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Die Autorin geht der erschwerten und oft aberkannten Trauersituation nach einem Schwangerschaftsabbruch auf den Grund. Sie beleuchtet die unterschätzten Auswirkungen auf das Beziehungsnetz der Trauernden und skizziert die vielen Bruchstücke dieser Trauer. Trauerbegleitende werden ermutigt, Betroffene beim Brückenbauen darin zu unterstützen, die erlittene Verlusterfahrung eines Tages integrieren zu können. Ein ganzheitlicher Weg der Heilung führt über die vier V-Stationen Verständnis – Vergebung – Verantwortung hin zur Verwandlung der Trauernden mit neu gefundenem Selbst- und Weltbezug. Anschauliche Fallbeispiele und Sprachbilder tragen dazu bei, dass das polarisierende Thema »Abtreibung« in seiner Komplexität auch als Trauerthema enttabuisiert wird. Ein ungewöhnlich mutiges und aufrüttelndes Buch, das Betroffenen und Trauerbegleitenden helfen mag, sich konstruktiv diesem schweren Thema zu stellen.
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Seitenzahl: 169
Die Buchreihe »Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer« bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer. Die Edition ist hervorgegangen aus dem Programmschwerpunkt »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht.
Kirsten Patricia Häusler
Trauernde nach Schwangerschaftsabbruch begleiten
VANDENHOECK & RUPRECHT
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Umschlagabbildung: Shutterstock.AI
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Erstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2198-2864
ISBN 978-3-647-99295-2
Geleitwort
1 Hinter-Gründe und Vorder-Gründiges
Einleitung
»Aus Brüchen Brücken bauen«
Nichts ohne Grund
Ab-Gründe
Statistisches und Hilfsangebote
2 Ab-Gründe: »Und plötzlich ist alles anders«
Vorüberlegungen: Erschwerte Trauer – Eine Bergtour mit Hindernissen
Fallbeispiele
3 Der Trauer auf den Grund gehen
Trauer und Schwangerschaftsabbruch als Beziehungsgeschehen: Fehlt ein Glied am Mobile …
Bruchstücke: Mosaik der Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch
4 Nichts ohne Grund: Werkzeuge zum Brückenbauen
Vorbemerkungen für Trauerbegleiterinnen
Grund-legende Säulen der Heilung in der Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch
Die Rolle der Spiritualität
Religiosität als Ressource und Hürde bei der Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch
Rituale und Schritte zur Heilung
Heilung durch Träume
Vom Umgang mit Triggern und besonderen Trauerzeiten
Notfallkoffer bei Triggersituationen
5 Neuen Grund unter den Füßen gewinnen – Aus Brüchen Brücken bauen
Heilung: Vom (Wieder-)Ganzwerden mit Brüchen
Der Weg der vier »V«: Verständnis entwickeln – in die Vergebung gehen – Verantwortung übernehmen – Verwandlung erleben
»Bin ich ver-rückt?! – Ja, es hat mich ver-rückt!«. Ein Statement
Visionen für einen (anderen) Umgang mit Trauer nach Schwangerschaftsabbruch
Literatur
– Aus Brüchen Brücken bauen,
gern schreibe ich ein Geleitwort für dieses außergewöhnliche und wertvolle Buch. Die Autorin hat den Mut und die Kraft, eine eigene schmerzhafte und tiefgreifende Erfahrung anderen als Unterstützung zur Heilung und zum Wachstum zur Verfügung zu stellen.
Bei meiner ersten Begegnung mit Kirsten Patricia Häusler brauchte ich für mich etwas Zeit und ein inneres Bewegen, um das Thema »Schwangerschaftsabbruch und Trauererleben« so einzuordnen, dass ich es wertfrei und empathisch anschauen konnte.
Doch dann war mir schnell klar: Natürlich ist das Trauer, eine erschwerte und noch dazu tabuisierte Trauer. Wir Begleitende haben die Kompetenz, auch diese schmerzliche Trauersituation mit den betroffenen Frauen und auch Männern zu reflektieren und sie zu begleiten.
