Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - E-Book

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert E-Book

Konrad H. Jarausch

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Beschreibung

Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert kennzeichnet ein Auf und Ab von fortschrittlicher Entwicklung und Katastrophen. Moderne Technologien und gesellschaftliche Reformen ließen die Zukunft zunächst rosig erscheinen, doch der Fortschritt brachte Konflikte, und der Erste Weltkrieg beendete diese frühe Modernisierungsphase Europas jäh. Nach einer kurzen Erholung in den 1920er Jahren erlebte der Kontinent mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust dann eine beispiellose Katastrophe – um danach wie Phönix aus der Asche aufzusteigen und, zunächst in seiner westlichen Hälfte, doch noch den Weg zu Demokratie und Wohlstand zu finden. Konrad H. Jarausch erzählt die Geschichte Europas bis in die jüngste Vergangenheit hinein und erklärt die widersprüchlichen Entwicklungen, das Janusgesicht des 20. Jahrhunderts von Gewalt und Versöhnung, Ausbeutung und Solidarität.Eine großartige Gesamtgeschichte Europas und gleichzeitig eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Fortschritt und Moderne.

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Seitenzahl: 1719

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Konrad H. Jarausch

Aus der Asche

Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Bossier

Reclam

© Konrad H. Jarausch 2015

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century bei Princeton University Press, Princeton.

 

 

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: zero-media.net

Coverabbildung: Photo by Fred Ramage / Keystone Features / Hulton Archive / Getty Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961401-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011114-7

www.reclam.de

Inhalt

VorwortAUS DER ASCHEEinleitung: Das europäische ParadoxDie vielversprechende ModerneEuropas DynamikAmbivalenzen des FortschrittsTEIL IGlobale HerrschaftUrsachen der ExpansionMuster der MachtgewinnungImperiale VisionenKoloniale PrägekraftImperiale KulturEuropäische HegemonieEin Frieden bricht zusammenBande des FriedensQuellen der FeindseligkeitPolarisierende KrisenDer Prozess der EskalationKriegsgründeEin totaler KriegDie Illusion vom kurzen KriegStillstand durch GrabenkampfKriegsziele und FriedensbemühungenMobilisierung der HeimatfrontÄußerste EskalationMechanisierte MetzeleiDie bolschewistische RevolutionSpäte WesternisierungAuswirkungen des KriegesDie Provisorische RegierungRoter OktoberDie SowjetmachtRevolutionärer UtopismusDemokratische HoffnungenDeutschland kollabiertDemokratische FriedensstiftungDemokratie auf dem VormarschMühen der SiegerInternationale KooperationLiberale NeugestaltungDie faschistische AlternativeDie Rückständigkeit ItaliensDie NachkriegskriseDie MachtergreifungDer faschistische StaatPrestige und ImperiumRegeneration auf faschistische ArtModernistische ProvokationenModernistische RevolteDer Schock des KriegesReize der PopulärkulturKlassische ModerneDer antimodernistische RückschlagIdeologische KulturkriegeTEIL IIEine verhängnisvolle DepressionNachkriegsverwerfungenGaloppierende InflationVorübergehender WohlstandDer große AbsturzWiederaufschwung mit UngleichheitenZweifel an der DemokratieStalinistische ModernisierungLenins ErbeStalins AufstiegDer große WandelTerrorherrschaftStalinismusDas stalinistische EntwicklungsprojektHitlers VolksgemeinschaftAgonie der RepublikDer Führer aus dem ObdachlosenheimAgitation und GefolgschaftNationale RevolutionDie VolksgemeinschaftAntimoderne ModerneDer Zweite Weltkrieg wird entfesseltRückzug aus dem InternationalismusRevisionismus und WiederaufrüstungDer »Anschluss« ÖsterreichsDie Münchner KonferenzDer Streit um DanzigRivalisierende InternationalismenEroberungszüge der WehrmachtErste InvasionenSieg im WestenAusweitung des KriegesSuche nach LebensraumWeltweiter KampfBlitzkriegeHitlers HolocaustDie Kriegsziele der NazisDie Neuordnung Europas»Ethnische Säuberung« der SlawenGenozid an den JudenTäter, Kollaborateure, WiderständlerMörderische ModerneBitterer SiegDie Wende des KriegsverlaufsZermürbung des ReichsBefreiung des WestensSieg im OstenErzwungene KapitulationGründe für den SiegTEIL IIIDemokratischer NeubeginnAllgegenwärtige VerheerungFrieden ohne VertragNeuaufbau der DemokratieDie Rehabilitierung der FeindeInternationale KooperationWiederbelebung der DemokratieKommunistisches Diktat im OstenBestätigung des KommunismusVolksdemokratienDie Sowjetisierung des BlocksEntstalinisierungKonsumkommunismusReal existierender SozialismusKrisen des Kalten KriegsGegenseitige FehlwahrnehmungenKonfliktfälleWachsende KonfrontationDimensionen des WettstreitsErneute KrisenOst-West-KonfliktEnttäuschende EntkolonialisierungDie Weltkriege als KatalysatorenKämpfe um nationale BefreiungHerausforderungen der DekolonisationEnttäuschende ErgebnisseDer imperiale BlowbackPostkoloniale HinterlassenschaftenIntegration durch WirtschaftAnfänge der KooperationDer Gemeinsame MarktDas Europa der VaterländerDie Europäische UnionErweitern oder vertiefen?Der Traum von EuropaPop und ProsperitätWachsender WohlstandExpansion des KonsumsSchwindende KlassenunterschiedeTriumph der ModernitätExplosion der PopulärkulturWirkungen der AmerikanisierungDie Planung sozialer ReformenOrganisation des WiederaufbausWirtschaftsplanungPlanungsfeld StädtebauAusbau der BildungDer WohlfahrtsstaatDer Aufstieg der ExpertenTEIL IVRevolte gegen die ModerneInspirationsquellen des ProtestsMuster der RevolteSozialismus mit menschlichem AntlitzNeue soziale BewegungenPostmoderne KritikNach der Moderne?Die postindustrielle TransformationDie ÖlpreisschocksDie Geißel der DeindustrialisierungDie neoliberale WendeDer Rückbau des WohlfahrtsstaatesNeue Chancen durch HightechDie postindustrielle GesellschaftZurück zur EntspannungNukleare AbschreckungEuropas steigendes SelbstbewusstseinDeutsche OstpolitikEin zweiter Kalter KriegZurück zur EntspannungspolitikNuklearer FriedenFriedliche RevolutionZerfall des KommunismusWachsende UnruheDer MauerfallKollaps der SowjetunionAmbivalente FolgenTriumph der Demokratie?Die Transformation des OstensPolitische DemokratisierungÖkonomischer WandelSoziale RestratifizierungKulturelle PluralisierungNeue BalkankriegePostkommunistischer SystemwechselGlobale HerausforderungenWirtschaftliche ImpulseSorgen um die UmweltDer Druck der ZuwanderungDie terroristische BedrohungDemokratische TeilhabeGlobale ModernenAussichten für das 21. JahrhundertDer Westen verblasstDas europäische ModellTransatlantische SpannungenDie globale RolleEine engere Union?Postmoderne PolitikEpilog: Eine gezähmte ModerneDas verwirrende JahrhundertDie Zähmung der ModerneEuropäische VerwandlungenLektionen der GeschichteDie europäische AlternativeANHANGDanksagungVerzeichnis der Karten und AbbildungenZum AutorRegister

Vorwort

Die alte Legende von Doktor Faustus nimmt weitgehend den paradoxen Verlauf der europäischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert vorweg. In dieser Erzählung schließt ein erfolgreicher Gelehrter einen Pakt mit dem Teufel, bei dem er seine Seele gegen unbegrenztes Wissen und freien Zugang zu weltlichen Vergnügungen tauscht. Nachdem er die vergänglichen Früchte seines Handels genossen hat, fällt er unvermeidlich der Verdammnis anheim, denn sein Ehrgeiz verletzt die göttliche Ordnung. In GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Version sucht Faust rastlos das innerste Wesen des Lebens, wobei er sich von Mephistopheles helfen lässt – und eine unschuldige junge Frau, Gretchen, zugrunde richtet. Doch im zweiten Teil des Dramas lernt Faust, anderen zu dienen, statt nur seine eigenen Begierden zu befriedigen, und da er nun immer strebend sich um menschliche Vervollkommnung bemüht, kann er schließlich der Verdammnis entgehen. In Thomas MannsMann, Thomas Roman Doktor Faustus aus dem Jahre 1947, einer literarischen Reaktion auf die Gräuel des Dritten Reiches, erscheint wieder die warnende Tendenz der älteren Bearbeitungen des Stoffs; die Rolle des Faust spielt darin der Komponist Adrian Leverkühn, der wunderbare Musik schafft – freilich um den Preis eines syphilitischen Wahnsinns, der ihn verzehrt. Die Erzählung kann gelesen werden als Allegorie entweder auf die Suche nach Innovation, die zur Zerstörung führt, oder auf das Streben nach potenzieller Erlösung.

Was Europa im 20. Jahrhundert erlebte, ist angesichts seiner drastischen Umschwünge ein beispielloses Drama, dessen breites Handlungsspektrum von Leid und Selbstzerstörung bis hin zu Zivilität und Wohlstand reicht. Das Jahr 1900 begrüßten die europäischen Nationen mit großen Hoffnungen auf weiteren materiellen Fortschritt und Stolz auf ihre imperiale Herrschaft über den Erdball. Aber gar zu bald verwickelten sie sich in Konflikte, die zum »Großen Krieg« eskalierten; das gewaltige Blutvergießen erschütterte ihren Optimismus bis in die Grundfesten. Nach einer kurzfristigen Erholungsphase während der 1920er Jahre führte das Ringen zwischen kommunistischen, faschistischen und demokratischen Ideologien in den Zweiten Weltkrieg, der noch mehr Verwüstungen brachte, und in den furchtbaren Holocaust, der inzwischen ein Synonym für die Fähigkeit des Menschen zum Bösen geworden ist. Aus der Asche der großen Selbstverbrennung stieg der verheerte Kontinent jedoch – trotz der Belastungen durch den Kalten Krieg und den Verlust der Gebiete jenseits der Ozeane – lebendig wieder empor und erreichte erneut ein erstaunliches Maß an Frieden und Wohlstand. Mehr noch, eine unvorhergesehene friedliche Revolution verbreitete den liberalen Kapitalismus auch in Osteuropa, der sich allerdings bald mit neuen globalen Problemen konfrontiert sah. Die interpretatorische Herausforderung besteht nun darin, die Aufeinanderfolge dieser Umschwünge, Brüche und Verschiebungen verstehbar zu machen.

