen aussprach, genauso wie ich Zachary nicht ansehen konnte, wenn ich von Logan sprach.
»Du magst ihn? Was soll das heißen? Du magst auch Musik und Football und Schokokekse.« Logan verstummte. »Was bedeutet mögen in Bezug auf ihn?«
»Dass wir miteinander befreundet sind.« Ich spürte einen kalten Luftzug auf meinen nackten Armen. Das Fenster stand immer noch offen.
»Und?«
»Und morgen Abend sind wir verabredet.« Ich stand auf und wankte zum Fenster hinüber. »Im Maryland Science Center eröffnet eine Ausstellung über historische Astronomie.«
»Ach so, dann geht es um dieses Schulprojekt«, sagte Logan erleichtert. »Um deine Facharbeit, ja?«
»Unsere Betreuerin hat dafür gesorgt, dass wir beim Eröffnungsempfang dabei sein können, der nur für geladene Gäste ist. Das ist eine ziemliche Ehre.« Meine Hand zitterte so sehr, dass sie beinahe vom Fenstergriff abrutschte. »Vorher gehen wir zusammen essen.«
»Mit eurer Betreuerin?«
Ich verriegelte das Fenster. »Nein.«
Plötzlich war es still im Zimmer. Dass Logan noch immer hinter mir stand, merkte ich nur daran, dass sich sein violetter Schimmer in der Scheibe spiegelte.
»Mit wem gehst du eigentlich zum Abschlussball?«, fragte er nach einer kurzen Pause.
»Keine Ahnung. Bis jetzt hat mich noch niemand gefragt.« Zumindest niemand, den ich mochte.
»Ich habe dich damals gefragt, einen Tag nach dem Schulball, weißt du noch?« Logan trat neben mich. »Lass uns zusammen hingehen.«
Dieser Vorschlag war so absurd, dass er mich eigentlich hätte zum Lachen bringen müssen, doch stattdessen war mir nach Heulen zumute.
Damals. Damals hatten wir geglaubt, wir hätten alle Zeit der Welt. Nicht mal eine Woche später war Logan tot.
»Du kannst nicht mit.« Ich zwang mich dazu, ihn anzusehen. »Die Ridgewood High ist doch komplett versiegelt.«
»Dann tanzen wir eben draußen. Im Mai ist es schon warm. Wir überreden alle, mit uns rauszukommen. Das wird eine Mega…«
»Logan, du bist tot.«
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Das hat dich vorher auch nicht gestört«, sagte er mit versteinerter Miene. »Weder in den Nächten, in denen ich neben dir lag, noch wenn ich dir Sachen ins Ohr geflüstert habe, während du es dir selbst gemacht hast.«
Mir stockte der Atem.
Logans Hand wanderte langsam zu seinem Mund. Er starrte mich mit großen Augen an, dann taumelte er rückwärts. »Oh Gott, Aura, es tut mir so leid. Ich kann nicht fassen, dass ich das gerade wirklich gesagt habe.«
Ich verbarg mein glühend heißes Gesicht in den Händen. So grob hätte Logan früher nie mit mir geredet. Was hatte das Schattendasein mit ihm gemacht? »Als wäre es dabei nur um mich gegangen!«
»Du hast recht. Ich fand es auch total schön! Du warst wunderschön. Und bist es immer noch.« Er kam wieder näher und ich sah sein violettes Licht zwischen meinen Fingern hindurchleuchten. »Ich weiß, dass unsere gemeinsame Zukunft ein bisschen anders aussehen würde, als wir sie uns immer vorgestellt haben, aber wenigstens könnten wir jetzt wieder eine gemeinsame Zukunft haben, oder?«
»Ich kann das nicht mehr«, flüsterte ich in meine Hände hinein. »Versprich mir, dass wir ab jetzt einfach nur Freunde sind, oder verlass mich für immer.«
»Na schön. Freunde. Was immer du willst.« Der Klang seiner Stimme verriet, wie viel Angst er hatte, mich ganz zu verlieren. »Du weißt, dass ich das so meine, wie ich es sage. Geister können nicht lügen. Aura, sieh mich an.«
Ich ließ die Hände sinken und Logan beugte sich zu mir herunter. Unter dem offenen Hemd konnte ich seinen nackten Oberkörper sehen – und den Schriftzug mit meinem Namen, den er sich übers Herz hatte tätowieren lassen. Ein Tattoo für die Ewigkeit.
