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Visionäre, Impulsgeberinnen, Neinsager, Künstlerinnen … Das Salzkammergut, wie es viele kennen, ist ein "Produkt" von Einheimischen und "Zuagroasten". Eine Landschaft, in welcher eine Ansammlung von Bildern, Mythen und Klischees regelrecht die Sicht auf die "reale" Region und ihre Menschen verstellt: auf Menschen, die vorangehen und mit einer Fülle an Ideen im Gepäck Grenzen überschreiten. In spannenden Beiträgen holen namhafte Autor*innen bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus Österreichs "zehntem Bundesland" vor den Vorhang und spüren ihren Wegen und Irrwegen nach. - Essays über bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus dem Salzkammergut - Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des Bestsellers Visionäre bewegen die Welt - Mit neuen Beiträgen von Elisabeth Gardavsky, Nina Höllinger, Sabine Scholl, Brita Steinwendtner und Anton Thuswaldner - Mit Darstellungen aus der Bildenden Kunst Bei den Herausgebern (Christian Dirninger, Thomas Hellmuth, Ewald Hiebl, Günther Marchner und Martin Scheutzhandelt) es sich um Historiker, Autoren und Journalisten, die mit der Gegend des Salzkammerguts in (teils) biografischer wie publizistischer Weise verbunden sind. Ihr seit vielen Jahren bestehender loser Austausch mündet gelegentlich in gemeinsamen Publikationen und anderen kulturellen wie wissenschaftlichen Kooperationen.
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Seitenzahl: 402
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Ein Lesebuch
Ein Lesebuch
Lebenskünstlerinnen | Neinsager Gipfelstürmerinnen | Naturtalente Visionärinnen | Schrittmacher
Herausgegeben von:Christian DirningerThomas HellmuthEwald HieblGünther MarchnerMartin Scheutz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Sonderausgabe des Titels»Visionäre bewegen die Welt: Ein Lesebuch durch das Salzkammergut«(© 2005 Verlag Anton Pustet) anlässlich des Kulturhauptstadtjahres 2024
© 2024 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Silke Dürnberger (originaler Buchtitel), Markus Weiglein
Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-7025-1114-2
eISBN 978-3-7025-8114-5
www.pustet.at
Für Inhalt und Stil der Beiträge sind die Autor:innen verantwortlich.
Die Wahl der gendergerechten Sprache liegt im Ermessen der Autor:innen.
Wir bemühen uns bei jedem unserer Bücher um eine ressourcenschonende Produktion. Alle unsere Titel werden in Österreich und seinen Nachbarländern gedruckt. Um umweltschädliche Verpackungen zu vermeiden, werden unsere Bücher nicht mehr einzeln in Folie eingeschweißt. Es ist uns ein Anliegen, einen nachhaltigen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz zu leisten.
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Das »vielspältige« Salzkammergut
Vorwort
Zur Einführung
Das Salzkammergut im Spannungsfeld von Bildern, Klischees und Realität
Kultivierte Wildnis
Das bürgerliche Salzkammergut
»Also ich werd euch sagen: Die Luft von Buenos Aires …«
Plädoyer für ein Paradies
Ein Disneyland für Pensionisten
Interkulturelle Eindrücke eines Sommerfrischlers
Zahlen-Visionen
Demografische Entwicklung und Modernisierung des Salzkammerguts 1800–2100
Künstlerinnen und Lebenskünstler
Eintauchen in die Geschichte
Das »Hotel am See«
»Zeichnet die inneren und äußeren Katastrophen der Zeit«
Die Künstlerin Emmy Haesele und ihre Jahre in Bad Aussee
Brochs Spuren im Ausseerland
Ein Adabei der guten Taten
Eugenie Schwarzwald und das Hotel »Seeblick« am Grundlsee
»Der Platz wäre eines Wagners, Beethovens würdig«
Komponisten im Ausseerland
Das andere Bild einer Landschaft
Barbara Frischmuth, Christoph Ransmayr, Hubert von Goisern
Wie der Mythos Salzkammergut auf Hilde Spiel wirkte
»Vom Hofnarren zum Instagram-Star«
Die Evolution des Narrenbildes
Jasager und Neinsagerinnnen
Zwischen Brandhof und Paulskirche
Die politischen Visionen von Erzherzog Johann
Eine Dachkammer für den Kaiser
Die Freiherren Johann und Leopold von Chlumecký
Die Tradition der Revolution
Der Bauer Franz Muß und der Widerstand im Salzkammergut
Widerstandsregion?
Die Dekonstruktion eines Mythos
»Österreich soll wieder frei sein«
NS-Widerstandskämpfer:innen im Salzkammergut
»… solange es geht, muss man helfen«
Widerstandskämpferin Theresia (Resi) Pesendorfer
Grundeln am See
Mythos Toplitzsee
Auf der Suche nach dem verborgenen Schatz
Semper Fröhlich, nunquam traurig!
Der Ausseer Taschenspieler Joseph Fröhlich am Dresdner Hof
Gipfelstürmer und Naturtalente
Am Dach der Salzkammergut-Welt
Die alpinen, wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen des Friedrich Simony
Wen die Götter lieben
Der Alpinist Paul Preuß
Landwirtschaft aus dem Lehrbuch
Paul Adler und sein Leben für den bäuerlichen Fortschritt
Ohne Holz kein Salz
Maximilian Edler von Wunderbaldinger, Wegbereiter der neuzeitlichen Forsteinrichtung
Tüftlerinnen und Schrittmacher
Visionäre der Machbarkeit
Das Salzkammergut im Zeitalter von Fortschritt und Modernisierung
Denkhütten
Orte der Inspiration im Ausseerland
»Ihr bewegt falsch …«
Viktor Schauberger und die Entdeckung der Implosion
»Alles Aussee«
Lösungsideen für den Salztransport
Von Attnang-Puchheim bis Stainach-Irdning
Josef Stern und die Elektrifizierung der Salzkammergutbahn
Von der Unruh getrieben
Der Uhrmacher Josef Haim
Die Kraft der Frauen
Soroptimistinnen – Serviceclub und einflussreiches internationales Frauennetzwerk
Gemeinsam abheben
Über die Macht von Visionen und neuen Wegen in einer Region
Anhang
Literatur und Quellen
Autor:innen
Bildnachweis
Christian Dirninger, Thomas Hellmuth,
Ewald Hiebl, Günther Marchner und Martin Scheutz
»Nicht selten geschieht es jedoch, daß […] in heißer Sommerszeit aus dem Westen ein Gewittersturm heranzieht. […] Ein fast nächtliches Dunkel lagert sich über die kurz vorher noch sonnenhelle Landschaft. Immer häufigere, immer gewaltigere Windstöße fegen über den See hin und verwandeln dessen Spiegel in eine hochwogende, schäumende Wasserfläche, deren Brausen nur momentan vom Rollen des Donners übertönt wird. So rasch wie der Gewittersturm gekommen, verläuft er auch meist wieder, und nicht selten bildet Abends das herrlichste Alpenglühen den letzten Abschluß desselben.«
Die oesterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, VI:
Oberösterreich und Salzburg. Wien 1889.
