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Die wahrscheinlich längste Affäre der Welt Paul liebt Marie – immerhin ist er ihr bis nach Australien nachgereist, um das zu beweisen. Doch kaum zurück in München, entzieht er sich ihr wieder. Marie muss sich eingestehen, dass es im Leben noch andere Dinge gibt als Paul. Zum Beispiel Max, ihren Ex, der wieder zu haben wäre. Oder die Frage, was man bis zum 30. Geburtstag erreicht haben will. Und so beginnt Maries Suche von neuem – die Suche nach einem Supermarkt, der Pfefferminztaler führt, die Suche nach dem Traummann und dem Gefühl, zu Hause zu sein.
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Seitenzahl: 292
Anette Göttlicher
Aus die Maus
Maries Tagebuch
DIE GRÖSSTE LIEBE IST IMMER DIE, DIE UNERFÜLLT BLEIBT.
Sir Peter Ustinov
Liv Tyler hat ein Fenster in der Stirn. Das sieht ziemlich blöd aus. Warum fallen mir in den erhabensten Momenten meines Lebens immer die am wenigsten passenden Dinge ein?, frage ich mich und unterdrücke, von mir selbst genervt, ein Stöhnen.
«Alles klar, mein Schatz?», erkundigt sich Paul, fasst zärtlich mein Gesicht am Kinn und dreht es sanft zu sich hin.
«Alles wunderbar», lächle ich seinen besorgten Stirnfalten zu und genieße diesen kleinen Moment der Vorfreude. Ich weiß genau, was jetzt kommt. Trotzdem fühlt es sich jedes Mal wieder an, als würde ich mit einem Herzschrittmacher durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen gehen. Paul bekommt einen ganz bestimmten Ausdruck in seinen graugrünen Augen, so einen verwegenen und zugleich hilflosen Ich-muss-dich-jetzt-küssen-Blick. Fast ein wenig bestürzt sieht er aus, wenn er so guckt. Dann kommt er mit seinem Gesicht ganz nahe an meines heran, und ich rieche seine Haut, bevor sie meine berührt. Kurz bevor unsere Nasen kollidieren können, dreht er leicht seinen Kopf, sodass sie aneinander vorbei passen und unsere Lippen sich treffen können. Und dann küsst er mich. Wie jetzt auch. Und Paul schafft es, was ich beinahe verpatzt hätte: Der Moment wird erhaben und einzigartig wie alle vor ihm, in denen Paul mich küsste.
«Excuse me…», höre ich eine weibliche Stimme. Ich blicke auf. Oh. Ups. Es ist eine Stewardess, falsch, Flugbegleiterin, die dort im Gang steht, nachsichtig lächelnd und mit einem Trolley mit eingeprägtem Känguru an der Hand. Unglaublich. Paul und ich sind die letzten Passagiere im gerade gelandeten Jet. Dass Zeit relativ ist, hat mir schon immer eingeleuchtet. Aber dass sich beim Küssen mit Paul fünf Minuten anfühlen wie wenige Sekunden, überrascht mich immer wieder.
«So sorry», stammle ich und klaube hastig meine Siebensachen zusammen. «Komm, raus hier», zische ich Paul zu, der mal wieder die Ruhe selbst ist. Er zwinkert der Flugbegleiterin zu und sagt leise etwas auf Englisch zu ihr, was ich akustisch nicht verstehe. Ihre Reaktion verrät mir, dass es ein charmantes Kompliment gewesen sein muss. Sie errötet zart unter ihrer Revlon-Foundation und kichert. Hey, ich meine, das ist eine Flugbegleiterin. Flugbegleiterinnen gehören mit Sicherheit zu der am meisten angebaggerten Berufsgruppe. Die haben durch Übersättigung schon so eine Art Resistenz gegen Komplimente entwickelt. Und wenn eine von ihnen rot wird, sodass sie der Wirkung ihres Puder-Rouges Konkurrenz macht, heißt das schon was. Na ja, er sieht halt auch verdammt gut aus, mein Paul. Groß, blond, breitschultrig geht er da neben mir die Gangway hinunter und lächelt sein unwiderstehliches Großer-Junge-Lächeln. Wer kann da schon nein sagen.
«Guck mal. Liv Tyler hat ein Fenster in der Stirn», teile ich Paul im Flughafenbus mit und deute auf einen Jet von Air New Zealand. Paul kapiert sofort und lacht schallend. Die Flugzeuge der neuseeländischen Flotte haben die Porträts der Stars aus «Herr der Ringe» aufgemalt. «Welcome to Middle Earth» steht in der Herr-der-Ringe-Schrift auf den Jets. Dahinter zeichnen sich leuchtend grüne Hügel ab, der Himmel ist knallblau, und weiße Wolken ziehen rasch und recht niedrig vorüber. Die Luft ist kühl und frisch. Ich kann es kaum glauben. Wir sind in Neuseeland. Die Betonung liegt auf «wir». Paul und ich sind gerade in Mittelerde angekommen. Zusammen. Als Paar.