Um den verwirrenden Verlauf zu erklären, legt dieses Buch den Schwerpunkt auf die besondere Dialektik, die der europäischen Dynamik innewohnt: Sie hat einerseits den materiellen Fortschritt beeindruckend weit vorangetrieben, andererseits einen furchtbaren Prozess politischer Selbstzerstörung ausgelöst. Verteidiger der westlichen Zivilisation und ihre postkolonialen Kritiker sind sich darin einig, dass die Europäer eine proteische Zivilisation schufen, welche den Rest der Welt eroberte und so veränderte, dass sie ihn leichter beherrschen und ausbeuten konnten. Um den Beginn des 20. Jahrhunderts herum belegten Gesellschaftsanalytiker das Zusammentreffen von wissenschaftlichen Entdeckungen, ökonomischen Entwicklungen, politischer Teilhabe und kulturellem Experimentieren erstmals mit dem Terminus Moderne; so wollten sie die progressiven Wandlungen der Jetztzeit abgrenzen gegen die Traditionen der Vergangenheit – und sich selbst über die »rückständigen Völker« anderer Kontinente stellen. Zweifellos war ihr Anspruch, »modern« zu sein, mehr Wunsch denn Realität, beschrieb also eher ein Ziel, als dass er etwas schon Erreichtes feststellte. Aber wie die Faust-Legende macht auch dieses Selbstverständnis den unaufhörlichen Drang nach mehr Wissen, materiellem Gewinn und Massenmobilisierung deutlich, der den Kontinent in die Katastrophe stürzte und ihn anschließend zwang, für eine Rückkehr zur Zivilität zu kämpfen.

Besonders faszinierend an der Art und Weise, wie Europa das letzte Jahrhundert erlebte, sind die vielen gebrochenen und doch anrührenden Biografien, die sich aus den Versuchen ergaben, große Umwälzungen zu bewältigen. Meine Großeltern zum Beispiel zogen gegen 1900 von einem schlesischenSchlesien Bauernhof in die wimmelnde Metropole BerlinBerlin, um dort ihr Glück zu suchen. Zwar kam mein Vater aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilgenommen hatte, lebend zurück, aber die Hyperinflation brachte den Kolonialwarenladen der Großeltern in Schwierigkeiten. Während der Depression hatten meine Eltern als junge Akademiker es schwer, Posten im Schulbetrieb zu finden, und im Zweiten Weltkrieg wurde mein Vater erneut eingezogen. Wie ich in Das stille Sterben geschildert habe, starb er Januar 1942 in Russland, während seine Witwe, als die Alliierten MagdeburgBerlin bombardierten, sich auf einem Bauernhof in BayernBayern befand und dadurch überlebte; nach dem Krieg nahm sie im RheinlandRheinland ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf. Mein Schwiegervater, von Beruf Ingenieur, war mit anderen Wissenschaftlern Teil der amerikanischen Operation Paperclip, und da die Aussichten in Europa trübe erschienen, wanderte er 1948 in die Vereinigten Staaten aus. Dieses Buch skizziert die Strukturen der zerstörerischen Kräfte, die Verwandte töteten, Häuser in Schutt legten, Lebensgrundlagen gefährdeten – kurz, ganze Welten auf den Kopf stellten. Es berichtet aber auch von ermutigenden Entwicklungen – Genesung, Versöhnung und Emanzipation –, die Hoffnung für die Zukunft machen.

Ich selbst schaue auf die europäische Vergangenheit von einem transatlantischen Standpunkt aus, der Innenansichten und Außenansichten verbindet. Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs in MagdeburgMagdeburg geboren und wuchs in Westdeutschland auf, wechselte dann aber in die Vereinigten Staaten und ging dort aufs College, promovierte an der University of Wisconsin und lehrte während meiner akademischen Laufbahn an verschiedenen amerikanischen Hochschulen. Der letzten Generation zugehörig, die noch eine klassische Bildung genoss, lernte ich Latein, Griechisch und Hebräisch im Gymnasium sowie danach Englisch, Französisch, Russisch und Italienisch, wodurch ich Zugang zu einer ganzen Reihe europäischer Kulturen erhielt. Während Ferienaufenthalten machte ich mich weiter mit dem deutschsprachigen Europa bekannt; ferner konnte ich dank Stipendien und familiärer Verbindungen zeitweise auch in Frankreich, den Niederlanden und Schweden leben. Schließlich führten mich berufsbedingte Reisen durch weite Teile des übrigen Europas, vom BalkanBalkan bis Großbritannien, von Russland bis Portugal. Mögen die folgenden Seiten viel aus dem schöpfen, was ich durch meinen deutschen Hintergrund und während meiner Ausbildung über Deutschland erfuhr, so sind sie doch von dem aufrichtigen Wunsch beseelt, auch anderen Ländern und dem jeweiligen Verlauf ihrer Geschichte gerecht zu werden. Als euro-amerikanisches Hybridwesen bemühe ich mich jetzt schon über fünf Jahrzehnte, die »Einheit in Vielfalt« wissenschaftlich zu ergründen, jenes charakteristische Erbe, das der Alte Kontinent uns hinterlassen hat.

Konrad H. Jarausch

Berlin / Washington / Chapel Hill, im Sommer 2018

AUS DER ASCHE

Einleitung: Das europäische Paradox

Der Palast der Elektrizität bei der Weltausstellung in Paris, 1900

Die meisten europäischen Bürger begrüßten den Anbruch des 20. Jahrhunderts mit Optimismus. Sie waren stolz darauf, dass sich ihre Lebensbedingungen stetig verbesserten. Im Sommer 1900 präsentierte die Weltausstellung in ParisParis ermutigende Erfindungen und futuristische Designs, die rund fünfzig Millionen Besucher bezauberten. Die Permanentbauten wie die temporären Pavillons auf dem Marsfeld, ebenso die neu eröffnete Pariser Untergrundbahn, Métro genannt, waren stilistisch eine seltsame Mixtur aus Historismus und Moderne: In ihnen verschmolz eine idealisierte Vergangenheit mit der Art nouveau der Gegenwart. Zu den gezeigten Innovationen gehörten ein gigantisches Teleskop, ein Dieselmotor, eine extrem schnelle Dampflok, daneben Fotografien großer Brücken und anderer technischer Glanzleistungen; ein Laufband verkürzte die Wege zwischen den Ausstellungsorten. Die Hauptattraktion war der Elektrizitätspalast, eine strahlende Demonstration künstlichen Lichts, die schon vorausahnen ließ, was ein französischer Science-Fiction-Zeichner »das elektrische Leben« der Zukunft nannte. Die Weltausstellung und die »Wunder der Wissenschaft und Technik«, die sie so grandios darbot, verstärkten den »Glauben« der Öffentlichkeit »an einen ununterbrechbaren und unaufhaltsamen Fortschritt«.1

Kritischere Stimmen warnten jedoch davor, dass die »ausgreifende Mechanisierung des Lebens durch den Kapitalismus und den modernen Superstaat« eine gefährliche Krise bewirken werde. Keir HardieHardie, Keir, Führer der Scottish Labour Party, befürchtete ein Wettrüsten zu Lande oder zur See mit neuartigen Waffen und witterte Krieg, während andere sich eher durch den Imperialismus bedroht wähnten. Das Lager der Gesellschaftskommentatoren war gespalten: hier die Kritiker der Dekadenz, denen es vor der »Anarchie der Massen« graute, dort Autoren wie Émile ZolaZola, Émile, die sich über die Profitmacherei in Kaufhäusern und die herzlose Ausbeutung der Arbeiter in den Bergwerken empörten. Der britische Oberrabiner Hermann AdlerAdler, Hermann fürchtete das »Wiederaufflackern rassischer Antipathien und nationaler Animositäten«, während andere Moralisten die »infernalische Selbstsucht« beklagten, die bestimmte »Pseudophilosophen ›Individualismus‹ nennen«. Der Romancier Conan DoyleConan Doyle, Arthur verabscheute die »erregungsfreudige und sensationsgierige Presse ohne Maß und Mitte«, während eine Dame der gehobenen Gesellschaft vor der zunehmenden »Laxheit im Bereich der Ehemoral« warnte. Einige scharfsichtige Beobachter spürten, dass unter der dünnen Schicht der Zivilisation immer noch die »schrecklichste und bösartigste Form der Barbarei« lauerte.2

Ungeachtet solcher Vorahnungen schauten die meisten Kommentatoren des fin de siècle doch hoffnungsfroh in die Zukunft; sie schlossen einfach von bisherigen Fortschritten auf kommende. Ingenieure prophezeiten, dass aufregende wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen auch das neue Jahrhundert kennzeichnen würden. Sozialreformer waren zuversichtlich, dass verbesserte Methoden des Ackerbaus, gründlichere Hygiene und soliderer Wohnungsbau den Menschen ein längeres und angenehmeres Leben bescheren könnten; endlich müssten sie Hunger und Kälte nicht mehr fürchten. Intellektuelle und Künstler erwarteten, dass der Zuwachs an Meinungsfreiheit und der größere Raum für Experimente ihnen ermöglichen würden, die Grenzen der bisher anerkannten Wahrheiten und Geschmäcker zu überschreiten. Geschäftsleute äußerten die Gewissheit, dass nun die Kolonialkonflikte gelöst würden und Europa friedliche Zeiten bevorstünden, so dass Handel und Warenaustausch über Grenzen hinweg sich intensivieren ließen. Sogar die Führer der Arbeiterbewegung proklamierten: »Das neue Jahrhundert gehört uns!« Mochte der Soziologe Werner SombartSombart, Werner auch eher besorgt auf die völlige Veränderung aller Lebensweisen schauen – es gab viele Gründe zu glauben, dass der weitere Fortschritt sämtliche verbliebenen Probleme beseitigen werde.3

Die vielversprechende Moderne

Der Schlüsselbegriff, der diese elektrisierende Fortschrittsvorstellung einzufangen suchte, war der Terminus »Moderne«. Eingeführt hatten ihn die Dichter des französischen Symbolismus in den 1870er Jahren, um ihre künstlerische Abkehr vom realistischen Stil zu rechtfertigen; schon bald fand er als Schlagwort breite Verwendung, wann immer Veränderungen initiiert werden sollten. Ein Jahrzehnt später übernahmen bestimmte Mitglieder der Berliner Literatenszene das Etikett und legitimierten so ihre Bewegung, den Naturalismus, dessen Ausdrucksmittel, wie sie meinten, erlaubten expressiver und kritischer über das »moderne Leben« zu schreiben. Auch in anderen Bereichen bedienten sich Avantgardisten dieses Begriffs und sprachen etwa von »moderner Kunst«, wenn sie mit atonaler Musik oder abstrakter Malerei experimentierten. Bürgerliche Intellektuelle, denen es um Reformen im Lebensstil der Mittelklasse ging, griffen das Wort ebenfalls auf; Wissenschaftler und Erfinder benutzten es, um ihre Entdeckungen zu propagieren. Und so wandelte sich »Moderne« denn am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Lieblingsbegriff intellektueller Kreise, der die Idee suggerierte, hier breche man mit Traditionen, indem man neue Möglichkeiten erkunde.1 Bezog sich die Bezeichnung ursprünglich nur auf innovative Impulse, wurde die Parole »Moderne« nun ein allgemeines Codewort für Fortschritt im Sinne von Befreiung.