Nicht selten türmen sich im Salzkammergut Wolken auf, die den Eindruck erwecken, als würden die Berge endlos in den Himmel ragen. Kurz darauf lassen Blitze und Donner an Endzeitstimmung denken, und der Regen scheint schließlich die Erde überfluten zu wollen. Das schöne Salzkammergut zeigt an solchen Tagen und Wochen einen anderen Himmel, seine unfreundliche Seite, von der Hubert von Goisern, Enfant terrible und zugleich eines der vielen Aushängeschilder des Salzkammerguts, in seinem Lied Da Dåsige, »Der Einheimische«, zu erzählen weiß: »i hålt’s scho’ går neama aus / umatum suderns und regna tuat’s a so vül / dass da sau sogår graust.« Und dennoch bildet der Regen einen notwendigen Gegenpol zum freundlichen Himmel, der letztendlich alles andere vergessen lässt: »[…] wenn die echte, rechte Reiselust im Herzen wohnt, die Sehnsucht nach den saftigen grünen Wäldern, den Bergriesen, den blaugrünen Alpenseen das Blut schneller fließen macht, achtet man der Medardi-Tage nicht«, schreibt die Sommerfrischlerin Ida Barber in ihren Briefen aus dem Salzkammergut, die 1893 in der in Salzburg herausgegebenen Fremden-Zeitung erschienen sind. »[…] ›hinaus‹ ist das Losungswort und mit jeder Meile Entfernung von der Grossstadt [sic!] steigert sich die Lust am Naturgenuss, freut man sich des närrischen Einfalls, trotz Sturm und Regen die Reise angetreten zu haben.«
Durch das seltsame Zusammenspiel beider Himmel rückt die Zivilisation in weite Ferne, der Mensch begibt sich zu seinen vermeintlichen Ursprüngen zurück. Die Gebirge, die bis in das 18. Jahrhundert als gefährlich, als unwirtlich und sogar als hässlich gegolten hatten, erscheinen noch heute wie das Paradies. Der Reiseschriftsteller Georg J. Kanzler bildete eine Ausnahme, als er 1883 den angeblichen »Kretinismus« im Salzkammergut mit dem Mangel an ausreichender Sonnenstrahlung in den engen Tälern und der »Freiheit auf den Bergen« erklärte, die »nur allzu sehr in geist- und körpertödtendes dolce far niente« ausarte. Für die meisten seiner Zeitgenoss:innen bot dagegen die Gebirgswelt des Salzkammerguts die lang ersehnte Ruhe und Sinneslust, während sie die Ebene mit der Rastlosigkeit der industrialisierten Gesellschaft in Verbindung brachten. Die Reisenden trafen dabei auf die Bewohner:innen einer Region, die sich deutlich im Auf- bzw. Umbruch befand. Das »Ärar«, das jahrhundertelang die Geschicke des Salzkammerguts bestimmt hatte, verlor Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Alleinherrschaftsanspruch über dieses Gebiet. Das ehemals »weiße Gold«, das Salz, geriet unter starken Preisdruck, das lange prägende Salzwesen als Lebensinhalt dieser Gegend wurde durch neue Erwerbsformen wie den Tourismus ersetzt. Nicht nur der Salzberg, der für die Bewohner:innen einst eine sichere Existenz geboten hatte, versprach nun Arbeit und Existenzsicherung.
Die »Idylle« dieses Landstrichs lockte seit dem 19. Jahrhundert mehr oder weniger bekannte Schrifsteller:innen, Künstler:innen, Wissenschafter:innen und »bunte Vögel« an, die sich im Sommer bzw. über die Saison hinaus in diesem säkularisierten Paradies niederließen oder überhaupt ihre Zelte dort aufschlugen. Hinter der Idylle der Landschaft harrte aber auch harte Arbeit für die im Tourismus Beschäftigten: Die Dampfbüglerinnen in den Hotels und die Bediensteten in den herrschaftlichen Villen blickten auf kein leichtes Los – die Idylle der Sommerfrischler:innen war touristisch schwer erarbeitet. Umgekehrt wollten die Einheimischen nicht hinaus aus ihrem »idyllischen« Salzkammergut mit den beiden Himmeln, dem paradiesischen und dem höllischen. Sie wurden in ihrer Überzeugung, auf dem schönsten Fleck der Erde zu wohnen, noch bestärkt durch die Schwärmerei der »Zuagroasten« und der »Zweiheimischen«, aus denen zwar niemals »echte« Salzkammergütler werden konnten, auf die man aber doch recht stolz war.
Somit wurde das Salzkammergut zu einem Biotop, in dem Visionäres und Närrisches nicht selten zu einer Einheit verschmolzen. Ein- und »Zweiheimische« entwickelten Ideen, die in der Zeit ihrer Entstehung oft als verrückt oder zumindest als abwegig betrachtet wurden, später aber auf hohe Anerkennung stießen. Zwischen Vision und Narretei scheint es keine Grenzen zu geben. Oder kommt es bloß auf den Blickwinkel an, der Visionen zu Narreteien macht und umgekehrt? Die Welt ist ohne Zweifel komplizierter, vielschichtiger und bunter als die Schwarzweißbilder, mit denen sie uns erklärt werden soll. Und letztlich ist es wohl diese Vielschichtigkeit, sind es die Nuancen und Übergänge zwischen den beiden Himmeln, die das Salzkammergut zu dem gemacht haben, was es heute ist: schön und doch so zwie- oder besser »vielspältig«.
Wer ein Buch über das Salzkammergut verfasst, hat es eben mit einem »vielspältigen« Phänomen zu tun: mit einer Region als gemeinsames Produkt von Einheimischen und »Zuagroasten«. Mit einer nach außen einheitlich erscheinenden, aber im Inneren tatsächlich wild zerklüfteten Gegend, bestehend aus vielen
»Einzelgegenden« und lokalen Identitäten, die sich voneinander abgrenzen und miteinander konkurrieren. Mit einer Landschaft, in welcher eine Ansammlung von Bildern, Mythen und Klischees die Sicht auf die »reale« Region beinahe verstellt. Aber was bedeutet angesichts des Salzkammerguts schon »Realität«?
Wesentliches Anliegen des Buches ist es, anstatt wieder einmal übliche Salzkammergut-Klischees zu bedienen, anhand einiger Beispiele den Blick der Leser:innen auf die intellektuelle, originelle und gelegentlich visionäre Vielfalt der Menschen in der Region, der Einheimischen und Zugereisten, zu lenken und auch manch unbekannte Facetten zu präsentieren. Dabei ist es wichtig, dem Bild des Salzkammerguts als traditionsreicher Gegend, die sich nur aus der Vergangenheit zu nähren scheint, ein Bild entgegenzusetzen, das zeigt, wie sehr diese Region auch Spielplatz, Kampfzone und Bühne für visionäre wie zukunftsweisende Ideen, für besondere kulturelle Impulse und für manch närrische Persönlichkeiten war und ist.
In der Hoffnung, dass dies gelungen ist, danken wir als Herausgeber den Autor:innen für ihre Beiträge und dem Verlag Anton Pustet für die Initiative zur überarbeiteten Neuauflage nach fast 20 Jahren, wenn sich Bad Ischl und die Region ganz Europa als »Kulturhauptstadt« präsentieren darf.
Salzburg und Wien, im Frühjahr 2024
Das Salzkammergut im Spannungsfeld von Bildern, Klischees und Realität
Das bürgerliche Salzkammergut
Thomas Hellmuth
»Der Gebirge reine Luft, / Dieses Waldes Fichtenduft / Und der Soolebäder Schärfen / Gut für stadtverdorbn’ne Nerven. / Singet Vöglein in dem Busch, / Springt Eichhörnchen, husch, husch, husch, / Ohne Kummer, ohne Sorgen, – / Musst von ihnen Frohsinn borgen.«
(Fremden-Zeitung, 16. April 1892)
Von Naturforschern im ausgehenden 18. Jahrhundert entdeckt, schließlich durch romantische Reisende verklärt: Das Salzkammergut erlebte im bürgerlichen Zeitalter, im 19. Jahrhundert, einen bemerkenswerten Aufschwung durch die Sommerfrische. Die »Tourismusindustrie« begann zu »produzieren«, die Fassaden wurden poliert und die Natur verklärt. Der Glanz des Salzkammerguts strahlte weit in die Monarchie aus, in die hektischen und lauten Zentren der Moderne. Die Zivilisationsflucht boomte, freilich vor allem bei denen, die es sich leisten konnten: beim Bürgertum, das sich zumindest für die Sommermonate nach Ursprünglichkeit sehnte. Diese Ursprünglichkeit war aber eine künstliche. Die »Wildnis« wurde gezähmt, kultiviert und manchmal zu einem Park umgestaltet. Das Kaffeehaus eroberte die Provinz, komfortable Hotels und Villen wurden errichtet. Auf Esplanaden und Promenaden gelangten auch jene, die einer Bergtour körperlich nicht gewachsen waren, in den Genuss einer einerseits vertrauten, andererseits aber doch so seltsamen, aufregenden und unbekannten Gegend. Verschönerungsvereine sollten, wie die für Tourist:innen herausgegebene Fremden-Zeitung 1891 meinte, »das, was Mutter Natur verabsäumte, durch seine Wirksamkeit ersetzen«. Die mit der Moderne verbundene Hybris wird in der vermeintlichen Kontrolle – oder besser: der anmaßenden Perfektionierung – der Natur sichtbar. Eine Überschwemmung, wie sie etwa Bad Ischl im Jahr 1899 erleben musste, versetzte daher die Sommergäste durchaus in Panik: Brücken stürzten ein, die Sommervillen wurden evakuiert, Zugverbindungen waren unterbrochen und Telegramme konnten nicht mehr versendet werden.