Ich selbst als Trauerbegleiterin habe gespürt: Da gibt es noch Themen im Umfeld, die mitschwingen und die das Trauer-Paket nicht leichter machen. Schnell rutscht das Umfeld in eine wertende Haltung, was zur Folge hat, dass viele Frauen sich erst einmal gar nicht outen möchten und können und nicht darüber sprechen wollen, denn sie müssen sich bei einem Outing auch dem überwiegenden Unverständnis der Gesellschaft für ihren Trauerprozess aussetzen. So geraten Betroffene schnell in eine Rechtfertigungshaltung.
Doch unser Fokus als Trauerbegleitende liegt in der Begleitung, im Dabeisein in dem herrschenden Gefühlschaos und im Aushalten aller Gedanken und Emotionen. Unsere Aufgabe ist es, die Betroffenen zu ermutigen, sich im Rahmen einer Begleitung ihrem Trauerprozess zu stellen und so einen Heilungsprozess in Gang zu bringen.
Trauer braucht Raum, Trauer braucht eine Stimme, Trauer braucht Menschen im Umfeld, die da sind und qualifiziert begleiten können. Dafür stehen wir Trauerbegleitende in unterschiedlichen Kontexten zur Verfügung. Ich möchte die betroffenen Frauen und Männer gemeinsam mit der Autorin bestärken, sich auch nach der herausfordernden Situation eines Schwangerschaftsabbruchs Unterstützung zu holen und Mut zum Trauern zu haben.
Brigitte Wörner
Trauer hat viele Gesichter und Facetten. Als natürliche Reaktion auf Abschied und Verlusterfahrungen durchzieht sie unser ganzes Leben. Denn Leben bedeutet immer auch Abschiednehmen. Alles wandelt sich. Und das Vergängliche ist zugleich das Werdende. Ohne Abschied gibt es keine Entwicklung. Schon die Geburt ist ein erster Abschied. Wenn Tod und Schwangerschaft einander berühren, ist das für Betroffene eine tiefgreifende Grenzerfahrung.
Erfreulicherweise gibt es inzwischen auch zum Thema »Trauer um Sternenkinder« Literatur und unterstützende Angebote. Sowohl Fehlgeburt als auch Stille Geburt werden dabei berücksichtigt. Die Situation von Menschen, die nach einem Schwangerschaftsabbruch trauern, wird dabei zumeist ausgeklammert. Das ist nicht verwunderlich. Denn dass eine Abtreibung zu Trauer führt, scheint eine Quadratur des Kreises zu sein: Schließlich hat sich eine Frau, vordergründig betrachtet, selbst gegen das Leben des Ungeborenen entschieden.
Das Selbstbestimmungsrecht wird in der Debatte um das Abtreibungsgesetz seit Jahrzehnten zu Recht großgeschrieben. In Polen gingen Frauen noch 2021 auf die Straße, um dieses Recht einzufordern. In Deutschland bewegte in den letzten Jahren die Abschaffung des § 219a (Werbeverbot für Abtreibung) die Gemüter. Aktuell wird vermehrt für eine weitere Legalisierung und die Abschaffung des § 218 gestritten. Selbst die Evangelische Bischofskonferenz tritt dabei im Herbst 2023 für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 22. Schwangerschaftswoche ein.