»Versprich es mir«, sagte ich.
»Ich habe eine bessere Idee.« Er streckte mir die Hand hin und spreizte die Finger. »Spinnenschwur.«
Jetzt musste ich doch lachen. Dieses geheime Ritual hatten wir uns ausgedacht, als wir sechs Jahre alt gewesen waren, und es war uns mindestens so heilig wie ein Blutschwur. Noch nie hatte einer von uns den Spinnenschwur gebrochen.
Ich hob die Hand und legte sie in seine. Dann krümmten wir unsere Finger und ließen sie zappeln wie acht Spinnenbeine, wobei unsere abgespreizten Daumen die Fühler waren.
»Spinnenschwur«, sagten wir gleichzeitig und schauten uns dabei so ernst und feierlich in die Augen wie damals, als wir noch Kinder waren.
Plötzlich spürte ich etwas Warmes und schaute erschrocken auf unsere Hände.
»Wow«, flüsterte Logan in die Stille hinein.
Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Das war unmöglich!
Ich konnte ihn spüren.
Ich spürte eine warme Hand an meiner, spürte unsere ineinander verschränkten Finger, aber das konnte nicht sein.
»Nicht bewegen«, flüsterte Logan.
In diesem Moment wurde mir klar, dass das alles nur ein Traum war. Logan war nicht zu mir zurückgekommen. Er streifte immer noch als Schatten in der Welt umher und vergiftete Post-Shifter mit seiner Bitterkeit.
Er war noch immer in der Hölle.
Ich schloss die Augen. Warme Tränen rollten mir über die Wangen. »Ich will nicht aufwachen. Bitte, lieber Gott, lass mich weiterträumen.«
Ich spürte eine zärtliche Berührung im Gesicht und zuckte zusammen. Das konnte nur Tante Gina sein, die mich jeden Augenblick wachrütteln würde, um mich zu fragen, ob ich frühstücken will.
Aber die Hand an meiner Wange war nicht weich und kühl wie die von Tante Gina, sie war warm und die Fingerspitzen waren leicht schwielig wie die eines …
… Gitarristen.
»Aura«, flüsterte Logan, »das ist kein Traum.«
Ich öffnete die Augen und sah seine Hand an meiner Wange.
Logan. Er berührte mich.
Mit zitternden Fingern schob ich sein Hemd zur Seite und legte meine Hand auf seine nackte Brust. Seine Haut schimmerte nicht mehr violett, sie sah aus wie damals, als er noch am Leben war.
Als ich seinen Herzschlag unter meiner Hand spürte, fing mein eigenes Herz wie wild an zu pochen. »Wie ist das möglich?«
»Ich habe keine Ahnung, aber es ist mir auch egal«, sagte er. Und dann küsste er mich.
Zweites Kapitel
Es war ein einziges Hoffen und Bangen.
Während ich Logan dabei zusah, wie er die Tür abschloss und im selben Moment darüber staunte, dass er tatsächlich wieder in der Lage war, einen Schlüssel zu drehen.
Während er mich auf seinen Armen zum Bett trug so wie früher, als er noch ein Junge aus Fleisch und Blut gewesen war.
Während er mich küsste und streichelte – ungeduldig, aber dennoch mit Bedacht, als wollte er sich genau einprägen, wie ich schmeckte und wie ich mich anfühlte, so als wäre ich diejenige, die jeden Augenblick verschwinden könnte.
Ein einziges Hoffen und Bangen, dass sich das Universum keinen brutalen Scherz mit uns erlaubte.