Schnell war die Katastrophe aber vergessen, die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit war größer. Sie brachte alljährlich im Sommer die Zivilisationsflüchtlinge in das Salzkammergut: Unternehmer, Beamte sowie Künstler:innen und Schriftsteller:innen. Dazu zählten unter anderem die Schriftsteller Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann. Ebenso reisten Schriftstellerinnen, etwa Hilde Spiel, in die verklärte Region. In Ischl traf sich die Hautevolee der Operettenkomponisten und -librettisten. Immer wieder zog es Sigmund Freud ins steirische Salzkammergut, wo er in den Wäldern auf Pilzsuche ging. Und auch die Pädagogin Eugenie Schwarzwald fand im Salzkammergut gleichsam einen Stützpunkt für ihre »Erziehung zum Glück«. Sie eröffnete das Sommerheim »Seeblick« am Grundlsee, das sich zu einem Treffpunkt arrivierter Künstler:innen und Intellektueller entwickelte, etwa für die Schriftsteller Egon Friedell und Arno Holz sowie den Komponisten Egon Wellesz, dem es schwer fiel, »die einzigartige Schönheit der Ausseer Landschaft zu beschreiben, die harmonische Gliederung des Gebirges, die Anmut der Hügel und Wiesen, den Anblick des Dachsteins an klaren Herbsttagen«. Raoul Auernheimer verglich in seiner Autobiografie Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit den Altausseer See mit einem großen Tintenfass, in das die Dichter ihre Federkiele tauchten. Und auch in Ischl herrschte, wie Karl Farkas im Lied Ost und West meint, »Dichten und Trachten / und Schalten und Walten! / Es quillt jeder Einfall / Aus goldener Schale, / Quillt Aktschluss und Abschluss / Und Grand-Finale.«
In der »Österreichischen Schweiz«, wie ein Reiseführer aus dem 19. Jahrhundert das Salzkammergut bezeichnete, konnten die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die sozialen Probleme der Industrialisierung und die Klassengesellschaft, in weite Ferne gerückt werden. Im Salzkammergut schien die Welt konfliktfrei und die Vision einer Gesellschaft von gleichen Bürgern, später auch Bürgerinnen, verwirklicht. »Die Leute, denen wir begegnen, kennen uns und sind alle in einer gewissen Weise hier zu Hause«, schreibt etwa Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an den Berliner Theaterdirektor Otto Brahm, »einmal ist es der Reichskanzler Hohenlohe und einmal eine alte, ganz runzlige Bauernfrau mit einem Eimer Milch.« Für den Geologen und Anthropologen Ferdinand von Andrian-Werburg gab es in Aussee »keine Standesunterschiede und Altersgrenzen […]. Der Verkehr vollzieht sich ohne Zwang, jedoch mit natürlichem Anstande.« Im Salzkammergut, so entsteht der Eindruck, war man zuallererst Mensch und erst in zweiter Linie einem Stand oder einer Klasse zugehörig. Nur hier schienen Romanzen wie jene von Erzherzog Johann und der einfachen Postmeisterstochter Anna Plochl möglich, die sich am Toplitzsee, in der unberührten Natur, nähergekommen waren und schließlich eine unstandesgemäße Bindung eingingen. Selbst den Kaiser, Franz Joseph I., dem angeblich »nichts erspart« blieb, zog es im Sommer in das Salzkammergut. 1854 hatte er Bad Ischl als Sommerresidenz erwählt und machte damit den Badeort endgültig zu einem Tourismusmagnet.
Der verklärte Blick der Zivilisationsflüchtlinge beschränkte sich nicht allein auf die Landschaft, sondern richtete sich auch auf die Einheimischen im Salzkammergut. Anfang des 19. Jahrhunderts waren dem Reiseschriftsteller und Naturforscher Franz Satori zwar noch »Mitteldinger zwischen einem Orang-Outang und einem Menschen« begegnet. Bald galten die Einheimischen aber als Idealtypus des Naturmenschen, als »edle Wilde«. Bereits 1832 beobachtete etwa Johann Steiner »die von Gesundheit strotzenden Alpendirnen«. Das einfache Wesen der Einheimischen schien sich – so glaubten die Zivilisationsflüchtlinge – wiederum im Brauchtum zu spiegeln. Daher sammelte der »Zweiheimische« Konrad Mautner, ein Wiener Industriellensohn, der den Ausseer Dialekt beinahe akzentfrei erlernt haben soll, wie ein Besessener die Ausseer Lieder und Weisen, die Kinder- und Tanzreime, die Jodler und Trachten. Er selbst glich sich in seiner Lebensweise und Kleidung völlig den Einheimischen an, war – wie er selbst schreibt – als »Kamerad unter dem Bauernvolk gern gelitten«. Erzherzog Johann, der sich nach seinen politischen Niederlagen immer wieder nach der »Ursprünglichkeit« der Provinz sehnte, führte in der Steiermark den »grauen Rock« ein, »um ein Beyspiel der Einfachheit und Sitte zu geben«. Und selbst der Kaiser legte im Salzkammergut seine Uniform ab und kleidete sich mit einer Ischler Lederhose, einem graubraunen Lodenjanker und grünen Wadenstutzen. Als Schuhwerk bevorzugte er die legendären Goiserer, genagelte Bergschuhe. In dieser (Ver-)Kleidung ging er auf die Pirsch und wollte sich wohl der Natur und auch den Einheimischen näher fühlen. Tausende Stück Wild soll er erlegt haben – gar möchte man ihm eine gewisse Manie diagnostizieren.
Tatsächlich wurde die Tracht, ähnlich wie die Landschaft, aber an die Vorstellungen der Sommerfrischler:innen angepasst. Bis in das 18. Jahrhundert hinein gestaltete sie sich im Salzkammergut noch als recht vielfältig und bunt. Erst um 1800 setzten sich bei den Männern die grau-grünen Stoffe durch, die heute für typisch gelten. Röcke und Hosen entsprachen, wird vom Material abgesehen, der bürgerlichen Männermode. Die Kniebundhose aus Leinen oder Loden erinnerte zu sehr an den Adel und blieb nur in abgewandelter Form, als Lederhose, erhalten. Auch bei den Trachten für die Damen fanden sich die gängigen Modetrends, indem sie mit Seiden, Spitzen und Silberschmuck aufgeputzt wurden.
Ohne Dirndl oder Trachtenanzug war ein:e Sommerfrischler:in nur noch ein:e halbe:r Sommerfrischler:in. »Die Modengecken haben sich nun in Lodengecken verwandelt«, schreibt daher der Schriftsteller Oscar Blumenthal. »Kratzen sie an diesen Naturmenschen, und sie werden das Alpengigerl finden.« Blumenthal, der wegen der Schärfe seiner Kritik auch »blutiger Oscar« genannt wurde, hatte 1897 gemeinsam mit Gustav Kadelburg den Schwank Im Weißen Rößl verfasst. Ralph Benatzky sollte diesen später zum gleichnamigen Singspiel umarbeiten. Nicht zuletzt der Erfolg des Stückes verhalf Blumenthal zu einem Leben als Privatier in Bad Ischl. Dennoch kratzt Blumenthal, selbst ein Zivilisationsflüchtling, in seinen 1910 verfassten Ischler Frühlingsgesprächen an der glänzenden Fassade der Provinz. Und dahinter findet sich eine gespaltene Gesellschaft, eine Welt, wie sie auch außerhalb des ländlichen »Paradieses« existierte.
Nicht alle ließen sich also von der vermeintlichen Ursprünglichkeit und Harmonie blenden. Manche Sommergäste blieben zwiespältig und schwankten zwischen »Agrarromantik« und Kritik. So beschreibt etwa Hugo von Hofmannsthal in seiner Erzählung Das Dorf im Gebirge, wie die Welt der städtischen Elite und jene der Einheimischen im Sommer aufeinanderprallen: »Im Juni sind die Leute aus der Stadt gekommen und wohnen in allen großen Stuben. Die Bauern und ihre Weiber schlafen in den Dachkammern.« Neben der Dekonstruktion ländlicher Romantik findet sich bei ihm aber weiterhin ein Hauch von Verklärung, etwa wenn er die ärmlichen Dachkammern »voll verstaubten Schlittengeschirrs mit raschelnden gelben Glöckchen daran, alter Winterjoppen, alter Steinschloßgewehre und unförmlicher rostblinder Sägen« beschreibt. Die Sehnsucht nach einer heilen, lieblichen Welt scheint groß gewesen zu sein. Nicht nur Hofmannsthal liebte »eine flackernde Kerze, ein dünnes Schindeldach, auf das der Regen trommelt, eine enge Holztreppe, eine schiefe Dachkammer«.