Das ist deshalb so bemerkenswert, weil es noch vor einem Monat keineswegs so aussah, als könne Paul jemals mehr für mich werden als der berühmte Grund schlafloser Nächte, der Verursacher eines ausgeprägten Oleander-Hasses und der Schuldige an verstärktem Zigaretten- und Pfefferminztalerkonsum. Seinetwegen war ich bis nach Australien geflüchtet. Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich hatte den großen Trip nach Down Under unternommen, um endlich auch etwas aus meinem Leben zu machen. Paul war ja in Lesotho und ganz augenscheinlich nicht mal an einer Fernbeziehung mit mir interessiert. Oder wie hätte ich es sonst deuten sollen, dass er mir ein paar Wochen nach seinem Abflug kaum mehr mailte, und wenn, dann nur, weil er sich Sorgen um seinen Oleander machte, der auf der Terrasse seiner Haidhausener Wohnung zu erfrieren drohte. Und dann das Highlight der Marie-kommt-sich-blöd-vor-Hitparade: Auf einem Spaziergang im Februar, kurz vor meinem Abflug nach Sydney, traf ich Paul beim Zigarettenkauf in einem Lotto-Toto-Laden am Max-Weber-Platz. Warum auch der sich in München nach ihm verzehrenden Freundin mitteilen, dass das Experiment Lesotho gescheitert war und er schon seit ein paar Tagen wieder in Deutschland weilte.
Aber das ist alles vergeben und vergessen. Oder zumindest vergeben. Denn was danach kam, hätte sich der Drehbuchschreiber der Telenovela «Bianca– Wege zum Glück» kaum besser ausdenken können. (Das heißt jetzt nicht mehr Soap, sondern Telenovela, ist südamerikanischen Ursprungs und wahnsinnig hip.) Pauls Versuch, mir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an den Frankfurter Flughafen nachzureisen, scheiterte am Benzinmangel seines silbernen VW Golfs auf Höhe von Greding bei Nürnberg. Das mit Greding und der Tatsache, dass er mir hinterhergefahren war, erfuhr ich aber erst Wochen später. Schließlich war ich auf dem Ich-mach-was-aus-meinem-Leben-Trip und hatte Besseres zu tun, als GMX abzufragen. Ich lernte neue Leute kennen, entdeckte den australischen Kontinent samt seiner Bewohner und übte mich erfolgreich im Verdrängen eines Mannes namens Paul aus meinen Gedanken. Ende April las ich dann Pauls gesammelte E-Mails. Sie klangen reumütig, einsichtig und irgendwie verzweifelt. Also zeigte ich mich von meiner gnädigen Seite und lud ihn zum Frühstück ein. Nach Bondi Beach, New South Wales, Sydney, Australien.
Paul war pünktlich, ich kann mich dessen rühmen, dass ein Mann für mich um die halbe Welt gereist ist. Aber das Allerbeste, das, was wirklich zählt: Er ist immer noch bei mir, und wir sehen uns jetzt gemeinsam Neuseeland an. Ich mag dieses Land jetzt schon. Auch wenn Liv Tyler ein Fenster in der Stirn hat.
Hier geht es definitiv nicht mehr weiter. Wir sind im äußersten Norden Neuseelands, in der Nähe des Cape Reinga. Eigentlich wollten wir wirklich das Kap besichtigen. Nach den Postkarten zu urteilen, gibt es dort einen hübschen Leuchtturm und eines der berühmten und hier sehr beliebten Schilder mit zahlreichen Wegweisern, auf denen interessante Informationen stehen wie «Hamburg 16832km», «Sydney 2160km» oder «Los Angeles 10479km». Die Neuseeländer haben aus ihrer geographisch etwas benachteiligten Lage geschickt eine Attraktion gemacht. Vor allem für die Europäer fühlt es sich immer wieder toll an: Weiter weg von zu Hause geht nicht.
Einige Kilometer vor Cape Reinga sieht Paul eine Abzweigung.
«Bieg doch mal rechts ab», schlägt er vor.
«Weißt du, wo’s da hingeht?»
«Nö. Aber zum Cape können wir immer noch fahren. Ich finde es da drüben spannender.»
Spannend ist auch die Straße oder das, was auf der Karte als Straße eingezeichnet ist. Sie besteht hauptsächlich aus grobem Kies, der fürchterlich staubt, garniert mit einigen spitzen, großen Brocken.
«Ach, die paar Steine tun uns nichts», beruhigt mich Paul, als ich meine Sorge um die Reifen unseres Mietwagens kundtue.
«Steine? Das sind junge Felsen!», erwidere ich und schlage den siebenundzwanzigsten Haken um ein besonders fieses Reifenkillerexemplar.
«Holla die Waldfee», lacht Paul und hält sich fest, «wenn ich nicht wüsste, dass du eine ausgezeichnete Autofahrerin bist, würde ich mir jetzt in die Hose machen vor Angst!» Angeblich soll die Straße nach fünfzehn Kilometern ans Meer führen. Sie windet sich jedoch munter durch das neuseeländische Hinterland. Hügelauf, hügelab und ringsum nichts als macchieartiger, struppig-niedriger Urwald.
Nach einer halbstündigen Fahrt endet die Piste. Mitten auf einer Wiese. Auf der steht ein kräftiges braunes Pferd. Ich parke neben dem Pferd, das keine Anstalten macht wegzulaufen.
«Hallo Pferd», sage ich und bemerke, dass es sich um ein Wildpferd handeln muss. Zumindest sieht es einigermaßen wild aus, ein bisschen zottelig und irgendwie verwegen. Außerdem ist weit und breit kein Zaun zu sehen. Erst als ich mit meiner ausgestreckten Hand beinahe seine weichen Nüstern berühre, macht es einen Schritt nach hinten. Offensichtlich will es nicht gestreichelt werden.