Dass eine Abtreibung seelische Wunden nach sich zieht und auch Trauer auslöst, wird in der öffentlichen Debatte in der Regel nicht bedacht. Abtreibungsbefürwortende Studien betonen, dass Beschwerden nach dem Abbruch mehr auf einer grundsätzlichen psychischen Labilität der Betroffenen beruhen als auf der Abtreibung selbst. Das Thema polarisiert: So stehen Abtreibungsbefürwortern radikale Abtreibungsgegner gegenüber, die Abtreibung bei Veranstaltungen wie dem »Marsch für das Leben« als Mord kriminalisieren und sich in der Begleitung Betroffener auf das Thema »Schuld« fokussieren (vgl. Pokropp-Hippen, 2014). Die Umstände, unter denen es zum Schwangerschaftsabbruch kam, werden von ihnen nicht berücksichtigt, und auch in diesem Lager kommen Trauerreaktionen zu wenig oder verzerrt zur Sprache. Die moralische Verurteilung erschwert Frauen die Bearbeitung ihrer Trauer nach einem Abbruch. Denn das Verurteilen verstärkt Schuldgefühle und schwächt das oft verwundete Selbstwertgefühl der Betroffenen zusätzlich. Sowohl Abtreibungsbefürworter als auch Abtreibungsgegner werden in ihren sehr einseitigen und häufig ideologisch verbrämten Positionen der Komplexität des Themas »Schwangerschaftsabbruch« in meinen Augen nicht gerecht.
Ich sehe einen großen Bedarf an wertfreien und stärkenden Trauerbegleitangeboten für Betroffene nach einem Schwangerschaftsabbruch und möchte in diesem Buch Trauerbegleiterinnen Anregungen geben, Menschen in dieser speziellen Trauersituation konstruktiv zu unterstützen. Zugleich ist es mir ein Anliegen, Betroffene zu ermutigen, ihre Trauer überhaupt zuzulassen, und ihnen einen Weg zu ebnen, aus den erlittenen Brüchen Brücken zu bauen.
Ich hoffe, dass meine Ausführungen nicht nur Trauerbegleitenden zu einer differenzierteren Betrachtung des Themas »Abtreibung« verhelfen, sondern auch Ärztinnen und Mitarbeitenden in der Schwangerenkonfliktberatung neue Impulse geben. Darüber hinaus möchte ich zur Enttabuisierung des Themas beitragen. Dabei scheint mir in unserer Zeit weniger der Abbruch selbst das Tabu zu sein, sondern vielmehr die oft verdrängte und aberkannte Trauer nach dem Abbruch. Viele Menschen scheuen sich, offen zu zeigen, dass sie mit einem Schwangerschaftsabbruch nicht zurechtkommen. Das ist verständlich und bestätigt zugleich, wie wichtig es ist, Licht ins Dunkel dieser Trauererfahrung zu bringen.
Das Ziel jeder Trauer ist Verwandlung. Verwandeln kann sich der Schmerz nur, wenn er zugelassen wird. Ziel ist dabei das Integrieren des Erlebten anstelle eines Abspaltens. Verdrängte Gefühle führen mitunter zu psychosomatischen Beschwerden. Insofern ist indirekt auch die Prävention von Krankheiten ein Thema dieser Veröffentlichung. Zwei Leitmotive führen durch das Buch:
Unter diesem Titel verfasste ich 2020 eine Abschlussarbeit im Grundkurs Trauerbegleitung. Das Bild der aus Bruchstücken erbauten Brücken hatte ich im Rahmen meiner damaligen Mitarbeit bei Deborah e. V. im Austausch mit anderen Betroffenen entwickelt. Es steht für die Hoffnung, dass auch nach einem als schweren Bruch erlebten Ereignis Wege gefunden werden können, um gut weiterzuleben. Es ist möglich, aus Bruchstücken Brücken zu bauen – hin zu anderen Menschen, in die Zukunft, zu einem neuen Selbstbild.
Ein zweites Bild wurde mir beim Schreiben wichtig: das Bild des Grundes. Dieses Bild ist doppelbödig, und ich verwende es in den Überschriften der einzelnen Kapitel bewusst in seiner Zweideutigkeit. Nichts ohne Grund – das bedeutet zum einen: Alles hat Gründe. Jeder Mensch ist in seinen Entscheidungen geprägt von seinen Vorerfahrungen. Verständnis dafür zu entwickeln, aus welchen Gründen die Entscheidung zu einem Schwangerschaftsabbruch fiel, hilft Betroffenen, das Geschehene einzuordnen und aus der Abwärtsspirale zermarternder Schuldgefühle und Selbstvorwürfe auszusteigen. Ich verstehe die Aussage »Nichts ohne Grund« in diesem Zusammenhang alles andere als verharmlosend.