Während sich die Sommerfrischler:innen und auch der Kaiser als Einheimische verkleideten und sich »ursprünglich« gaben, standen sich die politischen Lager aber auch im Salzkammergut gegenüber. Die Kirche sah die alten Werte durch die Moderne gefährdet. Der Fremdenverkehr erschien ihr als Auswuchs der bürgerlich-liberalen Gesellschaft, als eine Ausgeburt der Hölle. So klagte der Pfarrer von Hallstatt 1913 über die zunehmende »Vergnügungssucht« und den geringen Besuch des Gottesdienstes. Ein Jahr später inspizierte der Pfarrer von Bad Ischl den Religionsunterricht und befürchtete, dass die »vielen Lustbarkeiten und Unterhaltungen« den festen Glauben der Schüler:innen gefährdeten. Liberalismus und Katholizismus rieben einander, der Protestantismus, der im Salzkammergut auf große Zustimmung stieß, erzürnte die katholische Kirche. Nach der Revolution von 1848, in der Zeit des Neoabsolutismus, klagte sie über Beamte, die hinter der »Larve der Zufriedenheit« die politische Umwälzung betrieben und die Religion verachteten. Im Salzkammergut gärte es, und Personen wie Konrad Deubler oder Franz Muß, die sich dem Liberalismus verpflichtet fühlten und mutig für ihre Überzeugungen einstanden, wurden von der Behörde verfolgt und in die Kerker eines absolutistischen Staates geworfen, der sich mit aller Gewalt gegen den Zeitenlauf zu stellen schien. Außerdem organisierten sich um 1870 zahlreiche Arbeiter in liberalen Arbeiterbildungsvereinen, die bald von Sozialdemokraten unterwandert wurden.
In Wahrheit war die Gesellschaft im Salzkammergut weit entfernt von der Harmonie, von der die Sommerfrischler:innen träumten. Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts machte sich ein rassistischer Deutschnationalismus breit, der die Saat der sozialen Ausgrenzung streute. Jeder Fremde anderer Nation erschien den Deutschnationalen als »Unnatur in der Natur«. Gemeinsam mit dem Deutschnationalismus machte sich auch der Antisemitismus im Salzkammergut bemerkbar. In den 1920er-Jahren verweigerte etwa ein Gasthof in St. Georgen im Attergau jüdischen Sommergästen die Unterkunft, Anfang der 1930er-Jahre häuften sich schließlich die offenen Angriffe gegen Juden. Der nationalsozialistische Ischler Beobachter veröffentlichte Hetzartikel gegen jüdische Kurgäste. Und die Kirche klagte etwa über den angeblich schlechten Einfluss der jüdischen Sommergäste in St. Wolfgang: »Nicht erfreulich wirken […] im Sommer die meisten jüdischen Fremden und besonders die Filmgesellschaften.« Kurz nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich empfahl die Bad Ausseer Kurkommission den Einheimischen, keine Fremdenzimmer an Juden:Jüdinnen zu vermieten. Der Yacht-Club Wolfgangsee, der Ebenseer Bergsteigerbund und der Schwimmclub Gmunden schlossen Juden:Jüdinnen als Mitglieder aus.
Dennoch blieb vielen jüdischen Emigrant:innen und Überlebenden des Holocaust das Salzkammergut in bester Erinnerung. Die bürgerliche Sommerfrische hatte die Region auf die Schönheiten der Natur, auf die kultivierte Wildnis und die konstruierte »Harmonie« reduziert. Damit konnte der Schmerz, den die Erinnerung und die Begegnung mit der alten Heimat verursachte, verdrängt werden. »Die Wälder, die Berge, die Flüsse, die Seen«, erzählt der Holocaust-Überlebende Walter Spangler, »die haben vor Hitler existiert, und wenn schon kaum jemand mehr von Hitler redet, da werden die immer noch da sein«. Und im Salzkammergut finden sich diese Naturwunder auf kleinstem Raum zusammengedrängt. Das Salzkammergut glich einer Kaisermelange, einer Wiener Kaffeespezialität, in der die unterschiedlichen Ingredienzien, Kaffee, heiße Milch, Eigelb, Zucker und Rum oder Cognac, zur geschmacklichen Harmonie vereint sind. Eine schöne Metapher für das Salzkammergut, in dem diese Kaisermelange in mondänen Cafés inmitten schöner Bergkulissen genossen und der Schein der Harmonie beschworen wurde. Die vermeintlich ursprüngliche Landschaft, der angebliche naturverbundene Charakter der Einheimischen und die bürgerliche Sommerfrische verschmolzen mit dem Kaiserhaus zu einem harmonischen Ganzen, einer Welt jenseits der Zivilisation mit all ihren Problemen. Manchmal wird Milch aber auch sauer und kann den Geschmack verderben. Wenn die Rede auf Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus kommt, verschließt so mancher seine Ohren. Verschwiegenheit, so entsteht der Eindruck, ist Goldes wert. Wenn wir aber ein wenig an der vergoldeten Oberfläche kratzen, offenbart sich ein anderes Bild des Salzkammerguts: das einer oft problematischen, vieldeutigen, aber doch auch faszinierenden Region.
Julian Schutting
Das in dem Moment, wo du sie und ihre Freunde überholst, auf einem Altausseer Spazierweg eine alte Dame in einem Dirndl sagen zu hören, und es möchte dir den Kopf zu ihr hinüberreißen: auch vor Schreck über die Hellhörigkeit, als begänne mit dem Erkennen des fast ausgerotteten Akzents und der zugehörigen Sprachmelodie die letzte Hatz auf Überlebende dieser Sprachfamilie.
»Also ich werd euch sagen:
die Luft von Buenos Aires« –
ein einfacher Mitteilungssatz über die vermutlich gar nicht so gute Luft in einer Stadt, die sich laut Namensgebung auf ihre guten Lüfterl viel einbildet, enthält eine aufs Existentielle reduzierte Biografie und gibt mehr als ein persönliches Schicksal preis: Den Lüften, in denen man laut Paul Celan nicht eng liegt, ist sie entflohen, mit Gottes Hilfe ist ihre Familie, anders als Asche vom Wind, weiß Gott wie weit in alle Welt verstreut worden – sie jedenfalls hat es, was ihr kein Gott in die Wiener Wiege gesungen hat, in das Land verschlagen, in das den entkommenden Opfern bald auch die entmachteten Mörder nachgekommen sind, hält fest an der Sommerfrische der Kindheit, trägt unbefangen ein Ausseer Dirndl, lässt sich aber auch nicht von guter Almluft die jahrzehntelang bewährte neue Heimat verleiden.
Lutz Maurer
»Man weiß, was ich unter einer schönen Gegend verstehe: Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berg, auf und ab führende Pfade und Abgründe neben mir.« Eine Hymne auf das Salzkammergut? Keineswegs.
Der Schriftsteller, Aufklärer und Philosoph Jean-Jacques Rousseau pries 1761 in einem Roman, der ein neues Zeitalter der Empfindung, der Gefühle und damit auch des Verhältnisses zur Natur einleitete, mit diesen Worten seine Schweizer Heimat. Wenige Jahrzehnte später widersprach ihm ein Weitgereister: »Ich gestehe, dass ich in der Schweiz keine solchen Naturszenen kenne als diese hier. Sie sollten einmal eine Exkursion dorthin machen. Ich werde zu Fuß nach Ischl, Hallstatt und wenn die Witterung sich hält, bis Aussee in Steiermark gehen«, schrieb Alexander von Humboldt an Josef von Schot, den Leiter des botanischen Gartens der Universität Wien. Ob Schot Humboldts Aufforderung nachkam, ist nicht bekannt.
Weitum bekannt wurden hingegen die Exkursionen eines anderen Wieners, Naturwissenschaftler wie Humboldt und auch gleichen Alters. Sechs Sommer lang bereiste und beschrieb Joseph August Schultes das Salzkammergut, jene paradiesische Landschaft, die sich heute über drei Bundesländer erstreckt.
Als zehntes österreichisches Bundesland geistert es auch in den Köpfen mancher. Ein Land trotzig unzugänglicher, in ihren Träumen versponnener Menschen war das Salzkammergut schon immer gewesen. Zudem traditionelles sommerliches Refugium unzähliger Städter – Künstler und Schriftsteller vor allem –, die in der Abgeschiedenheit des Landes Kräfte sammelten, ihren Träumen von einer besseren Welt nachhingen oder ihre Visionen von neuen Welten, wie etwa der eines Staates der Juden vorantrieben.