Wir laufen über die Wiese und gelangen zu einigen mit Strandhafer bewachsenen Sanddünen. Dahinter öffnet sich eine kilometerweite Bucht und gibt den Blick aufs offene Meer frei. Paul und ich bleiben stehen und inhalieren die Aussicht. Der Strand ist absolut menschenleer und leicht rosafarben. Weiße und graue Wolken ziehen rasch über den ansonsten tiefblauen Himmel.
Als ich mich umdrehe, verdecken die Dünen unseren Kombi, der das einzige Zeichen von Zivilisation weit und breit ist. Ansonsten gibt es hier nichts, was auf Menschen hindeutet. Kein Haus, kein Schiff, kein Flugzeug, keine Straße bis auf die, auf der wir gekommen sind. Und selbst die ist im dichten Dschungel nicht zu erkennen.
«Schau mal, Marie», sagt Paul und deutet auf den Strand vor uns, «man sieht nicht mal Fußspuren von anderen Leuten. Bestimmt sind wir die Ersten, die hier entlanglaufen.»
«Bestimmt», sage ich, und es soll nicht ironisch klingen. Ich weiß, wie Paul das meint. Es spielt keine Rolle, wie viele Touristen vor uns die «Spirits Bay» entlanggewandert sind. In diesem Moment sind wir die Allerersten.
«Schade, dass wir hier nicht bleiben können», seufze ich, als wir nach zwei Stunden Strandwanderung wieder am Auto angekommen sind.
«Wer sagt das?», grinst Paul und fährt fort: «Wenn du auf das berühmte Cape Reinga verzichten kannst, mein Schatz, dann bleiben wir doch einfach bis morgen hier…»
Er hat Recht. Wir haben zu essen und zu trinken, weil wir heute Morgen einen Großeinkauf bei «Pak ’n’ Save» in Kaitaia am Ninety Mile Beach getätigt haben. Alles noch im Auto. Es ist warm und wird auch heute Nacht nicht allzu kühl werden, aber zur Not haben wir sogar Schlafsäcke und Decken im Auto.
«Au ja. Schlafen wir im Auto!», freue ich mich. Erst letzten Monat habe ich im australischen Outback meine Liebe zum Campen entdeckt. Reichlich spät, denn früher haben die Stichworte Campingplatz, Gaskocher oder Schlafsack bei mir eher den Reflex ausgelöst, so schnell wie möglich ein Zimmer in einem Hotel mit mindestens vier Sternen zu buchen. Warum, weiß ich heute nicht mehr genau. Camping ist super, und gegen ungewaschene Haare (früher meine größte Angst neben der, das Zelt versehentlich auf einem Ameisenhügel aufzuschlagen) gibt es Trockenshampoo.
Später macht Paul ein kleines Feuer in den Dünen. Wir sitzen eng umschlungen im noch warmen Sand, gucken abwechselnd in die Flammen und in den gigantischen Sternenhimmel der Südhalbkugel, lauschen dem Knacken des verbrennenden Holzes und dem Rauschen der See. Ab und zu fischt Paul mit einem Stecken eine Kartoffel aus dem Feuer und füttert mich mit ihrem heißen Inneren. Ich schließe die Augen und beginne ein kleines Gedankenexperiment, das ich schon lange nicht mehr gemacht habe. Ich denke mich Schritt für Schritt weiter weg von Paul und mir am Lagerfeuer an der nördlichsten Bucht Neuseelands. Wir beide in den Dünen des einsamen Strandes. Der Strand am Rande der Nordinsel. Neuseeland im Pazifik. Ozeanien in der südlichen Hemisphäre. Die Welt. Die Erdkugel als einer von vielen Planeten in unserer Galaxie. Unsere Galaxie als eine von vielen in einem unendlichen Meer von Galaxien… An diesem Punkt wird mir immer ein wenig schwindelig, als ob ich auf dem Oktoberfest zu viel Kettenkarussell gefahren wäre. Ich habe das Gefühl, mit meinem Geist an ein Brett zu stoßen, an eine Bretterwand, an der ein Schild hängt: Bis hierhin und nicht weiter. Die Unendlichkeit ist nicht vorstellbar.
Ich öffne die Augen und sehe direkt in Pauls.
«Wir sind so klein, nicht?», sagt er, als wüsste er, wo ich gerade mit meinen Gedanken war.
«Aber mach dir keine Sorgen. Ich bin bei dir, mein Schatz. Ich bin immer bei dir.»
Raglan auf der Nordinsel Neuseelands ist ein bemerkenswerter Ort. Hier gibt es die einzige links brechende Welle der Welt. Oder die größte. Oder die schönste. Jedenfalls irgendeinen Superlativ, denn den lieben die Kiwis, wie sich die Neuseeländer selbst nennen. Übrigens nach ihrem Wappentier – dem meist übellaunigen, flugunfähigen, ziemlich runden Vogel, der zwanzig Stunden pro Tag schläft und in den übrigen vier im Dunkeln nach Würmern sucht–, nicht nach gleichnamigem Obst. Aber ich klinge schon wie mein abgewetzter «Lonely Planet». Zurück zum Wesentlichen.