Das Adjektiv modern markiert prinzipiell einen Gegensatz zur Vergangenheit. Ebendies aber macht den Terminus wandelbar, weshalb es stets schwerfiel, seine exakte Bedeutung zu erfassen. Wörterbüchern zufolge wurde der Begriff in der Renaissance geprägt, um die damalige Epoche von früheren Epochen zu unterscheiden, da sie sich abkehre vom klassischen Erbe der Antike, doch auch von der Periode dazwischen, in der religiöser Aberglaube und politische Konfusion geherrscht hätten, also jenem Zeitraum, den wir als das Mittelalter kennen. Dass der Terminus sich allein durch die Differenz zu einer vorherigen Ära bestimmt, bewirkte, dass er selbst kaum festen semantischen Gehalt bekam; wer ihn definieren wollte, musste sich ja auf die Gegenwart beziehen, und die bildete gleichsam ein bewegliches Ziel, da sie sich ständig veränderte. Dank dieser Fluidität konnten in der Geschichte immer wieder kulturelle Avantgarden, nur weil sie mit der Tradition zu brechen beabsichtigten, behaupten, sie seien »modern«, gleichgültig, welchen Stil sie gerade praktizierten. In Philosophie und Politik hieß »modern« oft auch, progressiv-aufklärerische Ansichten zu vertreten, eine weltlich orientierte Einstellung, die für rationales Denken und gesellschaftliche Verbesserungen eintrat.2 Dass diese Konnotationen beliebig ineinanderflossen, hat die weite Verbreitung des Terminus beschleunigt, denn letztlich blieb offen, was eigentlich genau damit gemeint war.

In ihren Untersuchungen zur raschen Transformation Europas um 1900 haben Sozialwissenschaftler wie Émile DurkheimDurkheim, Émile eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution formuliert, die auf den Prozess der Modernwerdung besonderes Gewicht legte. Als Hauptfaktoren dieser »Modernisierung«, so der neue Fachbegriff, identifizierten sie zentrale Umbrüche in der Entwicklung Europas, darunter die wissenschaftliche, die industrielle und die demokratische Revolution. Darin sahen sie ein Geschehnismuster, das sie zu einem normativen Konstrukt verallgemeinerten; das faktische Ergebnis der Entwicklung Europas erhoben sie zu einem Ideal, das überall auf der Welt erreicht werden sollte. Der Soziologe Talcott ParsonsParsons, Talcott exportierte das Modell in die Vereinigten Staaten und erklärte das genannte Resultat zum »höchsten Ziel des amerikanischen Liberalismus«; das Konzept »definierte« optimistisch »einen universellen historischen Prozess, durch den sich traditionelle Gesellschaften zu modernen wandelten«. Während des Kalten Krieges wurde diese Modernisierungstheorie der demokratische Gegenentwurf zur marxistischen Ideologie. Hauptmotor der Modernisierung sei demnach die ökonomische Entwicklung, der zuliebe der dynamische Geist des Kapitalismus entfesselt werden müsse, der dann eine Wachstumsphase nach der anderen bewirke. Lehrbücher erhoben das Konzept geradezu in den Rang eines soziologischen Determinismus, dem zufolge ein universeller Prozess der Veränderung abläuft, der zwingend zu dem bekannten Ende führt; das westliche System ist dabei Maßstab und Entwicklungsziel.3

Diese Verengung der Modernisierungstheorie auf eine Ideologie des Kalten Krieges provozierte harsche Kritik aus verschiedenen Richtungen. Einige Globalhistoriker schlagen schon vor, den Begriff gänzlich fallen zu lassen: Er beziehe sich unterschwellig allein auf europäische Erfahrungen, sei also gar zu »eurozentrisch«. Postkoloniale Anthropologen wiederum – eine ihrer Parolen lautet »Europa als Provinz« – wenden ein, dass offener Rassismus und rücksichtslose Ausbeutung die vorgeblich humanen Ziele des imperialen Modernisierungsprojekts unterminiert hätten. Gleichzeitig betonen Wissenschaftler und Philosophen wie etwa Zygmunt BaumanBauman, Zygmunt, die den Holocaust und seine Hintergründe erforschen, selbst ethnischen Säuberungen und Massengenoziden wohnten beträchtliche Elemente von Modernität inne; der vermeintlich gutartige Prozess habe also zumindest eine dunkle Kehrseite.4 Umwelthistoriker schließlich heben mit Blick auf die »Grenzen des ökonomischen Wachstums« den unvermeidlichen ökologischen Schaden hervor, den ungezügelte Urbanisierung und wirtschaftliche Entwicklung anrichteten. Einst war die »Modernisierung« ein weithin geteiltes Ziel; seit der Intervention dieser Kritiker, könnte man sagen, ist sie ein intellektuelles Problem.

Statt auf den Terminus komplett zu verzichten, wäre es produktiver, sich der Moderne aus einer kritischen historischen Perspektive zu nähern. »Es gibt«, schreibt der Historiker Jürgen KockaKocka, Jürgen zu Recht, »keinen anderen Begriff, der eine ganze Epoche so suggestiv, assoziationsreich und kraftvoll in diachrone Prozesse langfristigen Wandels einzuspannen vermag.« Den Terminus zu historisieren, heißt auch, seine Bedeutung zu dekonstruieren, die sich ja verschiebt, je nachdem, wann, wo und vom wem er benutzt wird. Eine solche Perspektive offenbart eine Vielzahl konfligierender zeitgenössischer Bezugnahmen auf den Begriff, aber auch einen erstaunlich exzessiven, freilich oft unkritischen Gebrauch desselben in der wissenschaftlichen Literatur. Wichtiger noch: Die Existenz mehrerer miteinander wetteifernder Modelle – liberaler, kommunistischer und faschistischer – zur Erfassung ökonomischer und politischer Entwicklungen legt eine Pluralisierung des Begriffs nahe, so dass von »multiplen Modernen« gesprochen werden sollte. Außerdem enthüllt eine solche Annäherung die grundlegende Ambivalenz der Veränderungen, die einerseits enorme Erleichterungen, andererseits aber furchtbares Leiden brachten.5 Statt »Moderne« als selbsterklärenden Standard der Zivilisation zu setzen, werden meine Reflexionen sie als ein komplexes Problem behandeln, das der historisierenden Annäherung bedarf.

Um die Verzweigungen dieses Begriffs zu erkunden, rücke ich vier zentrale Dimensionen besonders in den Fokus. Erstens diskutiere ich die verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs »modern« als Bezugnahmen auf eine historische Periode und auf eine stetig sich wandelnde Gegenwart. Zweitens analysiert dieses Buch den Terminus »Modernisierung« als Beschreibung des Vorgangs des Modernwerdens; schließlich wurde er oft als Etikett für politische Bemühungen benutzt, eine »rückständige Gesellschaft« transformativ nach vorn zu bringen. Man denke an die damaligen Versuche, ›aus Bauern Franzosen zu machen‹.6 Drittens studiere ich das Phänomen der »Modernität« im Kulturbereich. Immer wieder behaupten rivalisierende künstlerische Bewegungen, besonders Innovatives zu leisten; dabei haben sie nichts miteinander gemein außer dem Verwerfen der Tradition, denn die avantgardistischen Konzepte, die sie ihr entgegenhalten, fallen höchst unterschiedlich aus. Viertens analysiere ich den allgemeinen Begriff »Moderne« als ausdrückliche Zukunftsvision; »Moderne« war damit eine Projektionsfläche für – wiederum höchst verschiedene – Bilder eines besseren Lebens. Die vielfältigen Konnotationen dieser sprachlich so eng verwandten Konstrukte bieten wertvollen Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie das uralte Streben nach Fortschritt im 20. Jahrhundert ausgesehen hat.