Verlorenes Paradies auch für viele, die sich in der Fremde nach der Heimat sehnten.
Das Salzkammergut ist aber auch ein Land perfekt vermarkteter Träume und Illusionen und somit eine Operettenlandschaft. Im »Weißen Rössl« am Wolfgangsee oder in Bad Ischl, dem inoffiziellen Museum des 19. Jahrhunderts, wurden schon lange vor Hollywood weltumspannende Träume fabriziert, konnte man zumindest bis 1938 – wenn nicht sogar länger – zusehen, »wie eine längst verschollene Welt sich selbst überlebte«. Hans Weigel schrieb dies, ein glühender Liebhaber dieses gottgesegneten Landstriches und somit ein später Nachfahre von Schultes. »Sie sind Erinnerungen an die glücklichsten Stunden meines Lebens«, hatte dieser vor 200 Jahren seine Salzkammergut-Reiseberichte genannt.
Schultes’ zweibändiges Werk Reisen durch Oberösterreich in den Jahren 1794, 1795, 1802, 1803, 1804 und 1808 sollte für einige Zeit der Maßstab für alle späteren Reiseführer durch das Salzkammergut bleiben. Nicht zu Unrecht. Der Autor sammelte nicht nur zahllose botanische, geologische und meteorologische Daten, er beschrieb die Landschaft auch in ihrer Gesamtheit und prägte für sie die Bezeichnung »österreichische Schweiz«. »Wenn irgendein Ländchen in Deutschland nur den hundertsten Theil der hohen Schönheiten aufzuweisen hätte, mit welcher die Natur hier einen kleinen Winkel Landes von kaum 12 Quadratmeilen schmückte, es würde längst ebenso gepriesen seyn, als das Salzkammergut unbekannt ist«, beginnt sein Bericht.
Vom Ausseerland folgte er dem Lauf der Traun über Hallstatt, Goisern und Lauffen bis Ischl, um dort zu Wolfgang-, Mond- und Attersee abzuzweigen. Über das Mitterweißenbachtal führte der Weg zurück zur Traun, um mit einer Fahrt über den Traunfall unterhalb von Gmunden zu enden. Schultes’ Empfehlungen, wie etwa zu Fuß von Aussee nach Hallstatt zu wandern, oder den Traunsee, den schon die Römer »lacus felix« (glücklichen See) genannt hatten, in einer Vollmondnacht vom Boot aus zu genießen – kein Tourismusexperte unserer Tage könnte sie besser schreiben.
Aber dem gelehrten Mann und Menschenfreund genügte es nicht, nur von der Landschaft zu schwärmen. Er untersuchte und analysierte die katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse jener Jahre, studierte mit den Augen des Mediziners Militärerhebungsbögen und Totenbücher, suchte Kontakt zur Bevölkerung; nicht nur zu Beamten und geistlichen Herren, sondern vor allem zum »einfachen Volk«: zu Bergknappen und Salzarbeitern, Holzknechten und Sennerinnen, Schiffsleuten, Handwerkern und Keuschlern. Schultes beschrieb die Menschen besorgt – aus dem Blickwinkel des Arztes eben –, die sozialen und wirtschaftlichen Zustände kritisch. Dies missfiel der hohen Obrigkeit. Die Schriften des »Nestbeschmutzers« durften hierzulande nicht gedruckt werden. Erst in Tübingen fand sich ein Verleger. »Man würde meine Schriften als einen Hochverrath an den weisen Einsichten des Salzoberamtes bezeichnen, und dieses würde sie wohl gar als Staatsverrath erklärt haben«, klagte Schultes.
Auch Jahrzehnte später war das Salzkammergut noch immer kein Hort der Aufklärung. Lag dies an der geografischen Beengtheit? An den politischen Zuständen? Fast ein Jahrtausend herrschten vier absolute Mächte mit in Seide gehüllter eiserner Faust über das Paradies: Kaiserhaus und Kirche, Forst und jene Institution, die nach dem Gold schürfte, das dem Kammergut den Namen gab: Salz. Aus einem Reisebericht 1829: »Der Wunsch der genügsamen Leute ist nur, dass sie immer Verdienst bey den Salzwerken haben, weil auch mehrere in den letzten Jahren entlassen worden sind und dass sie gesund bleiben, um der schweren Arbeit vorstehen zu können!«
Seit urdenklichen Zeiten bargen Berge, die weder so hoch noch so bedrohlich waren wie die Gipfel Tirols oder der Schweiz, das »weiße Gold«. Aber sie waren hoch genug, um das Land jahrhundertelang weitgehend gegen alle Einflüsse von außen zu schützen. Auch hoch genug, um nicht nur den Blick, sondern auch die Wünsche und Sehnsüchte der meisten Menschen zu begrenzen. Aber nicht aller.
Es ist erstaunlich, dass es doch immer wieder einige gab, die aus dieser paradiesischen Landschaft ausbrechen wollten, Visionen von einem anderen Leben, anderem Denken, anderen Taten, neue politische, technische, wirtschaftliche und künstlerische Ideen hatten. Närrische Ideen, revolutionäre Ideen. Ein Paradies aber duldet kein Aufbegehren, keine Revolutionäre. Und so scheiterten – vorerst verspottet, dann beschimpft und zuletzt nicht selten aus dem Paradies vertrieben – viele von ihnen. Aber nicht alle.
Interkulturelle Eindrücke eines Sommerfrischlers
Alexander von Gabain
Meine wissenschaftlichen Lehr- und Wanderjahre haben mich samt Familie von Heidelberg über Stanford nach Umea, der nördlichsten Universitätsstadt Schwedens, und dann bald darauf nach Stockholm geführt, wo ich am Karolinska Institut einen »tjänst« (Dienstposten; schwedische Untertreibung für eine Professur) innehatte. Dieser hat es meinen Mitarbeitern aus aller Welt und mir ermöglicht, die reiche und nobel-geschwängerte Forschungslandschaft für unsere wissenschaftlichen Ambitionen zu nutzen. Meine Familie und ich hatten in Stockholm ein gemütliches Haus erworben, nicht weit vom Strand des Mälarsees, in dem der Grundlsee mühelos rund 500-mal Platz finden würde. Meine Frau und ich, wir hatten beide nützliche Aufgaben gefunden, für unsere Kinder war Schwedisch die erste Sprache und Kultur geworden. Im Sommer verbrachten wir unsere Zeit in wunderschönen Sommerhäusern. Wir waren so schwedisch geworden, dass allein der bloße Gedanke, einen »Midsommardag« im Ausland zu verbringen, in der Familie Panik auslösen konnte. Jeder Gedanke an ein abermaliges Weiterziehen war meiner Familie so fremd wie die Vorstellung beim sommerlichen Bad im Grundlsee, dass der See sechs Monate später zugefroren sein könnte.
In dieser Befindlichkeit war ich, als ich mich vor vielen Jahren, aufgefordert vom Ordinarius für Genetik der Universität Wien, Rudolf Schweyen, flankiert von Kollegen und dem Gründungsdirektor des angesehenen Wiener Instituts für molekulare Pathologie, Max Birnstiel, für den Mikrobiologielehrstuhl der Universität Wien bewarb. Dieser sollte gemeinsam mit weiteren biomedizinischen Instituten der Universität und dem Institut für molekulare Pathologie in einem neuen Forschungszentrum aufgehen, dem Campus Vienna Biocenter.
Schon auf meiner Bewerbungsreise, die mich von Stockholm nach Wien führte, wurde mein Mut bei der Taxifahrt zum Flugplatz Arlanda gedämpft. Der schwedische Taxichauffeur, nach dem Zweck meiner Reise fragend, zeigte sich außerordentlich besorgt, dass ein Karolinska-Wissenschaftler das Land verlassen wollte. Ein Molekularbiologe sei für die Zukunft des Landes wichtig, meinte er. Dieses Gefühl, mich in etwas Unbekanntes zu begeben, wurde durch die vollkommen konträren Ansichten des Wiener »Taxlers«, der mich nach meinem Flug von Schwechat zum Hotel »Wandl« führte, noch weiter gesteigert. Als dieser mich nach dem Zweck meiner Reise befragte, raunzte er, Moleküle und Gene möge er überhaupt nicht, und meinte, ich sei »deppert«, eine Professur in Wien anzunehmen und täte besser daran in Schweden zu bleiben.