Paul und mich (ich kann mich an diesen drei Worten gar nicht satt schreiben und denken) hat es nach Raglan verschlagen. Der Sommer ist noch einmal zurückgekehrt, obwohl es hier eigentlich schon Herbst ist. Wir wohnen in einem entzückenden Backpacker’s und haben viel Spaß mit Jed, dem jungen Labrador von Jeremy, dem Besitzer des Hostels. Paul kann nicht nur gut mit Menschen, auch Tiere verfallen postwendend seinem Charme. Er erinnert mich manchmal an Philip, eine Figur aus der Abenteuer-Buchserie von Enid Blyton. Nicht «Fünf Freunde», sondern «Tal der Abenteuer», «See der Abenteuer» und so weiter. Darin ging es auch um zwei Geschwisterpärchen, die ständig in aufregende Gefahren geraten, ihnen mit List und Tücke jedoch stets wieder entrinnen. Philip kam super bei Tieren an. Ich glaube, er war überhaupt einer dieser Supermenschen, die von jedem gemocht werden.
«Süße», reißt Paul mich aus meinen Kindheitsgedanken und krault Jed, der wie hingegossen auf seinen Füßen liegt und ihn bewundernd anstarrt, das schwarze Fell, «was machen wir heute Abend?» Ich liebe es, wenn er «Süße» zu mir sagt.
«Öhm, keine Ahnung», sage ich, «wir könnten in Nick’s Surf Inn gehen oder in Brian’s Surf Pub oder…»
«Hm», meint Paul, «ich glaube, ich habe eine bessere Idee.» Spricht’s, erhebt sich vom Küchenstuhl und geht aus dem Raum, «bin gleich wieder da» murmelnd.
«Tja, Jed», informiere ich den Hund, «so ist er nun mal. Ein wandelndes Geheimnis. Aber er kommt sicher bald wieder. Bisher ist er immer wiedergekommen.» Und ich kraule ihn hinter den weichen Schlappohren. Jed zeigt sich von meinen Liebkosungen völlig unbeeindruckt, schüttelt sich, als hätte ihn eine Fliege gekitzelt, und fixiert leise fiepend die Küchentür, aus der Paul gerade entschwand.
Ich lasse das Tier in seiner Verzweiflung allein und gehe auf unser Zimmer, um Postkarten zu schreiben.
Liebe Vroni,
viele liebe Grüße aus Raglan, New Zealand. Der Ort ist ein bezauberndes Surfer-Kaff mit traumhaften Stränden. Mit Paul ist es wundervoll. Wir streiten nie, haben viel Spaß zusammen, quatschen stundenlang und haben jede Nacht galaktisch guten Sex :-))) (Ich hoffe, Dein Postbote liest diese Karte nicht…) Ich vermisse dich sehr, aber ich bin glücklich. Grüß die Mädels von mir, die Biergärten und Neuhausen. Bis irgendwann bald,
Marie
Was für eine platte Postkarte. Manchmal glaube ich wirklich, dass Glück dumm macht. Man sieht der Karte förmlich das blöde und zufriedene Grinsen an, mit der ich sie geschrieben habe. Vroni aber wird sich freuen, denn sie weiß, dass ich nur dann witzige und geschliffene Texte zu Papier bringen kann, wenn ich leide. Und das tue ich zurzeit wirklich kein bisschen. Als ich eine Briefmarke mit dem Motiv des Milford Sound auf die Karte klebe, höre ich von draußen Motorengeräusche. Sie ersterben, und eine halbe Minute später füllt Pauls Silhouette den Türrahmen.
«Auf geht’s», ruft er und verbreitet sofort gute Laune im Raum, «fahren wir. Nimm ein Handtuch mit und eine warme Jacke.»
«Wohin denn?», will ich wissen, aber Paul grinst nur: «Überraschung!»
«Fahren?», fällt mir auf dem Weg nach draußen ein, «aber wir haben doch gar kein…»
«…Auto!», sagt Paul triumphierend und deutet auf den alten silbernen Mazda, der im Hof parkt. «Das ist unserer. Zumindest für heute Abend. Komm, steig ein!» Ich bin platt wie meine Postkarte. Ich frage gar nicht, wo Paul den Wagen herhat. Sicher hat er ihn der hübschen Bedienung aus Brian’s Surf Pub mit ein paar Komplimenten und netten Worten abgeschwatzt. Ich möchte es lieber nicht genau wissen. Die Hauptsache ist nämlich, dass er das Auto für mich klargemacht hat. Wie, spielt keine Rolle.
«Holla die Waldfee», sagt Paul in der ersten Kurve, in der der Mazda nach außen driftet wie eine Kuh auf Glatteis, «der reagiert aber komisch!»
«Vermutlich sind die Stoßdämpfer im Eimer», attestiere ich und ernte einen verwunderten Seitenblick von Paul, der am Rechtssteuer sitzt. «Stoßdämpfer?»
«Egal, Hauptsache, er fährt», fahre ich munter fort, «wie weit ist es denn noch?» Nicht, dass sich Paul mir unterlegen fühlt, was das technische Verständnis angeht. Er ist zwar kein typischer Autos-sind-Männersache-Kerl, aber wer weiß. Jungs reagieren da manchmal unberechenbar.
«Etwa fünfundzwanzig Kilometer», lässt Paul sich bereitwillig auf den Themawechsel ein.
Die Straße ist, wie so viele in Neuseeland, ungeteert und windet sich parallel zum Meer durch dichten Urwald. Bald wird die Sonne untergehen. Aber ich habe keine Angst. Paul ist ja bei mir.
Etwa eine Stunde später erreichen wir einen Ort. Ein kleines Fischerdorf schmiegt sich in die grünen Hügel eines Naturhafens. Die Sonne ist gerade dabei, am Horizont zu verschwinden. Paul lenkt den alten Mazda langsam durch das Dorf und hält nach Wegweisern Ausschau.