Die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gründen der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch ruft auch dazu auf, eigene Schattenseiten zu beleuchten. Dabei können sich die entstandenen Bruchstücke neu sortieren, sodass aus dem Zusammen-Bruch nach dem Ab-Bruch ein hoffnungsvoller Auf-Bruch in die Zukunft wird. Das Bild »Nichts ohne Grund« beinhaltet das Vertrauen darauf, dass wir als Menschen selbst in der schwersten Lebenskrise gehalten sind und nicht ins Bodenlose fallen: Alles hat seinen Grund. Und dieser Grund trägt. Aus und auf diesem Grund können Wege aus der Trauer heraus in neues Leben gefunden werden.
Auch der als Überschrift über dem zweiten Kapitel verwendete Ausdruck »Ab-Gründe« ist von mir nicht (ab-)wertend gemeint. Er zollt vielmehr der Tatsache Respekt, dass Trauer nach Schwangerschaftsabbruch nicht selten als Erfahrung sehr schmerzlicher Tiefe erlebt wird. Diese Tiefe ist ebenfalls doppeldeutig: Trauer kann Menschen in tiefste Untiefen führen. Sie vermag sie jedoch zugleich zu vertiefen, indem sie ihren Blick auf das Leben verändert.
Wenn »plötzlich alles anders ist«, kann vieles nicht so bleiben, wie es vorher war. Jede Krise lädt dazu ein, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Sollte nach einer Krise alles wieder so sein wie zuvor, wäre sie in meinen Augen sogar eine vertane Chance. Wer dem Tal einer Krise auf den Grund geht, kann neuen Grund unter den Füßen gewinnen. Es ist segensreich, diesen Weg mit anderen zu teilen, um aus Brüchen Brücken zu bauen. Und so fügen sich die beiden von mir gewählten Bilder ineinander zu einem Zeichen der Hoffnung.
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich feminine und maskuline Formen abwechselnd (Leser oder Leserinnen). Nomen im Plural stehen so für alle Geschlechter.
Ich danke Brigitte Wörner, Monika Müller und Monika Kreiner für die Ermutigung zu diesem Buch und ihre Begleitung meines langen Schreibprozesses sowie Ulrike Rastin für ihre Geduld und Sorgfalt bei der finalen Manuskriptredaktion.
Daneben danke ich allen, die den Mut hatten, ihre Geschichte mit mir zu teilen, und mir erlaubten, hier Bezug auf sie zu nehmen. Nicht zuletzt, sondern im Grunde genommen zuallererst, danke ich meinem ungeborenen Kind Elisabeth Benjamin, das mich vieles über das Leben und die Liebe lehrte und mir die Kraft gab, dieses schwere Thema zu beleuchten. Es ist immer in meinem Herzen. Möge dieses Buch ihm ein kleines Denkmal setzen und ganz dem Leben dienen!
Ein Schwangerschaftsabbruch gilt in Deutschland seit den 1990er Jahren laut Gesetzgeber bis zur zwölften Schwangerschaftswoche als verboten, aber straffrei. Der in einer jahrelangen Debatte überarbeitete § 218 sieht eine gesetzliche Beratungspflicht vor. Die Beratung muss mindestens drei Tage vor dem Abbruch stattgefunden haben. Der Eingriff darf nur von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen werden.
Dieses Gesetz stellt einen Kompromiss in der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Werten dar: Dem Schutz des ungeborenen Lebens soll in der ergebnisoffen geführten und Unterstützungsmöglichkeiten anbietenden Beratung Sorge getragen werden. Die Entscheidung obliegt im Sinne der Selbstbestimmung der schwangeren Frau. Beeinflussung und Manipulation durch andere Menschen sind gesetzlich verboten.