Dennoch bin ich meinem Ruf gefolgt, so gesehen ein »Lob der Inkonsequenz«, wie es der polnischstämmige Philosoph Leszek Kolakowski ausdrücken würde. Großzügige Beamte des Wissenschaftsministeriums und ein weitsichtiger Dekan haben mir ein Angebot unterbreitet, dem ich schwer widerstehen konnte. Österreich hat mich und meine zunächst etwas zögerliche Familie mit seinem bekannten Charme umgarnt und nach Wien geholt, wo ich die Chance bekommen habe, eine kleine, aber beachtete Biotechszene mitaufbauen zu dürfen.
Mit der Zeit nahm meine Familie Wien und Österreich an. Dieser Prozess stellte sich nicht immer als ganz einfach heraus, da das Fremdsein auch mit anfänglichen Stolpersteinen wie zum Beispiel dem Mödlinger Schulwesen verbunden war. Die »Europastadt Mödling« hielt nicht immer den Geist, den das Ortsschild so viel versprechend ankündigte.
In den ersten Jahren in Österreich haben wir viele Teile des Landes bereist. Eine Schönheit, der man sich schwer entziehen kann und die auf der Landkarte aussieht wie eine »geknautschte« Gitarre, der Schlimmes widerfahren ist. Solche explorativen Touren »made in Austria« wirken noch attraktiver, wenn man die Distanzen in schwedischen Meilen betrachtet. Dies reduziert zehn Kilometer auf eine schwedische Meile. Somit beträgt für einen Schweden die Fahrt von Wien zum Millstätter See nur 35 Meilen.
Irgendetwas hat uns dann immer wieder und immer öfter in das Ausseerland gelockt. Das Wasser, die Seen mit den nordischen Badetemperaturen, die Wälder, die nicht endenden Winter und die minus 20 °C beim winterlichen Schifahren auf dem Loser. Wirklich alles erinnerte uns dort an unsere geliebten Schwedenjahre. Schließlich haben wir oberhalb vom Grundlsee das »Haus Schwerin« erworben. Unsere ersten Schritte am glatten Parkett der Ausseer Kreise wurden von einer lieben Nachbarin, Marianne Uray, begleitet. Eine ältere Ausseer Dame, die uns immer in Erinnerung bleiben wird. Wir haben das Haus mit einer Ausseer Veranda adaptieren lassen, von der aus man einen schönen Blick auf den See, den Backenstein, das Tote Gebirge und den Sarstein hat. Anfangs stießen wir bei unseren Kindern auf Unverständnis. Sie schrieben diesem ganzen Unternehmen eine gewisse zugegeben geografisch bedingte Enge zu, zumal sie in einer eher flachen Landschaft aufgewachsen waren, die durch Schären, Seenplatten und sich öffnende Meere geprägt war. Auch das im Ausseerland getragene Gewand, nämlich das Dirndl und die Lederhose, waren für uns – wie manch andere fremde Bräuche – anfangs gewöhnungsbedürftig. Ich versuchte unsere Skepsis mit Erklärungen zu mindern. Menschen jeder Nationalität pflegen ihre Bräuche mit großem Ernst: die Schweden ihr »Mittsommerfest«, die Ausseer halt ihre Tracht. Vielleicht sollte diese Ernsthaftigkeit und Ursprünglichkeit darüber hinwegtäuschen, dass – historisch gesehen – diese Bräuche, wie das Dirndl und der »Mittsommerbaum«, zum Teil erst in der jüngsten Geschichte der jeweiligen Landstriche eingeführt worden sind. Die »Zugereisten«, zu denen auch wir zählen, tragen das Dirndl und die Lederhose oft noch fanatischer als die Einheimischen. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Konvertiten nach ihrer »Kehrtwendung« fast immer am eifrigsten für »ihre« Sache auftreten.
Dem Ausseerland und den Stockholmer Schären ist auch gemeinsam, dass sie erdgeschichtlich relativ »jung« sind. Sie wurden erst von Eiskappen mit mehreren Kilometern Dicke, die noch vor etwas mehr als 10.000 Jahren auf beiden Landschaften gelastet haben, geformt. Dagegen glauben die meisten Einheimischen, »Zugereisten« und Touristen, dass die Landschaft, so wie sie ist, schon immer existiert habe. Ein weiterer Grund, warum das Abschmelzen des »ewigen Eises« auf dem Dachsteinplateau Panik aufkommen lässt, obwohl es seit der letzten Eiszeit schon ein paar Mal verschwunden und wiedergekommen ist. Solche Befindlichkeiten führen auch zu dem Glauben, dass es Landschaften und Trachten schon ewig gibt, und verstärken natürlich die Ideologie, dass jede noch so schöne Heimat schon immer vom gleichen »Menschenschlag« bewohnt worden ist, was wissenschaftlich natürlich nicht haltbar ist.
Die Molekularbiologie, die das Weltbild mit der Aufklärung der DNA-Struktur vor rund 70 Jahren revolutioniert hat, hat aber auch die Erkenntnis gebracht, dass alle heute auf der Welt lebenden Menschen einen jungen, aber gemeinsamen Ursprung haben. Dass wir alle vor nicht zu langer Zeit, sagen wir vor 50.000 Jahren, aus Afrika gekommen sind und dass der verwandtschaftliche Abstand zwischen einem amerikanischen Ureinwohner und einem Ausseer maximal ein paar tausend Generationen beträgt. Mögliche Spuren von den ersten Ausseern, die aus Afrika kamen, finden sich im Toten Gebirge, in den »Salzofenhöhlen«. Diese »Urausseer« haben sich dort vor circa 30.000 Jahren womöglich unter anderem von Höhlenbären ernährt, sind aber von den vorstoßenden Gletschern wieder vertrieben worden. Vereinfacht könnte man daher sagen, wir sind eh alle Cousinen und Cousins und dass die Köberls, Rastls und Brandauers vielleicht ein bisschen verwandter sind als die Native Americans und die Gößler. Aber auch diese und die restlichen Ausseer leben nicht seit eh und je im Land, sondern sind frühestens mit den sich wieder zurückziehenden Gletschern gekommen. Viele von ihnen stammen aber von »zugereisten« Bajuwaren ab, die zur Zeit der Völkerwanderung ins Land gezogen sind. In den Alpen – dem ewigen Durchzugsgebiet von Menschen – hatte seit dem 19. Jahrhundert die halbe k. u. k. Elite (im Salzkammergut) ihr Feriendomizil aufgeschlagen. So muss man auch noch all die fremden Väter hinzurechnen, die ihre Gene im Ausseerland leichtfertig und hoffentlich in glücklichen Augenblicken ausgestreut haben. Die Erkenntnis, dass Landschaften, Menschen und Trachten so jung und flüchtig wie über Bauerngärten flatternde Kohlweißlinge sind, vermindert keinesfalls deren Reiz: »Weisenblasen«, Plätten, Flinserl und Trommelweiber – wie alt diese Brauchtümer auch immer sind und woher sie kommen mögen, sie ziehen fast jeden in ihren Bann.
Ich lebe gerne im Ausseerland, und es wird mir dort, im Gegensatz zu meinen Kindern, fast nie langweilig: Zwischen 650 und 2.995 Metern über dem Meeresspiegel ist immer etwas los. Pluralität ist trotz des medialen Monopols der Alpenpost schon dadurch gewährt, dass es zu jeder Sache drei Ansichten gibt. Eine Grundlseer, eine Altausseer und eine Bad Ausseer Sicht der Dinge. Der kleinste gemeinsame Nenner definiert sich durch die »Seer«. In einem sind sich die Seer aber einig, sie fühlen sich den Hinterbergern, die im benachbarten Mitterndorfer Tal leben, eindeutig überlegen. Einmal im Jahr gibt es einen »Mega-Event«, bei dem gigantische Drahtskulpturen, von Figuren aus Disneyland und Ben Hur angeregt, mit Narzissen überzogen und dann zu Wasser und zu Land vorgeführt werden. Der Tagesbustourismus blüht dann mehr denn je und die Dieselgerüche aller alten und neuen EU-Staaten vereinigen sich zu einem einmaligen Geruchscuvée. Auch die Wirtschaft treibt so manche Blüten im Ausseerland. Am Salz wird festgehalten, auch wenn der damit verbundene Wertschöpfungsprozess nur noch eine Prise, verglichen mit dem, was es einmal für den Landstrich bedeutet hat, ist. Der Fremdenverkehr stirbt nicht ab und hat dank des Mentalitätsgemisches der Einheimischen, die an Altem festhalten und Neuem widerstehen, den Charme einer »Sommerfrische light« bewahrt. Bei Langeweile bietet sich die »Drei-Seen-Tour« an. Ein garantierter Höhepunkt für das Enkelkind, Besucher mit Kleinkindern und Geburtstagsfeiern von Müttern.