«Wonach suchst du denn?», will ich wissen, «ich kann dir helfen!»
«Lass mal», meint Paul, drückt kurz meine Hand und lächelt mich an, «Überraschung!»
Dann hat er anscheinend gefunden, was er sucht, denn er biegt rechts ab. Wir fahren durch einen lichten Pinienwald Richtung Meer. Die Straße endet an einem kleinen Parkplatz, auf dem zwei Autos stehen. Paul stellt den Mazda unter einem Baum ab, und wir steigen aus. Es herrscht ein eigentümliches Zwielicht. Der sandige Boden ist noch warm vom Tag, aber von oben spüre ich schon die kühle Abendluft.
«Und jetzt, Paul?»
«Komm mit!» Er nimmt meine Hand, und wir gehen durch die Dünen Richtung Meer. In meinem Magen kribbelt es angenehm. Was hat Paul vor? Womit will er mich überraschen? Während wir nebeneinander durch den warmen Sand stapfen, fasse ich Pauls Hand ein wenig fester. Immer noch bin ich nicht ganz frei von der Angst, ich könnte plötzlich aufwachen aus meinem schönen Traum und es wäre ein grauer, paulloser Montagmorgen in meinem IKEA-Bett in München-Neuhausen. Ja, ich habe lange gewartet auf diesen Mann, ich habe viel auf mich genommen und oft ziemlich gelitten. Zur Belohnung für die teilweise harte Zeit habe ich nun, was ich mir so sehr gewünscht habe: Ich bin mit ihm zusammen, mit dem Mann meiner Träume. Klingt logisch, oder? Eben. Genau das beunruhigt mich. Denn das Leben pflegt nicht logisch zu sein, man bekommt selten, was man verdient, und ausgleichende Gerechtigkeit ist auch etwas, woran nur naive Menschen noch wirklich glauben.
Wir haben die Dünen hinter uns gelassen und treten auf einen weiten, menschenleeren Strand. Die Besitzer der zwei geparkten Autos sind uns beim Marsch durch die Dünen entgegengekommen und haben aufgeräumt «Hi guys» gerufen. Nun sind wir ganz alleine. Der Himmel über dem Meer ist noch rosa, orange und rot von der gerade untergegangenen Sonne.
«Es ist wunderschön hier», flüstere ich Paul gerührt zu.
«Extra für dich», grinst er, «und jetzt gehen wir baden!»
«Baden?» Ich runzle die Stirn. «Ist es dafür nicht ein bisschen zu frisch?»
«Wart ab», freut sich Paul über meine zweifelnde Miene und zieht mich ein weiteres Stückchen Richtung Wasser. In den feuchten Sand haben die Besucher, die vor uns da waren, ein paar große Löcher gebuddelt, in denen das Wasser steht. Paul nimmt seinen Rucksack herunter und packt einen kleinen Spaten aus. Damit beginnt er, die größte Pfütze zu vertiefen. Ich stehe ein bisschen unmotiviert (um nicht zu sagen dumm) rum und betrachte verliebt die Muskeln seiner Arme, die unter seinem T-Shirt spielen. Als Paul fertig mit Schaufeln ist, wirft er den Spaten zur Seite, dreht sich zu mir um und sagt: «So, und jetzt ziehen wir uns aus, mein Schatz…»
Ehe ich mich’s versehe, ist Paul selbst aus seinen Klamotten geschlüpft und steht nackt vor mir. «Na los, worauf wartest du? Die Badewanne ist fertig!» Als ich mich immer noch nicht rühre, greift er mein T-Shirt am Saum und zieht es mir über den Kopf. «Kleine Diva», grinst er, «bloß selber keinen Finger rühren!» Schwupp, liegt mein BH im Sand, und mit einer weiteren Handbewegung hat er mir Rock und Slip vom Leib gestreift. Ich bekomme eine Gänsehaut bei dem Gedanken, jetzt auch noch nass zu werden, doch für Paul würde ich mich sogar im Bayerntrikot in die 60er-Kurve stellen, also beschwere ich mich nicht, sondern trete todesmutig in die natürliche Badewanne.
«Das ist ja ganz warm, Paul!», rufe ich erstaunt aus, als ich einen Fuß ins Wasser gesenkt habe.
«Ja, denkst du denn, ich lasse dir eine kalte Wanne ein?» Ich bin begeistert. Das Wasser hat tatsächlich die Temperatur eines heißen Bades.
«Hier gibt’s heiße Quellen», erklärt Paul, «es funktioniert nur bei Ebbe, bei Flut sind sie unter Wasser.»
Wir legen uns der Länge nach in unseren Pool, der tief genug ist, dass das heiße Wasser uns ganz bedeckt. Inzwischen ist es fast vollständig dunkel geworden, die letzten Rottöne des Abendhimmels gehen am Horizont in ein tiefes Dunkelblau über, und die Sterne fangen an zu leuchten. Schweigend liegen wir in unserer dampfenden Wanne und betrachten die Milchstraße, die ihrem Namen alle Ehre macht und hier, am anderen Ende der Welt, viel strahlender und näher wirkt als zu Hause. Wir sprechen kein Wort, liegen einfach nur da, und ich spüre die kühle Abendluft in meinem Gesicht, das heiße Wasser an meiner Haut und Pauls Körper dicht an meinem. Ich bin froh, dass auch er glücklich damit ist, einfach nur stillzuhalten und die überwältigende Natur zu spüren. Jetzt und hier an diesem Strand Sex miteinander zu haben, wäre zu viel des Guten. Ich bin ganz und gar damit beschäftigt, die vorhandenen Sinneseindrücke zu verarbeiten und in mich aufzunehmen. Paul fühlt in diesem Moment dasselbe wie ich, da bin ich mir ganz sicher. Wobei – wie kann ich mir da sicher sein? Ich kann eigentlich nicht mal davon ausgehen, dass er das Gleiche sieht wie ich. Wie will ich da wissen, was er fühlt?