Mit den rapiden Innovationen der Moderne konfrontiert, erlebten die Europäer die Dynamik dieser Transformationen als Aufeinanderfolge so beglückender wie verstörender Beschleunigungen in ihrem immer schneller werdenden Alltag. Manche wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Durchbrüche, etwa das Automobil oder das Flugzeug, lösten erregte, ja stolze Begeisterung aus, denn sie eröffneten unvermutete Zugänge zu Geschwindigkeit und Kraft. Damit schwanden Barrieren, die jahrhundertelang die Mobilität des Menschen eingeschränkt hatten. Andere Errungenschaften wie die Fließbandarbeit oder das Flächenbombardement flößten den Leuten Furcht ein, denn sie ermöglichten in erschreckendem Maße wirtschaftliche Ausbeutung hier und Massentötungen im Krieg dort. Immer wieder produzierte dieses unaufhaltsame Streben nach Fortschritt Umbrüche mit ungewissem Ausgang, und immer wieder brachte es bald berauschende Möglichkeiten, bald entsetzliche Bedrohungen mit sich. So entstand ein neuartiges Turbulenzempfinden, das das Leben im 20. Jahrhundert prägte.7 Da die Europäer sich als Verkörperung des Fortschritts sahen, möchte ich auf den folgenden Seiten ihre fieberhafte Suche nach politischen Lösungen nachzeichnen, mit deren Hilfe sie das erbarmungslose Vorandrängen der Modernisierung vielleicht doch zu meistern hofften.8

Europas Dynamik

Um 1900 hatten Denker wie Max WeberWeber, Max längst begonnen zu fragen, wo Europa seine außergewöhnliche Dynamik eigentlich hernahm. Dabei schwang freilich die Befürchtung mit, diese Kraft könnte irgendwann ins Zerstörerische umschlagen. Zeitgenossen lieferten alle möglichen Rechtfertigungen, die einander widersprachen – bald sollte das Christentum, bald rassische Überlegenheit die Ursache sein. Später führten Gelehrte als Gründe für die »großen Unterschiede« zwischen der ökonomischen Entwicklung in Europa und der in anderen Teilen der Welt Faktoren wie Kommerzialisierung, Marktwettbewerb, koloniale Ausbeutung, Institutionskultur und staatliche Interventionen ins Feld. Obwohl Zivilisationen außerhalb der Alten Welt, namentlich in Asien, auch ein hohes Wohlstandsniveau und einen hohen Grad kultureller Verfeinerung erreichten, muss gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa etwas geschehen sein, das dessen Nationen ermöglichte, fast den ganzen Erdball zu beherrschen.1 Ein senegalesischer Beobachter, der Schriftsteller Cheikh Hamidou KaneKane, Cheikh Hamidou, staunte über diese »destruktive wie konstruktive, brutale, abstoßende und attraktive Kraft«, die in der Lage sei, gleichzeitig zu töten und zu heilen.2 Auch wenn man nicht in die Falle des normativen Eurozentrismus tappen will, bleibt doch die Frage zu klären: Was machte die modernen Europäer so besonders, dass sie den Rest der Welt kontrollieren konnten?

Ein wichtiger Grund lag in der Verbreitung einer rationalen Geisteshaltung, die wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen erst ermöglichte. Zwar hätte es zweifellos ohne Fürsorge der Kirche für die Gelehrsamkeit und ohne den Wissenstransfer aus der arabischen Welt keine »wissenschaftliche Revolution« gegeben. Aber der Geist der empirischen Forschung emanzipierte sich von der Autorität der klassischen Texte sowie den Diktaten der christlichen Religion und wagte sich über deren Grenzen hinaus. Zwar nahmen die europäischen Denker zur Kenntnis, was andere Hochkulturen ergründet hatten, doch sie entwickelten deren Einsichten weiter, bis sie zu bemerkenswerten Durchbrüchen gelangten, die ihr Weltverständnis grundlegend veränderten. Der erstaunliche Ausstoß an technischen Erfindungen, der im 18. Jahrhundert einsetzte, bescherte Europa eine ganze Reihe neuer mechanischer Antriebsapparaturen, namentlich die Dampfmaschine. Mit ihnen konnte man die Natur erobern, die Produktion verbessern und Transport wie Kommunikation beschleunigen. Schließlich erhielt dieser Prozess institutionelle Unterstützung durch die europäischen Universitäten, die Mitte des 19. Jahrhunderts sich selbst den »Forschungsimperativ« erteilten: Immer neue Entdeckungen zu machen, war ihnen nunmehr geradezu eine moralische Pflicht.3

Bedeutsam war zudem das Aufkommen des Kapitalismus und der Industrie, beides Phänomene, die eine zuvor nie gekannte Anhäufung von Reichtum hervorbrachten. Zwar hatten andere Kulturen, die chinesische etwa, ebenfalls weitläufige Handelsnetzwerke, aber die ökonomische Entwicklung in Europa ließ solche Modelle letztendlich doch hinter sich, indem sie einen kapitalistischen Elan erzeugte, immer höheren Profit zu erzielen. Auf einem Kontinent, der nur mit bescheidenen natürlichen Ressourcen gesegnet war – Eisen und Kohle –, trieb dieser Geist die Unternehmer an, sich außerhalb ihrer Heimat, ja in der ganzen Welt nach Rohstoffen und Märkten umzusehen. Er ließ auch Organisationsformen wie die Kapitalgesellschaft und die Börse entstehen – beides Mittel, um Kapital aufzubauen. Zusammen mit technischen Erfindungen führte solches Streben zu dem, was als »industrielle Revolution« bekannt wurde: Man mechanisierte die Textilproduktion, grub gewaltige Kohlenbergwerke ins Erdreich, expandierte Eisenschmelzereien zu Stahlfabriken und entwickelte Dampfschiffe und Eisenbahnen. Günstige Rahmenbedingungen – eine Kombination aus staatlicher Förderung und Laissez-faire-Liberalismus – halfen beim Aufstieg der kapitalistischen Industrie, der nicht nur die Massenproduktion von Waren erleichterte, sondern auch die materielle Basis für die Vormachtstellung Europas schuf.4

Eine wichtige gesellschaftliche Besonderheit war die Entwicklung des Individualismus und der Zuwachs an sozialer Mobilität in Europa. Die Entdeckung des »Selbst« in der Aufklärung lockerte die kollektiven Bindungen an Stände oder Körperschaften und übertrug dem Individuum die Verantwortung für das eigene Leben. Anders als in afrikanischen Gesellschaften, deren Stammesloyalitäten stark blieben, oder in Indien, wo der Platz des Einzelnen durch das Kastensystem bestimmt war, schwächten sich die traditionellen Formen der Unterordnung in Europa so sehr ab, dass Menschen daran denken konnten, ihr Glück dank eigener Leistungen zu machen – und damit kam die soziale Mobilität mehr und mehr in Schwung. Die Hoffnung, sich durch harte Arbeit voranzubringen, wie sie Samuel Smiles 1859 in seinem Bestseller Self-Help (dt. Hilf dir selbst) feierte, motivierte zahllose Individuen zur Selbstoptimierung, was einen gewaltigen Energieschub freisetzte. Die Suche nach besseren Chancen verstärkte auch die Migration, vom Lande in die expandierenden Städte ebenso wie über den Atlantik in die Neue Welt. Die wachsende Ruhelosigkeit, die nun die Europäer ergriff, war eine wichtige psychologische Motivation für ihre Dynamik.5

Ein letzter, oft vergessener Faktor war das zunehmende Streben nach Rechtsstaatlichkeit, das schließlich zur Festschreibung der fundamentalen Menschenrechte führte. Selbst absolutistische Monarchen wie der Preußenkönig Friedrich der GroßeFriedrich der Große sahen ein, dass der Handel kaum gedeihen und der Frieden zwischen den Religionen schwerlich aufrechterhalten werden konnte, wenn nicht die Gültigkeit von Verträgen außer Frage stand, die Sicherheit des Eigentums gewährleistet war und der Gesetzgeber bindende Toleranzregeln schuf. In einer Reihe von Kämpfen zwischen Herrschern und Beherrschten, wobei die Französische Revolution und die späteren kontinentalen Revolutionen besondere Merkzeichen setzten, errangen die Untertanen gewisse Bürgerrechte, die sie vor den verheerenden Zumutungen des Staates schützten. Die Redefreiheit eröffnete nun eine öffentliche Sphäre, während die Versammlungsfreiheit die Bildung einer pluralistischen Zivilgesellschaft erleichterte. In Verfassungen verankert, ermöglichten diese schwer errungenen Bürgerrechte erst der Mittelklasse und schließlich auch dem Proletariat, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Obwohl dieser Bürgerstatus nach wie vor in den Bereichen des Sozialen, des Rassischen und des Geschlechts eingeschränkt blieb, lebten doch die meisten europäischen Männer nicht mehr unter einer Willkürherrschaft und fühlten sich um 1900 immerhin so sicher, dass sie sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen wagten.6

Unter diesen Bedingungen entwickelte sich ein neuer Typus politischer Ordnung, genannt Nationalstaat. Er unterschied sich grundlegend von den Ordnungen in der übrigen Welt. Während Osteuropa noch von Imperien beherrscht war – dem russischen, dem habsburgischen und dem osmanischen –, die sich aus verschiedenen Ethnien und Religionen zusammensetzten, wandelten sich im Gefolge der Französischen Revolution die westlichen Monarchien in neuartige, homogenere politische Gefüge, deren jedes beanspruchte, nur aus einer einzigen Nation zu bestehen. Dieses nationale Ideal bezog sich auf eine gemeinsame Sprache, eine ähnliche Vergangenheit und ein Zugehörigkeitsempfinden der Bürger, das alle bisherigen inneren Unterschiede transzendierte. So entstand ein Staatswesen aus einem Guss, das eine feste Herrschaft über ein bestimmtes Territorium innehatte, mit einer einzigen Verfassung, einem Gesetzeskorpus und einem Münzsystem ebenso wie einem Binnenmarkt, was Wachstum und Handel erleichterte. Diese imaginäre Gemeinschaft erschien italienischen und deutschen Intellektuellen so attraktiv, dass sie versuchten, die fragmentierten Fürstentümer ihres Landes ebenfalls zu einem neu zu schaffenden Nationalstaat zu einen.7 Indem sie ihre Bürger mobilisierte, wurde diese neue politische Organisationsform nicht nur mächtiger als die traditionellen Imperien, sondern es gelang ihr auch, Kolonien in Übersee zu erwerben.