Diese Tour bietet eine Art Minimundus der norwegischen Fjorde. Die totale Verkehrssklerose in Bad Aussee, die man im Gegensatz zu Hallstatt und St. Wolfgang einfach so belässt, wie sie ist, kann man vom zentralen Caféhaus Lewan so stoisch wie ein Open-Air-Konzert mit 500-Watt-Lautsprechern genießen. Das hat fast schon wieder avantgardistische Züge, denen man etwas abgewinnen kann: Solche lärmenden und stinkenden Blechlawinen in Stadtzentren kann man auch in fernöstlichen aufstrebenden Metropolen wie Taipei erleben. Betagte 68er wie ich, die besonders gerne im Lewan sitzen, fühlen sich dagegen in die Urlaube ihrer Jugendzeit zurückversetzt, als Carabinieri den überbordenden Verkehr durch italienische Altstädte dirigierten.
Das Ausseerland definiert sich als der Mittelpunkt Österreichs. Österreich ist in das Zentrum eines Europa gerückt, in dem es meiner Meinung nach viele Narren, aber zu wenige Visionäre gibt, um den alten Kontinent so vorwärts zu bewegen, wie es seine Jugend verdient hätte. Ein Beispiel aus meiner Welt, von der ich etwas zu verstehen glaube, illustriert dieses Szenario treffend: Was für Narren sind die europäischen Politiker gewesen, die ernsthaft ihren Bürgern vorgaukelten, dass sich der alte Kontinent bis zum Jahr 2010 vor den USA zum Hightech-Kontinent Nummer eins auf der Welt entwickeln wird. Der Zustand der Biotechnologie wird als Lackmus von hoch entwickelten Wirtschaftsräumen angesehen, der etwas über deren Zukunftspotentiale aussagt. Auf den US-Börsen wird, verglichen mit Europa, ein Vielfaches des jährlichen Bruttonationalprodukts in Biotechfirmen investiert. Es waren Visionäre, vorwiegend in der angelsächsischen Welt, die einst die Struktur der DNA interdisziplinär und mit Hilfe von ausgeschnittenen Kartonschnipseln aufgedeckt haben. Es waren Visionäre, die in Kalifornien vor circa 30 Jahren das erste fremde Gen mit Hilfe von Bakterien vervielfältigt haben. Diese Entzifferung, aber auch die biotechnologische Produktion von menschlichem Interferon mit Hilfe von Bäckerhefen ermöglichen, dass heute vielen Hepatitis-C-Patienten das Leben gerettet wird. Es sind Visionäre, die einen Impfstoff gegen den viralen Erreger von Gebärmutterkrebs entwickeln, der vorbeugenden Schutz gegen diese schlimme Krankheit bieten könnte. Wem diese Fakten noch nicht genügen, sollte sich einmal vergegenwärtigen, dass der Wert einzelner US-Biotechfirmen ausreichen würde, um gleich mehrere Flaggschiffe der europäischen Automobilindustrie im Tausch dagegen aufzukaufen.
In der Geschichte hat es im Ausseerland viele Visionäre aus Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Finanzen gegeben. Auch die eingeborenen Ausseer brauchen sich da nicht zu verstecken. Man denke nur an den Hobbyanthropologen und Berufsjäger Otto Körber, der die »Salzofenhöhlen« entdeckte und die darin gemachten Funde als frühe Menschen, die dort als Jäger lebten, richtig gedeutet hatte, was von den närrischen etablierten Wissenschaftlern lange bezweifelt wurde. Wie viele Visionäre heute im Ausseerland leben, weiß ich nicht. Sie werden aber, solange das europäische Umfeld so wenig visionär ist wie heute, eine eher seltene Spezies bleiben. Und ich – auf meiner Plätte stehend – werde wohl mit der Erkenntnis leben müssen, dass jeder Visionär schneller, als er glaubt, zum Narren geworden ist.
Demografische Entwicklung und Modernisierung des Salzkammerguts 1800–2100
Ewald Hiebl und Norbert Ortmayr
Das Salzkammergut als touristisches Erfolgsprodukt steht seit 200 Jahren im Mittelpunkt überregionalen Interesses. Meist dominiert jedoch die Perspektive der Reisenden, die an Naturschönheiten und außergewöhnlichen kulturellen Traditionen Gefallen finden. Die Geschichte der »Bereisten« und ihrer Lebensumstände bleibt häufig unbeleuchtet. Dabei brachte gerade die im 19. und 20. Jahrhundert vollzogene Umwandlung von einer (Proto-)Industrieregion zu einer Tourismusregion große soziale Veränderungen mit sich, die sich auch in den Daten zur Bevölkerungsentwicklung des »inneren Salzkammerguts« widerspiegeln. Zu diesem Gebiet, das im Wesentlichen die beiden alten Kammergüter in Oberösterreich und der Steiermark umfasst, zählen die neun Gemeinden Ebensee, Bad Ischl, Bad Goisern, Gosau, Hallstatt, Obertraun, Bad Aussee, Altaussee und Grundlsee. Im Folgenden werden Berechnungen zur historischen und zukünftigen Bevölkerungsentwicklung präsentiert, die für die Erstausgabe dieses Buches, also im Jahr 2005, erstellt wurden. Die Zukunftsprognosen werden schließlich mit der tatsächlichen Entwicklung bis 2023 kontrastiert.
Ausgangspunkt unserer Reise durch zwei Jahrhunderte Bevölkerungsentwicklung ist das Jahr 1800. Damals lebten im inneren Salzkammergut 18.127 Personen. 200 Jahre später wurden im Zuge der Volkszählung des Jahres 2001 42.238 Bewohner gezählt. Die Bevölkerung hat sich in den vergangenen beiden Jahrhunderten also auf fast das Zweieinhalbfache erhöht. Ein genauerer Blick auf die Entwicklung zeigt, dass das demografische Wachstum nicht kontinuierlich erfolgte.
Eine erste Periode der Bevölkerungsentwicklung bildeten die Jahre von 1800 bis 1857. In dieser Phase eines langsamen, kontinuierlichen Wachstums erhöhte sich die Bevölkerung von 18.127 auf 24.436 Personen, das durchschnittliche jährliche Wachstum betrug demnach 0,52 Prozent.
Darauf folgte eine kurze Phase des Bevölkerungsrückgangs. Die 1850er- und 1860er-Jahre stellen bekanntlich eine Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs dar, in der zahlreiche Menschen das Salzkammergut für immer verließen und auf der Suche nach einem besseren Leben in die Neue Welt auswanderten.
Um 1870 kam es zu einer weiteren Zäsur in der Bevölkerungsgeschichte des Salzkammerguts, eine dritte Entwicklungsphase begann. Das Wachstum beschleunigte sich nun massiv, die Bevölkerung erhöhte sich bis 1910 von 23.803 auf 34.181 Personen. Jedes Jahr wuchs die Bevölkerung nun im Schnitt um 253 Personen, die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate stieg auf 0,88 Prozent. Die Industrialisierung – innerhalb wie außerhalb der ökonomisch dominierenden Salzproduktion – schuf neue Verdienstmöglichkeiten, die Versorgungslage der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln verbesserte sich, die Innovationen im medizinischen Bereich und im Sanitätswesen erhöhten die Lebenserwartung der Menschen und führten zu einem Absinken der zuvor hohen Kindersterblichkeit.
Diesem demo-ökonomischen Boom folgten drei schwierige Jahrzehnte zwischen 1910 und 1939. In dieser vierten Phase der demografischen Entwicklung wuchs die Bevölkerung nur mehr geringfügig von 34.181 auf 34.824 Personen. Das durchschnittliche jährliche Wachstum betrug lediglich 0,06 Prozent. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die Entlassungen während der Regierungszeit des Bundeskanzlers Ignaz Seipel (1922–1924 und 1926–1929) und die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre trugen zur demografischen Stagnation bei.