Als ich Logan das Hemd ausziehen wollte, lachte er nervös. »Ich hab das Ding jetzt seit fünf Monaten an.«
»Dafür riecht es gar nicht mal so schlecht.« Er hingegen roch verdammt gut. Ich schmiegte mich an seinen nackten Oberkörper, sog seinen Duft tief in mich ein und fühlte mich augenblicklich in die Nacht des 18. Oktober zurückversetzt, jene Nacht, in der ich ihn das letzte Mal gespürt hatte.
»Logan, du lebst.«
»Fühlt sich ganz danach an.«
Ich ließ meine Hand zum Bund seiner Shorts wandern, doch er hielt sie fest.
»Warte.«
Ich erstarrte. Überforderte ich ihn womöglich damit, dass ich mich aufführte wie eine liebestolle Nymphomanin, obwohl ich noch vor zwei Minuten behauptet hatte, ich wolle nicht mehr mit ihm zusammen sein?
»Wer weiß, wie viel Zeit uns bleibt, bis du dich wieder in einen Geist verwandelst«, sagte ich und streichelte seine Lenden.
»Du hast recht, aber … Hast du dir die Pille verschreiben lassen, während ich … weg war?«
Ich sah ihn fassungslos an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Aura, wenn ich wirklich lebendig bin – oder zumindest vorübergehend lebendig – und wir miteinander schlafen, könntest du schwanger werden. Was dann?«
»Das ist unmöglich.«
»Wir haben es auch nicht für möglich gehalten, dass ich mich von einem Schatten in einen Geist zurückverwandle. Und trotzdem bin ich vor zehn Minuten von einem Geist zu … was auch immer ich jetzt bin geworden. Irgendetwas, was noch viel verrückter ist. Wenn du schwanger wirst und ich nicht wirklich lebendig bin, was wäre dann unser Baby? Ein Halbgeist? Ein Halbtoter?«
Ich streichelte ihm beruhigend über den Arm. Ausgerechnet Logan dachte über die Folgen seines Handelns nach? Das irritierte mich. Die Zeit als Schatten schien ihn mehr verändert zu haben, als ich gedacht hatte.
»Ich habe mir die Pille nicht verschreiben lassen. Und Kondome habe ich auch nicht da.«
Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. »Echt nicht? Na ja, ehrlich gesagt bin ich ja fast froh darüber, dass du anscheinend keinen Grund hattest, über Verhütung nachzudenken.«
»Hey, bilde dir bloß nicht ein, ich hätte mich für den Tag aufgespart, an dem du wieder einen Körper hast«, neckte ich ihn.
»Zu spät.« Er umfasste mein Kinn und küsste mich so leidenschaftlich, dass es sich anfühlte, als würde flüssige Lava durch meinen Körper schießen. Es war wie früher – bevor ich angefangen hatte, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich mit ihm schlafen wollte oder lieber noch nicht. Bevor ich Angst bekam, er könnte mich verlassen und sich irgendein Groupie schnappen, wenn ich es nicht täte.
Ich wartete darauf, dass meine alten Ängste aufs Neue erwachten. Logan war zurück und kein körperloser Geist mehr. Würden ihm die Mädchen jetzt nicht wieder scharenweise hinterherlaufen?
Vielleicht. Aber das spielte keine Rolle. Er hatte mir vor Gericht seine Liebe unter Eid geschworen. Er hatte an mich gedacht, um nicht durchzudrehen, während er ein Schatten war. Und es war mein Name, der über seinem Herzen stand. Es gab keinen Grund mehr zu zweifeln.
Jedenfalls nicht an seinen Gefühlen.
Logan hörte auf, mich zu küssen, als würde er meine Gedanken erahnen. »Das hier wird alles ändern, oder?«, fragte er.
Ich ließ meinen Blick lange auf seinem schönen Gesicht ruhen, von dem ich gedacht hatte, ich würde es für den Rest meines Lebens nur noch auf Fotos betrachten können.