«Marie, denk nicht so viel!», sagt Paul. Nein. Das war nicht Pauls Stimme. Vorsichtig und ohne mich zu viel zu bewegen, sehe ich mich um. Es ist inzwischen so finster, dass ich meine Umgebung nur noch schemenhaft erkennen kann. Aber dort, auf dem sandigen Rand unserer Naturbadewanne an diesem einsamen neuseeländischen Strand, sitzt mit übereinander geschlagenen Beinchen und in die Hand gestütztem Kinn mein guter alter Bekannter. Das Engelchen. Ich denke geräuschlos, aber so intensiv ich kann: «Verschwinde, sonst ertränke ich dich an Ort und Stelle!» Engelchen zuckt zusammen, entfaltet seine Flügel, die es ordentlich auf dem Rücken zusammengelegt hatte, wirft mir eine Kusshand zu und schwirrt ab. In die Richtung, in der kurz vorher die Sonne untergegangen ist.
Irgendwann viel später sehen Paul und ich uns wortlos an. «Hm?», macht er nur, und ich erwidere: «M-hm…» Wir klettern aus dem warmen Pool und rennen schnell zu unseren Klamottenhaufen. Paul zaubert ein großes Badehandtuch aus seinem Rucksack und legt es mir um die Schultern. Kurz schmiege ich mich an ihn, lege meinen Kopf an seine Brust und spüre seine warme, nasse Haut. Diese Momente sind es, wofür sich alles gelohnt hat. Diese paar Sekunden entschädigen mich für wochenlanges Warten auf eine Nachricht von Paul, für seine vielen Absagen der letzten Jahre, für seine Unberechenbarkeit und die Verschlossenheit, die ihn manchmal so unnahbar macht. Vroni hat mich oft naiv genannt und mit mir geschimpft, weil ich Paul «nachgelaufen» bin, wie sie das nannte. Es würde nicht zu mir passen, ich hätte das nicht nötig, er würde mich gar nicht verdienen und so weiter. Das ist alles wahr. Aber es spielt keine Rolle.
Wer jemals dieses Gefühl erlebt hat, das ich habe, wenn ich meine Wange an Pauls Haut lege, der weiß, was ich meine.
Ich bin die Ruhe selbst. Bis zu dem Moment, in dem ich die Telefonnummer meiner Eltern in das Feld des Formulars schreibe, das meinen Tod regeln wird, falls… ja, falls ich das hier nicht überlebe. Schluck. Wo ist das Engelchen? Nicht da. War ja klar. Vermutlich mit Teufelchen einen trinken. «Keine Sorge», lacht Paul, als er meine besorgte Miene sieht, «das ist nur Papierkram!» Ach nee. Das weiß ich auch. Ich habe ja auch keine Angst. Ich überlege lediglich, ob es klug ist, sich wissend diesem Risiko auszusetzen. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, höre ich meinen Vater sagen. Eigentlich wäre das Teufelchens Text, aber das ist ja mit Engelchen im Pub.
Jetzt ist es sowieso zu spät. Ich habe die 150Neuseeland-Dollar schon bezahlt. Und außerdem soll Paul mich ja nicht für einen Feigling halten.
«Are you okay?», will Greg, mein «Dive Instructor», von mir wissen, als er die Gurte des Geschirrs, in dem ich mit Oberkörper und Beinen stecke, festzurrt. «Sure», antworte ich und versuche, einen lässigen Gesichtsausdruck zu machen. «Man springt ja schließlich nicht jeden Tag aus einem Flugzeug», relativiere ich, als ich seine belustigte Miene sehe. «I do», grinst Greg. «That calms me down», erwidere ich, doch irgendwie kommt meine Ironie auf Englisch nicht so richtig durch.
Als wir nach draußen gehen, sehe ich kurz mein Spiegelbild im Fenster des Gebäudes, in dem die Fallschirmspringschule untergebracht ist. Mit dem blauen Overall, dem Geschirr um den Körper, der Lederkappe auf dem Kopf und dem chlorbrillen-ähnlichen Ding im Gesicht sehe ich aus wie ein Astronaut für Anfänger. Ich werfe einen Blick auf Paul, der neben mir geht. Natürlich steht ihm der Springeranzug hervorragend, und nicht mal die Mütze entstellt ihn wesentlich. Das Leben ist nicht fair.
Wir gehen über kurz geschorenen Rasen zu einem winzigen Flugzeug. Wie schade, sie wollen uns anscheinend einzeln rauffliegen. Ich hatte gehofft, den Flug mit Paul teilen zu können.