Der Erfolg des Modells Nationalstaat beruhte zum Teil auf seiner Fähigkeit, Ressourcen zu erschließen. Das ermöglichten ein neuartiger effizienter Verwaltungsapparat und ein allgemeingültiges Steuersystem. Vor der Revolution wurden noch Ämter ge- und verkauft, oder es herrschte Korruption wie bei den Osmanen. Das administrative Korps des Nationalstaats hingegen galt als kompetent und unparteiisch, weil seine Angehörigen vom Staat besoldet wurden und Pensionsprivilegien innehatten. Eine Einstellung bei den Behörden setzte voraus, dass der Betreffende eine universitäre, zertifikatbelegte Ausbildung in Jura oder einer anderen Disziplin durchlaufen hatte; nicht mehr familiäre Beziehungen oder politische Patronage entschieden darüber. Ferner wurden Steuern jetzt nicht mehr willkürlich festgelegt, sondern basierten auf objektiven Kriterien, was die erzielbaren Einnahmen so verlässlich einschätzbar und transparent machte, dass die Regierungen vorausplanen konnten. Im Gegenzug bekamen die Bürger innerstaatlichen Frieden und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. So weit das Ideal – es wurde nicht immer erreicht, aber die Bürokratisierung der Verwaltung erwies sich doch als effizienter und berechenbarer als frühere Praktiken. Dies ermöglichte dem Nationalstaat, sein Wirken auf immer mehr und immer neue Gebiete auszudehnen.8

Ein zweiter Pfeiler des europäischen Nationalstaats war ein reformiertes Militär, das es ihm erlaubte, eine nie dagewesene Schlagkraft gegen seine äußeren und inneren Feinde aufzubieten. Im Gegensatz zum kostspieligen Söldnertum des Ancien Régime beruhte das revolutionäre Konzept des ›Bürgers in Uniform‹ darauf, dass alle wehrfähigen Männer Militärdienst leisten mussten. Bei Angriffen von außen konnten so mit begrenzten Kosten ganze Massenarmeen ausgehoben werden, und der Staat erhielt Gelegenheit, seinen Rekruten ihre nationalen Pflichten einzutrichtern. Gleichzeitig ermöglichten technische Innovationen – etwa die Repetierbüchse, das Maschinengewehr, die Handgranate und die schwere Artillerie – es den europäischen Soldaten, viel mehr Gegner zu töten als mit Musketen und Bajonetten. Ähnlich verlief die Entwicklung im maritimen Bereich: Dank Kanonen- und U-Booten sowie Panzerschiffen ließ sich auch der Krieg zur See mit mehr Durchschlagskraft führen, befähigten sie doch zu Attacken auf Ziele, die fern der heimatlichen Basis in Übersee lagen. Schließlich maximierten die Generalstäbe durch akribische logistische Planung die Effizienz von Truppenbewegungen. Diese Umstände, zusammengenommen, bildeten die Grundlage der militärischen Überlegenheit Europas.9

Die internationale Ordnung, in der diese europäischen Staaten dominierten, bestand aus einem informellen »Nichtsystem«, das den Nationen die Möglichkeit ließ, miteinander zu konkurrieren. Nachdem Versuche, die Hegemonie zu erlangen, gescheitert waren – zuletzt derjenige NapoleonsNapoleon Bonaparte –, blieb der Kontinent in mehrere Dutzend unabhängige Staaten fragmentiert. Die Führungsrolle unter ihnen hatten die Großmächte Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich-Ungarn und Russland inne, deren informelles Ensemble man als »Pentarchie« [›Fünferherrschaft‹] bezeichnet; jede davon nahm bestimmenden Einfluss auf ihre Nachbarländer. Das Gefüge war stets flexibel genug, um auch Neuzugänge aufzunehmen, wobei ein dynamischer newcomer wie Preußen bzw. Deutschland schon einmal ein älteres, schwächelndes Mitglied wie Spanien verdrängen konnte. Die Briten nannten dieses System balance of power, ›Gleichgewicht der Kräfte‹; denn sie achteten sorgfältig darauf, dass keiner der Kontinentalstaaten stark genug wurde, um ihr Imperium herauszufordern. In gleicher Absicht – der Sicherheit zuliebe – suchte der deutsche Reichskanzler Otto von BismarckBismarck, Otto von stets ein Bündnis mit zwei anderen Staaten der Pentarchie. Konflikte zwischen kleineren Ländern oder den Großmächten wurden durch internationale Kongresse oder diplomatische Verhandlungen gelöst, und zwar gemäß dem Prinzip, dass, wenn ein Staat einem anderen Staat Gebiet wegnahm, der letztere eine Kompensation erhielt.10 Das System hatte nur eine fundamentale Schwachstelle: Seine Neujustierung erforderte Krieg.

Zwar waren die führenden europäischen Staaten inzwischen mit nie dagewesener Macht ausgestattet, aber gleichzeitig schufen diese dynamischen Entwicklungen auch enorme Spannungen, die jeden Augenblick zu eskalieren drohten. Scharfsichtige Kritiker wiesen auf die Vielzahl der ungelösten Konflikte hin und zeigten sich besorgt, dass es bald zu einer Krise kommen könnte. Beim Aufteilen der Welt gerieten koloniale Gebietsansprüche mehrfach miteinander ins Gehege, so im SudanSudan, während einheimische Völker beispielsweise in IndienIndien gegen die Fremdherrscher zu rebellieren suchten. Daheim lieferten sich Industrielle und Grundbesitzer, die von der Ausbeutung der Arbeitskraft profitierten, einen erbitterten Klassenkrieg mit dem Proletariat, das sich nun in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierte. In der Öffentlichkeit schürte die Sensationspresse nationalistische Hassgefühle, indem sie andere Länder herabwürdigte, während Agitatoren hässliche Rassenvorurteile mobilisierten. In den östlichen Imperien versuchten nationale Befreiungsbewegungen derweil, sich der Dominanz der jeweiligen Zentren zu entwinden, indem sie lautstark Selbstbestimmung einforderten.11 Um die Jahrhundertwende war Europa also ein sich rasch entwickelnder Kontinent mit einer enormen Machtfülle, aber nicht minder eine von tiefen Klüften durchzogene Gesellschaft, die schließlich seine Länder zerreißen sollten.

Ambivalenzen des Fortschritts

Mein Buch baut zwar auf Untersuchungen anderer auf, doch präsentiert es eine eigene Interpretation der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, wobei es besonders die fundamentale Ambivalenz der Moderne in den Blick nimmt. Die Erzählung vom unaufhaltsamen Fortschritt, die sich in den meisten Lehrbüchern zur »Geschichte der westlichen Zivilisation« findet, wird dem immensen Leid, das die beiden Weltkriege brachten, nicht gerecht. Mark MazowerMazower, Mark artikuliert in seiner Studie Der dunkle Kontinent eine Gegenposition und sieht als bestimmende Momente die ungeheuren Verbrechen, die ethnischen Säuberungen und den Holocaust; sie erklärt aber nicht hinreichend die Dynamik der Erholung nach dem Krieg. Weder Eric HobsbawmsHobsbawm, Eric vom linken Standpunkt her geführte Klage über die Niederlage des kommunistischen Projekts noch Edgar WolfrumsWolfrum, Edgar Betonung der segensreichen Fortschritte im täglichen Leben erfasst die ganze Komplexität der europäischen Entwicklung. Tony JudtJudt, Tony, der den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg aus sozialdemokratischer Sicht darstellt, kommt dem Entscheidenden schon näher; leider lässt er jedoch wichtige Vorgänge der ersten Jahrhunderthälfte unerörtert, während Ian KershawsKershaw, Ian eindrucksvolle Synthese vorerst nur bis 1950 reicht.1 Anregend sind diese Studien zwar, jede in ihrer Art, aber sie liefern eben keinen umfassenden und ausgewogenen Gesamtplan, mit dessen Hilfe sich die Katastrophen und die Erfolge Europas während des letzten Jahrhunderts verstehen ließen.

Meine Reflexionen unterscheiden sich daher in mehrfacher Hinsicht von der bereits existierenden Literatur. Andere Autoren beginnen bei einem früheren oder späteren Zeitpunkt; im Gegensatz dazu setze ich mit der intensivierten Modernisierung ein, die um 1900 den Höhepunkt imperialistischer Macht in Europa verursachte. Ich blende nicht ab mit der Jugendrevolte von 1968 oder der friedlichen Revolution von 1989, sondern nehme das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts ernst als eine Epoche mit eigenem Charakter, die einer Erklärung bedarf. Nur so lassen sich die konsternierenden Herausforderungen unserer Gegenwart verstehen. Während viele kulturalistische Darstellungen bevorzugt mit Impressionen und Gefühlen operieren, halte ich den Blick auf Politik, zwischenstaatliche Angelegenheiten und Kriege gerichtet und beziehe bei der Erörterung der Ursachen dieser Phänomene auch Faktoren wie ökonomische Dynamik, soziale Veränderung und kulturelle Strömungen ein. Die folgenden Seiten versuchen ferner eine diskursive Annäherung an die Vergangenheit, indem sie die eigenen Argumente in den Kontext von Sichtweisen stellen, die, was bestimmte wichtige Fragen betrifft, zu anderen Ergebnissen gelangt sind. Schließlich will dieses Buch, statt lediglich ein detailliertes Narrativ zu bieten, eine zusammenhängende Interpretation präsentieren, indem es rivalisierende Auffassungen von Moderne vergleicht.2

Um die Komplexität der europäischen Vergangenheit zu erfassen, wird die nachstehende Reflexion über essentialistische Definitionen hinausgehen und konstruktivistische sowie relationale Untersuchungsansätze nutzen. Einerseits interpretiert sie die Dynamik des Kontinents als Folge der Tatsache, dass er ein Raum intensiver Kommunikation war und über gemeinsame historische Erfahrungen verfügte, die auf die Antike, das Christentum, die Renaissance und die Aufklärung zurückgehen. Andererseits sehe ich Europa als diskursives Konstrukt, geschaffen von inneren Kommentatoren und äußeren Beobachtern, wobei sich das Konstrukthafte darin zeigt, dass sich Europas Zentrum, seine Grenzen und seine Werte immer wieder verschoben haben.3 Bemüht, die übliche einseitige Ausrichtung auf Westeuropa zu vermeiden, gibt meine Synthese den Vorgängen in Mittel- und Osteuropa mehr Raum und stellt den Kontinent selbst in einen globalen Kontext, um nachzuzeichnen, wie er die Welt geprägt, aber auch, wie die Welt auf ihn eingewirkt hat. Ich will gemeinsame Muster in der Entwicklung mehrerer der immer noch mächtigen Nationalstaaten erkennen. Zu diesem Zweck nehme ich ein paar hochrelevante übergreifende Phänomene in den Blick, etwa wirtschaftliche Depression oder Dekolonisation. Diesbezüglich konzentriere ich mich auf eine Handvoll führender Länder, bei bestimmten kritischen Punkten werfe ich aber auch Seitenblicke auf kleinere Staaten, die wichtige transnationale Prozesse erhellen können. Da es einen regelrechten Staatenverbund vor der Europäischen Union noch nicht gab, beansprucht meine Studie nicht, die eine Erzählung der Europäisierung zu liefern, sondern geht von mehreren Geschichten aus, die sich überschneiden.4