»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Logan. Und das werde ich auch nie.«
Er zeichnete mit dem Daumen die Konturen meiner Lippen nach. »Auch nicht, wenn ich wieder ein Geist werde? Oder ein Schatten?«
»Niemals.«
»Und was bedeutet das für uns? Sind wir jetzt wieder ein Paar?«
Ich legte meine Hand auf seine warme Wange, spürte seine rauen Bartstoppeln und wünschte mir nichts sehnlicher, als die Zeit anhalten zu können. Dann wären wir für immer in diesem Moment vereint und es würde kein Morgen geben und keine quälenden Fragen nach der Zukunft.
»Du musst dich ja nicht sofort entscheiden …«, sagte er hastig. »Und ganz egal, wie du dich entscheidest … im Augenblick bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt.«
Eine Träne lief mir aus dem Augenwinkel die Schläfe hinunter wie heißes Wachs an einem Kerzenständer. Logan fing sie auf.
»Hey, sieh mal.« Er zeigte mir seine feuchte Fingerkuppe. »Ich hab dir gerade eine Träne weggewischt. Das ist schon mal ein guter Anfang, findest du nicht?«
Ich lächelte unsicher. »Danke.«
Sofort wurde er wieder ernst. »Es ist das Mindeste, was ich tun kann, wenn man bedenkt, dass es wahrscheinlich nur eine von Hunderten ist, die du meinetwegen geweint hast«, sagte er bitter.
Die Traurigkeit in seinen Augen versetzte mir einen Stich. Und als ich seine bebenden Lippen sah, war das, als würde jemand das Messer in meiner Brust noch einmal herumdrehen.
Nein, er durfte nicht weinen. Nicht jetzt. Ich drückte ihn sanft auf den Rücken, legte mich auf ihn und bedeckte seinen Mund mit Küssen, wobei meine Haare aufs Kissen fielen wie ein schützender dunkler Vorhang zwischen uns und der Welt.
Tief seufzend ließ er seine Hände meinen Rücken hinabgleiten – seine warmen, starken Hände, die ich zum ersten Mal seit fünf Monaten wieder spürte, wirklich spürte.
»Nicht aufhören«, flüsterte ich atemlos. »Egal, was danach kommt. Ich will dich. Jetzt.«
»Jetzt«, flüsterte er.
Wir zogen uns aus und Logan hob mich behutsam wieder auf sich. »So tut es weniger weh. Wenn ich das bei unserem ersten Versuch gewusst hätte …«
Er verstummte und wir schauten uns tief in die Augen. Wir wussten beide, wie dieser Satz zu Ende ging, auch ohne dass ihn einer von uns aussprach.
Wenn es damals weniger wehgetan hätte, hätte ich ihn nicht gebeten aufzuhören, dann wäre er an seinem Geburtstag nicht so nervös gewesen, hätte sich nicht total abgeschossen und ich hätte ihn nicht angeschnauzt, weil er fast eingepennt wäre, obwohl wir zum ersten Mal richtig miteinander schlafen wollten. Dann hätte er nicht dieses verfluchte Kokain genommen, um sich aufzuputschen …
Und wäre nicht gestorben.
Ich schloss die Augen. »Ist jetzt egal.«
»Okay, das können wir uns zumindest einreden.«
Ich küsste ihn zärtlich, endlich bereit für den letzten, großen Schritt. Doch da, wo seine Lippen sein sollten, war plötzlich nur noch der Stoff des Kissens. Ich drehte überrascht den Kopf und öffnete die Augen.
Ich war in einen violetten Schimmer gehüllt.
Logan lag immer noch unter mir, aber ich spürte ihn nicht mehr.
»Hey, was ist los?« Als er nach meinem Arm fasste, glitt seine Hand einfach durch mich hindurch. Er schaute an sich herunter, und wir sahen beide im selben Moment, dass er wieder Hemd und Skater-Shorts trug. »Oh Gott. Bitte nicht.«
»Logan?« Ich versuchte nach ihm zu greifen. Vergebens. »Logan, komm zurück!«
»Ich weiß nicht wie!«
Ich hielt ihm meine zitternde Hand hin. »Spinnenschwur. So wie eben.«
»Spinnenschwur«, sagten wir gleichzeitig, aber seine Finger glitten durch meine hindurch, als wären sie aus Luft.