Unter diesen Rahmenbedingungen entschieden sich in den letzten Jahren jährlich ungefähr 100.000 Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch. Diese abstrakte Zahl verrät wenig darüber, wie die Umstände der Abbrüche waren. Auch schweigt sie dazu, wie es den Betroffenen danach ging bzw. geht. Es ist davon auszugehen, dass Frauen eine Abtreibung sehr unterschiedlich erleben und verarbeiten. Gefühle der Erleichterung und der Trauer können dabei nebeneinanderstehen. Leicht macht sich diese Entscheidung vermutlich keine Frau. Denn es ist eine existenzielle und unwiderrufliche Lebensentscheidung.
Im Unterschied zu anderen Entscheidungssituationen bleibt dabei keine Zeit, die Entscheidung in Ruhe reifen zu lassen. Das Zeitfenster der Entscheidungsfindung ist sehr eng. Erschwerend kommt hinzu, dass die hormonelle Umstellung in der Frühschwangerschaft in vielen Frauen ein Gefühlschaos auslöst. Selbst Frauen, die sich nicht die Frage stellen, ob sie ihr Kind bekommen können, sind in dieser Phase oft hin- und hergerissen zwischen Vorfreude und Ängsten und beschreiben die ersten Wochen der Schwangerschaft als belastend. Sie erkennen sich manchmal selbst nicht wieder und reagieren in dieser Phase auf vieles mit großer Verletzlichkeit und Sensibilität.
Das Postulat der Selbstbestimmung im Schwangerschaftskonflikt ist vor diesem Hintergrund in seiner realen Umsetzung zumindest infrage zu stellen, und zwar insbesondere, wenn das Umfeld bei der Entscheidungsfindung entgegen der gesetzlichen Vorgabe Einfluss nimmt. Dies kann durch den Kindsvater und die Großeltern des Ungeborenen geschehen oder auch durch Ärzte, die in unterschiedlicher Weise die Risiken einer Spätschwangerschaft bzw. im Rahmen der Pränataldiagnostik Anzeichen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Ungeborenen kommunizieren.
Die Einflussnahme von außen, die durch die viele Schwangere verunsichernde hormonelle Veränderung erleichtert wird, verursacht besonders bei Frauen, die sich ihr Kind wünschten, einen enormen Stress. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen den eigenen Aktionsradius einschränkt. Deshalb ist es in Stresssituationen nahezu unmöglich, Entscheidungen in innerer Freiheit zu treffen. Kommt eine Frau nach dem Abbruch mit ihrer Entscheidung nicht zurecht, wird sie ungeachtet der im Schwangerschaftskonflikt häufig vorhandenen Mitwirkung von außen weitestgehend alleingelassen und erntet für ihre nicht selten auftretenden Trauerreaktionen eher Unverständnis als Mitgefühl. Dazu trägt auch der sich in der aktuellen Gesetzeslage widerspiegelnde gesellschaftliche Konsens bei, dass Abtreibung ein gut gangbarer Weg sei.
Die Konfrontation mit dem weit verbreiteten Unverständnis und das Fehlen von Begleitangeboten erschweren den Trauerprozess Betroffener zusätzlich. Nur vereinzelt finden sich im Internet Adressen, die Unterstützung nach einem Schwangerschaftsabbruch anbieten. Neben den von Betroffenen selbst gegründeten Vereinen Rahel e. V. und Deborah e. V. gibt es Foren zum Austausch.
In den vorhandenen Hilfsangeboten spiegelt sich zumeist die Grundhaltung der Anbietenden wider. Die Komplexität des Themas »Abtreibung« berücksichtigen auch solche Angebote in meinen Augen zu wenig. Zuweilen unterscheiden sie zwischen Früh- und Spätabtreibungssituationen sowie zwischen Trauerreaktionen nach Abbrüchen wegen medizinischer und sozialer Indikation und vernachlässigen, dass auch ein Frühabbruch ohne medizinische Indikation Trauer auslösen kann.