Statt Europa nur durch die Linse schmerzvoller Erinnerung zu betrachten, nimmt meine Darstellung auch des Kontinents lebendige Gegenwart fest ins Visier. Touristen lassen sich ja gern vom romantischen Anblick alter Kathedralen, hoch aufragender Burgen und Schlösser sowie prächtiger Patrizierhäuser faszinieren. Scharfsichtigere Besucher bemerken auch die vielen Kriegsnarben, etwa Bombenlücken in den Straßen, Schusslöcher in Häuserwänden, Soldatenfriedhöfe und Ehrenmale für die Opfer blutiger Schlachten.5 Und doch ist dieser Kontinent, das wird mein Buch darlegen, mehr als nur ein Museum. Dafür sprechen die glänzenden modernen Städte, in denen das Leben weitergeht, Städte mit eleganten Einkaufszonen, Städte, die Hochgeschwindigkeitszüge verbinden und ein effizienter öffentlicher Nahverkehr durchzieht, Städte voller gutgekleideter Leute, die nicht mehr viel von der Vergangenheit zu wissen scheinen. In den letzten Jahren hat die Immigration die Menschenmassen bunter gemacht: Man sieht verschiedene Hautfarben, Kopftuch und Ganzkörperschleier neben Miniröcken und Jeans, und Moscheen wetteifern stellenweise schon mit den Kirchen. Diese Studie untersucht daher die Spannung zwischen einer problematischen Vergangenheit und einer vielversprechenden Gegenwart, um jene besondere Version der liberalen Moderne zu entschlüsseln, welche die europäische heißt.6

Ein solcher Ansatz wirft neue Fragen auf, was die Hoffnungen betrifft, die der Drang zur Modernisierung auslöste, aber ebenso, was den Widerstand gegen sie angeht. Neu beleuchtet werden muss der Konflikt zwischen den rivalisierenden ideologischen Versionen, die das gesamte 20. Jahrhundert beherrschten. Warum begeisterte das Versprechen des Fortschritts so viele Staatenlenker, Geschäftsleute, hochqualifizierte Akademiker und einfache Arbeiter, weshalb erschien er ihnen als ein Weg in eine bessere Zukunft? Diese Advokaten des Wandels mussten eine ganze Schar von Verteidigern der Tradition bezwingen, die sich gegen die Innovation wandten, weil sie ihre etablierte Ordnung und ihren gewohnten Lebensstil bewahren wollten. Welcher Druck spaltete das Projekt des »Immer vorwärts« in liberale, kommunistische und faschistische Ideologien auf, deren jede eine andere Blaupause für die Zukunft propagierte? Die Konflikte zwischen diesen Programmen förderten die üblen Seiten des Prozesses; sie brachten neue, unermessliche Arten von Leid in Gestalt des Vernichtungskrieges und des Holocaust. Wie konnte der verwüstete Kontinent aus den Trümmern wiederauferstehen und zu einem geläuterten Verständnis von Modernität gelangen? Indem es analysiert, wie die Europäer das Potenzial des Fortschritts genutzt haben, will dieses Buch zu einer kritischeren Betrachtung der Chancen und Gefahren ermuntern, die jenes Streben mit sich brachte und bringt.7

Schauen wir auf die Ambivalenzen der Moderne, erscheinen manche wohlbekannten Ereignisse in neuem Licht; andere, bisher eher vernachlässigte Vorgänge gewinnen schärfere Konturen. Wie sich dabei zeigt, war das erste Viertel des 20. Jahrhunderts von einem optimistischen Vertrauen in den Fortschritt beherrscht, da Wissenschaft, Wohlstand und Frieden der Mittelschicht ein unübersehbar besseres Leben bescherten. Die Tötungswucht der industriellen Kriegsführung wurde daher als ungeheurer Schock wahrgenommen, der zu beweisen schien, wie recht die Kritiker der Moderne hatten, denn sie brachte immenses Leid in die Schützengräben und an die Heimatfront. Doch davon unbeeindruckt behaupteten führende Politiker, es gebe Auswege aus dieser misslichen Situation, und bald waren verschiedene rivalisierende Ideen im Umlauf: Liberale, kommunistische und faschistische Visionen der Modernisierung versprachen, man könne den Fortschritt sehr wohl wieder voranbringen, wenn man nur ihren Anordnungen folgte. Der Übergang zum Frieden erwies sich zwar als schwierig, aber Mitte der 1920er Jahre verbesserten sich die Lebensbedingungen doch so weit, dass die Hoffnung zurückkehrte. Und die Intellektuellen ließen die Hemmnisse der Tradition hinter sich und experimentierten mit dem kulturellen Modernismus. Nachdem es das Trauma des Ersten Weltkriegs durchlebt hatte, schien Europa in der Lage, ein weiteres Stück Wegs voranzukommen.

Aus einer solchen Perspektive zeigt sich auch das gefährliche Potenzial der Moderne, das Europa im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Indem sie die bisherige Entwicklungsrichtung umkehrte, säte die Große Depression tiefe Zweifel, ob die Demokratie wohl überlebensfähig sei. Der erstaunliche Erfolg der stalinistischen Modernisierung in der Sowjetunion zog viele Intellektuelle aus dem Westen in Bann, die das sowjetische Modell des radikalen Egalitarismus als Weg in eine bessere Zukunft priesen. Andere, die sowohl der Demokratie als auch dem Kommunismus kritisch gegenüberstanden, wandten sich der organischen Modernität der Nazis zu, die versprachen, die soziale Ordnung mit dem technischen Fortschritt in der Volksgemeinschaft zu versöhnen. Das mörderische Wüten des Zweiten Weltkriegs übertraf noch bei weitem das Gemetzel seines Vorgängers, während die sozialtechnischen Projekte der Kommunisten und der Nazis – Klassenkrieg hier, ethnische Säuberungen bis hin zu Adolf HitlersHitler, Adolf Holocaust dort –, Auswüchse einer Moderne waren, die Amok lief. Am Ende der heftigen Gefechte glichen weite Teile Europas einer Mondlandschaft, in der verstörte Bewohner um das nackte Überleben kämpften. Die Versuche des social engineering der Diktatoren hatten ungeheure Zerstörung angerichtet.

Die genannte Blickrichtung lässt uns des Weiteren erkennen, dass der Alte Kontinent nicht unterging, sondern sich aus der Asche wieder emporschwang. Das konnte er, weil er im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts eine konservative Version der Modernisierung anstrebte. Unterstützt von den Vereinigten Staaten, nutzte der westliche Teil die Chance, die Demokratie mit Hilfe des Wohlfahrtsstaats zu stabilisieren, während die östliche Hälfte eine Sowjetisierung erlebte. Daraus ergaben sich die Krisen des Kalten Krieges, die glücklicherweise im Zaum gehalten wurden durch die Furcht vor nuklearer Vernichtung; zudem befreite die Dekolonisation Europa von seinem imperialen Ballast. Die wirtschaftliche Integration innerhalb Westeuropas bewies, dass man dort die Lektionen über die Schädlichkeit nationalistischer Feindseligkeiten gelernt hatte, während die östliche Hälfte unter der diktatorischen Herrschaft Russlands verblieb. Im Gegensatz zur Zwischenkriegsphase akzeptierten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Europäer die Moderne, weil sie ihnen merkliche Verbesserungen ihres Lebensstandards brachte, etwa bei Konsum und Unterhaltung. Beiderseits des Eisernen Vorhangs waren die Politiker überzeugt, sie könnten das wohltätige Potenzial des Fortschritts ausschöpfen, indem sie soziale Reformen planten. Wieder einmal wurde die Modernisierung zum Leitwort einer friedlichen Koexistenz der konkurrierenden Zukunftsentwürfe in Ost und West.

Schließlich ergibt meine Analyse, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine unvorhergesehene kulturelle Revolte gegen die Moderne das wiedergewonnene Vertrauen in den Fortschritt erschütterte. Die Jugendrebellion, neue soziale Bewegungen und postmoderne Kritik lehnten die rationalistische Synthese des klassischen Modernismus ab. Gleichzeitig unterminierte die ökonomische Transformation, die sich im Gefolge der Globalisierung vollzog, die gesellschaftlichen Stützpfeiler sozialdemokratischen Planens. Das Ende des Kalten Kriegs bahnte der »friedlichen Revolution« von 1989 den Weg, die den Kommunismus stürzte; nun blieb als Modell für die Transformation Osteuropas einzig die demokratische Modernisierung übrig. Neue globale Herausforderungen im wirtschaftlichen Wettbewerb, »Armutsmigration« und internationaler Terrorismus machten jedoch rasch diesem Triumph ein Ende. Um 2000 sah sich Europa vor der Aufgabe, seine eigene Version des Wohlfahrtskapitalismus gegen die Hegemonie des amerikanischen Modells und die aufsteigenden asiatischen Konkurrenten zu verteidigen. Indem sie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit diesem Streben nach Fortschritt verbunden waren, ins Schlaglicht rückt, liefert unsere Perspektivierung eine neue Interpretation des kontinentalen Ringens mit dem Fortschritt während des 20. Jahrhunderts.

Auch wenn sich der Fokus des Interesses inzwischen auf andere Regionen der Erde verschiebt – der Fall Europa bleibt wichtig, denn er repräsentiert ein drastisches Beispiel für die Fehlschläge und Erfolge, die beim Umgang mit der Modernisierung geschehen können. Aufstieg, Fall und Wiedergeburt des Alten Kontinents im 20. Jahrhundert bieten eine hochdramatische Erzählung, vorangetrieben von außergewöhnlichen Individuen, voller überraschender Kehren und Schicksalswendungen. Einerseits kann man sie lesen als Warnung vor den unheilvollen Folgen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft durch diktatorische Systeme anrichtet. Das stalinistische Russland und das nazistische Deutschland hinterließen eine Spur von Leid und Tod, und zwar in einem schier unvorstellbaren Ausmaß. Andererseits kann das Exempel Europas auch ermutigen, denn es bezeugt, dass Gesellschaften, die an den Rand der Selbstzerstörung gerieten, sich regenerieren können, wenn sie aus den Lektionen ihrer mörderischen Vergangenheit lernen, dass sie um einer besseren Zukunft willen kooperieren müssen.8 Nur gar zu deutlich zeigen sich die Verheerungen, die eine autodestruktive Kriegsführung und ein ausbeuterischer Kapitalismus angerichtet haben. Daher führt die europäische Erfahrung letztendlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Stabilität der Demokratie durch friedliche Kooperation nach außen und einen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat im Inneren zu bewahren. Die entscheidende Einsicht, die aus jenem Jahrhundert der Turbulenzen zu ziehen wäre, lautet also, dass die Dynamik der Moderne zu zügeln ist, damit ihr wohltätiges Potenzial freigesetzt werden kann.