Zwischen 1939 und 1951 folgte eine fünfte Phase der Bevölkerungsexplosion. Die Anzahl der Bewohner:innen des inneren Salzkammerguts schnellte von 34.656 auf 42.658 Personen empor, das durchschnittliche jährliche Wachstum betrug nun 1,7 Prozent. Im Jahr 1951 wurde schließlich der höchste jemals gemessene Bevölkerungsstand erreicht. Dieses gigantische Wachstum basierte primär auf dem Flüchtlingsstrom der letzten Kriegsmonate bzw. der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Die sechste und letzte Phase der Bevölkerungsentwicklung, die Jahre 1951–2001, war im Gesamten gesehen eine Phase der Stagnation; zwischen 1951 und 1981 verringerte sich die Bevölkerung zunächst wieder von 42.658 auf 40.526 Personen; in den 1980er- und 1990er-Jahren hingegen ist ein geringfügiger Anstieg auf zunächst 41.640 Personen im Jahr 1991 sowie auf 42.238 Personen im Jahr 2001 zu verzeichnen.
Betrachtet man die demografische Entwicklung in den einzelnen Gemeinden des inneren Salzkammerguts genauer, so fallen markante Unterschiede auf. Ebensee und Bad Ischl konnten ihren Bevölkerungsstand in den vergangenen zwei Jahrhunderten beinahe verdreifachen. Bad Ischl wies von allen neun Gemeinden das höchste Wachstum auf. Sein Bevölkerungsstand vergrößerte sich von 4.770 Einwohner im Jahr 1800 (inklusive Lauffen) auf 9.655 Einwohner 100 Jahre später sowie weiter auf 14.135 Einwohner im Jahr 2001. Nur geringfügig kleiner fiel das Wachstum der Gemeinde Ebensee aus: Ihre Bevölkerung wuchs von 2.996 Personen (1800) auf 7.659 (1900) sowie weiter auf 8.472 im Jahr 2001.
Die Gemeinden Obertraun, Bad Goisern, Bad Aussee, Altaussee und Grundlsee erlebten zwischen 1800 und 2001 mehr oder weniger eine Verdoppelung der Bevölkerung. Obertraun wuchs um den Faktor 2.20, also auf 220 Prozent, Bad Goisern um den Faktor 2.18, Bad Aussee um den Faktor 2.10, Grundlsee um den Faktor 2.03 und Altaussee um den Faktor 1.88.
Ein bereits deutlich geringeres Wachstum wies die Gemeinde Gosau auf; ihre Bevölkerung wuchs zwischen 1800 und 2001 nur um circa zwei Drittel. Doch die schwierigste Entwicklung aller Gemeinden erlebte Hallstatt. Abgesehen von kurzen Wachstumsphasen war die demografische Entwicklung durch Stagnation und Bevölkerungsschwund gekennzeichnet. Heute leben in Hallstatt um circa ein Viertel weniger Menschen als im Jahr 1800.
Zusammenfassend betrachtet lässt sich eine deutliche Nord-Süd-Differenzierung im demografischen Wachstumsmuster des inneren Salzkammerguts feststellen: Die beiden nördlich gelegenen Gemeinden Ebensee und Bad Ischl wiesen dabei die demografisch dynamischste Entwicklung auf. Die südlicheren Gemeinden erfuhren ein deutlich niedrigeres Wachstum bzw. im Fall von Hallstatt sogar einen Rückgang der Bevölkerung.
Dieses demografische Entwicklungsmuster muss im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung sowie dem Ausbau der Infrastruktur in der Region gesehen werden. Ebensee und Ischl erfuhren – durch zwei völlig unterschiedliche Arten ökonomischer Modernisierung – eine Aufwertung. Während Ebensee zu einem industriellen Zentrum avancierte, etablierte sich Ischl endgültig als mondäner Fremdenverkehrsort. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts profitierte Ebensee nicht nur von Zentralisierungstendenzen im österreichischen Salzwesen, sondern auch von der Ansiedelung neuer Industriebetriebe wie der Solvay-Werke, in denen 1883 mit der Produktion von Soda begonnen wurde. Ischl erfuhr durch den Tourismus ein »Wirtschaftswachstum ohne Industrialisierung« und verkaufte die neue Dienstleistung des Fremdenverkehrs vor allem mit dem Image als kaiserlicher Sommerresidenz, die auch Prominenz aus Kultur und Politik lockte.
Ein zweiter Faktor, der zu einer Differenzierung der Region beitrug, war die Anbindung des Salzkammerguts an das internationale Eisenbahnnetz. Die 1877 eröffnete Kronprinz-Rudolf-Bahn von Attnang-Puchheim nach Stainach-Irdning bevorzugte zum einen die näher an der Westbahn gelegenen nördlichen Gemeinden des Salzkammerguts. Zum anderen führten die Lieferung von Kohle aus dem Hausruck auf der Kronprinz-Rudolf-Bahn und die Umstellung der Feuerung der Sudpfannen von Holz auf Kohle zum völligen Niedergang der Holzbringung, die über Jahrhunderte vor allem den abseits der Zentren gelegenen Waldgebieten des Salzkammerguts ökonomische Bedeutung zugewiesen hatte.
Der in der Region produzierte und namensgebende Rohstoff, das Salz, war als Konsumgut und ab dem 19. Jahrhundert immer stärker als Rohstoff der Industrie von überregionaler Bedeutung. Ebenso wie der Tourismus war die industrielle Produktion deshalb von der »großen« ökonomischen Entwicklung, den Absatzmöglichkeiten für Produkte und der Kaufkraft der Bevölkerung abhängig. Krisenzeiten wie die ersten Jahre der Ersten Republik oder die frühen 1930er-Jahre hatten deshalb unmittelbare Auswirkungen auf die ökonomische und in der Folge auch soziale und demografische Situation innerhalb der Region, wie die bereits skizzierte demografische Stagnation der 1920er- und 1930er-Jahre zeigt. Auch der sukzessive Abbau von Arbeitsplätzen in den staatlichen Salinen, deren Beschäftigtenzahl zwischen 1920 und 1980 von 2.116 auf 513 Personen sank, zeigte unmittelbare Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung der Region. Nur der Zuzug von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg unterbrach kurzfristig eine fast 100-jährige Stagnationsphase.
Diskussionen über Geburtenrückgang und Migrationsbewegungen prägten die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Salzkammergut war der Anfang der 1950er-Jahre noch durch eine relativ hohe Zahl an Geburten gekennzeichnet; zwischen 1951 und 1956 kamen in der Region jedes Jahr durchschnittlich 638 Kinder zur Welt. Dieses noch relativ hohe Geburtenniveau stieg im Zuge des Babybooms Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre nochmals weiter an. Im Jahr 1963 wurde mit 749 Geburten der Höchststand erreicht. Ab dann fiel die Kurve rasch ab, die Zahl der Geburten sank von 749 Geburten (1963) auf 437 (1977), stieg dann wieder geringfügig an, hielt sich bis Anfang der 1990er-Jahre auf diesem Niveau und sank dann nochmals rapide von 532 Geburten (1992) auf 360 im Jahr 2000 ab. Die Zahl der jährlichen Geburten hat sich zwischen 1963 und 2000 somit mehr als halbiert.
Im Gegensatz zur dramatischen Entwicklung im Geburtenverlauf hat sich die Zahl der Sterbefälle nur wenig verringert; und zwar von jährlich durchschnittlich 533 Sterbefällen in den 1950er- bzw. 546 Sterbefällen in den 1960er-Jahren sowie 544 Sterbefällen in den 1970er- auf durchschnittlich 496 Sterbefälle in den 1980er-Jahren bzw. 487 Sterbefälle in den 1990er-Jahren. Die Geburtenbilanz (Lebendgeborene minus Gestorbene) des Salzkammerguts war also in den 1950er- und 1960er-Jahren noch positiv, seit den 1970er-Jahren ist sie kontinuierlich negativ. Zwischen 1971 und 2000 sind nun insgesamt 1.015 Personen mehr gestorben als geboren wurden.
Wären nicht im selben Zeitraum (1971–2000) 2.861 Personen mehr zugewandert als abgewandert, wäre die Bevölkerung des Salzkammerguts deutlich geschrumpft. Dieser Trend wird auch die demografischen Szenarien der nächsten Jahrzehnte im Salzkammergut kennzeichnen. Der Geburtenrückgang wird sich weiter fortsetzen, ohne Zuwanderung wird der gegenwärtige Bevölkerungsstand nicht zu halten sein.