Hinsichtlich der ungeborenen Kinder frage ich mich grundsätzlich: Wieso gilt ein Ungeborenes in Abhängigkeit von der Entwicklungswoche und den Gründen für seine Abtreibung einmal mehr und einmal weniger als Mensch? Wieso wird die Trauer um ein durch eine Fehl- oder Totgeburt verlorenes Sternenkind viel eher verstanden und gesellschaftlich mitgetragen als die Trauer um ein Ungeborenes, das durch äußere Einwirkung nicht auf die Welt kam?
Gruppen mit Präsenzangeboten für Trauernde nach einem Schwangerschaftsabbruch gibt es kaum, auch vor dem Hinter-Grund, dass Scham die Betroffenen oft schweigen lässt (Ausnahme: Villa Vie Bochum und Kontakttreffen für Eltern nach einem Schwangerschaftsabbruch, angegliedert an die Diakonie Karlsruhe und aufzufinden unter www.pnd-beratung.de/termine). Vielen Betroffenen ist nicht bewusst, dass die im Schwangerschaftskonflikt zuständigen Beratungsstellen auch nach dem Abbruch ansprechbar sind, um die Bearbeitung der gemachten Erfahrung zu begleiten. Sowohl im nachsorgenden Kontakt mit den Beratungsstellen als auch im Kontakt mit Ansprechpartnerinnen der oben genannten Vereine kann der Austausch als entlastend und stärkend oder zusätzlich belastend erlebt werden. Letzteres ist vor allem der Fall, wenn das Thema »Schuld« zu stark in den Vorder-Grund rückt und evangelikal geprägte Einstellungen das Beratungsgespräch leiten. Die Qualität eines Hilfsangebots entscheidet sich mit an der Haltung der Beratenden sowie der persönlichen Sympathie zwischen ihr und der Trauernden.
Zweifelsohne verlangt Trauerbegleitung nach einem Schwangerschaftsabbruch besonderes Fingerspitzengefühl. Denn nicht nur vordergründig betrachtet, ist die Trauer nach einer Abtreibung dem Bereich Erschwerte Trauer zuzuordnen.
Willi Butollo und Gabriele Pfoh definieren das Phänomen der sozial aberkannten Trauer als »eine Form der Trauer […], die in der Gesellschaft keine Anerkennung findet. Oft ist sie mit schuld- oder schambesetzten Beziehungen verbunden. Oder es sind moralische Vorstellungen daran geknüpft und Trauernde meinen, dass ihnen die Trauer […] nicht ›zusteht‹. Das […] berichten etwa Frauen, die sich für eine Abtreibung entschlossen hatten und um ihr ungeborenes Kind trauern« (Butollo u. Pfoh, 2016, S. 88).
Kenneth Doka benutzt im Zusammenhang mit sozial aberkannter Trauer den noch eindringlicheren Begriff der entrechteten Trauer und fasst deren Dilemma so zusammen: »Das Problem entrechteter Trauer kann in einem Paradoxon ausgedrückt werden: Die Natur der Entrechtung erschwert die Trauer, wobei gleichzeitig mögliche Quellen von Hilfe und Unterstützung minimiert werden« (Doka, 2014, S. 8).
Der Weg durch die erschwerte Trauer lässt sich mit einer Bergtour vergleichen, bei der besonders schwere Steine im Rucksack jeden Schritt belasten. Einige solcher Steine können zu Felsbrocken werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn Schuldgefühle und Scham das Zulassen von Trauer blockieren.
Die eigene (Mit-)Verantwortung am eingetretenen Trauerfall bei einem Schwangerschaftsabbruch kann emotional zu einer Quadratur des Kreises führen. Darf eine Frau trauern, die sich, vordergründig betrachtet, selbst dazu entschieden hat, dass ihr Kind nicht geboren wird? Wie kann eine Betroffene ihre Trauer leben, wenn sie keinen Ort des Gedenkens hat und auch keine Abschiedsrituale? Wenn Erinnerungen an die gemeinsame kurze Zeit hauptsächlich Erinnerungen an einen schweren inneren Kampf sind mit einer Entscheidung, die sie an den Rand ihrer Kräfte brachte?