TEIL I

Fortschrittsversprechen, 1900–1929

Globale Herrschaft

Südafrikanische SüdafrikaDiamantenmine, 1911

Das diamantene Thronjubiläum Königin VictoriasVictoria I., der sechzigste Jahrestag ihres Machtantritts, bildete den symbolischen Höhepunkt des europäischen Imperialismus. Kolonialminister Joseph ChamberlainChamberlain, Joseph hatte die Idee zu diesem prächtigen Festival of the British Empire gehabt; es kamen auch elf Premierminister aus den selbstverwalteten dominions. Ein zeitgenössischer Film hat dieses Ereignis festgehalten; auf dessen flimmernden Bildern ist kaum zu erkennen, dass LondonLondon schier unterging in Fahnen, Girlanden und Scharen neugieriger Menschen, zurückgehalten von Soldaten mit hohen Pelzmützen. Militäreinheiten aus dem gesamten Empire paradierten zu Fuß oder auf Pferden durch die Straßen. Sie trugen farbenfrohe Uniformen, so das Kontingent der kanadischen Reiterpolizei ihre roten Waffenröcke und indische Regimenter die traditionelle Tracht ihrer Heimat. An der Spitze des Zuges fuhr die bald achtzigjährige KöniginVictoria I. in einer Pferdekutsche. Die Prozession hielt vor der Sankt-Pauls-Kathedrale, wo ein Gottesdienst unter freiem Himmel stattfand. Auch andernorts in England und nicht minder in den Kolonien wurde der Tag mit Reden und Feuerwerk festlich begangen. Das diamantene Jubiläum stellte die militärische Macht des Imperiums zur Schau und ebenso die Zuneigung vieler seiner Untertanen zu ihrer betagten Monarchin.1

Zeitgenössische Propagandisten und auch spätere Kommentatoren wurden und werden nicht müde, die Verdienste des Empire zu preisen, von denen Kolonisatoren und Kolonisierte profitiert hätten. Schriftsteller wie H. Rider HaggardHaggard, H. Rider verfassten aufregende Geschichten, so die Abenteuer des Allan Quartermain, die in Afrika spielten und nachmals Anregung für die Indiana-Jones-Filme liefern sollten. Journalisten, darunter der junge Winston ChurchillChurchill, Winston, schilderten anschaulich begeisternde Siege der Kolonialtruppen gegen in Überzahl kämpfende Derwische, ohne deren Abschlachtung moralisch bedenklich zu finden. Ein Jahrhundert später hat das dschihadistische Chaos dazu geführt, dass wieder die Vorteile der imperialen Ordnung erörtert werden: Verglichen mit dem Problemwirrwarr, den spätere Konflikte zwischen Religionen oder Nationalstaaten ausgelöst hätten, habe sie doch funktioniert. Der britische Historiker Niall FergusonFerguson, Niall erklärt deshalb, das Empire habe »weltweit den Wohlstand gefördert«, indem es den liberalen Kapitalismus, die englische Sprache, die parlamentarische Demokratie und die Ideen der Aufklärung in Schulen und Universitäten verbreitet habe. Er sieht darin eine Frühform dessen, was er anglobalization nennt (gemeint ist die Globalisierung mit Großbritannien und den USAVereinigte Staaten als treibenden Kräften, namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg). Mit Verweis auf das segensreiche Walten des britischen Weltreichs schließt FergusonFerguson, Niall, das »Empire und seine Folgewirkungen« hätten »die moderne Welt so tiefgehend geformt, dass wir deren Beschaffenheit fast als selbstverständlich nehmen«.2

Andererseits mehrten sich im Laufe des Jahrhunderts die kritischen Stimmen; ja, Imperialismus avancierte zu einem der verhasstesten Begriffe im Wortschatz der Politik. Literaten beschrieben die Ausbeutung und den Rassismus, die Europa anderen Teilen der Welt angedeihen ließ, in packenden Geschichten, so Joseph ConradConrad, Joseph in seiner Novelle Heart of Darkness (dt. Herz der Finsternis). Kritiker wie John A. HobsonHobson, John A. attackierten den Kolonialismus, denn er habe »seinen Ursprung im selbstsüchtigen Interesse bestimmter Kreise der Industrie und Finanz sowie bestimmter Berufsgruppen, die privaten Profit aus einer Politik imperialer Expansion ziehen wollen«. Während des Ersten Weltkriegs meinte der Revolutionär Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I., der Imperialismus sei »seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus«, und die Kette der imperialistischen Ausbeutung könne an ihrem schwächsten Glied zerbrochen werden, nämlich seiner Heimat Russland. Da sie dringend einer theoretischen Rechtfertigung bedurften, um die europäische Herrschaft zu stürzen, übernahmen viele antikolonialistische Intellektuelle diese Kritik an der imperialistischen Ausbeutung für ihre nationalen Befreiungskämpfe. Da sie unverändert missbilligen, wie Amerika im Kalten Krieg Diktaturen in der »Dritten Welt« unterstützte, geißeln viele postkoloniale Wissenschaftler nach wie vor die schändlichen Konsequenzen des imperialistischen Rassismus und der Unterdrückung durch die Weißen.3

Die Intensität und Langlebigkeit der normativen Debatte um den Imperialismus unterstreichen, wie zentral die Imperiumsidee für die moderne europäische Geschichte ist. Jahrhundertelang beherrschte das Streben nach ressourcenreichen Besitztümern in Übersee das Handeln der westlichen Staaten; mit ähnlichen Motiven suchten die östlichen Monarchien benachbarte Territorien zu erwerben. Viele der Rohstoffe, die Europas Industrien verbrauchten, kamen aus den Kolonien, während ihre Fertigprodukte in die vom Mutterland kontrollierten Kolonialmärkte exportiert wurden. Viele Europäer zeigten ein Bewusstsein der Überlegenheit über die sogenannten »Eingeborenen«, während wertvolle Objekte aus der imperialen Kultur die Salons der europäischen Elite zierten. Aufgrund dieser ungleichen Interaktion war das Phänomen Imperium in den Metropolenländern allgegenwärtig. Parallel dazu lernten die Nichteuropäer die Weißen zuerst in deren Eigenschaft als imperiale Ausbeuter, Händler, Missionare, Beamte oder Offiziere kennen. Welche Auffassung sie von den Europäern hatten und was sie ihnen gegenüber empfanden, war daher zutiefst durch ihre Erfahrungen mit imperialer Dominanz und ökonomischer Ausbeutung geprägt.4 An der Wende zum 20. Jahrhundert bestimmte der Imperialismus nicht nur Europas Herrschaft über die Welt, sondern auch die Reaktion der Welt auf Europa.

Modernisierung war gleichermaßen Ursache wie Ergebnis des imperialen Projekts und eng mit ihm verbunden, wobei sich deutlich die Ambivalenz ihrer Dynamik zeigte. Einerseits beruhte die militärische Überlegenheit der Europäer über die einheimischen Völker auf dem technologischen Vorsprung in Waffen und Organisation, den ihnen die Moderne ermöglichte. Die Rastlosigkeit, neue Gebiete zu erforschen; die Gier, die Risikobereitschaft stimulierte; der Individualismus, der zur Auswanderung ermutigte; der Rechtsstaat, der Vertragstreue erzwingbar machte – all dies war zutiefst modern. Andererseits prägte die imperiale Unterdrückung die kolonisierten Gesellschaften; dabei verbreitete sich eine ausbeuterische Form der Modernisierung durch Gewalt oder Überzeugung auf dem ganzen Globus. Indem sie Plantagen, Handelshäuser, Regierungsapparate und Militärkasernen schufen, aber eben auch Schulen, Kliniken und Kirchen bauten, zerstörten die Imperialisten traditionelle Lebensmuster. Während die imperiale Inbesitznahme die Arroganzgefühle der Europäer und ihr Fortschrittsvertrauen verstärkte, zwang sie den Kolonisierten eine seltsame Mischung aus Unterdrückung und Verbesserung auf. Es ist daher von essentieller Wichtigkeit, die zutiefst problematische Verbindung zwischen Imperium und Moderne zu erkennen.5

Ursachen der Expansion

Europas Expansion nach Übersee hatte im 15. Jahrhundert mit wagemutigen Forschungsreisenden wie Vasco da GamaGama, Vasco da begonnen. Portugiesische und spanische Seefahrer machten den Anfang, später kamen niederländische, britische und französische hinzu. Diese erste Welle des Kolonialismus beschränkte sich im Großen und Ganzen auf Küstengebiete und war kommerziell motiviert; private Firmen mit besonderen Konzessionen wie die Niederländische Ostindien-Kompanie trieben sie voran. Hauptsächlich ging es um Edelmetalle wie etwa Silber, die in Europa knapp wurden, oder um Gewürze, Tee und Kaffee, die in der Heimat nicht wuchsen. Ein großer Teil handelte mit unfreiwilliger Arbeit; Menschen wurden zu Sklaven gemacht, weil man billige Kräfte für die Bodenbewirtschaftung in Plantagen auf den karibischen Inseln und dem amerikanischen Kontinent brauchte. In den gastlicheren Regionen Nordamerikas und AustraliensAustralien, deren Klima gemäßigt war und in denen es keine Seuchen wie Malaria gab, entwickelten sich auch Siedlerkolonien, die religiöse Dissidenten, landhungrige Bauern und kriminelle Outlaws anzogen.1 Dieser frühe Kolonialismus errichtete riesige transozeanische Imperien; aber als etwa im ersten Drittel der 19. Jahrhunderts der Freihandel aufkam und mit Sklaven keine Geschäfte mehr gemacht werden durften, war seine Energie weitgehend verbraucht.