«Okay folks, let’s get in there», sagt Pauls Instructor Steve und zieht an einem Griff an der Seite des Mini-Fliegers. Eine Klappe fährt hoch. Wie ein Brotkasten, denke ich und begreife dann, dass wir zu viert in die Maschine steigen sollen. Sitze? Fehlanzeige. Wir hocken uns auf den Boden, unseren Instructor hinter uns – so, wie wir in ein paar Minuten springen werden. Steve macht den Brotkasten zu. An der Seite kann man durch kleine Fenster nach draußen schauen. Die Maschine holpert über die grasbewachsene Startbahn und hebt dann ab. Schon nach wenigen Minuten sind die Häuser von Taupo, der kleinen Stadt in der Mitte der neuseeländischen Nordinsel, nur noch kleine weiße Würfel. Der große vulkanische See, an dem die Stadt liegt, glänzt silbern in der Sonne. Im Süden erheben sich hohe Berge.
Ich habe gerade vergessen, dass ich nicht für einen Panoramaflug in diesem Grashüpfer sitze, als Greg mir bedeutet, ich solle mich doch auf seinen Schoß setzen. «Oh, no thanks», wehre ich ab, denn ich kann auch so ganz prima durch das Fenster sehen. «Wäre aber besser», lacht Greg und erklärt mir, dass er mich jetzt an sich festschnallen müsse, da wir gleich springen werden. Okay. Das ist natürlich was anderes. Gehorsam klettere ich auf Gregs Schoß und beäuge kritisch, wie er diverse Karabiner in diverse Haken einhängt. «Das hält schon!», meint er aufmunternd.
«Dreifünf!», brüllt da der Pilot von vorne, und Pauls Tandempartner reißt die Klappe des Fliegers auf.
«Ich hätte unten nochmal aufs Klo gehen sollen!», schreie ich gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Luft an. Paul grinst. Und dann ist er weg. Zusammen mit Steve. Lieber Gott, mach, dass mein Fallschirm aufgeht, bete ich leise. Schon wieder so ein bedeutender Moment, in dem ich das Falsche gesagt habe. Ich sehe schon einen erschütterten Paul in den neuseeländischen Abendnachrichten vor mir, wie er in die Kamera sagt: «Ihre letzten Worte waren: ‹Ich hätte unten nochmal aufs Klo gehen sollen.› Ich werde sie sehr vermissen.»
«No worries», höre ich eine männliche Stimme an meinem Ohr. Es ist Greg. Ich habe gar nicht bemerkt, wie wir an den Rand des Fliegers gerutscht sind. Mit Schrecken sehe ich, dass sich unter meinen Füßen nur noch Luft befindet. Viel Luft. Ungefähr dreitausendfünfhundert Meter Luft.
«Füße vor dem Sprung unter das Flugzeug klemmen, im freien Fall Arme ausbreiten und Körper in Bananenform bringen», schießt es mir durch den Kopf, und ich beginne eilig, meine Gliedmaßen zu sortieren. So gut das eben geht, wenn sich der eigene Hintern an der Kante einer fliegenden Cessna befindet. Und dann kommt auf einmal ganz viel Wind von unten. Es fühlt sich nicht an wie Fallen. Auch nicht wie Fliegen. Und Luft ist ein verdammt hartes Element. Nach einigen Sekunden fällt mir auf, dass mir was fehlt. Und zwar ebendiese Luft, die von unten auf meinen Körper prallt. Ein wenig davon würde sich jetzt in meinen Lungen gut machen. Doch das ist gar nicht so einfach, wie es sich anhört. Atmen, befehle ich meinem Körper. Doch das interessiert den gar nicht. Ich muss mit aller Kraft meine Brustmuskeln anspannen, um etwas Sauerstoff in meine Lungen zu pressen. Aaaaaaaah, das tut gut. Wir rasen auf eine Wolke zu. Wie die sich wohl anfühlt? Sie sieht wirklich aus wie Watte. Wäre lustig, jetzt sanft von ihr abgefangen zu werden und ein bisschen auf ihr herumzuliegen. So, wie die Engel in den Kinderbuchillustrationen das immer tun.
Der freie Fall ist eine recht flotte Angelegenheit. Ich habe gerade diesen Gedanken zu Ende gedacht (und das geht bekanntlich im Hirn um ein Vielfaches schneller, als wenn man ihn richtig formuliert), da haben wir die Wolke auch schon wieder verlassen. Um das mal aufzuklären: Man spürt sie gar nicht. Weder wattig noch weich, noch kalt, noch feucht. Da schießt man einfach durch.
Greg haut mir auf die Schulter. Ach so, ja, das ist das Zeichen, dass er jetzt mal den Schirm ziehen wird. Wird auch allmählich Zeit. Die grünen Hügel Neuseelands rasen auf uns zu. Oder wir auf sie. Wie auch immer. Der erwartete Ruck bleibt aus, sanft verlangsamt sich unsere Fahrt. Ich gucke nach oben, und tatsächlich, der Fallschirm ist offen. War wohl nix mit den Abendnachrichten, Paul.
«Ich mach dich mal ein bisschen locker», ruft Greg von hinten.
«Hey, ich bin extrem entspannt», will ich antworten, da falle ich in meinen Gurten nach unten. Schock. Will der mich umbringen?
«So ist es angenehmer, nicht?», will Greg wissen. Na ja. Ich weiß nicht. In dieser Höhe ziehe ich einen drückenden Gurt vor. Aber ich will nicht aufmucken. Nicht, dass der mich komplett losschnallt.
Kurze Zeit später nähern wir uns dem Flugfeld. Ich sehe Paul auf dem Rasen stehend meinen Anflug beobachten. Und zu meiner eigenen Verwunderung lege ich eine lässige, entspannte Landung hin, statt ihm auf dem Hosenboden entgegenzuhoppeln. Das ist eben der Unterschied zwischen Marie Sandmann und Bridget Jones.