Als wäre Logan aus Luft.
»Oh nein …« Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Wie konnte das passieren?«
»Keine Ahnung.« Logan wälzte sich vom Bett. »Verdammt! Verdammte Scheiße!« Er lief aufgebracht im Zimmer auf und ab, und ich bemerkte, dass seine Umrisse dunkler wurden und sich zu kräuseln begannen.
»Logan!« Ich sprang auf, um mich ihm in den Weg zu stellen, aber er rauschte einfach durch mich hindurch. »Beruhig dich oder willst du wieder zum Schatten werden?«
Er blieb stehen und fuhr sich unwirsch durch die Haare. »Ich war lebendig, Aura.« In seine Stimme mischte sich ein statisches Knistern. Dann ließ er die Hände langsam sinken und schaute mich an. »Oh Mann, wie schön du bist.« Er streckte eine Hand nach mir aus und zuckte zurück, als ein schwarzer Blitz durch seine Fingerspitzen schoss.
»Logan, sieh mich an!« Ich hätte ihn am liebsten geschüttelt, stattdessen ruderte ich hilflos mit den Armen in der Luft und spürte, wie die dunkle Energie, die er verströmte, mich schon wieder schwindeln ließ. »Sieh mich an!«
»Ich kann nicht!« Er wandte sich ab, krümmte sich vor Schmerzen und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich will dich so sehr. Aber das macht es nur noch schlimmer.«
Er versuchte verzweifelt, die bösen Mächte niederzuringen, die an ihm zerrten, während ich bloß ohnmächtig danebenstehen und nichts für ihn tun konnte. Die schwarzen Blitze schossen durch seinen Körper, als wollten sie ihn in tausend Stücke schneiden.
»Du musst dagegen ankämpfen! Bleib bei mir! Bitte!«
Gerade als ich dachte, Logan würde endgültig wieder zum Schatten mutieren, wurden die Blitze schwächer, bis sie schließlich ganz verschwanden und er wieder violett schimmerte.
Es klopfte an der Tür. »Alles okay bei dir, Aura?«, rief Tante Gina. »Ich habe dich schreien hören.«
»Verdammt.« Logan richtete sich auf. »Ich muss hier weg.«
»Nein, du bleibst!« Ich schnappte mir mein Nachthemd vom Fußboden. »Wenn dich jemand sieht, meldet er dich womöglich dem DMP. Dann kommen die Obsidians und sperren dich für immer in eines ihrer Kästchen.«
Tante Gina rüttelte am Türknauf. »Mit wem redest du, Aura? Telefonierst du etwa noch um diese Uhrzeit? Warum hast du die Tür abgeschlossen?«
»Moment!«, rief ich, warf mir mein Nachthemd über und wandte mich an Logan. »Sie muss wissen, dass du wieder ein Geist bist. Von den anderen Sachen, die gerade passiert sind, erzählen wir ihr lieber nichts …«
Logan warf mir aus den Augenwinkeln einen skeptischen Blick zu. »Okay, aber zieh dir lieber einen Pyjama an.«
Ich tat, was er sagte, um ihn nicht noch einmal so aus der Fassung zu bringen und damit Tante Gina nicht gleich einen Herzinfarkt bekam. Dann öffnete ich die Tür.
Gina schaute mich, die Hände in die Hüften gestemmt, fragend an. Ihre kurzen blonden Locken waren auf einer Seite platt gelegen.
Ich versuchte hastig, meine eigenen Haare glatt zu streichen, die hoffentlich nicht zu zerzaust aussahen, denn dann hätte Tante Gina nur eins und eins zusammenzählen müssen.
»Logan ist wieder da.«
Drittes Kapitel
»Die sollen die lauteste Band New Yorks sein!«, schrie Megan über die verzerrten Gitarren und den wummernden Bass hinweg, den ich bis in den Magen spürte. Sie trat aufs Gas und raste auf die nächste gelbe Ampel zu. »Das macht sie dann wahrscheinlich zur lautesten Band der Welt, oder?«
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