Wie kann um ungelebtes Leben getrauert werden? Was hilft einer Trauernden, zu begreifen, was sie verlor, wenn kein persönliches Abschiednehmen möglich war? Wie kann sie um ein Kind trauern, von dem das einzige Bild eine unscharfe Ultraschallaufnahme ist? Um ein namenloses Kind, von dem nicht einmal das Geschlecht bekannt war und das sie nicht kennenlernte, obwohl sie es sich unter Umständen sogar gewünscht hatte und es ihr körperlich und in vielen Fällen auch in der emotionalen Wahrnehmung einige Wochen lang näher war als jeder andere Mensch? Solche Gedanken können zu Grübelschleifen führen, in denen Betroffene sich verheddern und durch die sie immer wieder in tiefe Täler der Selbstvorwürfe zurück- oder sogar umgeworfen werden.
Dabei stellt der Verlust eines Kindes per se schon einen erschwerten Trauerfall dar. Natürliche Lebensgesetze werden dabei auf den Kopf gestellt: Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben. Kinder sollten das Leben noch vor sich haben. Wer selbst entschied, dass das eigene Kind kein Leben auf der Erde haben wird, für den ist es eine große Herausforderung, sich überhaupt zu erlauben, um dieses Kind zu weinen. Schuldgefühle und Scham führen nach einem Schwangerschaftsabbruch außerdem oft dazu, dass Betroffene die Bergtour Trauer ohne unterstützende Seilschaft antreten müssen: Sie schweigen über ihre Erfahrung aus Angst vor Verurteilung, Ablehnung und Unverständnis oder auch aus dem berechtigten Empfinden heraus, dass ihre Entscheidung zutiefst persönlich ist.
Und so bleiben viele Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch mit ihrer Trauer allein. Es fehlt ihnen eine Solidargemeinschaft. Jede Trauergemeinschaft ist jedoch zugleich eine Trostgemeinschaft. Wer mit einem Trauerfall allein gelassen ist, dem fehlen Anteilnahme und Mitgefühl. Sofern Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch nach außen kommuniziert wird, wird sie schnell von einer erschwerten zur sozial aberkannten Trauer.
Sätze wie »Du hast es doch selbst so gewollt« oder »Es war doch noch gar kein richtiges Kind. Also worum willst du trauern?« sprechen den Frauen jegliches Recht auf Trauer ab. Häufig verbieten sich Betroffene ihre Trauer auch selbst mit solchen Gedanken. Zuweilen bricht die Trauer erst Jahre später auf, ausgelöst durch Trigger wie die Geburt anderer Kinder, einen weiteren Schwangerschaftskonflikt in der Familie, eine bedrohliche Krankheit oder sonstige Lebenskrisen. Dann wird die erschwerte und sozial aberkannte Trauer zusätzlich zur zeitverzögerten Trauer, was wiederum spezielle Herausforderungen mit sich bringt.
Zu Recht lässt sich Trauer nach einer Abtreibung zusammenfassend als eine von hohen Felswänden geprägte Bergtour und steile Kletterpartie bezeichnen. Die schweren Steine im Rucksack können nur langsam ausgeräumt werden, in der Hoffnung, dass darunter stärkende Ressourcen wie in früheren Lebenssituationen erprobte Strategien zum Umgang mit Abschied und Verlust auffindbar sind.
Was brauchen Betroffene an Proviant, um den steilen Bergaufstieg ohne Seilschaft zu schaffen? Was hilft ihnen über den Berg ihrer Wanderroute durch die Trauer hinweg? Diesen Fragen gehe ich später auf den Grund. Zunächst sollen einige Betroffene zu Wort kommen.
»Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.«
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Die folgenden Fallbeispiele veranschaulichen das Dilemma, in dem sich Betroffene befinden, wenn ein Schwangerschaftsabbruch in ihnen Trauer auslöst.