Seit den 1870ern entwickelte sich ein neuer Imperialismus, getragen von der Dynamik der europäischen Modernisierung. Er baute zwar auf früheren Trends auf, doch intensivierte er das territoriale Vordringen und den Herrschaftsanspruch. Der Terminus »Imperialismus« war ursprünglich geprägt worden, um die abenteuerliche Politik Napoleons III. Napoleon III.zu kritisieren, dessen Großmachtgebaren sich im Bau des SuezkanalsSuezkanal äußerte. Kaum war aber der verkürzte Seeweg nach IndienIndien eine »Lebensader des britischen Weltreichs« geworden, bekam das Wort einen positiveren Klang. Während des nun einsetzenden »Wettlaufs um Afrika« teilten die europäischen Mächte den Kontinent untereinander auf; den Verlauf der Grenzen legten sie in der BerlinerBerlin Kongo-Konferenz 1884/85 fest. Der neue Imperialismus, der sich dabei formierte, sollte sich vom Kolonialismus älteren Musters unterscheiden. Zwar trieben auch ihn Wissenschaftler, Missionare und Handelsleute als Pioniere voran, doch wurde er sehr rasch von Regierungen für ihre Zwecke übernommen. Entsprechend erhoben sie Ansprüche auf ganze Territorien, statt sich wie zuvor mit den Küstenlinien zu begnügen, weshalb sie weit ins Landesinnere vorstießen und militärische Sicherheits- und bürokratische Herrschaftsapparate errichteten. Diese eher invasive Form der Machtausübung erlaubte es Plantagenbesitzern, Bergbauunternehmen, Finanzinvestoren und Schifffahrtsgesellschaften, ihren Profit künftig im Rahmen der europäischen Hegemonie zu erwerben.2

In den 1920ern versucht der amerikanische Politologe Parker T. MoonMoon, Parker T. das Wesen dieses »neuen Imperialismus« näher zu bestimmen, indem er dessen politische Aspekte hervorhebt. Er definiert ihn als »Ausdehnung der politischen oder ökonomischen Kontrollmacht eines Staates auf einen anderen, in Kultur oder Rasse vom ersteren verschiedenen, mit Hilfe eines Ideenkorpus, der diesen Schritt rechtfertigen soll«. Jene klassische Definition hält also nicht die ökonomische Ausbeutung für den Hauptfaktor, sondern betont, dass zum neuen Imperialismus eine direkte oder indirekte Form von Herrschaft, kulturelle und rassische Unterschiede sowie eine die Expansion propagandistisch stützende Rhetorik gehörten. Eine jüngere Definition malt ein komplexeres Bild: »Charakteristische Merkmale eines Imperiums waren enorme Größe, ethnische Diversität, das Bestehen aus vielen Einzelterritorien als Ergebnis in der Vergangenheit erfolgter Abtretungen oder Eroberungen, besondere Formen übernationaler Macht, veränderliche Grenzen, ein Fluktuieren der Landeshoheit in den Randgebieten und schließlich ein Geflecht aus interaktiven Beziehungen zwischen den imperialen Zentren und den Peripherien«. Diese Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht nur die maritimen Imperien wie das Großbritanniens umfasst, sondern auch die landgestützten autoritären Imperien Russlands, des Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns.3

Dass Europa seine Expansion nach Übersee und seine Praxis der territorialen Eroberungen wieder aufgriff, wurde durch mehrere komplementäre Aspekte der Moderne beschleunigt. Ein oft übersehenes Motiv war wissenschaftliche Neugier. Man wollte die Geografie unbekannter Regionen erkunden – denken wir an David LivingstonesLivingstone, David Versuche, die Quellen des Nils zu entdecken – und die dort vorhandenen Ressourcen kartografieren, um sie dann ausbeuten zu können. Ingenieure reizte die Herausforderung, in schwierigem Gelände Häfen, Brücken, Bahngleise, Telegrafenleitungen und Kanäle zu errichten, kurz: die widerspenstige Natur zu zähmen. Den Europäern sollte so ermöglicht werden, ihre neuerworbenen Gebiete auch zu durchdringen und von ihnen zu profitieren.4 Ferner entwickelte sich eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Ethnologie. Anhand repräsentativer Objekte und Subjekte studierte man fremde Kulturen, die man für »primitiver« hielt als die eigene; man beschrieb ihre seltsamen Gebräuche und sammelte ihre religiösen und weltlichen Artefakte. Diese Anthropologen brachten Produkte und manchmal sogar Menschen aus exotischen Ländern mit nach Hause und zeigten sie in eigens dafür etablierten neuen Museen. Die europäischen Besucher konnten sie und ihre seltsamen Gebräuche dort bestaunen – und sich ihnen überlegen fühlen.5

Ökonomische Interessen spielten zweifellos auch eine wichtige Rolle. Sie trieben Abenteurer in fremde Länder, wo sie ein Vermögen zu machen hofften. Als die Massenproduktion aufkam, suchten Branchen wie die Textilindustrie neue Märkte außerhalb Europas, denn die kargen Löhne, die man den Arbeitern daheim zahlte, hielten den Konsum niedrig. Neue technologische Entwicklungen wie die Elektrizität und das Automobil erforderten außerdem Rohstoffe, die man auf dem Alten Kontinent nicht bekam, etwa Kupfer für Kabel oder Kautschuk für Fahrzeugreifen. Außerdem vermehrte die Verbreitung des Wohlstands das verfügbare Kapital der Spekulanten, die fest entschlossen waren, dort zu investieren, wo die Rendite das Doppelte oder Dreifache dessen betragen konnte, das sich zu Hause erzielen ließ, auch wenn dies ein erheblich größeres Wagnis darstellte. Solche Anreize motivierten Geschäftsleute, Plantagen oder Bergwerke einzurichten, in denen Weiße die Aufsicht führten und Einheimische rücksichtslos um des Profits willen ausgebeutet wurden. Für die Verbraucher in den europäischen Metropolen lagen nun Importgüter wie Kaffee, Tee, Bananen, Orangen und Kakao als »Kolonialwaren« zum Kauf bereit.6 Da der Aufbau der notwendigen Infrastruktur teuer war, operierten die meisten Kolonien mit öffentlichen Geldern, um privaten Gewinn zu fördern.

Etwas weniger klar ist, wie die soziale Dynamik des »Aufstiegs der Massen« mit dem Imperialismus zusammenhing. Einerseits fürchtete man sich vor der Überbevölkerung, bedingt durch den rapiden Bevölkerungszuwachs während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, den Hans GrimmsGrimm, Hans Roman Volk ohne Raum (1926) recht dramatisch darstellt. Nicht wenige glaubten, ein besseres Leben zu erlangen, indem sie in die Kolonien emigrierten. Häufig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht, da ein solcher Wechsel mit beträchtlichen Härten verbunden war. Und so erfüllten sich die Erwartungen der Regierungen Europas, mit ihren einheimischen Slums per Imperialismus aufzuräumen, nur selten. Andererseits wirkte die Propaganda bestimmter pressure groups wie der Kolonialbünde und Flottenvereine, die Wirtschaftskreise mit bestimmten kommerziellen Interessen finanzierten, etwa Schifffahrtsunternehmen oder Kolonialimporteure. In Plakaten, Pamphleten und Vorträgen malten sie ein leuchtend helles Bild von den Chancen, die das Imperium dem Einzelnen eröffne – er müsse nur zugreifen.7 Und dann nutzten manche europäische Eliten die imperiale Expansion auch noch, um den Druck umzulenken, der von unten auf soziale Reformen sowie politische Partizipation drängte. So konnten sie einem schlichten Proletarier das Gefühl eingeben, mehr wert zu sein als ein fremdländischer Fürst.

Der kulturelle Impetus des neuen Imperialismus war das paradoxe Projekt mit Namen mission civilatrice, »zivilisierende Mission«. Darunter wurden das Recht und die Pflicht verstanden, minderbedarfte Völker auf den europäischen Standard zu heben. Ursprünglich beinhaltete dieses Motiv noch das missionarische Ziel, den Heiden die Segnungen des Christentums zu bringen, damit auch sie eine Chance auf Erlösung erhielten. Die säkulare Version dieses Konzepts, die sich während der Aufklärung herangebildet hatte, schloss zusätzlich die Verbreitung einer vernunftbestimmten Lebensweise ein, für die Europäer der Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. In seinem Gedicht »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) formuliert der britische Autor Rudyard KiplingKipling, Rudyard die klassische ethische Fundierung dieses Bestrebens: Er ruft die jungen Leute unter den Kolonisatoren auf, »den Bedürfnissen eurer Gefangenen zu dienen«. Doch indem er die kolonisierten Völker »halb Teufel und halb Kind« nennt, verrät er tiefsitzende Arroganz und Rassismus. Das widerspricht dem altruistischen Geist des Poems, worin er etwa fordert, man möge die sogenannten Wilden »aus ihrer Knechtschaft« befreien, indem man ihnen Wissen, Gesundheit und Zivilisation bringe. Das Zivilisierungsethos gab zwar vor, eine humanitäre Vision der Moderne zu propagieren. Doch in Wahrheit diente es nur dazu, ein problemloses Funktionieren der Kolonisierten innerhalb des imperialen Systems zu gewährleisten; volle Gleichberechtigung blieb ihnen versagt.8

Noch ein letztes Bündel von Ursachen für den neuen Imperialismus sei genannt. Die Rivalität zwischen den Großmächten trieb bestimmte Länder dazu, mit den anderen um die Wette Kolonien zu erobern und auszubeuten, da sie fürchteten, sie würden sonst abgehängt. Aus der sozialdarwinistischen Sichtweise jener Jahre war die internationale Politik ein Überlebenskampf, der die Regierungen zwinge, jeden vermutbaren Macht- oder Landgewinn eines Nachbarn durch eigene Zuwächse auszugleichen. War ein Imperium einmal installiert, bestand auch die strategische Notwendigkeit der geopolitischen Verteidigung des eigenen Besitzes. Das erforderte Bekohlungsanlagen für die Dampfschiffe der Marine oder die Okkupation weiterer Ländereien, um eine Grenze militärisch abzusichern. 1890 formulierte der amerikanische Admiral Alfred T. MahanMahan, Alfred T. ein überzeugendes Credo zur eminenten Wichtigkeit von »Seemacht«: Imperien wie das britische, argumentierte er, verdankten ihre weltweite Macht ihrer Überlegenheit auf den Ozeanen. Er vertrat somit einen »Navalismus«, der sich bestens in den Imperialismus einpassen ließ. Solche Haltungen verschmolzen zu einer sozialdarwinistischen Vorstellung der nationalen Vitalität, die mit biologischen Metaphern dartat, dass die Zukunft den jungen und wachsenden Nationen gehöre, wogegen die alten und verfallenden das Nachsehen hätten.9

Der Aufstieg des neuen Imperialismus in den letzten Dekaden des 19