Der Adrenalinschub des Fallschirmsprungs hielt zwei Tage an. Zwei Tage, in denen Paul und ich grinsend durch die Gegend liefen und alle Menschen, die nicht aus Flugzeugen gesprungen waren, mitleidig ansahen.
Inzwischen sind wir auf der Coromandel-Halbinsel an der Ostküste. Neuseeland wie aus dem Bilderbuch: Urwald, Berge, Meer und weiße Strände.
Ich schätze, es ist ungefähr drei Uhr morgens. Der Mond scheint durch die Vorhänge und taucht das Zimmer in ein diffuses Halbdunkel. Ich stütze mich auf meinen Ellenbogen und betrachte Paul, der neben mir auf dem Rücken liegt und tief schläft. Ich sehe mir sein geliebtes Gesicht an, seine Stirn, die im Schlaf viel glatter ist als tagsüber, seine Nase, die Lippen, das Kinn mit der kleinen Narbe. Ich bin glücklich. Sehr glücklich. So glücklich, dass ich kaum mehr erspüren kann, glücklich zu sein.
Hm. Bin ich glücklich? Ich müsste es sein. Wir sind zusammen. Ein Paar. Wir sind Paul und Marie, Marie und Paul. Noch dazu sind wir zusammen in Neuseeland, dem Land meiner Träume. Wobei das keine Rolle spielt. Mit Paul zusammen wäre ich auch in Castrop-Rauxel oder Lloret de Mar glücklich. Aber bin ich denn glücklich? Ich befrage meine Seele. Die sitzt meinem Empfinden nach irgendwo zwischen Herz und Bauch. Manchmal freilich auch im Hals oder viel weiter unten. Ich merke, wie ich anfange zu schwitzen. Ich kann nichts fühlen. Ruhig, Marie, ruhig, sage ich still zu mir selbst. Vielleicht handelt es sich um einen «emotion overflow», zu viele Gefühle, die dazu führen, dass deine Gefühlssensoren sich kurzzeitig wegen Überlastung ausschalten. Wie ein Föhn, der ausgeht, wenn man ihn zu lange zu dicht an die Haare gehalten hat. Er braucht dann ein paar Minuten der Abkühlung, bis man ihn wieder einschalten kann. Natürlich passiert das immer dann, wenn man ein wichtiges Date hat, sowieso schon zehn Minuten zu spät dran ist und noch in der Unterwäsche im Bad steht. Das sind diese Abende, in denen man dann frisch geschminkt das weiße Top überzieht und in der S-Bahn merkt, dass die 60Euro teure Shiseido Perfect Mat Foundation einen braunen Rand am Ausschnitt hinterlassen hat.
Angestrengt horche ich in mich hinein. Ah, da ist ja doch etwas. Eine Empfindung. Na bitte. Aber wie heißt sie? Hallo, wer bist du, Gefühl? Es drückt ein wenig Richtung Magen und engt die Atmung leicht ein. Jetzt erkenne ich es. Es ist Angst. Ich analysiere die Angst näher. Es ist keine Angst wie jene, die man vor einem Zahnarzttermin hat, vor einem wichtigen Vortrag oder davor, seinen Job zu verlieren. Sie ist nicht so konkret, nicht so fassbar. Und im Körper nicht so gut lokalisierbar. Es ist mehr als die Angst, Paul zu verlieren. Es ist vielmehr die Ahnung, ihn nicht festhalten zu können. Und die Angst davor, dann nicht mehr ganz zu sein.
Ich sehe den schlafenden Paul weiter an. Nie war er mir näher als jetzt. Und ich meine nicht die wenigen Zentimeter, die unsere Körper voneinander trennen. Noch nie war Paul so sehr bei mir wie hier, am anderen Ende der Welt.
«Ist ja auch sonst keiner da!»
«Halt die Klappe!», fauche ich dem Teufelchen zu (müssen die zwei eigentlich immer wach sein?).
Paul erwacht halb aus seinem tiefen Schlaf und blinzelt. «Mmmmhgrmpf», grummelt er, sieht mich leicht verwundert an und dreht sich dann auf die andere Seite. Von mir weg. Ich starre seine Schulter an und merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Ich fühle mich zutiefst unglücklich und sehr alleine. Moment mal. Was will ich eigentlich? Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich noch überglücklich gewesen, wenn Paul so viel Commitment bewiesen hätte, mich zum Teelichterkauf bei IKEA zu begleiten. Und noch weniger lang ist es her, dass mir eine einzige belanglose SMS von Paul den Tag, ach was, die Woche oder gleich mein Leben gerettet hätte. Ich sollte also zufrieden sein. Nicht nur, dass Paul mir rund um die Welt bis nach Sydney nachgereist ist. Nein, wir machen jetzt auch schon fast einen Monat lang Urlaub zusammen. Besser gesagt, wir traveln. Oder backpacken. Egal. Wir sind zusammen. Und ich heule hier rum.
Hätte ich Engelchen und Teufelchen nicht verjagt, eines von beiden würde sicher «Selbstmitleid» flüstern. Manchmal kommt es mir wirklich so vor, als würde ich gerne darin baden. Seit ich Paul kenne, habe ich mich einen Großteil der Zeit selbst bedauert. Es gab irgendwie fast immer einen Grund. Entweder rief Paul nicht an. Oder schickte keine SMS. Oder keine E-Mail